Ein Ort, der vergessen will. Eine Frau, die sich erinnert. Nach fünfzehn Jahren kehrt Julia Kern mit ihrer Tochter in die Eifel zurück. Der Plan: ein neuer Anfang in Laurenburg, eine sichere Umgebung für das Kind, ein ruhigeres Leben. Doch die vertraute Heimat ist nicht mehr dieselbe. Die Schule wird politisch unterwandert. Der Bürgermeister herrscht mit stiller Macht. Und Julia spürt schnell: Ihre Rückkehr ist nicht willkommen. Als sie Hinweise auf den mysteriösen Tod ihrer Mutter entdeckt, beginnt sie unbequeme Fragen zu stellen und stößt auf ein Netz aus Schweigen, Einschüchterung und Korruption. Je mehr sie weiß, desto größer wird die Gefahr. Doch Wegsehen ist keine Option. Nicht mehr. Ein fesselnder Polit-Krimi über Macht, Erinnerung und den Mut, nicht zu schweigen.
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Enijr Fen
Die Bürgermeisterin
Ein Eifel-Polit-Krimi
Krimi
Texte: © 2025 Copyright by Enijr Fen
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Enijr Fen
Verlag:
Enijr Fen
c/o Jennifer Tribbels
Senserbachweg 220
52074 Aachen
Herstellung: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected],
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Julia Kern umklammerte das Lenkrad fester, während die Straße sich verengte und die Bäume zu beiden Seiten näher rückten. Die Bundesstraße hatte vor zwanzig Minuten dieser schmalen Asphaltbahn Platz gemacht, jede Kurve führte sie tiefer in die Eifelregion. Tiefer in ihre Vergangenheit.
„Mama, haben wir uns verfahren?" Sophies Stimme kam vom Rücksitz, leise, aber gefasst.
„Nein, Schatz." Julia überprüfte den Rückspiegel und begegnete dem Blick ihrer Tochter. Sechs Jahre alt und schon so aufmerksam. „Wir sind fast da."
Das Navigationssystem war schon vor Minuten verstummt, als würde selbst die Technologie vor den uralten Hügeln zurückweichen. Julia brauchte es ohnehin nicht. Fünfzehn Jahre fort und noch immer erinnerten sich ihre Hände an jede Kurve, jede Senke in der Straße.
„Ist es ein schöner Ort?" Sophie drückte ihren Stoffhasen fester an sich. „Werden dort andere Kinder sein?"
Fragen, die Julia sich seit Wochen selbst stellte. War die Rückkehr nach Laurenburg ein schrecklicher Fehler? Die Lehrerstelle an der örtlichen Schule hatte wie ein Rettungsanker gewirkt nach der Scheidung, eine Chance, Sophie Stabilität zu geben, den erdrückenden Berliner Mieten zu entkommen. Aber jetzt, mit jedem Kilometer, lastete der Zweifel schwerer auf ihrer Brust.„Ja, es gibt eine Schule mit anderen Kindern." Julia zwang Fröhlichkeit in ihre Stimme. „Und Bäume zum Klettern und einen Fluss zum Planschen."
Sophie nickte, vorerst zufrieden und wandte sich wieder dem Bilderbuch zu, das auf ihrem Schoß ausgebreitet lag. Julia beneidete die Anpassungsfähigkeit ihrer Tochter. Kinder bogen sich; Erwachsene brachen.
Die Straße machte eine scharfe Kurve und plötzlich öffnete sich das Tal vor ihnen. Laurenburg lag in seiner Umarmung wie ein Geheimnis, das die umliegenden Hügel hüteten. Rote Ziegeldächer gruppierten sich um den mittelalterlichen Kirchturm, Morgennebel haftete noch an den unteren Straßen. Unverändert, zumindest schien es so aus dieser Entfernung.
Julia stockte der Atem. Wunderschön und erdrückend zugleich.
Eine Bewegung in ihrem peripheren Blickfeld ließ sie zusammenzucken, ein großer schwarzer Vogel erhob sich von einem Straßenpfosten, die Flügel gegen das Morgenlicht ausgebreitet. Ein Rabe, nicht die übliche Krähe. Julias Großmutter hätte es ein Omen genannt.
„Schau, Mama, eine Burg!" Sophie presste ihr Gesicht ans Fenster, als sie um die Biegung fuhren und entdeckte die Ruine, die den Hügel über der Stadt krönte.
„Nur eine Ruine, Liebes. Aus längst vergangener Zeit."
„Können wir sie erkunden?"
„Vielleicht." Julia verlangsamte, als sie sich den ersten Häusern näherten. Neue Entwicklungen, die es nicht gab, als sie gegangen war. Identische Häuser mit identischen Gärten, ein Spritzer Moderne am Stadtrand.
Ein großes Banner erstreckte sich zwischen zwei Pfählen am Ortseingang: „WILLKOMMEN IN LAURENBURG, TRADITION & DIGITALER FORTSCHRITT." Darunter ein kleineres Schild mit QR-Code: „Jetzt anmelden in der Bürger-App: Weber.digital." Daneben ein Konterfei von Markus Weber, mit silbergrauen Schläfen und einem zuversichtlichen Lächeln.
Julia erkannte ihn mit einem Ruck. Zehn Jahre älter als sie, früher ehrgeiziger Studentensprecher, jetzt Bürgermeister. Sein Blick auf dem Plakat wirkte aufmerksam und berechnend.
Ihr Handy vibrierte auf einmal dreimal in Folge. Empfang. Als hätte sie eine Grenze überschritten.
Sie ignorierte es. Ich bin hier, um mich rauszuhalten, dachte sie. Und spürte sofort, wie falsch sich das anfühlte.
Ein leises Surren zog über das Autodach. Sophie sah nach oben. „Mama? Da ist eine fliegende Kamera. Wie in Berlin."
Julia sah nichts im Rückspiegel. „Bestimmt nur ein Vogel."
Aber es war kein Vogel gewesen. Und Laurenburg war nicht Berlin.
Als sie den Wagen auf die vertraute Auffahrt lenkte, drang der Duft von Flieder durch das geöffnete Fenster,scharf, süß, so plötzlich, dass Julia die Luft anhielt. Die Büsche ihrer Mutter, noch immer dort, entlang der alten Steinmauer. Sie hatte vergessen, wie stark dieser Duft sein konnte. Wie schnell er verteidigte Erinnerungen zerschneiden konnte.
„Ist das unser Haus?" fragte Sophie, die sich bereits aus dem Gurt winden wollte.
„Ja. Es war das Haus von Oma Lisbeth. Der Großmutter, die du nie kennengelernt hast."
„Ich weiß. Sie ist im Himmel." Sophie stellte diese Tatsache mit kindlicher Gewissheit fest. „Werden unsere Sachen hier sein?"
„Der Umzugswagen kommt morgen. Heute Abend wird ein Abenteuer, erinnerst du dich?"
Das begeisterte Sophie, der Schlafbeutel im Wohnzimmer und ein Picknick zum Abendessen versprochen worden waren. Julia hatte es bewusst so geplant, ihre erste Nacht eher als Abenteuer denn als Heimkehr zu gestalten. Sie konnte das Gewicht einer richtigen Rückkehr nicht ertragen.
Sie stiegen aus. Der Kies knirschte unter ihren Sohlen, ein vertrauter Klang. Die Fensterläden waren verblasst, aber intakt. Der Vorgarten ordentlich, aber nicht akribisch gepflegt wie zu Lisbeths Zeiten. Als Julia den Kofferraum schloss, bemerkte sie eine Bewegung am gegenüberliegenden Fenster. Eine Silhouette, aufrecht, wachsam.
Dann öffnete sich eine Tür. Eine ältere Frau trat heraus, ihr Gang langsamer als früher, aber unverkennbar bestimmt. Das weiße Haar war in den gleichen praktischen Schnitt gefasst wie damals. Julia erkannte sie sofort.
„Julia Kern." Die Stimme klang, als wäre kein Tag vergangen. „So kehrt die verlorene Tochter zurück."
„Frau Berger." Julia trat einen Schritt auf sie zu. Unsicher. „Sie sind noch hier."
„Wo sollte ich sonst sein?" Der Blick der alten Frau war scharf. „Du siehst deiner Mutter ähnlich."
Sie musterte Julia von oben bis unten. Dann wanderte ihr Blick zu Sophie, die sich vorsichtig hinter Julias Bein schob.
„Und das ist...?"
„Meine Tochter. Sophie."
„Hallo, Kind." Die Stimme wurde einen Moment weicher. „Man redet, weißt du. Viel. Aber hier weiß man nie, wer zuhört. Oder wer weiterträgt."
Ein Satz, wie eine Nadel, unter der Haut.
„Manche Dinge ändern sich nie," sagte Julia vorsichtig.
„Und manche ändern sich zu sehr." Frau Berger verschränkte die Arme. „Du solltest morgen auf einen Tee kommen. Nachdem ihr euch eingerichtet habt. Drei Uhr."
„Das wäre schön."
„Pünktlich." Ein letzter Blick, dann drehte sie sich um. Nach einigen Schritten blieb sie noch einmal stehen. „Markus Weber wird vermutlich vorbeischauen. Er begrüßt neue Bürger gern persönlich."
„Ich bin kaum neu."
„Fünfzehn Jahre fort macht dich neu genug."
Der Nachmittag hatte sich langgezogen, zäh wie der Himmel, der über Laurenburg hing. Nach dem Auspacken der nötigsten Sachen hatte Julia versucht, sich in der Küche nützlich zu machen, aber selbst die kleinen Handgriffe wirkten fremd in dieser alten Ordnung. Sophie hatte zwischen Kinderbüchern und ihren mitgebrachten Spielsachen hin- und hergewechselt, gelegentlich Fragen gestellt, meist geschwiegen.
Das Haus war still. Nicht tot, aber lauernd.
Julia war in die obere Etage gegangen, hatte ihr altes Zimmer geöffnet und war sofort von einer Welle der Erinnerung überrollt worden: Das Regal, das noch immer schief hing. Der Fleck am Boden, wo einst ein Tintenfass zerbrochen war. Der Duft von Staub und etwas, das älter war als Staub. Etwas Unausgesprochenes.
Sie hatte das Fenster geöffnet, war einen Moment am Rahmen geblieben. Lauschte. Kein Verkehr. Kein Leben, das sich nicht beobachten ließ. Sie fühlte sich gesehen, nicht im liebevollen Sinn, sondern registriert.
Unten im Wohnzimmer stand noch der große Eichenschrank ihrer Mutter. Darin Geschirr, das nie benutzt worden war, Briefe mit abgegriffenen Siegeln, alte Schulhefte. Und hinter einer der Schubladen ein kleiner, fest verankerter Umschlag mit Lisbeths Handschrift: Nur öffnen, wenn es nicht mehr anders geht.
Julia hatte ihn nicht angerührt.
Noch nicht.
Dann war sie fort. Kein weiteres Wort. Nur das leise Knarzen der Tür in ihrem Rücken.
Wenig später ein weiteres Klopfen.
Julia öffnete. Auf dem Weg zum Garten hatte sie ihn schon kommen sehen, den selbstsicheren Schritt, das Lächeln, das mehr zeigte als sagte. Markus Weber, in Person. Dunkelblauer Blazer, die Krawatte locker, die Schläfen elegant grau.
„Julia Kern," sagte er, als wäre ihr Name eine rhetorische Figur. „Willkommen zurück. Ich dachte mir, ich begrüße dich persönlich."
Sein Händedruck war fest, sein Blickkontakt direkt. Aus der Nähe konnte Julia die Veränderungen sehen, die fünfzehn Jahre gebracht hatten, Linien in den Augenwinkeln, das kalkulierte Silber in seinem dunklen Haar. Gutaussehend in der Art von Männern, die in ihre Gesichtszüge hineingewachsen sind, mit Erfolg im Rücken.
„Bürgermeister Weber." Julia hielt ihren Ton neutral. „Sie hätten keinen persönlichen Besuch machen müssen."
„Bitte, es ist Markus. Und natürlich musste ich das. Die Rückkehr von Lisbeth Kerns Tochter ist bemerkenswert." Seine Augen beurteilten sie offen. „Du siehst gut aus. Berlin ist dir bekommen."
„Woher wussten Sie, dass ich in Berlin war?"
Sein Lächeln wurde breiter. „Man glaubt hier, alles zu wissen. Ob es stimmt das entscheidet meist, wer es zuerst laut genug sagt. Außerdem bist du so etwas wie eine lokale Erfolgsgeschichte, Universitätsausbildung, Karriere in der Hauptstadt. Viele hier haben deinen Fortschritt mit Interesse verfolgt."
Die Vorstellung, dass sie aus der Ferne überwacht worden war, war beunruhigend. „Ich würde mich kaum als Erfolgsgeschichte bezeichnen."
„Auch noch bescheiden." Weber blickte an ihr vorbei zum Haus. „Und du hast ein Kind mitgebracht?"
„Meine Tochter, Sophie."
„Wunderbar. Wir brauchen junge Familien in Laurenburg. Die Schule wird begeistert sein, Frau Lehmann ist jetzt die Direktorin. Du erinnerst dich an sie?"
Julia nickte steif. Ein weiteres Gesicht aus der Vergangenheit.
„Ich verstehe, du wirst dem Kollegium beitreten?" fuhr Weber fort. „Englisch und Deutsch unterrichten, glaube ich."
Wieder störte sie sein Wissen über ihre Angelegenheiten. „Das war die Vereinbarung."
„Ausgezeichnet. Wir sind ohne festen Sprachlehrer, seit Herr Müller in den Ruhestand gegangen ist. Das Schuljahr beginnt in zwei Wochen,perfektes Timing."
Ein kleines Geräusch hinter Julia verriet, dass Sophie in den Flur geschlichen war und mit misstrauischen Augen zusah.
„Und das muss die junge Dame sein." Weber bückte sich leicht, seine Stimme wechselte zum universellen Erwachsenen-sprechen-mit-Kind-Register. „Hallo. Ich bin Herr Weber, der Bürgermeister dieser Stadt."
Sophie blieb stumm und fand Julias Hand.
Weber richtete sich auf, ungestört. „Sie ist schüchtern. Verständlich, neuer Ort und so. Sie wird sich schnell einleben, Laurenburg ist wunderbar für Kinder. Sicher, traditionell, jeder passt auf jeden auf." Er betonte jeden Wert wie ein Wahlversprechen.
„Ich bin sicher, wir werden uns anpassen," sagte Julia unverbindlich.
„Natürlich werdet ihr das." Webers Selbstvertrauen war absolut. „Wir haben dieses Wochenende unser Frühlingsfest, perfektes Timing für eure Ankunft. Eine Chance, dich wieder mit der Gemeinschaft vertraut zu machen." Er griff in seinen Blazer und zog eine Visitenkarte hervor. „Meine Direktnummer. Wenn du irgendetwas brauchst, während ihr euch einrichtet, zögere nicht."
Julia nahm die Karte automatisch an.
„Ich lasse euch zum Auspacken zurückkehren," sagte Weber. „Wollte euch nur persönlich willkommen heißen. Laurenburg hat die Präsenz der Familie Kern vermisst." Er blickte mit scheinbar echter Wertschätzung zum Haus hoch. „Deine Mutter war... eine unvergessliche Frau."
Etwas in seinem Ton sträubte Julias Nackenhaare. „Ja, das war sie."
„Bis zum Fest dann." Er nickte ihnen beiden zu und wandte sich zum Gehen, hielt aber am Gartentor inne. "Übrigens, falls du dich für kommunale Angelegenheiten interessierst, der Gemeinderat trifft sich donnerstagabends. Wir stimmen diese Woche tatsächlich über ein spannendes neues Entwicklungsprojekt ab. Du könntest es erhellend finden." Mit einem letzten Lächeln ging er die Straße hinunter, nickte Nachbarn zu, die 'zufällig' erschienen waren, um ihre Gärten zu pflegen.
Julia schloss die Tür, beunruhigt von der Begegnung. Webers Willkommen hatte aufrichtig gewirkt, doch darunter lief ein Strom, den sie nicht ganz identifizieren konnte, etwas Besitzergreifendes in seiner Art, als wäre ihre Rückkehr irgendwie eine Entwicklung, die Kontrolle erforderte.
„Ich mag ihn nicht," erklärte Sophie mit entschiedener Gewissheit. „Er lächelt zu viel."
Julia lachte leise. „Du bist manchmal zu klug." Sie kniete sich auf Sophies Augenhöhe. „Wie wäre es, wenn wir jetzt diese Sandwiches machen und dann unser neues Haus richtig erkunden?"
Sophie nickte, warf aber einen misstrauischen Blick zum Fenster, wo Weber zuerst erschienen war. „Ist er der Chef von allem hier?"
„Er ist der Bürgermeister. Das bedeutet, die Menschen haben ihn gewählt, um bei der Verwaltung der Stadt zu helfen."
„Aber ist er der Chef von uns?"
Eine ausgezeichnete Frage. „Nein, Sophie. Er ist nicht der Chef von uns."
Später, nach Sandwiches und einer gründlichen Erkundung des Erdgeschosses des kleinen Hauses, ging Julia mit wachsendem Bangen die Treppe hinauf. Sophie hatte eine Sammlung von Kinderbüchern entdeckt, die einst Julias eigene gewesen waren und war glücklich im Wohnzimmer beschäftigt.
Das Obergeschoss beherbergte drei Schlafzimmer, das Hauptschlafzimmer, in dem ihre Mutter geschlafen hatte, Julias altes Zimmer und ein kleines Gästezimmer, das Sophies werden würde. Julia zögerte vor der Tür ihrer Mutter, dann stieß sie sie auf.
Der Raum war sauber, aber konserviert, als könnte Lisbeth Kern jeden Moment zurückkehren. Auf dem Nachttisch lagen noch immer eine Lesebrille und ein abgegriffenes Exemplar von Hannah Arendts Essays. Der Kleiderschrank enthielt Kleidung, an die Julia sich erinnerte, dass ihre Mutter sie getragen hatte, praktische Röcke, Blusen mit Knöpfen, vernünftige Schuhe.
Julia öffnete vorsichtig die Schubladen der Kommode und fühlte sich wie ein Eindringling trotz ihres rechtmäßigen Eigentums. Ordentlich gefaltete Pullover, Schals, Unterwäsche. Nichts Enthüllendes, nichts Persönliches über die gewöhnlichen Artefakte eines Lebens hinaus.
Was hatte sie erwartet? Ein Geständnis? Ein geheimes Tagebuch, das die wahren Gedanken ihrer Mutter enthüllte? Julia hatte fünfzehn Jahre damit verbracht, eine Mythologie um den Tod ihrer Mutter zu konstruieren, eine kreuzzüglerische Journalistin, zum Schweigen gebracht, weil sie Korruption aufgedeckt hatte. Doch hier war nur ein Schlafzimmer mit den Besitztümern einer älteren Frau, gewöhnlich und alltäglich.
Die Nachttischschublade versprach mehr, ein kleines Notizbuch, ein Stift, eine Lesebrille. Julia nahm das Notizbuch und öffnete es auf der ersten Seite. Die charakteristische Handschrift ihrer Mutter füllte die Seite, Daten und kryptische Notizen:
3. April: Traf mit K. Dokumente bestätigen Verdacht bez. Westfeld-Projekt. Geld zu Offshore-Konto verfolgen?
10. April: Landvermessung „Verloren" aus den Akten. H. sagt, Original zeigte Kontaminierungsprobleme. Kopie benötigt.
15. April: Überwachung nimmt zu. Auto von Bitburg-Treffen verfolgt. Webers Leute?
18. April: USB-Stick gesichert. Hardcopies bei B zur Aufbewahrung. Falls etwas passiert...
Der letzte Eintrag, datiert drei Tage vor dem tödlichen Unfall ihrer Mutter.
Julias Hände zitterten, als sie die Seite umblätterte, aber der Rest des Notizbuches war leer. Sie blätterte zurück und studierte die kryptischen Einträge genauer. „Projekt Laurenzia" war oben auf der ersten Seite gekritzelt, zweimal unterstrichen.
Ein kaltes Gefühl setzte sich in Julias Magen fest. Was hatte ihre Mutter aufgedeckt? Und was war „Projekt Laurenzia"?
Das Geräusch der Haustür riss sie aus diesen Gedanken. Sie steckte das Notizbuch hastig zurück in die Schublade und ging zum Fenster. Auf der Straße unten hatte ein Polizeiauto vor dem Haus angehalten.
Julia eilte nach unten und fand Sophie ängstlich durch das Vorderfenster spähend.
„Es ist die Polizei, Mama. Haben wir etwas falsch gemacht?"
„Natürlich nicht, Schatz. Sie begrüßen uns wahrscheinlich auch nur." Aber Julias Herz raste, als sie die Tür öffnete.
Eine Frau in Polizeiuniform stand auf der Stufe, ihre Haltung professionell, aber nicht unfreundlich. In ihren Vierzigern, mit kurzen braunen Haaren und dem wettergegerbten Gesicht von jemandem, der Zeit im Freien verbringt, trug sie Autorität bequem.
„Frau Kern? Ich bin Polizeichefin Claudia Hoffmann." Sie bot ihre Hand an. „Willkommen zurück in Laurenburg."
Julia schüttelte sie und bemerkte den festen Griff. „Gibt es ein Problem, Frau Hoffmann?"
"Überhaupt nicht. In einer kleinen Stadt fällt es auf, wenn jemand zurückkehrt. Offiziell sage ich: Willkommen. Inoffiziell sage ich: Bleiben Sie wachsam." Sie lächelte, aber es erreichte nicht ganz ihre Augen. „Oder Rückkehrenden."
„Das ist sehr... gründlich von Ihnen."
„Polizeiarbeit in einer Kleinstadt dreht sich um Beziehungen." Hoffmanns Blick wanderte an Julia vorbei zu Sophie, die vorsichtig vom Flur aus zusah. „Hallo, junge Dame."
Sophie gab einen kleinen Wink, kam aber nicht näher.
„Ihre Tochter?" fragte Hoffmann.
„Ja. Sophie."
„Sie wird unsere Stadt genießen. Es ist sehr sicher, dafür sorgen wir." Hoffmann richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Julia. „Ich verstehe, dass Sie an der Schule unterrichten werden."
„Nachrichten verbreiten sich schnell," bemerkte Julia, zunehmend unwohl damit, wie viele Informationen ihr vorausgingen.
„Es ist eine Kleinstadt," wiederholte Hoffmann, als würde das alles erklären. „Ich sehe, der Bürgermeister hat bereits seine Aufwartung gemacht." Sie nickte zu Webers Visitenkarte, die noch immer in Julias Hand war.
„Ja, er war sehr willkommen heißend."
„Markus ist gut darin." Etwas Unlesbares huschte über Hoffmanns Gesicht. „Er nimmt Gemeinschaft sehr ernst."
„So habe ich es verstanden."
„Hören Sie," Hoffmann senkte ihre Stimme leicht, „Ich kannte Ihre Mutter, beruflich, wohlgemerkt. Sie war… beharrlich. Manchmal zu sehr für ihren eigenen Schutz. Ich erinnere mich an Momente, in denen ich mich fragte, ob sie recht hatte, aber ich hatte keine Beweise. Nur dieses nagende Gefühl, dass da mehr war, als wir sehen durften.
Julia spannte sich an. „Was meinen Sie damit?"
„Nur, dass sie starke Meinungen darüber hatte, wie Dinge getan werden sollten." Hoffmann hielt stetigen Blickkontakt. „Manchmal machte das ihr Leben schwieriger, als es hätte sein müssen."
„Warnen Sie mich vor etwas, Frau Hoffmann?"
Der Gesichtsausdruck der Polizeichefin blieb neutral. „Ich mache nur eine Beobachtung. Laurenburg schätzt Tradition und Stabilität. Diejenigen, die innerhalb des Systems arbeiten, finden das Leben hier recht angenehm."
Bevor Julia antworten konnte, zog Hoffmann ihre eigene Visitenkarte hervor. „Meine Direktnummer. Falls Sie etwas brauchen, oder etwas Beunruhigendes bemerken, rufen Sie bitte an."
Die Betonung auf „Beunruhigend" schien bedeutsam, obwohl Julia ihre Bedeutung nicht entziffern konnte. Warnte Hoffmann sie, drohte sie ihr, oder bot sie echte Hilfe an?
„Danke," sagte Julia und nahm die Karte an.
„Willkommen zu Hause, Frau Kern." Mit einem Nicken kehrte Hoffmann zu ihrem Polizeiauto zurück.
Julia schloss die Tür, Gedanken rasten. Zwei Besuche innerhalb einer Stunde nach ihrer Ankunft, beide ostensibel willkommen heißend, aber mit Untertönen, die sie nicht ganz interpretieren konnte. Und das Notizbuch ihrer Mutter mit seinen kryptischen Verweisen auf Projekte und Überwachung.
„Warum besuchen uns ständig alle?" fragte Sophie, zu ihren Büchern zurückkehrend. „Wussten sie nicht, dass wir kommen?"
„Sie sind nur nachbarschaftlich," antwortete Julia automatisch, obwohl sie zunehmend sicher war, dass an der Aufmerksamkeit, die sie erhielten, nichts „Nur" war.