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Die Bücherfrauen E-Book

Romalyn Tilghman

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Beschreibung

Mit ihrer Liebe zu Büchern schenken drei mutige Frauen einer zerstörten Kleinstadt neue Hoffnung In Prairie Hill, einer Kleinstadt irgendwo in Kansas, steht nach einem Tornado nur noch die Fassade der Bibliothek. Angelina kehrt für ihre Doktorarbeit zurück an den magischen Ort ihrer Kindheit. Ihre Liebe zum Lesen erbte sie von ihrer Großmutter Amanda. Frauen wie Amanda, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Kultur in die entlegensten Winkel des Landes brachten, widmet Angelina ihre Studien. In Kansas begegnet sie zwei Frauen, die wie sie an einem Wendepunkt stehen. Gemeinsam entwickeln sie eine Schaffenskraft, die der Kleinstadt neue Hoffnung gibt. Am Ende der Welt finden die drei Frauen einen neuen Lebenssinn und ihr ganz persönliches Glück. »Ein warmherziger Roman über den Wert der Gemeinschaft. Eine inspirierende Geschichte über Frauen aus heutigen und vergangenen Zeiten.« Library Review Journal

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Seitenzahl: 400

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Romalyn Tilghman

Die Bücherfrauen

Roman

 

Aus dem amerikanischen Englischvon Britt Somann-Jung

 

Über dieses Buch

 

 

Drei Frauen, die aus den Trümmern einer Katastrophe eine neue Gemeinschaft errichten

 

In Prairie Hill, einer Kleinstadt irgendwo in Kansas, steht nach einem Tornado nur noch die Fassade der Bibliothek.

Angelina kehrt für ihre Forschungsarbeit zurück an den magischen Ort ihrer Kindheit. Ihre Liebe zu Büchern erbte sie von ihrer Großmutter Amanda. Frauen wie Amanda, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts Kultur in die entlegensten Winkel des Landes brachten, widmet Angelina ihre Studien. In Kansas begegnet sie zwei Frauen, die wie sie an einem Wendepunkt stehen. Gemeinsam entwickeln sie eine Schaffenskraft, die der Kleinstadt neue Hoffnung gibt. Am Ende der Welt finden die drei Frauen einen neuen Lebenssinn in der kleinen Gemeinschaft und ihr ganz persönliches Glück.

»Ein warmherziger Roman über den Wert der Gemeinschaft. Eine inspirierende Geschichte über Frauen aus heutigen und vergangenen Zeiten.« Library Review Journal

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tilghman, Romalyn

Romalyn Tilghman hat ihr ganzes Leben in der Kulturförderung gearbeitet. Nach ihrem Universitätsabschluss in Journalismus leitete sie eine Vereinigung für Kulturförderung in Kansas. Im Lauf ihrer Karriere arbeitete sie in ländlichen Kulturvereinen überall in den Vereinigten Staaten. In ihrer täglichen Arbeit ist sie Zeugin, wie Gruppen von vorwiegend Frauen in den entlegensten Winkeln des Landes für Kultur kämpfen. »Die Bücherfrauen« ist ihr erster Roman. Er wurde zum Überraschungserfolg des Indie-Verlages ›She Writes Press‹ und gewann zahlreiche Preise. Heute lebt Romalyn Tilghman in Los Angeles, USA.

 

Somann-Jung, Britt

Britt Somann-Jung ist Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Neben Elizabeth Gilberts »City of Girls« übersetzte sie zuletzt Werke von Ta-Nehisi Coates, Heidi Julavits und Matt Sumell. Ihre Übertragung des Romans »In guten wie in schlechten Tagen« von Tayari Jones wurde 2019 mit einem der Hamburger Literaturpreise ausgezeichnet.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

»Eine Bibliothek übertrifft alles, was eine Gemeinde zum Wohle ihrer Bürger bereitstellen kann. Sie ist ein stets sprudelnder Quell in der Wüste.«

Andrew Carnegie

»Mitglieder des Gilt-Edged Mikado Club (GEM) wurden beauftragt, die Bürger um Bücher, Journale, Magazine, Illustrierte, Bilder etc. für die öffentliche Bibliothek von Cherryvale zu ersuchen. Eine öffentliche Bibliothek wird in Cherryvale dringend benötigt, und indem man die Bürger im Verlauf der Woche und auch zukünftig von Zeit zu Zeit um Spenden bittet, lässt sich ein solches Unterfangen ohne allzu große Aufwendungen Einzelner bewerkstelligen. Die Damen des Clubs erachten es als selbstverständlich, dass sie lediglich die Bewahrerinnen jener der Bibliothek gespendeten Güter sind, dass es sich vielmehr um Güter der Allgemeinheit handelt, so wie in allen anderen öffentlichen Bibliotheken auch.«

Globe Torch

24. November 1886

Buch eins

Tornado zerstört Stadt in Kansas

New Hope, Ks (AP) Die Gemeinde Prairie Hill, Kansas (2754 Einwohner), wurde am Samstagabend von einem Tornado der Stärke EF-5, der höchsten Stufe auf der Enhanced Fujita Scale, völlig zerstört. Der Wirbel hatte eine Breite von 1,7 Meilen und bewegte sich über eine Strecke von 24 Meilen und eine Dauer von 29 Minuten ohne Unterbrechung über den Boden, bei einer Geschwindigkeit von 200 mph.

 

Über hundert Verletzte wurden in der provisorischen Klinik von New Hope behandelt. Prairie Hill wurde dem Erdboden gleichgemacht; Kirchen, Schulen, Geschäfte und Wohnhäuser liegen in Schutt und Asche.

 

»Eine einzige Wand ist stehen geblieben«, sagte Bürgermeister Wade Brown. »Die Fassade der alten Carnegie-Bibliothek ist das einzige vertikale Objekt in der gesamten Stadt. Ansonsten sieht man nur Himmel, egal wohin man blickt. Flache Trümmer und Himmel. Wir hatten Glück; wir wurden zwanzig Minuten vorher gewarnt, was viele hundert Leben gerettet hat, aber abgesehen davon ist uns nichts geblieben.«

 

New Hope Gazette

31. Mai 2008

Angelina

Der leere Horizont passte zu dem leeren Notizheft mit Spiralbindung, das sich hinten in meine Hüfte bohrte. Während ich die I-70 entlangglitt, lag vor mir alles und nichts. Ich hatte noch hundert Tage, um meine Dissertation abzuschließen und die zum letzten Mal verlängerte Deadline einzuhalten. Jetzt oder nie, das hatte mein Betreuer unmissverständlich klargemacht. Ich konnte den Sack zumachen oder … oder was? Bei der miesen Wirtschaftslage waren die Aussichten für mittellose Studienabbrecher nicht gerade rosig.

Es wurde Zeit, dass ich nach New Hope kam. Keine Umwege mehr. Keine Ablenkungen. Es wurde Zeit, wieder auf den Stufen zu stehen, die mich dazu inspiriert hatten, über die Bibliotheken Andrew Carnegies zu schreiben. Wenn die Bibliothek im Nachbarort zerstört war, was mochte dann mit meiner Bibliothek sein? Mit der Bibliothek, die mich die Liebe zu den Büchern gelehrt und damit mein Leben verändert hatte? Ich musste ihr die Ehre erweisen und in ihre Geschichte eintauchen, solange sie noch stand, auch wenn sie mittlerweile ein Kulturzentrum war.

Die nötigen Vorkehrungen zu treffen, war nicht leicht gewesen; in manchen Momenten hatte mich schiere Panik erfasst. Hätte ich nicht gerade Eat, Pray, Love verschlungen, hätte ich mir vielleicht kein Herz gefasst. Ich war stolz, endlich das Haus meiner Mutter in Philadelphia zu verlassen, die Schritte zu wagen, die ich schon zehn Jahre früher hätte tun sollen. Doch es ängstigte mich auch, eine Routine hinter mir zu lassen, die ich in- und auswendig kannte. Damit die Angst mich nicht überwältigte, stellte ich mir vor, ich wäre wieder neun Jahre alt, voller Mut und Tatendrang. Trotz und die Entschlossenheit, meinen Traum zu verwirklichen, trieben mich an.

Die Carnegie-Bibliotheken faszinierten mich seit meinem ersten und einzigen Besuch in Kansas, als wir vor mehr als dreißig Jahren zur Mutter meines Vaters gereist waren. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie mein Vater mit mir Unsere kleine Farm gelesen hatte. Wir saßen eng nebeneinander, damit wir uns die Illustrationen ansehen konnten. In meiner Erinnerung roch es nach Sonnenschein, denn in Kansas wechselte mein Vater vor dem Vorlesen immer das Hemd, und das frische Hemd hatte den ganzen Tag draußen auf der Leine gehangen. Aus dem Buch waren mir vor allem die Planwagen in Erinnerung geblieben. Wagen voller Familien, die alles zurückließen, um noch einmal neu anzufangen. Damals hätte ich alles dafür gegeben, Laura zu sein – ich wollte das Haar in Zöpfen tragen, mit Puppen aus Maiskolben spielen, aus einer Blechtasse trinken und Buchstabierwettbewerbe gewinnen. Nach unserem Besuch in Kansas hatte ich meine Lehrerin überzeugt, mit mir für Halloween das Kostüm eines Siedlermädchens zusammenzustellen – eine Haube aus einem runden Stück Haferflockenkarton und einen Kaliko-Rock, der von einem Hula-Hoop-Reifen in Form gehalten wurde. In diesem Reifrock hatte ich kaum gehen können, dabei wäre ich am liebsten gerannt. Von zu Hause weggerannt, um nach Kansas zurückzukehren.

Jetzt hatte ich es geschafft. Ich hatte mehr als dreißig Jahre gebraucht, aber nun war ich auf dem Weg. Der Schuber mit allen Bänden von Unsere kleine Farm lag im Kofferraum.

Als ich meine Entscheidung verkündet hatte, pfefferte Mutter den Spüllappen so heftig ins Becken, dass ich an den Tornado denken musste, den wir gerade im Fernsehen gesehen hatten. So wütend war sie noch nie gewesen, jedenfalls nicht seit dem Weltkrieg, den sie mit meinem Vater ausgefochten hatte, als wir vor all den Jahren von seiner Mutter zurückgekehrt waren. Den ganzen Herbst über war es in unserem Haus entweder totenstill oder so laut gewesen, dass wir die Fenster schließen mussten. Den unbeschwerten Tagen, an denen mein Vater mir Pu der Bär vorgelesen hatte, war ich damals zwar längst entwachsen, aber seine neue Distanziertheit hatte mich erschreckt. Ich flüchtete mich in meine Geschichten und malte mir aus, ich wäre Pippi Langstrumpf oder Mary in ihrem geheimen Garten. Für imaginäre Freunde war ich nicht einfallsreich genug, ich brauchte die Großen der Weltliteratur, um die Spannungen zwischen meinen Eltern zu ertragen. Echte Klassenkameraden hätte ich schließlich kaum zu Keksen, Kakao und zerschlagenem Porzellan einladen können.

Was eigentlich los war, begriff ich nicht; sicher wusste ich nur, dass mein Vater seinen Job verloren hatte, weil er zu lange in Kansas geblieben war. Mutter hatte Kansas nie gemocht, vor allem weil Kansas (in Form ihrer Schwiegermutter) sie nie gemocht hatte. Unsere Rückkehr hatte einen Flächenbrand entfacht, der nie ganz gelöscht wurde, sondern noch nach dem Tod meines Vaters weiterschwelte.

Vor meiner Abreise hatte meine Mutter unmissverständlich klargemacht, dass sie nicht von mir hören wollte und dass ich von nun an keinen Cent von ihr zu erwarten hatte. Tja, vielleicht musste ich also Burger braten, wenn mein Kreditkartenlimit erreicht war. Und vielleicht musste ich auch für den Rest meines Lebens in Therapie, weil ich endlich die Nabelschnur durchtrennt hatte. Aber jetzt und hier fühlte es sich so an, als hätte ich keine andere Wahl. Das war so klar wie das weite Land in meinem Rückspiegel.

Seit zehn Jahren war ich Dr. Phil. AAD: Doktorin der Philosophie mit Allem Außer einer Dissertation. Als ich mit der Arbeit begonnen hatte, war ich wild entschlossen gewesen, meine Dissertation zu beenden, bevor dreißig Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen brannten. Der intellektuelle Prozess des Forschens und Entdeckens faszinierte mich. Ich wollte meinen Doktor in Bibliothekswissenschaften machen und eine bedeutende Forschungsbibliothek leiten. Ich wäre vielleicht nicht schlau genug für das geballte Wissen einer solchen Bibliothek, hätte sicher nicht alle Bücher aus dem Katalog gelesen, aber ich könnte bei allen Fragen behilflich sein. Ich wäre Dr. Sprint, nicht einfach nur Angie.

Um meine Dissertation zu schreiben, hatte ich wieder nach Hause ziehen müssen, sehr zur Freude meines Vaters. Da er mich erst spät im Leben gezeugt hatte und ich, wie er selbst, Einzelkind war, kannte seine Vernarrtheit keine Grenzen. Er überschüttete mich mit seiner Liebe und war unendlich stolz, dass ich als Erste der Familie studierte. Mutter glaubte nicht, dass ich schlau genug war, um zu promovieren, aber sie gelobte, den Mund zu halten und mich nicht mehr als »Dummkopf« oder »hohle Nuss« zu bezeichnen.

Als ich gerade von einer Recherchereise aus Schottland zurückgekehrt war, wo ich den Geburtsort von Andrew Carnegie besucht hatte, starb mein Vater. Nur einen Tag später machte ich mich an die Arbeit in Sprint’s Print Shoppe, seiner kleinen Druckerei, in der ich fortan jeden Tag arbeitete. Doch ein paar Tage vor meiner Abreise hatten wir den Laden endgültig dichtgemacht, weil das Geschäft nicht länger rentabel war; Druckerzeugnisse wurden zu schnell durch elektronische Kommunikation ersetzt, und es gab nur noch wenig Bedarf an gedruckten Rundschreiben und Einladungen. In den ersten Jahren unter meiner Leitung waren die Geschäfte dank meiner Bemühungen und meiner Neigung zur Besessenheit gar nicht mal schlecht gelaufen. Mein Vater hatte vor allem ein Faible für Schriftarten gehabt, für Serifen und Schnörkel, aber ich hatte geglaubt, den Laden mit etwas mehr Geschäftssinn zum Erfolg führen zu können. Das hatte sich nun erledigt. Die Welt hatte sich verändert – andere gesellschaftliche Gepflogenheiten, die Sorge um die Umwelt, von neuen Technologien ganz zu schweigen –, und wir waren entbehrlich geworden.

Zehn Jahre für nichts. Woche für Woche hatte es entweder eine Druckerkrise oder eine Mutterkrise gegeben. Ich war mit meiner Dissertation nur langsam vorangekommen. Die Fortschritte bemaßen sich in einzelnen Sätzen, nicht Seiten. Wann immer ich konnte, zwackte ich mir ein paar Stunden ab, aber es kam immer irgendwas dazwischen. Hochzeitseinladungen, die auf den letzten Drücker zugestellt werden mussten, weil die Braut zu lange gebraucht hatte, um sich zwischen matt und glänzend zu entscheiden. Oder meine Mutter, die mich zur Apotheke schickte, um Paracetamol in Ibuprofen umzutauschen. Ich hatte die falschen Prioritäten gesetzt und mich von meinem wichtigsten Ziel ablenken lassen, meiner Arbeit über das Wirken des »Schutzheiligen der Bibliotheken«.

Meine Großmutter hatte mir als Erste davon erzählt, dass Andrew Carnegie Anfang des 20. Jahrhunderts neunundfünfzig Bibliotheken in Kansas errichten ließ. Er investierte 875000 Dollar in Gemeinden, die ein Baugrundstück bereitstellten und sich verpflichteten, zehn Prozent der Investitionskosten für den laufenden Betrieb der Bibliothek aufzubringen. Wenn ich mir das weite Land so ansah, war es schwer vorstellbar, dass sich hier um 1900 eine literarische Bewegung etablieren konnte.

Großmutter beschrieb Carnegie als eine Art wohltätigen Hänschen Apfelkern, der das Land mit Bibliotheken statt mit Apfelbäumen überzog. Später erfuhr ich, wie schlecht unter seiner Ägide Stahlarbeiter behandelt worden waren. Bei seinem Versuch, die Gewerkschaft zu zerschlagen, waren sogar sieben Männer ums Leben gekommen. Ein paar Gemeinden in Kansas hatten sich deshalb geweigert, sein Geld anzunehmen, auch wenn es ihnen eine Bibliothek beschert hätte.

Sollte man vergeben und vergessen? War Carnegie rehabilitiert, weil er dem Land 1689 öffentliche Bibliotheken schenkte, die 1919 schon 35 Millionen Menschen versorgten? Dieser Mann, eine Mischung aus Philanthrop und Räuberbaron, faszinierte mich zunehmend. Ich wurde regelrecht besessen, als hätte ich mich wider besseres Wissen mit dem falschen Typen eingelassen. Einerseits war er der Ansicht, dass die Reichen bescheiden leben und ihr überschüssiges Geld zum Wohl der einfachen Leute einsetzen sollten. Andererseits war er gerissen bis zur Ruchlosigkeit.

Meine Großmutter sprach über ihn, als hätte sie ihn persönlich gekannt. Sie war so stolz auf die Bibliothek, als hätte sie sie selbst gebaut. Einmal blätterte sie ihr Tagebuch durch und sagte: »Es steht alles hier drin.« Aber ich durfte es nicht lesen. »Noch nicht«, sagte sie. »Das ist geheim.«

Am nächsten Tag hatte sie mir ein Tagebuch für meine eigenen Geheimnisse geschenkt, aber die waren nicht besonders aufregend. Mir war nur wichtig, meine Lektüren darin zu verzeichnen. Noch immer hielt ich den Titel jedes Buches, das ich gelesen hatte, darin fest.

Ein Lkw-Fahrer hupte, als er an mir vorbeizog, und riss mich aus meinen Gedanken. Gerade noch rechtzeitig bemerkte ich die Gedenktafel am Straßenrand und folgte einem Viehtransporter in die Haltebucht. Ich versuchte, den Mistgestank zu ignorieren, und konzentrierte mich darauf, den Text des Schildes in mein jungfräuliches Notizheft zu übertragen, in möglichst schöner Handschrift, um die Bedeutung meines Unterfangens zu unterstreichen. Dabei fiel mir wieder ein, wie ich als Schulkind geglaubt hatte, feinsäuberlich von der Tafel abgeschriebene Schleifen und Schnörkel würden mich erwachsen und schlau machen. Die Gedenktafel erinnerte daran, dass der Highway dem Oregon Trail folgte, den im 19. Jahrhundert Missionare, Soldaten, Goldgräber und Einwanderer auf der Suche nach Land eingeschlagen hatten und der seinerseits Pfaden folgte, die Jahrhunderte zuvor von den amerikanischen Ureinwohnern geschaffen wurden. Eine Straße der Träume.

Ich flog weiter durch die Flint Hills, freute mich über die sanften Hügel mit den wogenden Gräsern und konnte es doch kaum erwarten, in die flache Ebene von West-Kansas zu kommen.

Keine Berge im Weg. Das hatte mein Vater immer gesagt. Nichts zwischen dir und dem endlosen Horizont. Manchen Menschen macht das Angst, sie fürchten, vom Rand der Erde zu fallen. Die Kansaner glauben, nur erfahrene Reisende erkennen die Schönheit darin.

Draußen war es heiß. Richtig, richtig heiß. Trotzdem stellte ich die Klimaanlage aus, kurbelte die Fenster herunter und ließ mir die Sonne auf den Arm scheinen, auch wenn es Sommersprossen gab.

Die baufälligen Überreste einer kleinen Dorfschule erschienen am Horizont. Das Türmchen auf dem Dach war schief, die Scheiben zerbrochen, und ein paar Wandbretter fehlten. Ich stellte mir Kinder vor, die barfuß zur Schule gingen, auf kleinen Holzbänken saßen und auf Tischen schrieben, die an der Bank vor ihnen eingehängt waren. Wäre ich damals die alleinstehende Lehrerin gewesen, die versuchte, die bunt gemischte Kinderschar im Zaum zu halten und widerspenstigen Rabauken die Liebe zum Lesen zu vermitteln? Wäre ich vom Holzsammeln und Wasserpumpen genauso erschöpft gewesen wie von Grammatikkorrekturen? Schlecht gelaunt und frustriert von meinem lieblosen Leben?

Ich imaginierte mich ständig im Abgleich mit Stereotypen, was bei meinem Berufswunsch vielleicht nicht verwunderlich war. Bibliothekarinnen sind das Stereotyp schlechthin. Karikaturisten zeichnen sie als mürrische, schmallippige Feldwebel, die ihre Bücher beschützen, als würden sie bei Berührung zerfallen. Als handele es sich bei jedem Exemplar um die Gutenberg-Bibel, dem ersten mit beweglichen Lettern gedruckten Buch, mit dem der ganze Zauber begann. Die stereotypische Bibliothekarin stiert aus misstrauischen Augen durch ihre Gleitsichtbrille, trägt das weiße Haar in einem strengen Dutt, Gesundheitsschuhe an den Füßen, und sieht in Kindern, wenn nicht in allen Menschen, den natürlichen Feind der Bücher. Ihr Wortschatz beschränkt sich auf ein Wort: Pssst.

Die Bibliothekarin, die mein Leben verändert hatte, Miss Thompson aus der Bücherei in New Hope, war das Gegenteil des Klischees; sie ließ mich an ihrer Begeisterung für das Lesen großzügig teilhaben. Sie wusste absolut alles, was man wissen konnte. Als mein Vater mich eines Tages zu ihr brachte und sagte: »Meine Tochter glaubt, sie hätte Angst vor Spinnen«, gab sie mir Wilbur und Charlotte, bis heute eines meiner Lieblingsbücher. Ein paar Jahre danach musste ich enttäuscht feststellen, dass meine Carnegie-Bibliothek in Chestnut Hill, Philadelphia, keine Nancy-Drew-Krimis führte; später erfuhr ich, dass man sie »zu formelhaft und vorhersehbar« fand, um sie zur Literatur zu zählen. Erst die Biographien großer Frauen wie Clara Barton, die in den USA das Rote Kreuz gründete, der Feministin Jane Addams und Harriet Tubman, der bekanntesten afroamerikanischen Fluchthelferin der Underground Railroad, hatten mich mit Chestnut Hill versöhnt. Von da an hatte es für mich nichts Aufregenderes gegeben, als die Straßenbahn zu nehmen und zu schauen, welche Schätze in der Bücherei auf mich warteten. Dabei wandelte sich das Angebot mit mir; die Bibliothekarin wusste genau, wann ich bereit war, mich an Jane Austen und Charlotte Brontë zu wagen.

Erst im Graduiertenkolleg hatte ich eine Ahnung davon bekommen, welche Macht Bibliothekarinnen empfinden mussten, wenn sie Leserinnen Vorschläge machten oder Forschende mit den passenden Quellen zusammenbrachten. Man musste sich einfach schlau vorkommen, wenn man genau das richtige Buch überreichte. »Schlau ist wichtiger als hübsch«, hatte mein Vater immer gesagt. »Halt dich bloß nicht für zu schlau«, war das Mantra meiner Mutter.

Mein Vater hatte verstanden, warum ich so besessen davon war, meine Dissertation zu beenden. »Deine Großmutter hat Philadelphia für Kansas aufgegeben und damit auch die Chance, aufs College zu gehen«, hatte er mir erklärt. »Ich wollte eigentlich einen Abschluss in Journalismus machen; mein Traum war die freie Presse, nicht die Druckerpresse. Du musst deinen Doktor einfach für uns alle machen.«

Traci

Was machte ich hier bloß, mitten im Nirgendwo? Wohin man auch schaute: nichts. Nur ab und zu eine verfallene Windmühle, eine schäbige Scheune oder eine handbemalte Werbetafel für den weltgrößten Präriehund, Klapperschlangen und eine fünfbeinige Kuh in Oakley. Ansonsten: nichts. Viel Platz, um einen Tornado kommen zu sehen. Der Gedanke an den Monstersturm, der gerade eine Stadt weggefegt hatte, hielt mich immerhin wach. Ein leichtes Leben hatte mir keiner versprochen, schon klar. Aber nachdem ich meine Kindheit überlebt hatte, habe ich eigentlich nicht damit gerechnet, dass mich Terroristen von der Größe eines Reiskorns wieder auf die Straße treiben, gerade als ich dabei war, mein Leben auf die Reihe zu bekommen. Hätte nicht gedacht, dass ich dank einer Bettwanzen-Invasion meine Sachen packen und ins Land der Tornados aufbrechen würde. Aber drei Wochen schlafloser Nächte, Achtzehn-Stunden-Tage, an denen ich jeden Zentimeter meiner bezuschussten Mietwohnung schrubbte, hatten mich zermürbt. Ich hatte geputzt, gesaugt und desinfiziert, als wenn ich meine Vergangenheit gleich mit bereinigen könnte. Als selbst das Insektizid vom Schwarzmarkt nicht half, musste ich einsehen, dass die Bettwanzen den Krieg gewonnen hatten. Nach dem Auszug meiner Mitbewohnerinnen schwor der Vermieter, mich bis ans Ende der Welt zu verfolgen, sollte ich ihm das Geld für die Reinigung der Wohnung schuldig bleiben. Es war einfach Zeit gewesen, aus der Stadt zu verschwinden.

Und nun war ich wirklich fast am Ende der Welt. Ich näherte mich New Hope, Kansas, wo ich im Kulturzentrum der ehemaligen Carnegie-Bibliothek als Gastkünstlerin anfangen würde. Was für ein absurder Gedanke.

Ehrlich gesagt hatte ich mehr Schiss vor den Leuten in Kansas als vor einem Tornado. Die Toptreffer bei Google beschrieben sie als irre rechte Fanatiker unter der Führung von Reverend Fred Phelps, der auf Militärbegräbnissen Schilder mit »Gott hasst Schwule« reckt, und von Politikern, die als Erste im ganzen Land die Künste nicht mehr öffentlich fördern wollen. Familie wurde großgeschrieben, also würde ich lieber niemandem von meiner Vergangenheit erzählen.

Ich hatte schon einen im Tee gehabt, als ich spontan auf eine Anzeige antwortete, in der eine Künstlerin gesucht wurde, die bereit war, nach Kansas zu ziehen. Der Vorsitzenden des Kulturzentrums, einer Mrs. Rachel Smythe, erzählte ich, dass ich Kunstkurse an der Sonntagsschule gegeben hätte. Als Referenzen nannte ich meine Mitbewohnerinnen; die eine sei »leider gerade auf einer Mission in Bangladesch«, die andere hatte ihr Handy in der Küche liegenlassen, und als Rachel sie anrief, ging ich einfach selbst ran und schwärmte von meinem Talent und meiner Liebenswürdigkeit. Rachel schien beeindruckt, dass ich mich »ganz dem Recycling verschrieben« hatte; sie glaubte, umweltbewusste Teenager würden es cool und sparsame ältere Mitbürger praktisch finden. In weniger als einer Stunde waren wir uns einig geworden. Ich würde bis zu zehn Kurse die Woche geben. Dafür bekäme ich ein Gehalt, eine Unterkunft, Mittel für Material und mein eigenes Atelier. Ich tue einfach so, als schriebe sich Traci mit einem dicken, knuffigen Herz über dem i, dachte ich. Werde so süß daherkommen, dass man mir Zungenpiercing und Undercut gar nicht zutraut.

Als ich auf die Landstraße einbog, stotterte der Motor wieder, und mir blieb kurz das Herz stehen. Ich hab’s nicht so mit Gott, aber jetzt betete ich. Ich betete, dass mich dieser kirschrote VW-Käfer, den ich über eBay-Kleinanzeigen gekauft hatte, noch bis nach New Hope, Kansas, brachte, wo immer das sein mochte. Der kirschrote Käfer, den ich Ruby Slippers getauft hatte, nach Dorothys Schuhen im Zauberer von Oz. Der kirschrote Käfer, dessen Lenkrad ich mit einem Paillettenbezug aufpeppen wollte, wenn er mir nicht vorher krepierte. Mir fiel ein, dass ich runterschalten musste, und prompt schnurrte der Motor wieder. Wenn ich aufs Gaspedal tippte, zog die Kiste an, und genauso leicht ließ sie sich verlangsamen. Hatte ich schon mal so viel Kontrolle über mein Leben gehabt?

Ein Steppenläufer von der Größe eines Shetlandponys wurde hüpfend über die Straße geweht. Hektisch riss ich das Lenkrad herum und verfehlte nur knapp einen Stacheldrahtzaun. So ein Steppenläufer mit eingeflochtenen Bändern von alten Audiokassetten gäbe bestimmt eine superdüstere Skulptur ab, aber bei 130 km/h war die Gelegenheit schon vorbei, ehe die Idee mein Hirn richtig erreichte. Um den Adrenalinstoß zu verdauen, suchte ich im Radio nach Hip-Hop oder wenigstens gutem altem Bluegrass. Aber nur die kirchlichen Sender kamen klar und deutlich rüber, der Rest war Rauschen. Jesus hatte hier das Monopol auf den Äther.

Da eine Wall-Street-Karriere nichts für mich war, hatte ich den Beruf ergriffen, für den ich geboren war. Ich war Künstlerin. Mein Medium war Müll. Die Abfälle anderer Leute. Kunst zu machen, gab meinem Kopf etwas zu tun; so fixierte ich mich nicht darauf, was ich nicht hatte. In meinen Tagträumen sahen Menschen meine Kunst und erkannten mich. Erkannten mich nicht nur, verstanden und mochten mich vielleicht sogar. Wegen meiner Kunst, ohne etwas von meiner elenden Vergangenheit zu wissen.

Mein Wunsch hätte sich fast erfüllt. Vor sechs Monaten war ich »entdeckt« worden. Ein Typ namens Freddy hatte meine Arbeiten auf dem Gehweg vor dem MoMA entdeckt. Er war fasziniert von meinen Textilstücken, meinte, sein Fetisch wären Krawatten. Ich dachte sofort an Bondage, sah mich schon an ein Bett gefesselt, aber als ich ihn, zur Sicherheit mit einem Springmesser in der Tasche, im Hilton Coffee Shop traf, stellte sich raus, dass er schwul war. Und Galerist. Er erwartete also keine Gegenleistung, als er mir eine eigene Ausstellung in der artZee Gallery in Brooklyn anbot. Ich sollte meine Quilts aus alten Krawatten zeigen. Seide. Verschönert mit Ketchup und Kaugummi und verziert mit Minispielzeug aus Cornflakes-Packungen, Flaschenverschlüssen und anderen Fundstücken. Ketchup gab’s an jedem McDonald’s-Tresen; Kaugummi unter jedem Tisch. »Fund und Bühne« nannte er die Ausstellung, eine Anspielung auf irgendeinen alten russischen Roman, weil ich ausgemusterten Kleidern einen neuen Auftritt verschaffte.

Was mir an unserem Deal nicht gefiel, war der Künstlername, den er mir verpasste. Als Freddy hörte, wie mein Bruder mich genannt hatte, bestand er auf TRASH. Er sah darin eine Chance, meinte, das solle meine »Marke« werden, sie passe perfekt zum »Trashion«-Trend, bei dem Kleidung aus recycelten Materialien kreiert wird. »TRASH, die Trashionista«, nannte er mich.

So weit, so gut. Nur vermasselte ich leider das Interview, das ich einem superwichtigen Reporter von der Village Voice gab. Er bohrte und stocherte, schnüffelte in meinem Leben herum, fragte, wo ich »ausgebildet« worden sei. »Cooper Union?«, riet er. »Der Einfluss von Rauschenberg ist offensichtlich. Ich wette, Peterson war Ihr Lehrer.«

Er machte mich ganz kirre, deshalb platzte ich heraus: »Da liegen Sie falsch. Total falsch. Meine einzige Schule war die Bibliothek hinter den Löwen.«

Ich musste ihm ja nicht verraten, dass ich da nicht nur Kunstbücher studierte, sondern im Winter zum Aufwärmen und im Sommer zum Abkühlen hinging. Ich erzählte ihm irgendeinen Scheiß, erklärte, Rauschenberg und mich verbinde das Blockhausmuster und wie cool es sei, dass das Quadrat in der Mitte immer rot sei, als wenn es das Herzstück eines Zuhauses repräsentiere. Das hatte Freddy mir erzählt.

»Kommen Sie, ich weiß, Sie sind das Produkt irgendeiner Kunsthochschule. Verraten Sie mir, welcher.« Wie die Ratten in der U-Bahn war der Typ wild entschlossen, etwas zu finden. Er glaubte mir nicht, dass ich keine Schulausbildung hatte, deshalb sagte ich ihm die Wahrheit. Dass ich vielleicht eine künstlerische Begabung geerbt habe, aber nicht wisse, von wem. Dass ich mir meine Bildung genauso angeeignet habe wie meine künstlerischen Materialien. Auf der Straße.

Freddy reckte die Hand zum High Five, als er den Artikel gelesen hatte. Aber die Kritiker schienen die Ausstellung trotzdem furchtbar zu finden, sie ließen sich von meinem Namen und meiner Vergangenheit total ablenken und deuteten an, hinter meiner Faszination für Krawatten verberge sich die Suche nach meinem unbekannten Vater. Sie entblödeten sich nicht zu behaupten, der Ketchup stehe für Blut und das Kaugummi für meine Sehnsucht, begehrt zu werden, mich an etwas – oder jemanden – zu heften. Ein Kritiker verstieg sich sogar zu der Belehrung, ich müsse erst »die Liebe genauso kennen wie den Verlust«, bevor ich sehenswerte Kunst schaffen könne.

 

New Hope: 2975 Einwohner. Ich fuhr langsamer, um es auf mich wirken zu lassen. Schräge Parkbuchten im Zentrum, drei Häuserblocks mit Geschäften, Gebäude aus Backstein oder Holz, die meisten mit falschen Fassaden, die zwei Stockwerke vortäuschten, obwohl es nur eins gab. Wie die Kulisse eines Westerns. Ein Gemischtwarenladen, eine Bank, eine Post, ein Diner. Eine kleine methodistische Kirche an einer Ecke und eine kleine lutherische an der anderen. Beide aus Kalkstein, mit Kirchturm und Friedhof. »Jesus liebt dich« stand auf dem Schild vor der Methodistenkirche. Unwahrscheinlich; er wäre der Erste. Als ich an der New Church of Little Hope vorbeifuhr, ergab die Sache mit der Religion schon mehr Sinn, aber ich hatte mich leider verlesen. Es war die Little Church of New Hope. Andersherum wäre ich vielleicht beigetreten; Hoffnungslosigkeit war meine Religion.

Selbst mit meiner Gafferei dauerte es keine fünf Minuten, bis ich die Hauptstraße abgefahren war. Ich wollte gerade einen U-Turn machen, um mir alles noch mal aus der anderen Richtung anzugucken, als ich eine Tankstelle entdeckte und beschloss, nach dem Weg zu Familie Smythe zu fragen.

Ein Türglöckchen kündigte mich an, aber die übergewichtige Frau in dem hellgrünen Blümchenkleid, die sich im Schaukelstuhl wiegte, blickte gar nicht auf. Sie betete das Vaterunser. Sogar ich wusste, dass man da lieber nicht störte.

Während ich darauf wartete, dass sie zum Ende kam, fiel mein Blick auf den Wichita Eagle Beacon auf dem Tresen, und ich überflog einen Artikel über ein Meth-Labor, das in Ost-Kansas explodiert war. Der Sheriff fürchtete, die könnten sich überall ausbreiten. »Um Methamphetamin herzustellen, braucht man nur ein paar typische Haushaltsgegenstände – Pfannenwender, Filtertüten, Rührschüsseln und Limonadenflaschen. Wenn wir jetzt nicht aufräumen, ist bald ganz Kansas voll davon. Dann ist jede Scheune ein Labor.«

Die Tankstellenwärterin beendete ihr Gebet, aber bevor ich mich räuspern und auf mich aufmerksam machen konnte, hatte sie schon wieder losgelegt. »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name.« Sie wiederholte das gesamte Vaterunser dreimal, bevor sie aufstand, um einen Makkaroniauflauf aus der Mikrowelle zu holen. War die völlig verrückt?

»Verflixt noch eins!«, rief sie aus, ohne mich zu bemerken. Ihr Essen roch ziemlich verbrannt. »Ups. Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie endlich an mich gewandt. »Normalerweise sind drei Vaterunser die richtige Zubereitungszeit. Ich habe mich wohl verzählt.«

Verflixt noch eins. Die neue Nummer eins auf der Liste der derbsten Flüche.

Als ich sie nach dem Weg zur Rural Route 2 fragte, schüttelte sie den Kopf. »Ach, Kindchen, Sie sind wohl nicht von hier. Wir haben hier eigentlich keine Adressen. Wen wollen Sie denn besuchen?«

»Familie Smythe. Rachel Smythe erwartet mich. Können Sie mir sagen, wo ich hinmuss?«

»Klar. Fahren Sie einfach ein paar Meilen in dieselbe Richtung weiter.« Sie sah zu meinem Auto, während sie den Weg anzeigte. »Kurz nach der Kreuzung bei Brown’s Landing, direkt hinter den Gleisen, wo vor ein paar Jahren die Scheune der Andersons abgebrannt ist, fahren Sie nach Osten, Richtung Prairie Hill. Ein paar Meilen weiter sehen Sie dann schon die Smythe-Ranch.«

»Ist das ausgeschildert?«, fragte ich.

»Glaube nicht«, entgegnete sie. »Wir kennen uns hier ja alle aus.«

Sie klang nicht unfreundlich, aber der Blick zur Überwachungskamera und die Hand am Telefon verrieten ihr Misstrauen. Vielleicht sieht sie hier nur selten Fremde, dachte ich. Oder es liegt einfach an mir.

Gayle

Ich stand vor meinem Haus, das es nicht mehr gab. Den siebenundzwanzigsten Tag in Folge blickte ich über eine Trümmerlandschaft, die einmal eine Stadt gewesen war – bevor der Tornado kam. Mit den Fingern siebte ich Schutt, in der Hoffnung auf einen Schatz. Es war fünf Tage her, seit ich etwas Bewahrenswertes gefunden hatte, aber jener silberne Babylöffel, den Tante Becca uns zu Vics Geburt geschenkt hatte, lockte mich immer wieder her, ließ mich hoffen, dass ich noch ein Erinnerungsstück bergen konnte.

Vor achtundzwanzig Tagen war alles ganz normal gewesen. Ich hatte bei Yesteryears gearbeitet, drei Grußkarten verkauft, aber keine einzige von den Antiquitäten. Mark und ich hatten darüber gestritten, ob wir uns eine Küchenrenovierung leisten konnten; ich war mir sicher, dass der Fugenkitt der Arbeitsfläche nie wieder ganz sauber zu bekommen sei, er fluchte, eine Granitplatte werde uns ruinieren.

Was hätte ich jetzt für ein bisschen schmutzigen Kitt gegeben. Der Kitt, der uns zusammenhielt, bevor unser Leben weggeblasen wurde. Von unserem Haus, das es nicht mehr gab, fuhr ich zum Zelt der Heilsarmee. Um die Nachbarn zu treffen, die ich jeden Tag bei Yesteryears gesehen hatte, wo ich ihnen geholfen hatte, Karten für Geburtstage, Hochzeitstage und Trauerfälle auszusuchen. Cousine Mary verstand nicht, warum ich die Hamburger der Heilsarmee ihren frischen Salaten vorzog. Sie verstand nicht, dass es mich tröstete, mit anderen fassungslosen Sturmopfern zusammen zu sein, die in Halbsätzen aufzählten, was sie verloren und was sie gefunden hatten. Die jeden Satz mit »davor« oder »danach« begannen. Wir konnten reden oder schweigen, unkontrolliert schluchzen oder hysterisch kichern, ohne einander anzusehen, als hätten wir den Verstand verloren.

Mark begriff es auch nicht. Warum seine Frau nicht damit fertigwurde. Er war schon wieder bei der Arbeit auf den Feldern, säte wie verrückt neu aus, versuchte verzweifelt, neues Leben heranzuziehen. Er hatte eine Pfadfindertruppe aus Newton organisiert, die ihm half. Sie waren die Felder abgelaufen und hatten Trümmerteile eingesammelt, damit er die Flächen bewirtschaften konnte. Wir hatten uns noch nicht entschieden, was wir als Nächstes machen, wo wir uns niederlassen würden, aber das hielt Mark nicht davon ab, Wurzeln zu schlagen. Wortwörtlich. Er war genauso stur wie sein Vater und sein Großvater, und je mehr er litt, desto härter arbeitete er. Vielleicht würde ich ihn erst an Weihnachten wieder zu Gesicht bekommen.

Heute Morgen hatte ich mich in Prairie Hill verirrt. Wie verrückt war das denn, bitte? Ich hatte mein ganzes Leben hier verbracht, aber plötzlich wusste ich nicht mehr, ob ich in der Elm Street oder der Oak Street war. Völlig orientierungslos hatte ich nach dem Wasserturm Ausschau gehalten, den es auch nicht mehr gab, und war schließlich zur Fassade der Carnegie-Bibliothek gegangen, der einzigen Mauer, die noch stand. Und dort weinte ich. Jemand hatte einen Strauß Plastiknelken hingelegt, wie die Leute es bei verstorbenen Berühmtheiten tun.

Vics fünfter Geburtstag würde mir immer in Erinnerung bleiben. Er hatte ein Fahrrad und einen Ausweis für die Bücherei bekommen. Er konnte selbst hinradeln und sich so viele Bücher ausleihen, wie er tragen konnte. Jetzt war er fünfundzwanzig, fuhr immer noch Fahrrad und las immer noch Bücher. »Bücher sind die Liebe meines Lebens«, pflegte er grinsend zu sagen, wenn ich ihn nach einer Freundin fragte und bevor er mir seine Liebe für Jill gestand. »Das ist alles deine Schuld.«

Ich wünschte, er würde Jill heiraten und mir ein paar Enkelkinder schenken. Dann hätte das Leben wieder einen Sinn.

Angelina

Ich war nicht mal auf die Idee gekommen, dass ich keine Unterkunft finden könnte, doch als ich beim einzigen Motel von New Hope vorfuhr, gab es keine freien Zimmer mehr. Der Teenager an der Rezeption des Dew Drop Inn verdrehte ratlos die Augen und zuckte mit den Achseln, als ich ihn nach Alternativen fragte.

Statt nach Kansas City zurückzufahren, steuerte ich die Bibliothek an, die ich auf der Fahrt passiert hatte, in der Hoffnung, die Bibliothekarin könne mir Auskunft geben.

Die Carl-Sandburg-Bibliothek war Teil eines neuen Schulkomplexes und lag ein paar Meilen außerhalb der Stadt. Ein glatter, moderner Bau aus Stahl und Beton, geradezu steril, bis auf den Spielplatz, auf dem alles aus bunt angemalten Autoreifen gemacht war. Kleinkinder spielten in einem Sandkasten aus dem Reifen eines Sattelschleppers, während ältere Kinder wie wild auf Reifen schaukelten und sich in einem Klettergerüst aus noch mehr Reifen tummelten. So viel Gummi, um den lieben Kleinen Beulen und blaue Flecken zu ersparen.

Drinnen war es makellos sauber. Und ruhig. Institutionell. Für meinen Geschmack sah es zu sehr nach umgewandelter Turnhalle aus, aber ich freute mich über den Anblick von Büchern. Am Empfangstresen erwartete mich die Bibliothekarin, die sich als Elena Morton vorstellte. Das fast schon weiße Haar hatte sie zurückgebunden, aber in einem Chignon, der an Hollywood erinnerte, nicht in einem Dutt. Sie trug eine schwarze Leinenhose und eine dunkelbraune Seidenbluse, die perfekt zu ihren Augen passte. Anfang fünfzig, schlank, gebräunt und fit.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit dem für Kansas typischen Stakkato aus Konsonanten. Flache Vokale und Stakkato-Konsonanten. Das konnte einen schon einschüchtern.

»Ich brauche für ein paar Tage ein Zimmer. Vielleicht eine oder zwei Wochen. Nichts Schickes. Nichts, was viel kostet«, fügte ich hinzu. Mein Kreditrahmen sollte möglichst lange unausgeschöpft bleiben. »Hauptsächlich zum Schlafen. Das Motel in New Hope ist ausgebucht.« Ich streckte den Rücken durch, um die Müdigkeit von der Fahrt zu kaschieren. »Ich wusste nicht, wen ich fragen könnte, deshalb bin ich in die Bibliothek gekommen. Gibt es eine Alternative in der Nähe?«

»Schlechtes Timing. Es gibt im ganzen Bezirk kein Zimmer mehr, wegen dem Tornado in Prairie Hill und alldem.« Sie sah mich prüfend an, während sie einen Stapel Bücher hochhob und an ihre Brust lehnte. »Die Katastrophenschutzbehörde stellt zwar Wohnwagen auf, aber jetzt kommen die Versicherungssachverständigen und die Bauarbeiter. Da ist einfach alles belegt. Sie werden nichts finden, was näher liegt als Hays oder Dodge.« Ich sah sie fragend an. »Etwa hundert Meilen entfernt.« Sie stellte sorgsam ein Buch ins Regal. »Was führt Sie denn hierher?«

»Ich versuche, meine Dissertation über die Carnegie-Bibliotheken abzuschließen. Ich forsche zu der Bewegung insgesamt und zu Carnegies Engagement, aber ich dachte, ich könnte auch etwas über die Bibliothek schreiben, die mich inspiriert hat.« Ich schaffte es so gerade eben, nicht zu stottern.

»Sie wissen aber, dass die Carnegie-Bibliothek von New Hope seit dreißig Jahren ein Kulturzentrum ist, oder?«, erklärte sie. »Bücher werden Sie dort nicht finden.«

Ich nickte abgeklärt, obwohl mich der Gedanke schmerzte.

»Wie schade, dass Sie nicht zwei Monate früher gekommen sind. In Prairie Hill hatten sie großartige Primärquellen. Alles vom Tornado vernichtet.« Sie schnippte mit den Fingern. »Wir waren immer neidisch auf ihre Quellen. Die meisten Dokumente über die Anfangsjahre unserer Bibliothek wurden entsorgt, als sie in ein Kulturzentrum umgewandelt wurde.«

Sie begann, Klebezettel aus einem zurückgegebenen Buch zu entfernen. Offenbar bemerkte sie nicht, wie sehr mich diese Nachricht erschütterte.

»Warum interessieren Sie sich für Bibliotheken in Kansas?«

»Ich war mal hier, um meine Großmutter zu besuchen. Die Carnegie-Bibliothek werde ich nie vergessen, deshalb wollte ich da anfangen.« Noch während ich es sagte, merkte ich, wie verzweifelt und defensiv ich klang.

»Moment mal. Wie war Ihr Name noch gleich? Angelina Sprint?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Sind Sie etwa die Enkelin von Amanda Sprint?«

»Ja, Ma’am. Ihr verdanke ich meinen Namen; so wollte sie ihre Tochter nennen, hätte sie eine bekommen. Stattdessen bekam sie meinen Vater, Trevor Quinn.«

»Amanda Sprint. Meine Güte, wie sehr ich die Frau vermisse.« Sie sortierte einen Stapel Bücher in alphabetischer Reihenfolge, während sie weiterredete. »Das ändert natürlich alles. Damit gehören Sie sozusagen zur Familie. Sie können bei mir unterkommen, wenn Sie mögen. Meine Tochter ist aus dem Haus. Sie können ihr Zimmer haben, bis sie für ihre Hochzeit zurückkommt. Ich stecke gerade mitten in den Vorbereitungen. Falls Sie länger bleiben müssen, können Sie sich immer noch was anderes suchen. Aber was soll die Siezerei, ich finde, wir sollten uns duzen.« Elena Morton hielt inne und lächelte mich erwartungsvoll an.

Ich war so verblüfft von ihrem großzügigen Angebot, dass mir kein Grund einfiel, es abzulehnen.

 

Ich folgte Elenas schwarzem Volvo die Hauptstraße entlang; auf dem Grünstreifen in der Mitte wuchsen zwischen Pappeln gelbe Schwertlilien, und in den Gräben am Straßenrand zeigte sich Geißblatt. Die Gebäude waren älter als in meiner Erinnerung, aber sehr gepflegt. Vor vielen Fenstern hingen Blumenkästen mit Geranien, Wicken und Kapuzinerkresse, die um die Wette leuchteten. Auf dem Mittelstreifen entdeckte ich auch Löwenzahn, und mir fiel plötzlich ein, wie ich mir als Kind Halsketten daraus geflochten hatte, indem ich die Stiele ineinandersteckte, bis mir von dem milchigen Saft die Finger klebten.

Wir kamen an der altmodischen Drogerie vorbei, der Heimat von Cherry Cokes und Eisbechern, in der ich gelernt hatte, zwischen Malz-Shakes, Milch-Shakes, Soda Pops und Cream Sodas zu unterscheiden. Dann folgten der Friseur, der Futtermittel-und-Saatgut-Handel, Jacks Gemischtwarenladen und eine Filiale der Farmer’s Bank.

Und dann endlich, direkt an der Ecke, die Carnegie-Bibliothek. Abgesehen von dem Schild, das das Gebäude in modern wirkender Helvetica als Kulturzentrum auswies, deckte es sich mit meiner Erinnerung, nur wirkte es viel kleiner, fast wie eine Miniatur. Ein rechteckiger Bau aus Kalkstein mit nur einer Etage über einem Souterrain, dazu ein Portikus und ein reich verziertes Gesims, um den klassischen Eindruck zu verstärken. Über der Tür stand »Es werde Licht!«. Es kam mir vor wie gestern, dass ich die Eingangsstufen hinaufgestiegen war; in meiner Erinnerung war die Treppe allerdings viel steiler. Beinahe war es, als könnte ich die muffigen Bücher riechen und die knarrenden Dielen hören. »Ich komme wieder«, versprach ich dem Gebäude im Vorbeifahren.

Elena wohnte in einer moosgrünen viktorianischen Villa am Ende der Hauptstraße, mit einer umlaufenden Veranda samt Schaukelstühlen und einer Hängebank. Der prominente Ausguck auf dem Dach brachte mich zum Lachen, so weit waren wir von irgendeinem Ozean entfernt, auf dem man Walfänger hätte entdecken können. Der große Rosengarten tauchte die ganze Nachbarschaft in seinen Duft. Die prächtigen pinken, roten und gelben Blumen standen in voller Blüte. An der Haustür hing ein Weizenkranz mit einer leuchtend roten Schleife. Es war die reinste Idylle.

Elena führte mich in ein gewaltiges Wohnzimmer, in dem ein Stutzflügel, drei Sofas und ein kleiner Zweisitzer Platz fanden. Dazu große Fenster und ein wunderbarer Kamin aus Feldsteinen.

»Was für ein unglaublicher Raum«, entfuhr es mir.

»Vor uns hat nur Gene Lubbers senior, der Besitzer des Bestattungsinstituts, hier gewohnt«, sagte Elena, als würde das irgendetwas erklären. »In diesem Raum fanden Aufbahrungen statt, und die Garage musste groß genug für einen Leichenwagen sein.« Als sie meinen entsetzten Blick bemerkte, fuhr sie fort: »Keine Sorge, einbalsamiert wurde hier niemand. Dafür gab es einen Raum hinter dem Möbelladen, der auch den Lubbers gehört. Da wurden auch die Särge gezimmert. Das waren wirklich gute Tischler. Sieh dir nur die Treppe an.«

Das Haus war in jeder Hinsicht makellos. Elena war eine bestens organisierte Frau. Obwohl wir uns gerade erst begegnet waren, ahnte ich, dass sie die Bibliotheksaufgabe, die ich am meisten verabscheute, mit Leidenschaft verrichtete: die Bücher nach der Dewey-Dezimalklassifikation zu organisieren, dem System eines alten weißen Mannes, dessen Logik sich mir auch nach Jahren nicht erschloss. Wahrscheinlich machte es Elena ganz wahnsinnig, wenn ein Besucher durch die Bücher stöberte, die sie den ganzen Nachmittag sortiert hatte. Es gab zwei Arten von Bibliothekarinnen. Die, die alles Mögliche wissen wollten, und die, die alles kategorisieren wollten. Ich gehörte zur ersten Gruppe, Elena offensichtlich zur zweiten. Aber wir alle begeisterten uns für das gedruckte Wort und dafür, das gesammelte Wissen der Welt mit anderen zu teilen.

Das Zimmer von Elenas Tochter war wie für eine Prinzessin hergerichtet. Ein breites Bett mit einem selbstgemachten Starburst-Quilt und zwölf Kissen aus alter Spitze. Blaue Wände, die die frischen weißen Spitzengardinen und eine Sammlung von Milchglaskeramik besonders zur Geltung brachten.

Bis auf die Tatsache, dass es im ersten Stock lag und ich meine Koffer nach oben schleppen musste, war es perfekt.

»Hast du Backsteine dabei?«, fragte Elena, als sie sah, wie ich mich abmühte.

»Nur Bücher.«

»Du dachtest wohl, so was gäb’s in unserem Kaff nicht«, zog sie mich auf.

Das Blut schoss mir in die Wangen. Solange ich meine Bücher bei mir hatte, würde ich alles überstehen, das war schon immer mein Credo gewesen. Ich hatte ein paar Titel über die Carnegie-Bibliotheken dabei, außerdem Truman Capotes Kaltblütig wegen seiner Beschreibungen von Kansas und Unsere kleine Farm, weil es eine Art Talisman war. Eigentlich hatte ich mich schon sehr beherrscht.

Ich packte rasch aus und checkte meine E-Mails. Die üblichen Nachrichten von der American Library Association und eine Zahlungserinnerung für meinen Studienkredit, der ich nicht nachkommen konnte.

Als ich meinen Laptop gerade zuklappen wollte, ertönte das Ping einer eingehenden E-Mail. Sie war von meinem Betreuer, der endlich auf mein Versprechen reagierte, bis zum Ende des Sommers einen Entwurf meiner Dissertation fertigzustellen. Er hatte sich Zeit gelassen.

Liebe Angelina,

es freut mich zu hören, dass Du beschlossen hast, Deine Dissertation abzuschließen. Ich muss Dich allerdings darüber informieren, dass wir ein neues Fakultätsmitglied haben, Dr. Jason Young. Beeindruckende Referenzen: Rice University. Er ist sehr engagiert gestartet und möchte über den Fortgang Deiner Dissertation auf dem Laufenden gehalten werden. Ich muss gestehen, dass er Bedenken hat. Er fragt sich, ob Du neue Forschungsergebnisse beizutragen hast, und möchte Dich daran erinnern, dass es bereits mehrere Veröffentlichungen zur Carnegie-Bewegung gegeben hat, seit Du vor zehn Jahren mit Deinem Promotionsvorhaben begonnen hast. (Siehe: Carnegie Libraries Across America von Theodore Jones und Free to All. Carnegie Libraries & American Culture von Abigail Ayres Van Slyck.)

Uns ist bewusst, dass Du lange zu diesem Thema geforscht hast, aber er bat mich, Dich zu fragen, ob Du wirklich der Meinung bist, Dein Fach damit voranzubringen? Ich wäre Dir dankbar, wenn Du weitere Nachweise erbringen könntest, dass Du in der Lage bist, die Anforderungen für diesen akademischen Grad zu erfüllen.

Mit freundlichen Grüßen

William Belvin

Ein wütender Wespenschwarm tobte in meinem Bauch. Seit zehn Jahren arbeitete ich an dieser Dissertation, und nun war ich durch das halbe Land gereist, um über die Entstehung der Carnegie-Bibliotheken zu schreiben. Ich musste über dieses Thema schreiben, das wusste ich. Mit jeder Faser meines Körpers wusste ich es, auch wenn ich nicht benennen konnte, warum. Und nun musste ich Dr. Jason Young davon überzeugen, der wahrscheinlich noch zur Highschool ging, als ich mit meiner Diss begonnen hatte. Was, wenn ich den Nachweis, der ihn überzeugte, nicht erbringen konnte?

Elena rief mich in die Küche, wo sie mir ein Glas kühlen Sun Tea einschenkte. Sie holte kaltes Hühnchen und einen Quinoa-Salat aus dem Kühlschrank, arrangierte alles auf leuchtend blauen und grünen Tellern, gab etwas Petersilie dazu und holte noch zwei bunte mexikanische Stoffservietten heraus. Plötzlich hatte ich Hunger. Wir gingen mit unseren Tellern auf die Veranda, und ich versuchte, den Gedanken an Jason Young zu verdrängen, um das Essen zu genießen, vor allem die leichte Curry-Note. Zum Nachtisch gab es dicke, saftige Erdbeeren. Als ich mir einen weiteren Löffel Schlagsahne genehmigte, seufzte Elena und tat es mir gleich, nicht ohne hinzuzufügen: »Das ist mein letztes Abendmahl. Ab morgen bin ich auf Diät.«

Ich protestierte, dass sie doch bereits schlank sei, aber sie unterbrach mich: »Paula heiratet am ersten Oktober, und bis dahin will ich fünf Kilo leichter sein. Ihr Vater und seine Frau, Mrs. Mondkalb, sollen mich in Bestform sehen. Ich. Bin. Motiviert.«

Dann wechselte sie schnell das Thema und redete wie ein Wasserfall darüber, wie viel Kultur es in Kansas gab. Sie erzählte, dass der New Yorker die meisten Leser außerhalb New Yorks in Nordwest-Kansas habe. Und dass ein Farmer, der mit Knopf im Ohr auf einem Mähdrescher saß, zweifellos National Public Radio hörte. Anscheinend war sie immer noch ein bisschen verschnupft darüber, dass ich Bücher mitgebracht hatte.

Als ich keine weiteren Jubelarien über Kansas mehr ertragen konnte, löcherte ich sie mit Fragen zu meiner Großmutter. »Deine Großmutter war eine Heilige«, erklärte Elena, »obwohl dir viele Leute etwas anderes erzählen werden. Dass dein Vater fortzog, brach ihr das Herz, danach blieb sie viel für sich. Fast wie eine Einsiedlerin, aber jeden Montagmorgen kam sie in die Bibliothek, um sich das Maximum von zwölf Büchern auszuleihen.«

»Hatte sie keine Freunde?«

»Nicht viele, vor allem nicht nach dem Sommer, als ihr zu Besuch wart. Dein Vater hat ihr hinterher gesagt, dass er niemals wiederkommen könne. Sonst würde sich deine Mutter von ihm scheiden lassen. Danach zog deine Großmutter sich zurück.« Elena stellte unsere schmutzigen Teller auf ein Tablett. »Es war nicht so, dass sie gar keine Freunde hatte«, fuhr sie fort, »es gab zwei, drei Leute, die auf sie zählten, wahrscheinlich weil man ihr ein Geheimnis anvertrauen konnte. Sie hat mir mal erzählt, sie habe sie alle sicher in ihren Tagebüchern bewahrt, vor den Augen der Welt verborgen. Sie stand Thelma Hopkins nahe, einer Freundin deines Vaters. Sie und deine Großmutter haben jeden Mittwochabend zusammen gestrickt. Und Thelma hat die Einkäufe und das Kochen übernommen, als sie krank wurde. Thelmas Sohn hat ihre Farm gekauft, weißt du.«

»Ich dachte, die Aushilfe hätte sie gekauft.«

»Aushilfe? So könnte man Thad wohl auch nennen. Ich hätte eher gesagt: Freund der Familie.«

Das Gespräch versiegte, als wir einer Katze zuschauten, die einen Grashüpfer jagte, und den zirpenden Grillen lauschten. Eine Frage wagte ich noch: »Großmutter hat mir mal erzählt, den Bau der Bibliothek umgäbe ein Geheimnis. Weißt du, was sie gemeint haben könnte?«

»Keine Ahnung«, antwortete sie und blickte schnell in den Himmel.

Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. Warum hatte ich so lange gebraucht, um herzukommen und nach den Tagebüchern meiner Großmutter zu suchen? Die ganze Zeit hatte ich nach Primärquellen in den Bibliotheken von Philadelphia und Pittsburgh geforscht, war sogar nach Schottland gereist, aber nie darauf gekommen, dass meine eigene Großmutter mir Material für meine Dissertation hinterlassen haben könnte.

Elena zeigte auf das erste Glühwürmchen des Abends. Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Weißt du, dein Vater war ein ziemlicher Frauenschwarm. Zu alt für mich, aber viele Mädchen waren in ihn verknallt. Er war gut aussehend, klug und witzig, aber am verführerischsten war seine Aufmerksamkeit. Er sah dir in die Augen und hing an deinen Lippen. Deine Großmutter dachte, er würde jemanden von hier heiraten und für immer bleiben.«

Ich versuchte, mir meinen Vater als »Frauenschwarm« vorzustellen, und musste daran denken, wie er einmal ein Glühwürmchen gefangen und es mir wie einen Ring auf den Finger gesetzt hatte. »Du wirst immer mein Mädchen bleiben«, hatte er gesagt. Das Licht hatte noch eine oder zwei Minuten geflackert, bevor es erloschen und meine Aufregung Enttäuschung gewichen war.

Ich konnte mir gut vorstellen, warum die Frauen ihn geliebt hatten. Er war gesellig und großzügig gewesen und hatte gern Komplimente gemacht.

Elena unterbrach meine Gedanken, um mir gute Nacht zu wünschen. Sie wies mit einem Nicken zum Himmel und meinte, mein Vater und meine Großmutter würden von oben zusehen.

»Das müssen eine Million Sterne sein«, sagte ich staunend. »Es sieht fast so aus, als könnte man sie anfassen.«

»Ad Astra per Aspera«, sagte sie. »Das Motto des Staates Kansas. Auf rauen Pfaden zu den Sternen.«

Traci

Der Keller der renovierten Carnegie-Bibliothek, des jetzigen Kulturzentrums, wurde mein neues Zuhause. Rachel Smythe war doppelt so alt und doppelt so schwer wie ich, ihr Haar war weiß und meines schwarz, und unsere