Die Bücherfrauen von Listland. Der Gesang der Seeschwalben - Gabriella Engelmann - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Bücherfrauen von Listland. Der Gesang der Seeschwalben E-Book

Gabriella Engelmann

0,0
9,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwei Frauen am Wendepunkt, ein tragisches Familiengeheimnis, die Liebe zu Büchern und der mystisch-raue Norden Sylts.  In ihrem Wohlfühlroman »Die Bücherfrauen von Listland. Der Gesang der Seeschwalben« verbindet Bestseller-Autorin Gabriella Engelmann zauberhafte feel-good-Unterhaltung mit einer berührenden und dramatischen Familiensaga. Der erste Band der Sylt-Dilogie »Die Bücherfrauen von Listland« bietet Insel-Feeling pur am nördlichsten Punkt Deutschlands, wo geheimnisvolle Mythen auf Ehrfurcht gebietende Naturgewalten treffen und das Meer ungeheuerliche Geschichten erzählt. Die 55-jährige Journalistin und Podcasterin Anna reist für das Schreiben eines Beitrags über die 85-jährige Bücherfrau Fenja Lorenzen an den abgelegenen Lister Ellenbogen. Im reetgedeckten Haus der alten Dame trifft Anna allerdings nur deren Tochter Elisa an. Als ein heftiges Gewitter die antiquarischen Buchschätze bedroht, die Fenja auf dem Dachboden hortet, packen die Frauen gemeinsam an. Dabei fällt Anna ein alter Gedichtband in die Hände, der als Versteck für einen Samtbeutel und eine silberne Dose dient. Ehe sie es sich versieht, wird Anna mit Geheimnissen aus der Vergangenheit konfrontiert, die bis in die Gegenwart reichen. Denn Fenja hatte eine Schwester, die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand - genau wie Fenja jetzt … Kluge Unterhaltung zum Träumen: Inselroman über einen Sommer auf Sylt, nach dem nichts mehr so sein wird wie zuvor Während Anna sich mit der Geschichte der Lorenzens beschäftigt, Seeschwalben beobachtet und ihr Herz ungewohnt schneller schlägt, wenn Elisas Bruder Eric in der Nähe ist, stößt sie auf eine dramatische Liebesgeschichte aus dem Jahr 1937. Immer tiefer dringt Anna auf den verworrenen Familienpfaden der Lorenzens in die Vergangenheit vor und erkennt schließlich, dass Fenja ihr Schweigen brechen muss, wenn sie endlich die Wunden in ihrer Familiengeschichte heilen will. Doch lebt die alte Dame, der Bücher die Welt bedeuteten, überhaupt noch? Entdecken Sie auch die »Büchernest-Serie« von Gabriella Engelmann, die ebenfalls auf Sylt spielt: - Inselzauber - Inselsommer - Wintersonnenglanz - Strandkorbträume - Inselsommerstürme (Kurzroman) - Inselsehnsucht

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriella Engelmann

Die Bücherfrauen von Listland

Der Gesang der Seeschwalben

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Die 55-jährige Journalistin Anna reist wegen eines Beitrags über die 85-jährige Bücherfrau Fenja Lorenzen an den Lister Ellenbogen. Im reetgedeckten Haus der alten Dame trifft Anna allerdings nur deren Tochter Elisa an. Als ein Gewitter Fenjas antiquarische Buchschätze bedroht, fällt Anna beim Aufräumen ein alter Gedichtband in die Hände, der als Versteck für einen Samtbeutel und eine silberne Dose dient. Ehe sie es sich versieht, wird Anna mit Geheimnissen aus der Vergangenheit konfrontiert, die bis in die Gegenwart reichen. Denn Fenja hatte eine Schwester, die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand – genau wie Fenja jetzt. Während Anna sich mit der Geschichte der Lorenzens beschäftigt, stößt sie auf eine dramatische Liebe aus dem Jahr 1937 …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Personenregister

Prolog

TEIL EINS

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

TEIL ZWEI

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

Nachwort und Danksagung

Personenregister

Listland – Vergangenheit

Beeke und Konrad Iwersen – Eltern von

Lene Iwersen

Marten Behlau – Feriengast aus Friedrichstadt

Friso Pauls – Lenes Ehemann

Martje Pauls – Tochter

Fenja Pauls – Tochter

Ole Lorenzen – Fenjas Ehemann

 

Hamburg/Listland/Friedrichstadt – Gegenwart

Anna März, Journalistin

Kathrin März, Annas Tochter

Fenja Lorenzen, ehemals Pauls

Eric Lorenzen – Fenjas Sohn

Elisa Lorenzen – Fenjas Tochter

Prolog

Sylt-Fähre, Gegenwart

Anna

Verloren und traurig stand ich an der Reling der Fähre, die gerade vom Lister Hafen auf Sylt abgelegt und Kurs auf Dänemark genommen hatte. Langsam drehte ich mich in Blickrichtung des Hauses, das mit jeder Seemeile kleiner und kleiner wurde. Es warf sein Spiegelbild auf das glatte Wasser der Nordsee, deren Oberfläche schimmerte wie Seide. Dahinter ragte der Leuchtturm auf, die Sonne durchbrach die Wolkendecke, die schwer über dem Meer lag.

Listland, der Ort am Ende der Welt …

Ich spürte den Wind in meinen Haaren und schnupperte den süßlichen Duft des Strandhafers. Ich wusste, wie sich die Morgenstunden dort anfühlten, wie sie rochen. Sie schmeckten wie Küsse, von denen man nicht genug bekam.

An diesem abgelegenen Fleckchen Erde hatte ich die Liebe gefunden und gleich darauf wieder verloren.

Meine Gedanken schweiften zu der alten Dame im Reetdachhaus am Meer. Sie hieß Fenja Lorenzen, und ich hatte eigentlich geplant, ein Buch über ihr Leben zu schreiben. Doch dann kam alles anders, und ich wusste nicht mehr, ob ich dazu noch in der Lage sein würde. Denn um dieses Werk zu vollbringen, müsste ich nach Listland zurückkehren und erneut den vielen ungeklärten Fragen nachgehen. Nach Antworten suchen, welche die Vergangenheit jedoch nicht mehr ungeschehen machen konnten.

Ich müsste ihn wiedersehen.

Aber sollte ich Fenja Lorenzen nicht trotzdem bei der Spurensuche unterstützen?

Sie hatte jemandem versprochen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, und wollte dieses Versprechen unter allen Umständen halten, selbst wenn dabei ihr Herz brach.

Und sie hatte ausgerechnet mich dazu auserkoren zu versuchen, Licht in dieses Dunkel zu bringen …

TEIL EINS

1

Listland, 1937

Lene

Lene, wo steckst du? Zeit fürs Abendessen.«

Beeke Iwersen blinzelte in die schräg stehende Sonne, die Listland in goldenes Licht tauchte. Die Luft stand über der Nordsee, Mücken umschwirrten in schwarzen Schwärmen das Dünengras. Auf der Suche nach ihrer Tochter stolperte sie beinahe über ein Huhn, das auf dem Boden umherpickte und aufgeregt gackerte, als der Hofhund sich müde streckte und schließlich seinem Frauchen hinterhertrottete.

»Da bist du ja«, begrüßte Beeke die sechzehnjährige Lene, die, unweit vom Haus entfernt, auf dem mit Küstengrasbüscheln und Strandhafer bewachsenen Uferabschnitt saß und in ein Buch versunken war.

Die Mutter setzte sich dazu, ihre nackten Füße bohrten sich in den grobkörnigen Sand, der die Wärme des Tages in sich gespeichert hatte. Dann ließ Beeke den Blick über das Wattenmeer und die gegenüberliegende Landzunge schweifen. Die Nordseewellen hatten allerlei Treibgut, tote Krabben und Muscheln an den Flutsaum gespült. Vor dem Einsetzen der Abenddämmerung würde sie, wie jeden Tag, den Strand absuchen, denn die See wusste ebenso zu geben wie zu nehmen, und manchmal wartete ein schönes Geschenk am Ufer, mit dem sie ihrer Familie eine Freude bereiten konnte. Das Gehäuse der Wattschnecken ließ sich hervorragend auf eine Kette fädeln. Aus Treibholz, Seegras, Schafwolle und Muscheln hatte sie Puppen für Lene gebastelt, als diese noch Freude daran gehabt hatte, mit ihnen zu spielen.

Seit einiger Zeit galt ihre große Liebe jedoch dem geschriebenen Wort, und so schien Lene weder ihre Mutter zu bemerken noch Hund Joona, so sehr war sie in die Lektüre vertieft.

Beeke strich ihrer Tochter über das Haar, das schon bald den Farbton von Sommerweizen annehmen würde. »Was liest du denn da Schönes?«

Lene blinzelte, als müsste sie sich mit jedem Wimpernschlag mühsam in die Realität zurückkämpfen. »Die Geschichte Wat didünem fortelt«, erwiderte sie und zeigte der Mutter einen Ausschnitt aus der Zeitungsbeilage Fuar Sölring Lir, in der regelmäßig Gedichte und kurze Erzählungen wie Was die Düneerzählt aus der Feder des Sylter Dichters Jens Emil Mungard abgedruckt wurden. Lene sammelte und verwahrte diese in einem Buch, dessen Leineneinband sie mit aufwendigen Stickereien verziert hatte und das sie hütete wie einen Schatz. »Ist es nicht wunderbar, dass jemand den Mut hat, eine Düne von vergangenen Zeiten berichten zu lassen? Das ist so modern und so … radikal.«

»Das ist es in der Tat«, stimmte Beeke zu, denn auch sie liebte Mungards fantasievolle Geschichten und Gedichte. Und ganz besonders die mystischen, die von Meerfrauen, Hexen und Zauberern handelten, welche in den Dünentälern und Höhlen hausten. Sie waren unheimlich und spannend zugleich, genau wie die Sagen über tollkühne Strandräuber, die man sich an kalten Winterabenden am Kachelofen erzählte.

Hier, in der Abgeschiedenheit von Listland, schien alles möglich, und die wenigen Bewohner dieses Landstrichs glaubten wahrscheinlich weit mehr an Seemannsgarn und Mythen als andernorts auf der Insel.

»Hilfst du mir nachher bei den Vorbereitungen für die Ankunft unseres neuen Gasts?«, fragte Beeke, die unablässig arbeitete, damit es ihren Lieben möglichst an nichts mangelte. Aus diesem Grund vermietete sie in den warmen Monaten Fremdenzimmer an Sommerfrischler. Lene nickte vage, streichelte gedankenverloren Joonas flauschigen Hundekopf und schien schon wieder meilenweit von der Wirklichkeit entfernt.Beeke seufzte, konnte ihrer Tochter aber nicht böse sein, denn auch für sie waren Bücher ein Lebenselixier und Luxus von unschätzbarem Wert.

»Dann also bis später«, sagte sie und erhob sich. Die frisch gewaschene Bettwäsche musste von der Leine genommen und geplättet, der Eingangsbereich des Hauses mit dem Reisigbesen gefegt werden, da der Wind ständig Flugsand, kleine Zweige oder trockene Blätter herbeiwehte. Danach würde sie kochen, denn sie erwartete ihren Mann nach längerer Abwesenheit zum Nachtmahl und wollte ihm einen schönen Empfang bereiten.

Er sollte sich nach der strapaziösen Zeit auf dem Meer heimisch und willkommen fühlen, sich erholen und für seine harte Arbeit als Fischer belohnt werden. Konrad Iwersen war Miteigentümer einer Austernzucht in List und verdiente zusätzlich Geld mit dem Fang von Krabben, von den Insulanern Porren genannt. Beeke vermisste ihn jede Minute, denn sie liebte ihren Mann von ganzem Herzen und bangte stets um ihn, wenn die Nordsee schäumend tobte, sich aufbäumte, hohe Wellen über den Kuttern und Schiffen auf See zusammenschlugen und so manche Mannschaft für immer in den eisigen Abgrund rissen.

Nachdem Beeke die getrocknete Wäsche sorgsam in einen Korb aus geflochtenem Seegras gelegt hatte, ging sie in Richtung des Nutzgartens, den schon ihre Vorfahrinnen angelegt und mit viel Mühe kultiviert hatten. Die Erde am nördlichsten Punkt der Insel war im Gegensatz zum Marschboden nicht sonderlich fruchtbar. Pflanzen mussten genügsam sein, wenn sie hier Wurzeln schlagen und gedeihen sollten.

»Was gibt es zum Abendessen?«, fragte Lene, die plötzlich neben Beeke auftauchte, begrüßt von Joona, der ein freudiges Bellen ertönen ließ.

»Eine kräftige Suppe«, erwiderte Beeke. »Dazu Brot und zum Nachtisch ausnahmsweise ein Stück Kuchen mit schwarzen Johannisbeeren.«

»Wirklich?«, fragte Lene und leckte sich genüsslich mit der Zunge über die geschwungenen Lippen. Beekes Tochter war eine kleine Schönheit, was sich bereits auf der Insel herumgesprochen hatte.

Doch zum Bedauern der heiratswilligen Herren kam Lene nur selten nach Westerland, Keitum oder Kampen, wo es die Möglichkeit gegeben hätte, die junge Iwersen auszuführen. Sie schien sich selbst zu genügen, Tanzveranstaltungen und kurzweiliges Amüsement bedeuteten ihr nichts.

»Wer reist denn morgen an?«, fragte Lene und betrachtete die Beete im Garten. Mit geübtem Blick erfasste sie, welches Gemüse und Obst reif genug war, um es zu verarbeiten, all dies hatte ihre Mutter sie gelehrt. Sie kniete neben den zarten Pflanzen, befühlte und beäugte sie, roch an den Stielen und Blättern von Karotten und der Schale der Frühkartoffeln. Dann schüttelte sie trockene Erdklumpen vom Gemüse, schnitt Petersilie und Schnittlauch ab und legte die Zutaten für die Suppe in verschiedene Körbe.

Beeke liebkoste währenddessen Emma, eines der ehemaligen Flaschenlämmer aus dem letzten Frühling, das mittlerweile zur Familie gehörte – sehr zum Leidwesen von Joona, dessen Aufgabe es war, die Schafherde im Zaum zu halten und vor dem Winter zusammenzutreiben, wenn es auf den Dünen keine Wildkräuter mehr zu fressen gab. Emma schmiegte ihr wollweißes Köpfchen in Beekes Handfläche, und Lene schmunzelte, als sie ihre Mutter und das kleine Schaf betrachtete.

»Wir erwarten einen jungen Mann namens Marten Behlau aus Friedrichstadt«, sagte Beeke und schmuste weiterhin vergnügt mit Emma. »Er ist Buchhändler und möchte sich hier zurückziehen, um einen Roman zu schreiben. Gebucht hat er für vier Wochen, mit Option auf Verlängerung, und wahrscheinlich kommt seine jüngere Schwester auch noch nach.«

»Einen Roman? Das ist ja himmlisch. Und wahnsinnig aufregend.« Lene reckte wie zur Untermalung ihrer Worte frisch geerntete Lauchzwiebeln in die Luft, ihr Unterkiefer mahlte, wie immer, wenn sie konzentriert war. »Ich kann es kaum erwarten, ihn zu seinem Beruf und zu seinem Vorhaben zu befragen.«

»Aber denk dran, dass Schriftsteller Ruhe brauchen, um ihren Gedanken Flügel zu verleihen und sie zu Papier zu bringen«, mahnte Beeke ihre Tochter, wohl wissend, dass diese sich nicht mehr an die Worte der Mutter erinnern würde, sobald es um Literatur ging.

»Natürlich respektiere ich das, keine Sorge, ich mache dir schon keine Schande, Mutter«, erwiderte Lene mit schelmischem Lächeln. »Ich sehe gleich mal nach, welche Bücher ich ihm auf den Nachttisch legen kann, und stelle sicher, dass im Fremdenzimmer eine Leselampe steht. Vielleicht können wir Vater überreden, unserem Gast für die Dauer des Aufenthalts seinen bequemen Ohrensessel zu borgen.«

Mit diesen Worten nahm Lene die Körbe und ging, fröhlich summend, in die Küche des Reetdachhauses. Das Herzstück des Raums bildete die Küchenhexe, die mit Holz und Kohle beheizt wurde, je nachdem, was gerade verfügbar war. Beeke polierte die gusseisernen Abdeckplatten und dekorativen Elemente aus Emaille mit Hingabe und war stolz auf den Ofen, der vor einer hübsch gefliesten Wand stand. Auf der einen Herdplatte köchelte stets ein großer Topf mit warmem Wasser, zudem beheizte er die angrenzende Stuv.

Wenn es Lene kalt war, kauerte sie auf dem Boden und wärmte sich beim Lesen den Rücken. Joona gesellte sich häufig dazu und bedeckte mit seinem Hundekörper ihre Füße, die daraufhin mollig warm wurden. Wenn Lene den Kopf hob und durch den Türspalt spähte, sah sie ihre Mutter, die beim Plätten der Wäsche stets ein Buch las und es zu diesem Zweck auf einen Notenständer gestellt hatte, der in Blickweite war.

In Momenten wie diesen fühlte sich Lene ihr sehr nah und verspürte tiefe Liebe für die Frau, die sie geboren und mit der Welt von Geschichten und Büchern bekannt gemacht hatte. Einer Welt, die Lene alles bedeutete und in die sie gern viel tiefer eintauchen würde, als es ihr derzeit möglich war.

2

Hamburg, Gegenwart

Anna

Ich saß im Vorzimmer der Verlegerin und wartete darauf, mit Frau Dr. Christiansen über das Ideenkonzept zu sprechen, das ich ihr vor einiger Zeit geschickt hatte. Es handelte sich dabei um die Biografie der fünfundachtzigjährigen Sylterin Fenja Lorenzen, die sich um die Buchkultur Nordfrieslands verdient gemacht hatte wie keine Zweite und zudem mit ihrer Stiftung Nordfriisk Boker junge Schriftstellertalente finanziell förderte. Die Folge meines Podcasts Bemerkenswerte Bücherfrauen gehörte zu den meistgehörten Beiträgen der Reihe und rangierte seit Monaten an der Spitze der Podcast-Charts. Daher wollte ich in meinem Buch das erzählen, was kein Thema meines Interviews gewesen war, nämlich die persönliche Seite der alten Dame, über die nicht viel bekannt war. Allerdings nur in dem Maße, in dem sie selbst Einblicke in ihr Privatleben gewähren wollte.

Meine Augen schweiften über die große Monstera-Pflanze in einem mit Bast überzogenen Blumentopf, gerahmte Fotografien von Autorinnen und Autoren an den Wänden, Regale voller Bücher und schließlich über den Schreibtisch des Assistenten. Er schaute von seiner Arbeit am Bildschirm auf und suchte meinen Blick. »Das Meeting mit dem Lektorat dauert sicher nicht mehr lange«, sagte er und lächelte freundlich. »Möchten Sie noch einen zweiten Kaffee oder lieber etwas anderes?« Ich bat um ein stilles Wasser und blickte aus dem Fenster mit Sicht auf die Elbe. Während ich trank, zählte ich mir nochmals die Verkaufsargumente für mein geplantes Buchprojekt auf. Als erfahrene Journalistin und Autorin von etlichen erfolgreichen Sachbüchern in diesem Verlag wusste ich, dass ein gutes Konzept und eine solide Kalkulation die Basis für alle Entscheidungen waren, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Buchbranche einem Wandel unterworfen war und die Dinge sich häufig nicht mehr so entwickelten wie gewohnt. Doch weit mehr als der Kopf hing mein Herz an der Idee, ein Buch über Fenja Lorenzen und andere beeindruckende Frauen aus der Buchbranche zu schreiben. Sollte also wider Erwarten kein Verlag an meinem Konzept interessiert sein, war ich entschlossen, die Reihe im Selbstverlag zu veröffentlichen. Allerdings wäre das ungleich schwieriger zu realisieren und zudem ein finanzielles Risiko.

»Wie schön, Sie zu sehen, Anna«, sagte Frau Dr. Christiansen, als wir in ihrem Büro einander in schwarzen Ledersesseln gegenübersaßen. »Glückwunsch zum großen Erfolg des Podcasts. Wir sind alle große Fans und warten sehnsüchtig auf neue Folgen. Deshalb finden mein Team und ich den Gedanken wunderbar, aus den Beiträgen eine Buchreihe zu machen – mit dem über Fenja Lorenzen als Aushängeschild. Die Kombination aus Sylt-Flair, den Buch-Tipps rund um die Region, empfohlen von einer echten Nordfriesin, und den Verkaufszahlen, die solche Inselbücher regelmäßig erzielen … Die Atmosphäre, die man beim Zuhören spürt, als sei man selbst gerade an diesem Sehnsuchtsort, das ist einfach unschlagbar für den Auftakt. Wann, denken Sie, könnten wir mit den ersten drei Ausgaben rechnen? Wir wollen der Reihe einen besonderen Stellenwert im Programm einräumen, verbunden mit einem großen Werbebudget, vorausgesetzt, wir starten im ersten Verkaufsjahr gleich mit drei Titeln. Doch die können Sie unmöglich alle selbst verfassen.«

»In der Tat benötige ich schätzungsweise ein Jahr, bis ich ein druckfertiges Manuskript abliefern kann.«

»Wären Sie damit einverstanden, die weiteren Stoffe von anderen Autoren schreiben zu lassen und dabei lediglich als Beraterin zu fungieren?« Frau Dr. Christiansen musterte mich mit einem Blick, in dem neben der Frage eine gewisse Härte lag. Sich als Frau Mitte dreißig an der Spitze eines männerdominierten Unternehmens zu behaupten, war naturgemäß nicht einfach. Nicht nur für diese Leistung gebührte ihr mein voller Respekt, ich schätzte zudem sowohl ihre Kompetenz als auch ihren Spürsinn für Bestseller, gepaart mit einer gehörigen Portion Risikofreude in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

»Unter der Voraussetzung, dass ich die gesamte Reihe als Herausgeberin kuratiere und meine Arbeit anteilig angemessen vergütet wird, könnte ich mir das durchaus vorstellen. Allerdings behalte ich mir die Auswahl der Autorinnen und Autoren vor, denn sie müssen unbedingt zu den Porträtierten passen.«

Frau Christiansen nickte zustimmend. »Das lässt sich natürlich machen. Aber mir ist wichtig, dass wir uns einig darüber sind, wie die Reihe inhaltlich ausgerichtet sein soll. Wir benötigen ein Unterscheidungsmerkmal zum Podcast. Wir wollen die private Seite der Frauen zeigen. Uns interessiert, welche Höhen und Tiefen sie erlebt haben, welchen Raum große Gefühle – vielleicht eine aufregende Liebesgeschichte – in ihrem Leben eingenommen haben. Gibt es etwas, was wir von diesen starken Frauen lernen können? Ich muss Ihnen sicher nicht sagen, dass wir in den heutigen Zeiten vor allem die Leserschaft erreichen, die an wahren Geschichten interessiert ist. An persönlichen Schicksalsschlägen, an emotionalen Dramen. Alle Porträtierten müssen dazu bereit sein, sich Ihnen zu öffnen, ansonsten versprechen wir uns keinen Verkaufserfolg.«

Irgendetwas an der Intention meiner Verlegerin gefiel mir nicht, zumal das persönliche Drama nicht in Fenja Lorenzens Natur lag. Die Sylterin war eher zurückhaltend und nordfriesisch herb in ihrem Auftreten, wenn es darum ging, Themen abzuschmettern, die ihr missfielen. Dennoch hatte sie zugesagt, mir ihre Zeit in ihrem Haus im Listland zu schenken, um auszuloten, ob sie einer solchen Biografie zustimmen würde, und ich wollte keinesfalls riskieren, dass dabei etwas schieflief. Doch das musste Frau Dr. Christiansen nicht wissen. Nachdem wir weitere Details besprochen hatten, verabredeten wir uns für ein Telefonat in den kommenden Tagen. Ich verließ den Verlag jedoch mit dem unguten Gefühl, dass meine Sicht auf die Biografien-Reihe sich nicht eins zu eins mit den Vorstellungen der Verlegerin deckte, also würde ich versuchen müssen, den goldenen Mittelweg zu finden, mit dem sich alle wohlfühlten.

 

Eine Stunde später war ich mit dem Vater meiner Tochter Kathrin in einem Bistro in der HafenCity zum späten Mittagessen verabredet. Wir begrüßten uns mit einem Kuss auf die Wange, dann setzten wir uns nebeneinander an den Tisch, im Rücken die von der Sonne aufgewärmte Mauer aus Backstein.

»Wie war deine Besprechung?«, fragte Christian, der bereits alles über meine Idee wusste. Ich berichtete ausführlich, und Christian hörte, wie gewöhnlich, aufmerksam zu. »Das klingt erst mal großartig. Was hast du denn für ein Gefühl?«, fragte er und schaute, genau wie ich, auf das Wasser der Elbe, das in der Sonne grünlich golden schimmerte. Die am Kai festgemachten Boote schaukelten auf den sanften Wellen des Tideflusses, Möwen überflogen die Masten und hellen Segel der Boote im Traditionsschiffhafen.

»Ich weiß es noch nicht genau«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Natürlich freue ich mich sehr, dass meine Idee so gut angekommen ist. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Fenja Lorenzen so viel Privates von sich preisgeben will, wie vom Verlag erwartet. Zudem bereitet mir der Terminplan Kopfzerbrechen. Es muss nämlich alles mit der heißen Nadel gestrickt werden, um einen Programmplatz halten zu können, der sonst anderweitig vergeben wird. Aber ich bin es allmählich leid, alles rasend schnell machen zu müssen, weil dann unweigerlich die Qualität leidet. Wirklich schade, dass Aufwand heutzutage als Raub von Lebensqualität empfunden wird, anstatt Zeit als Luxus zu genießen.«

»Hört, hört«, erwiderte Christian schmunzelnd, nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten. »Solche Worte aus dem Munde der Frau, die es liebt, möglichst viele Projekt-Bälle auf einmal in der Luft zu jonglieren, und immer auf der Überholspur unterwegs war. Die für besonders schwierige Reportagen brannte und nachts aufschreckte, weil ihr eine brillante Idee gekommen war und sie erst wieder einschlafen konnte, wenn sie sie notiert hatte.«

»Das ist schon eine ganze Weile her«, erwiderte ich mit einem Lächeln und erinnerte mich an die Phase, in der beruflicher Ehrgeiz die Hauptrolle in meinem Leben gespielt hatte. »Vergiss nicht, dass zwischen der Anna von früher und der von heute fünfundzwanzig Jahre und eine Mutterschaft liegen. Ich bin nicht mehr die Allerjüngste und leider auch nicht die Allerschnellste.«

»Wie findet Kathrin deine Buchidee?«, fragte Christian, ohne auf meinen Einwand hinsichtlich des Alters einzugehen. »Unsere Tochter ist doch sicher stolz, dass ihre Mutter einen erfolgreichen Podcast hat, oder nicht?«

»Ja, das ist sie. Und sie hofft, dass er so bekannt wird, dass daraus eine Bühnenshow entsteht, die Arenen mit einem vor Begeisterung tobenden Publikum füllt. Doch sie vergisst dabei, dass Interviews und Beiträge mit Büchermacherinnen sich nicht mit True-Crime-Podcasts oder Ähnlichem vergleichen lassen. Wann hast du sie eigentlich zum letzten Mal gesehen?«

Christian schenkte uns beiden die frische Zitronen-Ingwer-Limonade ein, die der Kellner serviert hatte, und trank einen Schluck. »Ist schon eine Weile her, aber ich habe mir fest vorgenommen, sie so bald wie möglich in Friedrichstadt zu besuchen und dann ein paar Tage mit ihr in St. Peter-Ording zu verbringen, so wie wir es eigentlich jedes Jahr machen.«

Wie er da saß, das Gesicht und die Unterarme leicht gebräunt, schlank, lässig, aber gut gekleidet, und in die Sonne blinzelte, konnte ich wieder nachvollziehen, dass ich mich als fast Dreißigjährige in ihn verliebt hatte. Wir waren Kollegen im Ressort Kultur und Stadtgeschehen bei einem Hamburger Magazin gewesen, und noch bevor ich von Christians physischer Attraktivität angezogen wurde, hatten seine Klugheit, Wissbegierde und Integrität Eindruck auf mich gemacht. Dass ich nach einigen Wochen unserer Sommeraffäre schwanger geworden war, hatte weder auf meiner noch auf seiner Lebensagenda gestanden, ebenso wenig wie die Gründung einer Familie.

Ich mochte Christian und war gern mit ihm zusammen, aber uns war beiden klar, dass wir keine tiefe Liebe füreinander empfanden, sondern uns lediglich nach Aufregung, Romantik und ein wenig Nähe gesehnt hatten. Also zogen wir Kathrin gemeinsam groß, wenn auch in getrennten Wohnungen. Christian hatte nicht weit von uns entfernt gelebt und war immer zur Stelle gewesen, wenn wir ihn brauchten, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

»Darüber wird sie sich freuen«, erwiderte ich und dachte voller Sehnsucht an die Nordsee. »Wie geht’s Marie und den Kindern?« Christians Frau und seine beiden Söhne waren für mich ebenso ein Teil der Familie wie Kathrin.

»So weit ganz gut«, erwiderte Christian und erzählte kleine Alltagsanekdoten, die mich zum Lachen brachten. Doch ich war nicht vollends bei der Sache, denn meine Gedanken schweiften immer wieder zu Fenja Lorenzen. Würde es mir gelingen, sie mit Geduld und Feingefühl zu überzeugen, mir weitere Details aus ihrem Leben anzuvertrauen, die sie im Interview ausgelassen hatte? Mein Spürsinn für spannende Geschichten und die jahrelange Erfahrung als Journalistin sagten mir, dass es weit mehr über sie zu sagen gab, als ich bisher wusste, denn sie hatte im Interview kleine Andeutungen gemacht, aus denen ich schloss, dass es in ihrer Familie etliche Geheimnisse gab.

3

Hamburg, Gegenwart

Anna

Wann geht’s noch mal auf die Insel, Anna?«

Mein Nachbar schloss gleichzeitig mit mir die Wohnungstür aus schwerem Eichenholz ab. Tommy und seine Familie lebten seit über zwanzig Jahren Wand an Wand mit mir im Altbau im Herzen von Eimsbüttel, dem Hamburger Stadtteil, der Kreative anzog wie ein Magnet.

»In einer knappen Stunde«, erwiderte ich und verknotete die Henkel des Müllbeutels, den ich nach unten bringen wollte, bevor ich meine Reise nach Listland antrat. »Ich fahre mit der Regionalbahn, steige aber in Friedrichstadt aus, weil Kathrin mich dort abholt und auf Rømø zur Fähre bringt. So haben wir wenigstens Zeit, ein bisschen zu plaudern.«

Dann trabte ich Tommy hinterher, der sein Rad geschultert hatte, und versprach, meine Tochter zu grüßen. Er würde sich während meiner Abwesenheit um die Zimmerpflanzen sowie die Post kümmern. Für eine Alleinstehende wie mich war unser nachbarschaftlicher Zusammenhalt Gold wert.

Der Tag präsentierte sich verhangen, und feiner Nieselregen benetzte mein Gesicht, als ich den Briefkasten leerte und einen Blick auf den Vorgarten warf, in dem es noch nicht so blühte wie erhofft. Hamburger Frühsommer konnten wunderbar warm und sonnig sein, sich aber zuweilen auch anfühlen, als trüge der Herbst sein feuchtes Nebelkleid. Angesichts der zarten Knospen, von denen Wassertropfen abperlten, fiel mir ein, dass ich nicht vergessen durfte, meinen Regenmantel, eine Mütze und Gummistiefel einzupacken.

»Habe ich wirklich an alles gedacht?«, fragte ich mich und überprüfte erneut das Sammelsurium, das ich zuvor auf der Tagesdecke des französischen Betts ausgebreitet hatte, denn an der Nordsee war das Wetter noch unberechenbarer als in Hamburg. »Notizbuch, Powerbank, Richtmikrofon, Ladekabel«, zählte ich laut auf, denn Listland lag so weit ab vom Schuss, dass ich nicht mal eben einkaufen konnte, wenn ich etwas vergessen hatte, das ich für meine Arbeit benötigte. Anschließend schrieb ich eine Nachricht an meine Freundin Svenja, die gerade für ein halbes Jahr als Schutzwartin auf Fehmarn war, um Vögel zu kartieren. »Hoffe, du fühlst dich wohl in deiner abgelegenen Hütte, umgeben von Feldlerchen, Wiesenpiepern und Dorngrasmücken. Freue mich auf ein Wiedersehen mit dir, auch wenn das leider noch eine ganze Weile dauern wird.« Svenja würde sicher erst spät antworten, denn sie nutzte die Auszeit auf Fehmarn für Digital Detox und, um zu sich selbst zu finden, nachdem ihre drei Kinder von zu Hause ausgezogen waren und ihr Mann gerade beruflich sehr eingespannt war. Ihre aktuelle Tätigkeit, bei der sie sich als studierte Biologin mit dem Brutverhalten von Vögeln beschäftigte und dafür sorgte, dass weder Krähen noch Füchse die Eier von Bodenbrütern rauben konnten, passte hervorragend zu ihrem Empty-Nest-Syndrom.

Nachdem ich das Handy beiseitegelegt hatte, packte ich drei Romane und zwei Sachbücher in den Koffer, die ich von Verlagen als Rezensionsexemplar erhalten hatte. Auf dem Weg ins Bad wäre ich beinahe über einen der Bücherstapel gestolpert, die ich vor dem Wandregal aufgetürmt hatte, weil ich die Titel einsortieren wollte. Bislang war ich noch nicht dazu gekommen und hatte mittlerweile sogar Gefallen an den Türmen gefunden, weil sie mir das Gefühl gaben, das passende Buch zum Lesen in Griffweite zu haben, egal in welcher Stimmung ich gerade war.

Im Badezimmer sammelte ich meine Kosmetika zusammen. Beim flüchtigen Blick in den Spiegel schaute mich das Gesicht einer Frau Mitte fünfzig an, die schon einiges erlebt und durchgemacht hatte. Feine Fältchen umrahmten meine nussbraunen Augen, meine Haare färbte ich seit einiger Zeit in einem dunkelbraunen Ton, gemischt mit etwas Kupfer. Doch ich liebäugelte damit, demnächst der Natur freien Lauf zu lassen und mich mit dem Grau anzufreunden, das mittlerweile meine natürliche Haarfarbe war. »Alles in allem siehst du aber noch ganz passabel aus«, raunte ich mir selbst belustigt zu.

 

Wenig später checkte ich im Zug auf dem Tablet meine Mails und sortierte sie nach Priorität. Seit ich den Podcast gestartet hatte, konnte ich mich vor Zuschriften kaum retten, und es kostete viel Zeit, jede einzelne von ihnen zu beantworten. Doch ich freute mich über die Komplimente, die ich nach einer langen beruflichen Durststrecke während der Pandemie endlich für meine Arbeit bekam.

Wie schön es ist, wieder reisen zu können, dachte ich, als ich aus dem Fenster schaute und Kühe auf saftigen Weiden grasen sah, Windmühlenparks erblickte, die sich vor dem endlosen Horizont Nordfrieslands erhoben, und Felder voll mit Sonnenkollektoren, wo früher überwiegend Raps, Getreide oder Mais angebaut worden waren.

Andere Zeiten, andere Gegebenheiten …

In Friedrichstadt angekommen, begann mein Herz vor Vorfreude zu pochen. Ich hatte meine fünfundzwanzigjährige Tochter zuletzt an Weihnachten gesehen und konnte mich nicht daran erinnern, dass wir jemals zuvor so lange getrennt gewesen waren außer in den Monaten, die sie als Austauschschülerin in Amsterdam verbracht hatte.

»Mama«, rief Kathrin aus, als sie mich auf dem Parkplatz am Bahnhof erblickte, und stürmte auf mich zu. Schon umschlangen ihre Arme meinen Hals, ihre zarte Wange schmiegte sich an meine. Ich schloss die Augen und atmete den schönsten Duft der Welt ein.

»Ich hab dich so vermisst.«

»Ich dich auch, mein Kätzchen, ich dich auch«, murmelte ich.

»Umso schöner, dass wir während der Fahrt Zeit miteinander verbringen können. Geht’s dir gut?«

Kathrin setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor. »Alles in allem ja, aber das Geschäft läuft leider nach wie vor sehr schleppend. Friedrichstadt lockt zwar viele Touristen an, aber die meisten bleiben nur kurz und kaufen wenig oder Preiswertes. Nachhaltige Kleidung kostet aber nun mal einiges, erst recht, wenn sie handgefertigt ist. Vielleicht war es ein Fehler, den Laden dort zu eröffnen und nicht in Hamburg.«

Ich blickte stumm geradeaus. Meine spontane Antwort hätte gelautet: »Ich habe es dir ja gesagt«, doch ich wollte Kathrin gegenüber weder oberlehrerhaft wirken noch sie zusätzlich verunsichern. In schlaflosen Nächten machte ich mir nicht nur Gedanken über meine eigene berufliche Zukunft, sondern vor allem über die meiner Tochter. Sie war eine begabte Schneiderin und mit viel Leidenschaft bei der Sache, doch das schien in heutigen Zeiten leider nicht honoriert zu werden.

»Verkauft wenigstens Viv etwas von ihrem Schmuck?« Kathrins beste Freundin Viviane war sofort begeistert gewesen, als meine Tochter bei einem Ausflug nach Nordfriesland das leer stehende Geschäft nahe der Friedrichstädter Gracht entdeckt und sich Hals über Kopf darin verliebt hatte. Seitdem bürgte ich für die monatliche Miete, andernfalls hätte Kathrin keinen Vertrag für das Ladenlokal am Rande des malerischen Marktplatzes bekommen.

Kathrin stieß einen Stoßseufzer aus und bog auf die Autobahn ab. Zwischen den Lkws und SUVs wirkte der rote Fiat wie eine Nussschale. »Bei ihr läuft es etwas besser, aber ehrlich gesagt verkaufen wir überwiegend Seifen aus Schafsmilch, Postkarten, Briefmarken und die Becher, die Viv anfertigt, wenn sie mal wieder Lust auf Keramikarbeiten hat«, erwiderte sie. »Wir werden wohl mehr in Werbung investieren und endlich einen Onlineshop einrichten müssen, damit wir nicht mehr abhängig von Laufkundschaft sind. Aber erzähl du mal, wie lange wirst du bei Fenja Lorenzen bleiben? Der Podcast-Beitrag ist übrigens wirklich super geworden, Viv und ich haben ihn schon mehrfach gemeinsam gehört. Die alte Dame scheint eine tolle Frau zu sein und gibt super Buchtipps. Sollte ich mal Mutter werden, besorge ich mir auf alle Fälle ihre Kinderbücher. Ich bin schon gespannt, was du alles über ihr Leben erfährst, wenn sie dir tiefere Einblicke gewährt.«

Wenn sie dazu wirklich bereit ist, dachte ich und überlegte, wie ich die Sache strategisch am besten anging, sollte ich auf Widerstand stoßen. Falls Fenja nicht gewillt war, sich mir zu öffnen, dann fehlte das Zugpferd für die Bücherserie zum Podcast.

»Wenn alles wie geplant läuft, bin ich ungefähr zwei Wochen dort. Sollte ich jedoch länger bleiben, kannst du mich gern besuchen«, erwiderte ich. »Wir finden für dich bestimmt ein nettes Pensionszimmer in List, und du kannst endlich mal wieder ein wenig durchatmen, Fahrrad fahren, am Strand spazieren und die Seele baumeln lassen.«

Den Rest der Wegstrecke unterhielten wir uns über Kathrins Alltag, Christian, ihren neuen Freundeskreis in Friedrichstadt, meine Eltern und über alles, was uns gerade in den Sinn kam.

Und ehe ich michs versah, näherten wir uns auch schon dem Grenzübergang zu Dänemark und erreichten wenig später den Damm, der zum Fähranleger auf der Insel Rømø führte.

Nach der Ankunft steckte ich Kathrin unauffällig einen Hunderteuroschein in die Tasche ihres Mantels, andernfalls hätte sie protestiert und das Benzingeld nicht angenommen. Anschließend stiegen wir aus dem Auto, umarmten einander und versprachen, bis zum nächsten Wiedersehen nicht wieder so viel Zeit ins Land gehen zu lassen.

Zeit war so kostbar.

Zeit war so endlich …

Und es war mehr als überfällig, dass ich länger in Friedrichstadt blieb und mir ein besseres Bild von ihrem dortigen Leben verschaffte.

Nachdem ich mein Ticket vorgezeigt und den Koffer über die Brücke gerollt hatte, drehte ich mich noch einmal zu Kathrin um, die mir winkte und Kusshände zuwarf.

Dann wurde die Ladeluke der Fähre geschlossen, und ich ging an Deck, wo Strandkörbe dazu einluden, sich hineinzusetzen, verträumt aufs Meer zu schauen, den Flug der Möwen zu beobachten oder genüsslich einen Hotdog zu essen.

In wenigen Augenblicken begann die Fahrt in Richtung Sylt, und wie immer verspürte ich Abschiedsschmerz, wenn Kathrin aus meinem Blickfeld und damit aus meinem täglichen Leben verschwand. Doch mit jeder Seemeile, die das Schiff zurücklegte, legte sich auch die sehnsüchtige Wehmut.

Neugier und Vorfreude auf die gemeinsame Zeit mit Fenja Lorenzen in Listland überlagerten die Melancholie, und ich konnte es kaum erwarten, dem Gast meines Podcast-Interviews endlich persönlich gegenüberzustehen.

Das Haus am Ende der Welt

Seit Menschengedenken stand es da, das Haus am Ufer des Lister Ellenbogens, mit Blick auf die Vogelinsel Uthörn.

Den Stall nach Westen gebaut, um den Wind abzufangen, der meist aus dieser Himmelsrichtung wehte und um das Mauerwerk strich, auf der Suche nach einer Lücke, um hineinzuschlüpfen und die Räume mit seinem kalten Tosen zu erfüllen. Der Wohnbereich mit zwei Ebenen war gen Osten gebaut worden, wo morgens die Sonne aufging, die Wolkendecke durchbrach und ihre hellen Strahlen über die Insel schickte.

Die Eingänge zum Stall und den Wohnräumen lagen wiederum gen Süden, ein Flur führte durch den Bau hindurch und teilte das Friesenhaus in zwei Hälften.

In früheren Zeiten lebten Mensch und Tier an diesem Ort eng zusammen, das Vieh wärmte mit seinem Fell all diejenigen, die sich in seiner Nähe aufhielten oder Handschuhe, Mützen, Schals und Pullover aus seiner Wolle trugen.

Rote Ziegel bildeten das Mauerwerk für das weiß getünchte uthlandfriesische Haus, das im Laufe der Jahre zahllose Menschen, Geschichten und Schicksale beherbergt, beschützt und bewahrt hatte. Über der Eingangstür thronte ein spitzer Giebel, damit das Reet im Falle eines Brandes links und rechts herabfiel und der Fluchtweg frei blieb. Der Dachboden selbst war für die Ernte bestimmt. Doch die Kinder versteckten sich dort gern zwischen den Heuballen, balgten herum, lachten und erzählten sich Geschichten. Das Gewicht des Obergeschosses lag auf dem Ständerwerk, oftmals errichtet aus Strandgut wie Planken und Schiffsmasten, das Fundament bestand aus Feldsteinen.

Seine Geheimnisse hingegen barg es an Stellen, die nicht leicht zugänglich waren und daher erst gelüftet wurden, wenn das Haus sich gewillt zeigte, diese zu offenbaren …

4

Listland, Gegenwart

Anna

Nachdem die Fähre in List angelegt hatte, suchte ich mir ein Taxi, das mich zum Haus von Fenja Lorenzen am Lister Ellenbogen bringen würde. Der Fahrer begrüßte mich mit einem freundlichen »Moin« und verstaute mein Gepäck im Kofferraum. Möwen umkreisten das sonnenbeschienene Hafenbecken und suchten nach Beute aus dem Meer oder Fischen, die sie den umherflanierenden Urlaubern aus den Brötchen stibitzen konnten. Diese Szenerie an der Nordspitze Sylts glich immer mehr einem Jahrmarkt, in der Hochsaison gab es hier vergleichsweise so viele Touristen wie auf der Piazza San Marco in Venedig. Wehmütig dachte ich an die Zeiten zurück, als hier kaum etwas los gewesen war und der Besuch in der urigen Alten Bootshalle sich angefühlt hatte, als tauchte man in das Nordfriesland der Seefahrer, Walfänger und Krabbenfischer ein.

 

Die Fahrt zu Fenjas Haus führte am Meer entlang zur Mautstation, an der Pkw-Fahrer vor der Weiterfahrt eine Gebühr entrichten mussten, denn der Lister Ellenbogen war Privatland. Da meine Gastgeberin meinen Besuch angekündigt hatte, konnten wir ohne Zahlung passieren, und ich genoss die Fahrt durch das wunderschöne Niemandsland, in dem es nur Dünen, Heideflächen, Sandverwehungen und Vogelschwärme am hohen Himmel gab. In dieses Paradies verirrten sich nicht viele Urlauber, daher bildete der Landstrich einen reizvollen Kontrast zu dem nervenaufreibenden Trubel, der auf weiten Teilen der Insel herrschte. Es war lange her, seit ich zuletzt die Nordspitze besucht hatte, denn Kathrin liebte besonders die Wattseite in Keitum und die Brandung an der Seeseite von Kampen. Wann immer es mir möglich gewesen war, hatte ich hier die Ferien mit ihr verbracht, da die jodhaltige Nordseeluft Kathrins schwachen Bronchien guttat und wir beide die innige Mutter-Tochter-Zeit genossen.

Der Fahrer bremste, als eine Herde Schafe auf die Küstenstraße trottete und es nicht im Mindesten eilig zu haben schien. Ich hatte zuvor das Hinweisschild mit einem Schafsmotiv gesehen und schmunzelte, als die Tiere zunächst am Rande der Fahrbahn auftauchten, sich quer über den Weg verteilten und einfach dort stehen blieben, wo es ihnen gerade gefiel.

»Die haben die Ruhe weg, und das ist auch gut so«, sagte der Taxifahrer, der bislang geschwiegen hatte. »Ich hoffe, Sie haben es nicht eilig.«

Nein, das hatte ich nicht, obwohl ich darauf brannte, Fenja endlich persönlich zu treffen und das Haus zu bestaunen, das ich bislang nur von Fotos kannte. Bevor ich den Kopf schütteln konnte, kam Bewegung in die Herde, die wie auf ein geheimes Kommando in Richtung Dünenkamm trabte und schließlich dahinter verschwand, als hätte es die Schafe nie gegeben. Links von der Fahrbahn ragte der rot-weiß geringelte Leuchtturm am Horizont auf, wenige Meter weiter gabelte sich der Weg und führte rechts in Richtung des Wohnorts von Fenja Lorenzen. Nun konnte ich das Reetdachhaus, das in den kommenden Tagen mein Zuhause und Arbeitsplatz sein würde, in der Ferne erkennen.

Von so einem abgeschiedenen, idyllischen Ort hatte ich immer schon geträumt, wenn mir der Trubel in Hamburg zu viel wurde, deshalb freute ich mich sehr darauf, diesen Luxus zu genießen. Als das Taxi auf dem gepflasterten Hofplatz hielt, kamen von allen Seiten kleinere Schafe herbei und beäugten meine Ankunft. Eines der Schäfchen hatte schwarzes Fell und schnupperte an der Autotür, die ich aus Vorsicht verschlossen hielt.

»So einen Schubs müssen die Tiere abkönnen«, sagte der Fahrer, stieg aus und öffnete die Klappe des Kofferraums. Erschreckt durch das Geräusch, begannen nun auch Hühner zu gackern und aufgeregt auf dem Vorplatz des Hauses umherzutippeln. Die Schafe stoben auseinander, verteilten sich in alle Himmelsrichtungen, und ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Störung ihrer friedvollen Ruhe. Nachdem ich bezahlt hatte, stand ich vor dem Eingang des weiß getünchten Hauses, an dem kein Namensschild hing, und klingelte. Insgeheim hatte ich damit gerechnet, dass Fenja mich längst erspäht hatte und von selbst an die Tür kommen würde, doch was wusste ich schon wirklich über den Gast meines Podcasts und dessen Gepflogenheiten? Nachdem sich weiterhin nichts rührte, läutete ich ein zweites und drittes Mal, doch vergeblich. Daher zückte ich mein Handy und scrollte zu der E-Mail-Korrespondenz mit Fenja, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht im Datum oder der Uhrzeit geirrt hatte, doch es war alles korrekt. Also ließ ich den Koffer auf der Fußmatte stehen und umrundete das Haus, gefolgt von dem schwarzen Schäfchen, das offensichtlich Spaß daran hatte, sich an meine Fersen zu heften.

Die Fenster des Hauses waren allesamt geschlossen, die Terrasse zur Seeseite leer, nirgends eine Spur von Fenja Lorenzen. Konnte es sein, dass der fünfundachtzig Jahre alten Dame etwas zugestoßen war? Sie hatte einmal beiläufig erwähnt, dass sie zu Stürzen neigte, hatte diesen Hang zum Purzeln jedoch mit einem Lachen abgetan. Entschlossen, den Dingen auf den Grund zu gehen, drückte ich die Klinke der zweigeteilten Klönschnacktür, die, wie häufig in Nordfriesland, nicht abgeschlossen war. Ich trat ein, rief den Namen meiner Gastgeberin und schaute mich im Erdgeschoss um, jedoch vergebens. Schließlich ging ich in den ersten Stock, aber auch dort war niemand. Der größte der drei Räume wirkte, als sei er hastig verlassen worden. Eine Kommodenschublade war nicht sorgfältig geschlossen, ein bunter Sommerschal lugte daraus hervor, ein verwelkter Blütenkopf war aus dem Wildblumenstrauß gefallen und lag nun friedlich auf dem Nachttisch. Ein Duftgemisch aus Lavendel und Zirbenholz hing im Raum, und ich konnte den Abdruck eines Körpers in der weichen Matratze des ungemachten Bettes unterhalb der dicken Holzbalken erkennen. Die Tagesdecke lag zusammengerollt auf einem Stuhl und schien auf ihre eigentliche Bestimmung zu warten. Zutiefst beunruhigt ging ich wieder nach unten und schaute mich dort noch einmal genauer um. Das Erdgeschoss bestand fast ausschließlich aus einem großen Raum, der in die Küche überging. Am Fenster mit Blickrichtung Meer und Terrasse stand ein ovaler Tisch aus Nussbaumholz, und darauf lag ein Umschlag.

Als ich meine Lesebrille aufsetzte, erkannte ich, dass er an mich adressiert war, und öffnete ihn hastig.

Liebe Anna,

leider musste ich aus persönlichen Gründen dringend nach Niebüll reisen. Für Essen und Getränke ist ausreichend gesorgt, bitte bedienen Sie sich. Ihr Zimmer befindet sich oben rechts, fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Ich melde mich, sobald ich weiß, wann ich wieder auf die Insel kommen kann.

Fenja Lorenzen

Da es der alten Dame offenbar gut ging, steckte ich den Brief wieder zurück in das Kuvert und atmete erleichtert auf. Doch dann schoss mir sofort der knappe Zeitplan in den Kopf und verursachte mir augenblicklich Magengrummeln. Was, wenn Fenja Lorenzen mehrere Tage wegblieb? Dann geriet mein Terminkonstrukt ins Wanken und gefährdete den angedachten Erscheinungstermin. Binnen Sekunden war ich so in sorgenvolle Gedanken vertieft, dass ich erst jetzt bemerkte, dass das schwarze Schäfchen mir ins Haus gefolgt war und einen Bastkorb anknabberte, in dem Fenja Zeitschriften aufbewahrte, was sicher nicht in deren Sinn war. Zudem waren die einzelnen Halme miteinander verklebt, was selbst dem robustesten Schafsmagen bestimmt nicht guttun würde.

»Ich muss dich leider hinausbitten«, sagte ich und öffnete die Tür. Doch das Schaf kaute unbeeindruckt weiter und dachte nicht im Entferntesten daran, meinem höflichen Rauswurf Folge zu leisten. »Tut mir leid, aber ich meine es ernst. Schschhh, mach, dass du nach draußen kommst. Glaub mir, es ist zu deinem Besten.« Da auch dieser Satz keinerlei Wirkung zeigte und das Schaf mittlerweile einige Halme aus dem Korb gezogen hatte, legte ich meine Hände auf seinen Rücken und versuchte, das Tier auf diese Weise sanft hinauszubugsieren, auch wenn seine Anwesenheit etwas sehr Nettes und zudem Beruhigendes hatte. Das Schaf stieß ein unwilliges »Mäh« aus, wirkte jedoch friedvoll, was mich dazu ermutigte, den Druck etwas zu erhöhen und es Richtung Tür zu schieben. Das Fell fühlte sich mollig weich, aber auch wächsern an, völlig anders als vermutet. Für einen kurzen Moment verspürte ich den Impuls, das Gesicht darin zu vergraben, meine Augen zu schließen und die reale Welt zu vergessen. Doch nun schien das Schaf zu begreifen, dass es hier drinnen unerwünscht war, und trabte tatsächlich nach draußen, lautstark begrüßt von den anderen.

Ich schaute noch eine Weile hinaus und beobachtete die Tiere, doch dann überfiel mich bleierne Müdigkeit. Das frühe Aufstehen, Kofferpacken, die Bahnfahrt und Fenjas überraschende Abwesenheit forderten offenbar ihren Tribut. Daher ging ich in das für mich bestimmte Zimmer und legte meinen Koffer auf den Innenboden des alten Bauernschranks, der wurmstichig war, aber wunderschön. Ich strich über die leeren Drahtbügel, die beim Aneinanderstoßen einen Ton erzeugten, der wie ein Glockenspiel klang. Anschließend öffnete ich das Sprossenfenster mit dem weiß lackierten Holzrahmen und hakte es an einem Eisenring ein. In Nordfriesland wehte die meiste Zeit ein rauer Wind, daher musste man das Fensterglas entsprechend schützen, damit es bei Zugwind nicht zerbrach. Die vor mir liegende Aussicht war atemberaubend und noch viel schöner, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte: Wenige Meter vom Haus entfernt begann der unterhalb einer sanften Düne gelegene Küstenabschnitt.

Seegras wogte silbrig glänzend im Wind, dahinter schimmerte der Sand puderzuckerweiß in der Sonne, und ich konnte das Rauschen des Meeres hören. Begeistert betrachtete ich drei Strandkörbe unweit vom Haus entfernt, die auf einem von Grasbüscheln durchsetzten Steinboden standen. Von diesem malerischen Standort konnte man mit Sicherheit den Lauf der Sonne vom Aufgang bis zum Untergang bestaunen und das einzigartige Farbspektakel genießen, das an der Nordsee am allerschönsten ist. Doch das alles würde noch so lange warten müssen, bis ich einen kleinen Powernap gemacht hatte. Müde schlug ich die geblümte Tagesdecke zurück und legte mich auf die rechte Seite des Doppelbetts. Die ebenfalls geblümte Bettwäsche war aus Naturleinen und duftete so herrlich nach frisch gemähtem Gras und Zitrone, dass ich verzückt am Kopfkissen schnupperte und mit geschlossenen Augen die Aromen inhalierte.

Und schon bald glitt ich ins Reich der Träume, in dem ich durch eine Sommerwiese voller Klatschmohnblüten, Margeriten und Kornblumen lief, das Gesicht in Richtung der wärmenden Sonne gestreckt …

5

Listland, 1937

Lene

Lene war an diesem Morgen früh aufgewacht, denn sie fieberte der Ankunft des Buchhändlers Marten Behlau aus Friedrichstadt entgegen. Jede Zelle ihres Körpers vibrierte vor Vorfreude, und sie hoffte sehr, dass der gelehrte Herr sich als zugänglich erweisen und ihr einen Teil seiner kostbaren Zeit schenken würde. Voller Tatendrang schlug sie die Daunendecke beiseite und bemerkte gar nicht, dass diese auf den Boden fiel, zu sehr war sie damit beschäftigt, sich mit dem Wasser aus dem Waschkrug das Gesicht zu reinigen und den dicken Blondzopf neu zu flechten, der im Gegensatz zu ihren dunklen, gebogenen Wimpern stand, die ihre Augen strahlen ließen wie ein heller Sommertag. Beinahe achtlos warf Lene sich eine von Beeke gestrickte Jacke aus Schafwolle über das Nachthemd, schlüpfte in die Holzpantinen und stürmte ins Freie.

Es war kurz vor halb fünf Uhr morgens, ihre liebste Tageszeit, egal wie müde sie auch war, weil sie mal wieder abends beim Lesen kein Ende gefunden hatte. Doch jede Stunde, die sie mit Büchern verbringen konnte, genoss sie doppelt oder gar dreifach, und die Lektüre gab ihr so viel, dass es die kleinen Anflüge von Müdigkeit allemal wert war.

Die Morgensonne schlief noch hinter Schleierwolken, als Lene den Strand erreichte und dort ihre Pantinen auszog. Die Insel war in tiefes Nachtblau getaucht, nur der Mond spiegelte sich in den Prielen der Nordsee.

»Guten Morgen, meine Kleine«, ertönte die Stimme ihres Vaters, der sich nun neben sie stellte und den Arm um ihre Schultern legte. Lene lehnte sich an ihn, und so standen Vater und Tochter stumm nebeneinander, die Füße im Wasser, bis rötliche Strahlen das Blau durchdrangen und Listland allmählich erwachte. Die Rufe der Seeschwalben klangen in ihren Ohren wie Gesang, der sich mit dem Raunen des Strandhafers und dem Plätschern der Wellen vermischte.

»Ist das nicht der schönste Ort der Welt?«, sagte Lene, die noch nie woanders gewesen war als auf der Insel, jedoch Konrad Iwersens Reiseberichten ebenso andächtig lauschte wie den Klängen und Melodien aus dem Grammofon, das ihr Vater in der Stuv aufgestellt hatte.

»Ja, das ist er«, erwiderte Konrad und drückte die Hand seiner Tochter. Lene wurde warm ums Herz, denn ihr Vater war so stark, mutig und liebevoll, wie man es sich nur wünschen konnte. »Und das ist er vor allem, weil es dich und deine Mutter gibt. Noch schöner wäre es, ich müsste nicht so häufig von euch getrennt sein, aber ich weiß, dass ihr beide es gut miteinander habt und aufeinander achtgebt. Erzähl mir doch mal, wie es dir in der Zeit meiner Abwesenheit ergangen ist. Gestern hatten wir kaum Gelegenheit, über dich zu sprechen, weil du mit deinen Gedanken offenbar schon bei dem jungen Mann aus Friedrichstadt bist.«

Lene konnte es zwar nicht sehen, weil sie wie gebannt auf die Nordseewellen schaute, die nun in orangefarbenem Licht schimmerten, doch sie hörte förmlich das liebevolle Augenzwinkern aus Konrads Stimme heraus. »Danke, dass du ihm deinen Sessel zur Verfügung stellst«, entgegnete sie, ohne auf die freundliche Aufforderung ihres Vaters einzugehen. »Herr Behlau wird es zu schätzen wissen, beim Lesen oder Nachdenken darin zu sitzen. Das ist doch weit bequemer als der Holzstuhl am Schreibtisch.«

»Das mache ich nur dir zuliebe«, erwiderte Konrad. »Denn ich wünsche mir nichts mehr, als dass du glücklich bist.«

»Das bin ich, Papa, das bin ich«, flüsterte Lene und beobachtete den Tanz der Strandkrabben, wie sie die Bewegung der Krebse nannte, die an diesem Landstrich so häufig ans Ufer gespült wurden, als zöge sie der Lister Ellenbogen geradezu magisch an. Sie schwammen im flachen Wasser vor dem Flutsaum aufeinander zu, verschränkten sich und trieben dann wieder auseinander. Es war, als umarmten sie sich kurz und wünschten sich dann gegenseitig eine gute Reise durch die Tiefen des Wattenmeers, bevor die Wellen sie wieder in unterschiedliche Richtungen spülten.

Konrad gab Lene einen Kuss auf den Scheitel und ging zurück ins Haus, denn er wollte seiner Frau mit den Vorbereitungen für das Frühstück zur Hand gehen. Lene blieb an der Wasserkante zurück und sah der Sonne dabei zu, wie sie sich träge aus dem Meer erhob, dann Meter für Meter weiter nach rechts wanderte und schließlich so stand, dass Lene die Augen zusammenkneifen musste, um nicht von den Strahlen geblendet zu werden. Als eine Zwergseeschwalbe Kurs auf ihren Kopf nahm, duckte Lene sich schnell, denn sie wusste sehr genau um die Entschlossenheit, mit der die Eltern ihre frisch geschlüpften Jungvögel verteidigten. In diesem Moment kam Emma mit einem fröhlichen Mäh auf den Strand gehüpft, woraufhin eine der Zwergseeschwalben das Schäfchen drohend umkreiste.

Lene rannte zu Emma und trieb sie in Richtung Haus, wo das Schaf weit genug von den Brutstätten der Vögel in den Sandkuhlen entfernt war. »Du bist wohl hungrig und hast mich deshalb gesucht, oder?«, fragte sie und streichelte das Schäflein, das neben ihr hertrabte wie ein Hund. Dann ging sie zu Beeke, die bereits auf dem Küchenofen Milch erwärmt und diese in Flaschen mit einem Saugnapf gefüllt hatte. Lene gab ihrer Mutter einen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange und ging auf den Hof, um die Lämmer zu füttern, die blökend auf ihr Frühstück warteten. Anschließend begrüßte sie die Ponys auf der Weide und fütterte sie mit Mohrrüben aus dem Garten. Danach schaute sie erneut im Zimmer von Marten Behlau, das im Anbau unweit des Haupthauses untergebracht war, nach dem Rechten. Der weiß getünchte Holzbau beherbergte insgesamt vier Zimmer, zwei im Erdgeschoss und zwei im ersten Stock. Konrad Iwersen hatte ihn mithilfe von Freunden nach dem Vorbild schwedischer Blockhäuser gebaut. Lene hätte den Anbau liebend gern in jenem hübschen Rotton namens Faluröd angemalt, den die Skandinavier im 16. Jahrhundert als Farbpigmentstoff aus Kupfererz gewonnen hatten, doch Konrad empfand diesen Ton als zu auffällig inmitten der sandfarbenen Landschaft.

Beeke hatte das rechte Zimmer im Erdgeschoss für Marten Behlau vorgesehen und das gegenüberliegende reserviert für den Fall, dass seine Schwester Mathilde tatsächlich ebenfalls auf die Insel kommen würde. Andere Gäste hatten sich bislang noch nicht angekündigt, denn das Reisen war eine aufwendige, äußerst kostspielige Angelegenheit.

In diesen Zeiten kämpften die Betreiber der Hotels und Pensionen auf Sylt um die Gunst der Gäste und unterboten sich gegenseitig preislich, was zu mancher Zwangsversteigerung und wirtschaftlichem Ruin führte. Doch hier, an der Nordspitze der Insel, schien die Welt noch in Ordnung. Lene öffnete das Fenster, um die frische Nordseeluft hereinzulassen, und schon flatterten die Gardinen aus blau-weiß gestreiftem Leinen fröhlich. Mit Argusaugen inspizierte sie den Raum, den der Buchhändler aus Friedrichstadt nach seiner Ankunft bewohnen würde. Wie beinahe in jedem Zimmer auf dem Anwesen der Iwersens stand auch hier ein Regal voller Bücher, die Beeke und ihre Vorfahrinnen – teils unter abenteuerlichen Umständen – akribisch gesammelt hatten. Mario und derZauberer von Thomas Mann reihte sich an Robert Musils Mannohne Eigenschaften, den Antikriegsroman Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, gefolgt vom Kinderbuch Das fliegendeKlassenzimmer von Erich Kästner. Lene liebte die Werke von Kästner, allen voran Pünktchen und Anton. Am meisten beeindruckte Lene jedoch Das kunstseideneMädchen von Irmgard Keun. Allerdings entsprach dieses Buch sicher nicht den Lesegewohnheiten des Feriengastes, also legte sie zusätzlich Kleiner Mann – was nun? von Hans Fallada sowie den Radetzkymarsch von Josef Roth auf den Nachttisch aus dunklem Holz.

 

Am späten Nachmittag war es so weit. Ein Pferdefuhrwerk brachte den Feriengast nach dessen Eintreffen mit dem Schiff im Hafen von Munkmarsch zu den Iwersens. Für gewöhnlich fuhren Urlauber mit der Inselbahn, von den Syltern liebevoll Käseschieber oder Dünenexpress genannt, zu den jeweiligen Ferienorten. Doch das Haus am Lister Ellenbogen war viel zu abgelegen für die Eisenbahn, die mit vierzig Stundenkilometern von der Nordspitze in List zur Südspitze nach Hörnum tuckerte. Lene beobachtete die Ankunft von Marten Behlau von der zweigeteilten Klönschnacktür aus, deren obere Hälfte sie geöffnet hatte. Sie wusste, dass es sich nicht ziemte, den fremden Herrn anzusprechen, diese Ehre gebührte allein ihren Eltern. Konrad Iwersen nahm die Gepäckstücke in Empfang und trug die Koffer in den Anbau. Beeke begrüßte den Neuankömmling freundlich, aber dennoch mit einer gewissen Distanz, die sie allen Gästen gegenüber an den Tag legte. Ihre Stimme klang dann eine Tonlage tiefer, und es fehlte ihr ein wenig an Wärme. Beekes Schultern waren gestrafft, und sie stand so steif da, als hätte sie ein Stück Treibholz verschluckt. In Augenblicken wie diesen wünschte Lene, sie könnte sich mit einer Schwester über alles unterhalten, was sie gerade beobachtete oder empfand. Doch ein Geschwisterchen war ihr nicht vergönnt, die genauen Umstände des eher ungewöhnlichen Daseins als Einzelkind waren ihr jedoch nicht bekannt. In der Grundschule hatten die Kinder gelegentlich Bemerkungen darüber gemacht, dass ihr Vater wohl zu viel Zeit auf See verbrachte und somit Lene auf lange Sicht die Einzige sein würde, die für den Fortbestand des Namens Iwersen und des Anwesens am Lister Ellenbogen sorgte.

»Möchtest du unseren Gast willkommen heißen?«, fragte Beeke in dem Moment, als Lenes Stimmung sich zu verdüstern drohte und die schier unerträgliche Spannung überschattete.