Die Bücherdiebin - Markus Zusak - E-Book
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Die Bücherdiebin E-Book

Markus Zusak

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Beschreibung

»Die Bücherdiebin« ist ein modernern Klassiker und Weltbestseller und wurde 2014 erfolgreich verfilmt.

Molching bei München. Hans und Rosa Hubermann nehmen die kleine Liesel Meminger bei sich auf – für eine bescheidene Beihilfe, die ihnen die ersten Kriegsjahre kaum erträglicher macht. Für Liesel jedoch bricht eine Zeit voller Hoffnung, voll schieren Glücks an – in dem Augenblick, als sie zu stehlen beginnt. Anfangs ist es nur ein Buch, das im Schnee liegen geblieben ist. Dann eines, das sie aus dem Feuer rettet. Dann Äpfel, Kartoffeln und Zwiebeln. Das Herz von Rudi. Die Herzen von Hans und Rosa Hubermann. Das Herz von Max. Und das des Todes. Denn selbst der Tod hat ein Herz.

Eine unvergessliche Geschichte vom dunkelsten und doch brillantesten aller Erzähler: dem Tod. Tragisch und witzige, zugleich wütend und zutiefst lebensbejahend – ein Meisterwerk.

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Seitenzahl: 626

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
PROLOG
TOD UND SCHOKOLADE
NEBEN DEN BAHNGLEISEN
DIE FINSTERNIS
DIE FAHNE
 
TEIL 1 - DAS HANDBUCH DES TOTENGRÄBERS
ANKUNFT IN DER HIMMELSTRASSE
ALS SAUMENSCH AUFZUWACHSEN
DIE FRAU MIT DER EISENFAUST
 
Copyright
Für Elisabeth und Helmut Zusak, in Liebe und Bewunderung.
PROLOG
EIN TRÜMMERBERG
 
 
Es wirken mit:
 
der Erzähler - Farben - und die Bücherdiebin
TOD UND SCHOKOLADE
Zuerst die Farben.
Dann die Menschen.
So sehe ich die Welt normalerweise.
Ich versuche es zumindest.
 
 
 
EINE KURZE BEMERKUNG AM RANDE
Ihr werdet sterben.
 
Ich bin nach Kräften bemüht, dieser ganzen Angelegenheit eine fröhliche Seite zu verleihen, aber die meisten Menschen haben einen tief sitzenden Widerwillen, der es ihnen unmöglich macht, mir zu glauben, so sehr ich auch versuche, sie davon zu überzeugen. Bitte glaubt mir: Ich kann wirklich fröhlich sein. Ich kann angenehm sein. Amüsant. Achtsam. Andächtig. Und das sind nur die Eigenschaften mit dem Buchstaben »A«. Nur bitte verlangt nicht von mir, nett zu sein. Nett zu sein ist mir völlig fremd.
REAKTIONEN AUF DIE OBEN GENANNTE TATSACHE
 
Mache ich euch Angst?Ich bitte euch inständig - keine Sorge.Man kann mir alles nachsagen, nur nicht, dass ichungerecht bin.
 
Was fehlt?
Natürlich - eine Bekanntmachung.
Ein Beginn.
Wo ist nur mein gutes Benehmen geblieben?
Ich könnte mich ganz förmlich vorstellen, aber das ist gar nicht nötig. Ihr werdet mich schon bald recht gut kennen; wie bald - das hängt von einer Reihe von Umständen ab. Nur so viel sei gesagt: Irgendwann einmal werde ich über euch allen stehen, so freundlich, wie es mir möglich ist. Eure Seelen werden in meinen Armen liegen. Auf meiner Schulter wird eine Farbe ruhen. Sanft werde ich euch davontragen.
Ihr werdet vor mir liegen. (Es passiert nur selten, dass ich Menschen stehend antreffe.) Ihr werdet in der Kruste eurer eigenen Körper gefangen sein. Vielleicht gibt es ein Erkennen; ein Schrei tröpfelt zu Boden. Die einzigen Geräusche, die ich danach hören werde, sind mein eigener Atem und der Klang des Geruchs, meine eigenen Schritte.
Die Frage ist, welche Farbe die Welt angenommen haben wird, wenn ich euch holen komme. Was wird der Himmel uns erzählen?
Ich persönlich mag einen schokoladenfarbenen Himmel. Dunkle Bitterschokolade. Die Leute behaupten, das passt zu mir. Ich versuche trotzdem, mich an jeder Farbe zu erfreuen, die ich sehe, an dem ganzen Spektrum. Etwa eine Milliarde Schattierungen, keine wie die andere, und ein Himmel, der sie langsam in sich aufsaugt. Das nimmt dem Stress die Schärfe. Und es hilft mir, mich zu entspannen.
EINE KURZE ZWISCHENBEMERKUNG
 
Die Menschen beachten die Farben eines Tages lediglichan seinem Anfang und an seinem Ende. Dabei wandert einTag durch eine Vielzahl von Farbtönen und Schattierungen,und zwar in jedem Augenblick. Eine einzige Stunde kannaus Tausenden von unterschiedlichen Farben bestehen.Wachsgelb, regenbesprühtes Blau. Schlammige Dunkelheit.In meinem Geschäft habe ich es mir zur Angewohnheitgemacht, darauf zu achten.
 
Wie schon angedeutet, ist Ablenkung meine einzige Rettung. Sie allein hilft mir, bei Verstand zu bleiben. Sie hilft mir, mit meiner Arbeit klarzukommen, was nicht so einfach ist, wenn man bedenkt, wie lange ich diese Tätigkeit schon ausübe. Das Problem ist: Wer könnte mich ersetzen? Wer könnte für mich einspringen, während ich in einem Vier-Sterne-Hotel irgendwo am Meer Urlaub mache oder in den Bergen Ski fahre? Die Antwort ist: Niemand. Genau dieser Umstand hat mich dazu veranlasst, die Ablenkung zu meiner Erholung zu machen, mich damit zu zerstreuen. Also mache ich Urlaub in Farben, in Schattierungen.
Dennoch fragt ihr euch möglicherweise, warum ich überhaupt Urlaub brauche. Ihr wollt wissen, wovon ich mich ablenken muss?
Was mich zum nächsten Punkt bringt.
Es sind die übrig gebliebenen Menschen.
Die Überlebenden.
Sie sind es, deren Anblick ich nicht ertrage, und in meinem Bemühen, sie nicht anzusehen, versage ich häufig. Ich konzentriere mich absichtlich auf die Farben, um die Überlebenden aus meinen Gedanken zu verbannen, aber hin und wieder werde ich Zeuge, wie die Zurückbleibenden zwischen den Puzzlestücken der Erkenntnis, Überraschung und Verzweiflung zusammenbrechen. Sie haben zerstochene Herzen. Sie haben zerschlagene Lungen.
Was mich wiederum zu dem Thema bringt, über das ich heute Abend - oder heute Mittag, oder welche Stunde und Farbe es auch immer gerade sein mag - mit euch reden will. Es ist die Geschichte von einer beständig Überlebenden - von einer Expertin im Zurückbleiben.
Es ist eigentlich nur eine kleine Geschichte, und sie handelt unter anderem von:
• einem Mädchen
• ein paar Worten
• einem Akkordeonspieler
• ein paar fanatischen Deutschen
• einem jüdischen Faustkämpfer
• und einer ganzen Menge Diebstählen
Ich sah die Bücherdiebin drei Mal.
NEBEN DEN BAHNGLEISEN
Das erste Mal war es weiß. Gleißend.
Einige von euch werden wahrscheinlich denken, dass Weiß gar keine Farbe ist. Völliger Blödsinn. Das stimmt nicht. Weiß ist zweifellos eine Farbe, und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ihr mit mir streiten wollt.
 
 
 
EIN WORT ZUR BESÄNFTIGUNG
 
Bitte bleibt ruhig, trotz dieser offenkundigen Drohung.Ich tue nur so.Ich bin nicht gewalttätig.Ich bin nicht bösartig.Ich bin das Ergebnis.
 
Ja, es war weiß.
Es war so, als ob der ganze Erdball in Schnee gekleidet wäre. Als ob er ihn angelegt hätte, so wie ihr einen Pullover anzieht. Neben der Bahnstrecke verliefen Fußspuren, eingesunken bis zum Schienbein. Die Bäume trugen Decken aus Eis.
Wie ihr euch vielleicht schon gedacht habt, war jemand gestorben.
 
Sie konnten ihn nicht einfach auf dem Boden liegen lassen. Im Augenblick wäre das kein Problem gewesen, aber schon bald würde das Gleis geräumt sein und der Zug würde weiterfahren.
Da waren zwei Wachmänner.
Da waren eine Mutter und ihre Tochter.
Und eine Leiche.
Die Mutter, die Tochter und die Leiche verharrten, hartnäckig und still.
 
»Was willst du denn von mir?«
Die Wachmänner waren groß und klein. Der Große sprach stets zuerst, obwohl er nicht das Kommando führte. Er sah den rundlichen Kleinen an. Den mit dem feuchtroten Gesicht.
»Nun«, lautete die Erwiderung, »wir können ihn doch wohl nicht einfach hier liegen lassen?«
Der Große verlor die Geduld. »Und warum nicht?«
Der Kleinere explodierte beinahe. Er schaute zu dem Kinn des Großen auf und schrie: »Spinnst du?« Die Abscheu auf seinen Wangen wuchs mit jedem Moment. Seine Haut weitete sich. »Komm«, sagte er und stapfte durch den Schnee. »Wir tragen sie alle drei zurück, wenn es sein muss. Und wir melden es der nächsten Station.«
 
Was mich betrifft, so hatte ich den größten aller Fehler bereits begangen. Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich von mir selbst enttäuscht war. Anfangs hatte ich alles richtig gemacht:
Ich betrachtete den blendenden, weißschneeigen Himmel, der vor dem Fenster des fahrenden Zuges stand. Ich atmete ihn förmlich ein, aber trotzdem geriet ich ins Wanken. Ich gab nach - mein Interesse war geweckt. An dem Mädchen. Die Neugier siegte, und ich beschloss, so lange zu bleiben, wie es mein Zeitplan erlaubte. Ich schaute zu.
Dreiundzwanzig Minuten später hielt der Zug an, und ich stieg gemeinsam mit ihnen aus.
Eine kleine Seele lag in meinen Armen.
Ich stand zu ihrer Rechten, etwas abseits.
Die tatkräftigen beiden Wachmänner gingen zurück zu der Mutter, dem Mädchen und dem schmächtigen männlichen Leichnam. Ich erinnere mich noch genau daran, dass mein Atem an diesem Tag ungewöhnlich laut war. Ich war überrascht, dass die Wachen mich nicht bemerkten, als sie an mir vorbeigingen. Die Welt wurde niedergedrückt unter all der Last aus Schnee.
Etwa zehn Meter zu meiner Linken stand das bleiche Mädchen, durchgefroren bis auf die Knochen und mit leerem Magen.
Ihr Mund zitterte.
Sie hatte die kalten Arme überkreuzt.
Gefrorene Tränen hingen auf dem Gesicht der Bücherdiebin.
DIE FINSTERNIS
Das nächste Mal war es schwarz, wie Druckerschwärze, als ob der Gegensatz zu dem Weiß meine Vielseitigkeit unterstreichen wollte. Es war der dunkelste Augenblick vor der Dämmerung.
Diesmal war ich wegen eines Mannes von vierundzwanzig Jahren gekommen. Auf eine bestimmte Weise war es ein herrlicher Anblick. Das Flugzeug hustete noch. Rauch drang aus seiner Lunge.
Als es abstürzte, hinterließ es drei tiefe Furchen in der Erde. Seine Flügel waren nur mehr abgesägte Arme. Nie wieder durch die Lüfte gleiten. Auch das Leben des Flugzeugs war zu Ende.
 
 
 
EINE WEITERE BEMERKUNG AM RANDE
 
Manchmal treffe ich zu früh ein.Ich beeile mich,und manche Menschen klammern sich längeran das Leben als erwartet.
 
Nach einer kurzen Ansammlung von Minuten hatte sich der Rauch erschöpft. Nichts mehr war geblieben.
Zuerst kam ein Junge, mit wildem Atem und einem Gegenstand in seiner Hand, der aussah wie ein Werkzeugkasten. Beklommen näherte er sich dem Cockpit und betrachtete den Piloten, versuchte einzuschätzen, ob er am Leben war, was zu diesem Zeitpunkt noch zutraf. Die Bücherdiebin kam etwa eine halbe Minute später.
Jahre waren vergangen, aber ich erkannte sie.
Sie keuchte.
 
Aus dem Werkzeugkasten nahm der Junge einen Teddybären. Ausgerechnet einen Teddybären.
Er streckte seinen Arm durch die zersplitterte Windschutzscheibe und setzte den Teddy auf die Schulter des Piloten. Der lächelnde Bär saß gemütlich in dem Durcheinander aus Wrackteilen und im Blut des zerschmetterten Mannes. Ein paar Minuten später ergriff ich die Gelegenheit. Der Zeitpunkt war gekommen.
Ich trat hinzu, löste seine Seele und trug sie sanft hinweg.
Alles, was übrig blieb, waren der Körper, der schwächer werdende Geruch nach Rauch und der lächelnde Teddybär.
 
Als die Menschenmenge eintraf, hatte sich bereits alles verändert. Der Horizont glich glühender Kohle. Alles, was von der Schwärze übrig geblieben war, waren gekritzelte Linien auf dem Himmel, und auch die verschwanden schnell.
Im Vergleich dazu schimmerte der Mann knochenweiß. Seine Haut hatte die Farbe menschlichen Gebeins. Seine Augen waren kalt und braun - wie Kaffeeflecken -, und das schwächer werdende Gekritzel über mir formte sich, so schien es mir, zu einem merkwürdigen und doch vertrauten Zeichen.
 
Die Menge tat, was sie immer tut.
Während ich durch sie hindurchschritt, standen die Leute da und rührten in der Stille. Es war ein bescheidenes Gebräu aus unzusammenhängenden Gesten, gedämpften Sätzen und schweigender Unbehaglichkeit. Manche wandten sich ab.
Ich blickte zurück zum Flugzeug. Der offene Mund des Piloten schien zu lächeln.
Ein letzter schmutziger Witz.
Eine weitere menschliche Pointe.
Seine Uniform umfing ihn wie ein Leichentuch, während das graue Tageslicht sich in den Himmel drückte. Als ich mich weiter entfernte, war mir - wie bei so vielen anderen zuvor -, als ob sich die Welt noch einmal für einen kurzen Moment in Schatten hüllte, ein letzter Moment der Finsternis - die Erkenntnis, dass eine weitere Seele gegangen war.
Wisst ihr, ich sehe sie oft, wenn ein Mensch stirbt, diese Finsternis, trotz all der Farben, die das, was ich in der Welt wahrnehme, berühren und durchdringen.
Ich habe Millionen Finsternisse gesehen.
Ich habe sie schon so oft gesehen, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern will.
DIE FAHNE
Das letzte Mal, als ich sie sah, war es rot. Der Himmel war wie eine kochende, brodelnde Suppe. An einigen Stellen war er angebrannt. Schwarze Krumen und Pfefferkörner waren über die Röte verstreut.
Vor Kurzem hatten Kinder hier Himmel und Hölle gespielt, hier auf der Straße, die wie ölverschmierte Buchseiten aussah. Als ich ankam, konnte ich immer noch das Echo hören. Die Füße, die auf der Straße aufsetzten. Die lachenden Kinderstimmen und die salzigen, lächelnden Gesichter, der Fäulnis ausgesetzt.
Dann Bomben.
 
Diesmal war alles zu spät.
Die Sirenen. Das einfältige Gekreische im Radio. Alles zu spät.
 
In wenigen Minuten waren Berge aus Stein und Erde aufgehäuft und festgebacken. Die Straßen waren aufgerissene Adern. Blut strömte, bis es auf der Erde trocknete, und die Leichen lagen darin wie Treibgut nach einer Flut.
Sie klebten am Boden fest, jede einzelne von ihnen. Ein Haufen Seelen.
War es Schicksal?
Pech?
War es das, was sie verklebt hatte?
Natürlich nicht.
Das zu behaupten wäre lächerlich.
Es hatte wahrscheinlich mehr mit den Bomben zu tun, abgeworfen von Menschen, die sich in den Wolken versteckten.
Ja, der Himmel war nun ein verheerendes, eingekochtes Rot. Das deutsche Städtchen war ein weiteres Mal entzweigerissen worden. Schneeflocken aus Asche segelten so lieblich lilienfarben durch die Luft, dass man versucht war, die Zunge herauszustrecken und sie aufzufangen, sie zu schmecken. Aber sie hätten einem nur die Lippen versengt. Sie hätten einem den Mund verbrannt.
 
Ich sehe es klar und deutlich vor mir.
Ich wollte gerade wieder gehen, da sah ich sie auf den Knien kauern.
Ein Gebirgszug aus Schutt war geplant, entworfen und um sie herum aufgerichtet worden. Sie hielt ein Buch umklammert.
 
Abgesehen von allem anderen wünschte sich die Bücherdiebin nichts sehnlicher, als in den Keller zurückzukehren, um dort zu schreiben oder ihre Geschichte ein letztes Mal zu lesen. Im Nachhinein erkenne ich das Verlangen in ihrem Gesicht ganz deutlich. Sie hätte alles dafür gegeben - für die Sicherheit und die Geborgenheit dort -, aber sie konnte sich nicht bewegen. Außerdem existierte der Keller nicht mehr. Er war Teil der zermangelten Landschaft.
 
Noch einmal bitte ich euch inständig, mir zu glauben.
Ich wollte innehalten. Ich wollte mich niederkauern.
Ich wollte sagen:
»Es tut mir leid, Kind.«
Aber das ist nicht erlaubt.
Ich kauerte nicht. Ich sprach nicht.
Stattdessen schaute ich ihr eine Weile zu. Als sie sich wieder rühren konnte, folgte ich ihr.
Sie ließ das Buch fallen.
Sie kniete nieder.
Die Bücherdiebin heulte auf.
 
Das Buch wurde mehrmals mit Füßen getreten, als das Aufräumen begann, und obwohl befohlen worden war, dass lediglich die Steine weggeschafft werden sollten, landete der kostbare Besitz des Mädchens auf einem Müllwagen. Angesichts dieser Tatsache blieb mir keine andere Wahl. Ich kletterte hinauf und nahm es in die Hand. Mir war nicht klar, dass ich es behalten und über die Jahre hinweg wohl an die tausend Mal anschauen würde. Ich würde die Orte betrachten, an denen sich unsere Wege kreuzten, mich über die Dinge wundern, die das Mädchen sah, und darüber, dass sie überlebte. Das ist das Beste, was ich tun kann: Ich kann miterleben, wie sich die Ereignisse, die in dem Buch geschildert werden, in die Ereignisse einfügen, deren Zeuge ich in jener Zeit wurde.
 
Wenn ich an sie denke, dann sehe ich eine ganze Palette an Farben, aber es sind die drei, in denen ich sie in Fleisch und Blut erlebte, die mir am deutlichsten vor Augen stehen. Manchmal gelingt es mir, weit über jenen drei Momenten zu schweben. Ich hänge fest, bis sich eine eitrige Wahrheit in Erkenntnis erblutet.
In diesem Moment sehe ich das Muster.
 
 
 
DIE FARBEN
Sie fallen aufeinander. Das schwarze Gekritzel auf das gleißende, kreisrunde Weiß und dann auf das dickflüssige Rot.
Ja, ich denke oft an sie, und in einer meiner unzähligen Taschen bewahre ich ihre Geschichte auf, um sie weiterzuerzählen. Es ist eine von vielen, eine aus einer ganzen Legion von Geschichten, und jede davon ist einzigartig. Jede davon ist ein Versuch - ein ungeheuer mächtiger Versuch -, mir zu beweisen, dass ihr und eure menschliche Existenz es wert seid.
Hier ist sie. Eine von vielen.
Die Bücherdiebin.
Wenn ihr Lust habt, begleitet mich. Ich werde euch eine Geschichte erzählen.
Ich will euch etwas zeigen.
TEIL 1
DAS HANDBUCH DES TOTENGRÄBERS
 
 
 
Es wirken mit: die Himmelstraße - Saumenschen - eine Frau mit Eisenfäusten - ein gescheiterter Kuss - Jesse Owens - Sandpapier - der Geruch von Freundschaft - ein Schwergewichts-Champion - und die Mutter aller Watschen
ANKUNFT IN DER HIMMELSTRASSE
Das letzte Mal.
Dieser rote Himmel …
Wie konnte die Bücherdiebin so enden, auf den Knien, heulend und flankiert von lächerlich wirkenden, klebrigen, zusammengebackenen Schutthaufen - alles das Werk von Menschen?
Es begann Jahre zuvor, mit Schnee.
Die Zeit war gekommen. Für einen.
 
 
 
EIN BESONDERS TRAGISCHER MOMENT
 
Ein Zug fuhr schnell.Er war vollgepackt mit Menschen.Im dritten Wagen starb ein sechsjähriger Junge.
 
Die Bücherdiebin und ihr Bruder fuhren nach München, wo sie Pflegeeltern übergeben werden sollten. Aber wir wissen ja bereits, dass der Junge dort niemals ankam.
 
 
 
WIE ES GESCHAH
 
Ein heftiger Hustenanfall.Ein letzter Atemzug, der Endspurt.Und dann - nichts mehr.
Als der Husten aufhörte, blieb nichts mehr außer dem Nichts des Lebens, das weiterschleift, kurz und still aufzuckt. Eine Plötzlichkeit fand ihren Weg auf seine Lippen - Lippen von einem korrodierten Braun, die sich abschälten wie alte Farbe. Die dringend einen neuen Anstrich benötigten.
Ihre Mutter schlief.
Ich betrat den Zug.
Meine Füße bahnten sich durch den überfüllten Gang, und dann lag meine Hand auf seinem Mund.
Niemand bemerkte etwas.
Der Zug raste weiter.
Bis auf das Mädchen.
 
Mit einem wachen und einem noch träumenden Auge sah die Bücherdiebin, auch bekannt unter ihrem Namen Liesel Meminger, dass Werner, ihr kleiner Bruder, zur Seite gerutscht war. Er war tot, daran gab es keinen Zweifel.
Seine blauen Augen starrten zu Boden.
Und sahen nichts.
 
Bevor sie aufwachte, hatte die Bücherdiebin vom Führer geträumt, von Adolf Hitler. In ihrem Traum nahm sie an einer Versammlung teil, auf der er eine Rede hielt. Sie betrachtete den knochenfarbenen Scheitel in seinem Haar und das vollkommene Viereck seines Schnurrbarts. Bereitwillig lauschte sie dem Strom aus Worten, die aus seinem Mund quollen. Seine Sätze glühten im Licht. In einem ruhigeren Augenblick beugte er sich doch tatsächlich nieder und lächelte sie an. Sie erwiderte das Lächeln und sagte: »Guten Tag, Herr Führer. Wie geht’s dir heut?« Sie konnte nicht besonders gut sprechen, geschweige denn lesen, weil sie kaum je die Schule besucht hatte. Den Grund dafür würde sie zur rechten Zeit erfahren.
Gerade als der Führer antworten wollte, wachte sie auf.
Es war Januar 1939. Sie war neun Jahre alt.
Ihr Bruder war tot.
Ein Auge offen.
Eines noch träumend.
Ich glaube, es ist besser, wenn ein Traum vollendet wird, aber darüber habe ich nun wirklich keine Macht.
Das zweite Auge schrak auf, erwachte und erwischte mich, gerade als ich niederkniete, seine Seele heraustrennte, in meine geschwollenen Arme nahm, wo sie schlaff lag. Schon bald wurde sie wärmer, aber als ich die Seele des Jungen aufnahm, war sie noch ganz weich und kalt, wie Eiskrem. Sie schmolz in meinen Armen. Dann wurde sie warm. Heilte.
Für Liesel Meminger blieben nur die eingekerkerte Steifheit der Glieder und der beständige Angriff der Gedanken. Es stimmt nicht. Es stimmt nicht. Es stimmt nicht.
Und das Zittern.
Warum zittern sie immer?
Ja, ich weiß, ich weiß - ich nehme an, es hat etwas mit Instinkt zu tun. Den Fluss der Wahrheit aufzuhalten. Ihr Herz war in diesem Augenblick schlüpfrig und heiß, und laut, so laut so laut.
Dummerweise blieb ich. Ich schaute zu.
 
Als Nächstes ihre Mutter.
Die Bücherdiebin weckte sie mit demselben verstörten Zittern.
Vielleicht könnt ihr es euch vorstellen, vielleicht auch nicht. Denkt euch eine schwerfällige Stille. Denkt euch Fetzen und Splitter aus fließender Verzweiflung. Und stellt euch vor, wie man in einem Zug ertrinkt.
 
Es schneite unentwegt, und der Zug nach München musste wegen eingeschneiter Gleise auf der Strecke anhalten. Eine Frau heulte. Neben ihr stand ein Mädchen, wie betäubt.
In Panik öffnete die Mutter die Tür.
Sie kletterte hinaus in den Schnee, den kleinen Körper in den Armen.
Dem Mädchen blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Wie ihr bereits wisst, stiegen auch zwei Wachmänner aus. Sie diskutierten und stritten darüber, was zu tun war. Die Situation war, gelinde gesagt, unerfreulich. Es wurde schließlich beschlossen, dass alle drei zur nächsten Station gebracht werden sollten, wo man Weiteres veranlassen würde.
Diesmal humpelte der Zug durch das eingeschneite Land. Er taumelte in den Bahnhof und blieb stehen.
Sie traten auf den Bahnsteig, der Körper des Jungen noch immer in den Armen der Mutter.
Sie standen da.
Der Junge wurde schwer.
 
Liesel hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Alles war weiß, und als sie im Bahnhof zurückblieben, starrte sie auf die verblassten Buchstaben auf dem Schild vor ihr. Für Liesel hatte dieses Dorf keinen Namen. Hier, in diesem namenlosen Dorf, sollte ihr Bruder Werner zwei Tage später begraben werden. Die Trauergesellschaft bestand aus einem Priester und zwei frierenden Totengräbern.
 
 
 
EINE ÜBERLEGUNG
 
Zwei Wachmänner.Zwei Totengräber.Der eine gibt Befehle.Der andere tut, was man ihm sagt.Was, wenn der andere mehr als ein Einzelner wäre?
 
Fehler, Fehler - manchmal scheine ich nichts als Fehler zu machen.
Zwei Tage lang kümmerte ich mich um meine Angelegenheiten. Ich reiste über den Erdball und legte die Seelen auf das Förderband zur Ewigkeit. Ich sah ihnen nach, wie sie reglos dahinglitten.
Ein paar Mal schärfte ich mir ein, mich von der Beerdigung von Liesel Memingers Bruder fernzuhalten. Doch ich missachtete meinen eigenen Rat.
Bereits aus großer Entfernung sah ich die kleine Gruppe Menschen steif inmitten des Ödlands aus Schnee stehen. Ich näherte mich, und der Friedhof hieß mich willkommen wie einen Freund.
Schon bald war ich bei ihnen.
Ich senkte den Kopf.
 
Links neben Liesel standen die Totengräber, rieben sich die Hände und jammerten über den Schnee und die schlechten Arbeitsbedingungen. »Es ist so schwer, durch das ganze Eis zu graben« und so weiter. Einer von ihnen war sicher nicht älter als vierzehn Jahre. Ein Lehrling.
Als er davonging, fiel ihm nach ein paar Dutzend Schritten ein schwarzes Buch aus der Manteltasche, ohne dass er es merkte. Ein sanfter Fall.
 
Ein paar Minuten später wandte sich Liesels Mutter gemeinsam mit dem Priester zum Gehen. Sie dankte ihm für die Zeremonie.
Aber das Mädchen blieb.
Ihre Knie berührten den eisigen Boden. Ihr Augenblick war gekommen.
Immer noch ungläubig, fing sie an zu graben. Er konnte nicht tot sein. Er konnte nicht tot sein. Er konnte nicht …
Innerhalb von Sekunden hatte sich der Schnee in ihre Haut gefressen.
Gefrorenes Blut malte Linien auf ihren Händen.
Irgendwo in all dem Schnee sah sie ihr entzweigebrochenes Herz. Jede seiner Hälften glühte und schlug unter all dem Weiß. Sie merkte erst, dass ihre Mutter zurückgekommen war, um sie zu holen, als sie die knochige Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie wurde weggezerrt. Ein warmer Schrei füllte ihre Kehle.
EINE KURZE SZENE, ETWA ZWANZIG METER ENTFERNT
 
Als das Zerren ein Ende nahm, standen die Mutter unddas Mädchen da und atmeten.Etwas Schwarzes, Eckiges ruhte im Schnee.Nur das Mädchen sah es.Sie bückte sich, hob es auf und hielt es fest inihren Fingern.Die Schrift auf dem Buch war silbern.
 
Sie hielten sich an den Händen.
Ein letzter, durchnässter Abschied, dann drehten sie sich um und verließen den Friedhof, wobei sie mehrmals zurückschauten.
Ich dagegen blieb noch ein Weilchen länger.
Ich winkte.
Niemand winkte zurück.
 
Mutter und Tochter ließen den Friedhof hinter sich und machten sich auf zum Bahnhof, um den nächsten Zug zu besteigen, der nach München fuhr.
Beide waren mager und bleich.
Beide hatten wunde Lippen.
Liesel sah es in dem schmutzigen, angelaufenen Fenster des Zuges, als sie kurz vor Mittag einstiegen. In den Worten der Bücherdiebin, die sie später niederschrieb, setzten sie ihre Reise fort, als ob alles passiert sei.
 
Als der Zug im Münchener Hauptbahnhof einfuhr, quollen die Passagiere aus den Wagen wie aus einem aufgerissenen Paket. Es waren Menschen jeder Größe und Statur; die Armen unter ihnen erkannte man am leichtesten. Sie bemühen sich, immer in Bewegung zu bleiben, als ob es helfen würde, von einem Ort zum anderen zu gehen. Sie ignorieren die Tatsache, dass am Ende ihrer Reise nur eine neue Version desselben alten Problems auf sie wartet - wie ein Verwandter, den man nur widerwillig begrüßt.
Ich glaube, die Mutter wusste das nur zu genau. Sie würde ihr Kind zwar nicht den oberen Zehntausend von München übergeben, aber immerhin einer Pflegefamilie, die das Mädchen und den Jungen zumindest ernähren und ihnen eine Ausbildung angedeihen lassen konnte.
Den Jungen.
Liesel war sich sicher, dass die Mutter die Erinnerung an ihn mit sich trug, auf ihren Schultern. Sie setzte ihn ab. Sie sah seine Füße und Beine und den Rumpf auf dem Bahnsteig aufschlagen.
Wie konnte diese Frau bloß laufen?
Wie schaffte sie es, sich zu bewegen?
Das ist etwas, was ich nie wissen oder begreifen werde - wozu menschliche Wesen fähig sind.
Sie hob ihn auf und lief weiter. Das Mädchen blieb dicht an ihrer Seite.
 
Ihr nächster Weg führte sie zu den Behörden. Fragen wurden gestellt, über ihre Verspätung und den Jungen, und diese Fragen brachten sie dazu, die verletzlichen Köpfe zu heben. Liesel blieb in der Ecke des kleinen, staubigen Büros, während ihre Mutter mit verkrampften Gedanken auf einem sehr harten Stuhl saß.
Dann kam das Durcheinander des Abschieds.
Der Abschied war feucht. Das Mädchen vergrub den Kopf in den wollenen, fadenscheinigen Tiefen des Mantels der Mutter. Wieder nahm das Gezerre seinen Anfang und sein Ende.
 
Eine ganze Wegstrecke außerhalb von München lag eine Kleinstadt namens Molching. Dorthin brachte man sie, in eine Straße, die nach dem Himmel benannt war.
Wer immer der Himmelstraße ihren Namen gegeben hatte, war offensichtlich mit einem gesunden Sinn für Humor gesegnet gewesen. Nicht dass es die Hölle auf Erden wäre. Das nicht. Aber so sicher, wie es nicht die Hölle war, so sicher war es auch nicht der Himmel.
Dessen ungeachtet warteten die Pflegeeltern auf ihren Schützling.
Die Hubermanns.
Sie hatten ein Mädchen und einen Jungen erwartet, für deren Pflege sie eine magere Unterstützung bekommen sollten. Niemand wollte Rosa Hubermann erklären müssen, dass der Junge die Reise nicht überlebt hatte. Tatsache war, dass überhaupt niemand jemals den Wunsch hatte, ihr irgendetwas erklären zu müssen. Was ihre Natur anging, so war sie nicht gerade als umgänglich bekannt, obwohl sie in Bezug auf Pflegekinder einen guten Ruf genoss. Sie hatte etliche von ihnen geradegerückt.
Liesel fuhr in einem Auto.
Sie war noch nie in einem Auto gefahren.
Ihr Magen hob und senkte sich unentwegt, gemeinsam mit ihrer vergeblichen Hoffnung, dass sie sich verfahren würden oder irgendjemand seine Meinung ändern würde. Inmitten von all dem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu ihrer Mutter zurück, die am Bahnhof darauf wartete, wieder abfahren zu können. Zitternd. Eingehüllt in diesen nutzlosen Mantel. Sie kaute an den Nägeln und wartete auf den Zug. Der Bahnsteig war lang und ungemütlich, ein Band aus kaltem Zement. Würde sie bei ihrer Rückfahrt nach der Grabstätte ihres Sohnes Ausschau halten? Oder würde der Schlaf übermächtig sein?
Der Wagen fuhr weiter, und Liesel sah voller Angst der letzten, endgültigen Kurve entgegen.
 
Der Tag war grau, die Farbe Europas.
Vorhänge aus Regen waren um den Wagen gezogen.
»Wir sind gleich da.« Die Dame von der Pflegevermittlung, Frau Heinrich, wandte sich um und lächelte. »Dein neues Zuhause.«
Liesel wischte einen blanken Kreis auf die angelaufene Fensterscheibe und schaute hinaus.
 
 
 
MOMENTAUFNAHME DER HIMMELSTRASSE
 
Die Gebäude scheinen zusammengeklebt zu sein,meistens kleine zweistöckige Häuser undMehrfamilienhäuser, die nervös wirken.Schmutziger Schnee liegt ausgebreitet da wie ein Teppich.Zement, leere Hutständerbäume und graue Luft.
 
Im Auto saß auch ein Mann. Während Frau Heinrich im Haus verschwand, blieb er bei dem Mädchen. Er sagte kein Wort. Liesel vermutete, dass er sie im Zweifelsfall am Weglaufen hindern oder sie nach drinnen schleppen sollte, wenn sie versuchte, Ärger zu machen. Als der Ärger jedoch anfing, saß er einfach nur da und sah zu. Vielleicht war er nur der letzte Ausweg, wenn nichts anderes mehr half.
Nach ein paar Minuten kam ein sehr großer Mann nach draußen. Hans Hubermann, Liesels Pflegevater. An seiner einen Seite ging die mittelgroße Frau Heinrich. An seiner anderen befand sich die klobige Gestalt von Rosa Hubermann, die aussah wie ein kleiner Schrank, über den man einen Mantel geworfen hatte. Sie watschelte mehr, als dass sie ging. Man hätte es fast niedlich nennen können, wenn da nicht ihr Gesicht gewesen wäre, verkniffen wie zerdrückte Pappe und verärgert, als ob sie sich mit allem und jedem nur gerade eben so abfinden könnte. Ihr Mann ging aufrecht und hatte eine brennende Zigarette zwischen den Fingern. Eine selbst gedrehte.
 
Folgendes geschah:
Liesel weigerte sich auszusteigen.
»Was ist los mit dem Kind?«, wollte Rosa Hubermann wissen. Sie wiederholte es: »Was ist los mit diesem Kind?« Sie steckte ihr Gesicht in den Wagen und sagte: »Na, komm. Komm.«
Der Vordersitz flog auf das Armaturenbrett zu. Ein Korridor aus kaltem Licht öffnete sich Liesel. Sie rührte sich nicht.
Durch den Kreis auf der Fensterscheibe, den sie gewischt hatte, konnte Liesel die Finger des großen Mannes draußen sehen, die immer noch die Zigarette hielten. Asche taumelte von ihrer Spitze, wirbelte ein paar Mal herum und fiel dann zu Boden. Es dauerte fast fünfzehn Minuten, bis sie sich aus dem Auto locken ließ. Es war der große Mann, dem das Kunststück gelang.
Still.
 
Dann kam das Gartentor. Sie klammerte sich daran.
Tränen stürmten aus ihren Augen, während sie sich festhielt und sich weigerte, ins Haus zu gehen. Die Leute kamen aus ihren Häusern auf die Straße und gafften, bis Rosa Hubermann ihnen Flüche entgegenschleuderte, die dafür sorgten, dass sie dahin zurückeilten, woher sie gekommen waren.
 
 
 
WAS ROSA HUBERMANN IHNEN ZU SAGEN HATTE
 
»Was glotzt ihr denn so, ihr Arschlöcher?«
 
Schließlich trat Liesel Meminger zögernd ein. Hans Hubermann hielt ihre Hand. Der kleine Koffer hielt ihre andere. Vergraben in den Falten ihrer Kleidung im Innern des Koffers lag ein kleines schwarzes Buch, nach dem - so dürfen wir vermuten - ein vierzehnjähriger Totengräber in einem namenlosen Dorf stundenlang gesucht hatte. »Ich schwöre Ihnen«, höre ich ihn zu seinem Vorgesetzten sagen, »ich habe keine Ahnung, wo es geblieben ist. Ich habe überall gesucht. Überall!« Ich bin sicher, dass er niemals das Mädchen verdächtigt hätte. Und doch war es hier - ein schwarzes Buch mit silbernen Buchstaben unter der Decke ihrer Kleidung:
 
 
 
HANDBUCH FÜR TOTENGRÄBER
 
In zwölf Schritten zum Erfolg.Wie man ein guter Totengräber wird.Herausgegeben von der Bayerischen Friedhofsvereinigung.
 
Die Bücherdiebin hatte zum ersten Mal zugeschlagen. Es war der Beginn einer außergewöhnlichen Karriere.
ALS SAUMENSCH AUFZUWACHSEN
Ja, eine außergewöhnliche Karriere.
Ich sollte allerdings vorausschicken, dass zwischen dem ersten Diebstahl und dem zweiten eine nicht unerhebliche Zeitspanne lag. Eine weitere bemerkenswerte Tatsache ist, dass das erste Buch aus dem Schnee gestohlen wurde und das zweite aus dem Feuer. Und es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass sie Bücher geschenkt bekam. Alles in allem besaß sie vierzehn Bücher, aber ihre Geschichte besteht - aus ihrem Blickwinkel heraus betrachtet - hauptsächlich aus zehn. Von diesen zehn waren sechs gestohlen. Eines tauchte auf dem Küchentisch auf, zwei fertigte ein versteckter Jude für sie an, und eines wurde ihr an einem weichen, gelbgekleideten Nachmittag überreicht.
Als sie ihre Geschichte aufschrieb, fragte sie sich, ab welchem Augenblick genau die Bücher und Worte nicht mehr nur irgendetwas bedeuteten, sondern alles. War es, als sie das erste Mal jenen Raum erblickte, in dem sich die Regale bis zur Zimmerdecke streckten? Oder als Max Vandenburg in der Himmelstraße eintraf und zwei Hände voll Leid und eine Ausgabe von Hitlers Mein Kampf bei sich trug? War es das Vorlesen im Luftschutzraum? Der letzte Marsch nach Dachau? War es Die Worteschüttlerin? Vielleicht würde es niemals eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Wann und Wo geben. Überhaupt greife ich mir selbst vor. Bis wir zu den genannten Ereignissen kommen, müssen wir uns zunächst Liesel Memingers Anfängen in der Himmelstraße widmen und der Frage, was es mit Saumenschen auf sich hat.
Bei ihrer Ankunft waren die Bissspuren des Schnees auf ihren Händen und das frostige Blut auf ihren Fingern noch deutlich sichtbar. Alles an ihr war unterernährt. Drahtdünne Schienbeine. Arme, hager wie Kleiderbügel. Sie zeigte es nicht oft, aber wenn es herausbrach, war auch ihr Lächeln am Verhungern.
Ihre Haarfarbe näherte sich dem Blond, das als Kennzeichen des Deutschtums galt, aber sie hatte gefährliche Augen. Dunkelbraun. Zu jener Zeit mochte man in Deutschland keine braunen Augen. Vielleicht hatte sie die von ihrem Vater geerbt, aber wissen konnte sie es nicht; sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Es gab nur eine einzige Sache, die sie von ihrem Vater wusste, ein Etikett, das sie nicht verstand.
 
 
 
EIN MERKWÜRDIGES WORT
 
Kommunist
 
Sie hatte es in den vergangenen Jahren einige Male gehört.
»Kommunist.«
Da waren Pensionen, vollgestopft mit Menschen, Zimmer, vollgestopft mit Fragen. Und dieses Wort. Das merkwürdige Wort war immer da, irgendwo in der Nähe, stand in der Ecke, lauerte im Schatten. Es trug Anzüge und Uniformen. Egal wohin sie gingen, es war da, sobald die Sprache auf ihren Vater kam. Sie konnte es riechen und schmecken. Sie konnte es nur nicht buchstabieren und auch nicht begreifen. Wenn sie ihre Mutter fragte, was es bedeutete, wurde ihr gesagt, dass es nicht wichtig sei, dass sie sich über diese Sachen keine Sorgen machen solle. In einer Pension gab es eine Frau, die kräftiger und gesünder war als die anderen und die versuchte, den Kindern das Schreiben beizubringen, indem sie mit Kohle auf Wände malte. Liesel hätte sie zu gerne nach der Bedeutung jenes Wortes gefragt, aber es bot sich einfach nie die Gelegenheit. Eines Tages holte man die Frau zum Verhör. Sie kehrte nicht zurück.
Als Liesel in Molching eintraf, hatte sie zumindest eine Ahnung, dass sie gerettet war, aber das war ihr kein Trost. Wenn ihre Mutter sie liebte, warum setzte sie sie dann vor der Haustür von Fremden aus? Warum? Warum?
Warum?
Der Umstand, dass sie die Antwort kannte - wenn auch nur in groben Zügen -, war unwichtig. Ihre Mutter war ständig krank, und es war nie genug Geld da, um sie gesund zu machen. Liesel wusste das. Aber das hieß nicht, dass sie es auch akzeptieren musste. Auch wenn ihr immer wieder gesagt worden war, dass sie geliebt wurde, so gab es für sie keinen Grund, den Beweis dafür in der Tatsache zu sehen, dass sie zurückgelassen worden war. Nichts konnte etwas daran ändern, dass sie ein verlorenes, hageres Kind an einem weiteren fremden Ort war, mit noch mehr fremden Menschen. Allein.
 
Die Hubermanns lebten in einem der kleineren Häuser in der Himmelstraße. Eine Handvoll Zimmer, eine Küche und ein Toilettenhäuschen hinter dem Haus, das sie sich mit den Nachbarn teilten. Das Dach war flach, und es gab einen niedrigen Keller, wo Vorräte aufbewahrt wurden. Der Keller war wirklich sehr niedrig. 1939 war das noch kein Problem. Später, 1942 und’43, wurde es zu einem. Als die Luftangriffe begannen, mussten sie immer die Straße hinunterlaufen, bis sie zu einem geeigneten Schutzraum kamen.
Am Anfang war es das Fluchen, das den größten Eindruck auf Liesel machte. Es war so heftig und maßlos. Jedes zweite Wort war entweder Saumensch oder Saukerl oder Arschloch.
»Saumensch, du dreckiges!«, schrie Liesels Pflegemutter an jenem ersten Abend, als das Mädchen sich weigerte, ein Bad zu nehmen. »Du dreckiges Schwein! Warum willst du dich nicht ausziehen?« Zu wüten war eine ihrer großen Stärken. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass Rosa Hubermanns Gesicht permanent mit Wut bekleidet war. So waren die Knitter und Falten in ihrer Pappkartonhaut entstanden.
Liesel ihrerseits war in Angst gebadet. Auf keinen Fall würde sie in die Wanne steigen und erst recht nicht in ein Bett. Sie hatte sich in eine Ecke des wandschrankengen Badezimmers geklemmt und tastete nach nicht vorhandenen Armen an der Wand, an denen sie sich festhalten konnte. Aber da war nichts außer der Wandfarbe, gepressten Atemzügen und der Sintflut aus Rosas Beschimpfungen.
»Lass sie in Ruhe.« Hans Hubermann betrat die Szene. Seine sanfte Stimme bahnte sich den Weg hinein, als ob sie durch eine Menschenmenge schlüpfte. »Überlass sie mir.«
Er kam näher und setzte sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Die Kacheln waren kalt und unfreundlich.
»Weißt du, wie man Zigaretten dreht?«, fragte er sie, und in der nächsten Stunde saßen sie in dem aufsteigenden Teich aus Dunkelheit, spielten mit Tabak und Zigarettenpapierchen. Hans Hubermann rauchte ihre selbst gedrehten Zigaretten.
Als die Stunde vorbei war, konnte Liesel eine halbwegs anständige Zigarette drehen. Ein Bad nahm sie noch immer nicht.
 
 
 
EIN PAAR WORTE ÜBER HANS HUBERMANN
 
Er rauchte gern.Was er am Rauchen am meisten mochte,war das Drehen der Zigaretten.Er war Anstreicher von Beruf, und er spielte Akkordeon.Das war ganz nützlich, besonders im Winter, wenn er einbisschen Geld verdienen konnte, indem er in den Kneipenvon Molching spielte, im »Knoller« beispielsweise.Er war mir bereits in einem Weltkrieg aus dem Weggegangen, sollte aber später in einen zweiten geschicktwerden (als eine perverse Art von Belohnung), wo er esirgendwie schaffte, sich mir ein weiteres Mal zu entziehen.
Für die meisten Menschen war Hans Hubermann kaum sichtbar. Ein un-besonderer Mensch. Seine Fähigkeiten als Anstreicher waren zweifellos exzellent. Sein Können als Musiker war überdurchschnittlich. Und doch war er irgendwie in der Lage - und ich bin mir sicher, dass auch euch schon solche Menschen begegnet sind -, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, selbst wenn er in vorderster Reihe stand. Er war immer nur da. Nicht auffällig. Nicht wichtig oder besonders wertvoll.
Das Gute an diesem Eindruck war, dass er täuschte. Denn Hans Hubermann war wertvoll, und Liesel Meminger erkannte dies. (Das Menschenkind - manchmal viel schlauer als der unfassbar schwerfällige Erwachsene.) Sie bemerkte es sofort.
Seine Haltung.
Die Ruhe, die ihn umgab.
Als er an jenem Abend das Licht in dem kleinen, lieblos wirkenden Badezimmer einschaltete, betrachtete Liesel die außergewöhnlichen Augen ihres Pflegevaters. Sie waren aus Freundlichkeit gemacht und aus Silber. Weiches Silber, schmelzend. Liesel sah diese Augen und begriff, dass Hans Hubermann sogar eine ganze Menge wert war.
 
 
 
EIN PAAR WORTE ÜBER ROSA HUBERMANN
 
Sie war 1,55 Meter groß und trug die braungrauen Strähnenihres elastischen Haars zu einem Knoten am Hinterkopfzusammengefasst. Um die Haushaltskasse aufzubessern,wusch und bügelte sie die Wäsche für fünf derwohlhabenderen Familien in Molching.Ihr Essen schmeckte scheußlich.Sie besaß das unglaubliche Talent, fast jeden,den sie traf, vor den Kopf zu stoßen.Aber sie liebte Liesel Meminger.Sie hatte nur einfach eine merkwürdige Art,diese Liebe zu zeigen.Ihre Art bestand darin, sie regelmäßig mit dem Kochlöffelund mit Beschimpfungen zu malträtieren.
 
Als Liesel endlich ein Bad nahm - zwei Wochen nachdem sie in der Himmelstraße eingetroffen war -, nahm Rosa sie in die Arme und drückte sie so heftig, dass ihr die Knochen knackten. Während sie das Mädchen fast erstickte, sagte sie: »Saumensch, du dreckiges - das wurde aber auch Zeit!«
 
Ein paar Monate später waren sie nicht mehr Herr und Frau Hubermann. Mit der ihr eigenen Art warf Rosa Hubermann Liesel eines Tages eine Faustvoll Worte entgegen: »Jetzt hör mal zu, Liesel, von heute an nennst du mich Mama.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Wie hast du deine richtige Mutter genannt?«
Leise sagte Liesel: »Auch Mama.«
»Na, dann bin ich jetzt Mama Nummer zwei.« Sie warf ihrem Ehemann einen Blick zu. »Und den da drüben.« Sie schien die Worte in ihrer Hand zu sammeln, sie zu einem Teig zu kneten und sie über den Tisch zu feuern. »Den Saukerl da, den nennst du Papa, verstanden?«
»Ja«, nickte Liesel schnell. Schnelle Antworten wurden in diesem Haus geschätzt.
»Ja, Mama«, korrigierte Mama sie. »Saumensch! Nenn mich Mama, wenn du mit mir redest!«
In diesem Moment war Hans Hubermann mit dem Drehen seiner Zigarette fertig geworden, hatte das Papier abgeleckt und sie zwischen seinen Fingern glatt gerollt. Er schaute zu Liesel hinüber und zwinkerte ihr zu. Sie hatte keine Vorbehalte, ihn Papa zu nennen.
DIE FRAU MIT DER EISENFAUST
Die ersten Monate waren die schwersten.
Jede Nacht hatte Liesel Albträume.
Das Gesicht ihres Bruders.
Das zu Boden starrt.
Sie wachte auf, schwamm in ihrem Bett, schrie und drohte in der Flut ihrer Decken zu ertrinken. Auf der anderen Seite des Zimmers trieb das Bett, das für ihren Bruder bestimmt gewesen war, wie ein Boot in der Finsternis. Langsam sank es zu Boden, während das Bewusstsein wiederkehrte. Keine wirkliche Erleichterung - und für gewöhnlich dauerte es eine ganze Weile, bis das Schreien aufhörte.
Das einzig Gute an diesen Albträumen war, dass sie Hans Hubermann, ihren neuen Papa, zu ihr ins Zimmer trieben, um sie zu beruhigen und sie zu trösten.
Er kam jede Nacht und setzte sich zu ihr. Die ersten paar Male blieb er einfach nur da - ein Fremder, der die Einsamkeit tötete.
Ein paar Nächte später flüsterte er: »Sch, sch, ist ja gut, ich bin ja da.«
Nach drei Wochen nahm er sie in den Arm. Schnell war Vertrauen geschaffen, angesichts der überwältigenden Stärke, die der Sanftheit dieses Mannes innewohnte, angesichts seines Daseins. Das Mädchen wusste intuitiv, dass Hans Hubermann stets mitten im Schreien auftauchen und dass er sie nicht alleinlassen würde.
Die Originalausgabe erschien erstmals 2005 unter dem Titel »The Book Thief« bei Pan Macmillan Australia, Sydney.
Verlagsgruppe Random House
 
 
 
1. Auflage
Text Copyright © der Originalausgabe 2005 by Markus Zusak
Illustration Copyright © 2005, 2008 Trudy White Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by cbj /Blanvalet Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
eISBN : 978-3-894-80427-5
 
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Leseprobe
 

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