Die chinesische Delegation - Luo Lingyuan - E-Book

Die chinesische Delegation E-Book

Luo Lingyuan

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Beschreibung

Die junge, in Berlin lebende chinesische Reiseführerin Sanya ist schwierige Touristen gewöhnt, aber diese aus ihrer Heimat stammenden Delegationsmitglieder stellen sie auf eine besondere Nervenprobe. Auf der gemeinsamen Busreise durch sechs europäische Länder prallen nicht nur wechselseitige Vorurteile über China und Europa aufeinander. Für etliche Spannungen sorgen auch die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Gruppe, allem voran der despotisch auftretende Delegationsleiter, Kommandant Wang. Er will die Reise nutzen, um für ein Bauprojekt in China einen ausländischen Architekten zu suchen, ist dabei aber mehr als wählerisch. Bis am Ende der Reise fast alle Gruppenmitglieder zufrieden in ihre Heimat zurückkehren, muss Sanya viel taktisches Geschick aufwenden und so manches Mal über ihren eigenen Schatten springen. Luo Lingyuans in den frühen 2000er Jahren angesiedelter Roman erzählt auf spannende und gleichzeitig humorvolle Weise von typischen Missverständnissen und Unterschieden zwischen deutscher und chinesischer Kultur. Aber auch davon, dass unter der Voraussetzung geistiger Offenheit ein besseres gegenseitiges Verstehen jederzeit möglich ist.

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Luo Lingyuan

 

Die chinesische Delegation

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Umschlagmotiv: Taking photos. Foto von S. Hermann F. Richter, Pixabay.

 

 

E-Book 2022.

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil des eBooks darf in irgendeiner Form ohne

schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Text, Satz und Layout: © WandTiger Verlag, Pählstraße 51, 81377 München

 

www.wandtigerverlag.de

 

 

 

 

 

 

Für Martin

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum
Widmung
 1. Kapitel: »Hühnerfleisch kommt nicht auf den Tisch.«
2. Kapitel: Ein Portemonnaie wird zum Verhängnis für seinen Finder
3. Kapitel: Sanya lügt
4. Kapitel: Tee und Bier
5. Kapitel: Kommandant Wang sucht einen Architekten
6. Kapitel: Ein aufreibender Abend
7. Kapitel: Berlin, Berlin!
8. Kapitel: »Wer nichts trinkt, der bewegt nichts.«
9. Kapitel: Männer und Frauen
10. Kapitel: Der Schlagabtausch
11. Kapitel: Die Entscheidung
12. Kapitel: Das Nachspiel
Danksagung
Zu Autorin und Quelle
Luo Lingyuan im WandTiger Verlag

1. Kapitel

»Hühnerfleisch kommt nicht auf den Tisch.«

 

»Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle«, trällert Song Sanya mit einer Stimme, die an leicht dahin schwebende weiße Wolken erinnert, und steigt als letzte in den wartenden Reisebus.

Die junge Chinesin mit dem geflochten Zopf wäre gern Sängerin geworden. Mit ihrer Stimme war sie schon früh aufgefallen und wurde mit zwölf zur Solosängerin der Tanz- und Gesangsgruppe ihrer Schule ernannt. Doch als das örtliche Konservatorium Ausschau nach jungen Talenten hielt und Interesse an Sanya zeigte, ließ sie der Direktor der Schule nicht gehen. Seiner Meinung nach war sie für eine Karriere als Sängerin nicht geeignet. Was genau dahinter steckte, hatte Sanya nie erfahren. Sie weinte tagelang heimlich und versuchte dann eine andere Begabung in sich zu entdecken. Zehn Jahre später kam sie nach Deutschland. Sängerin wurde sie hier auch nicht, aber eine schöne Stimme hat sie noch immer.

Der Motor brummt schon eine Weile. Während Sanya sich auf dem Beifahrersitz niederlässt, den Kopf stets zu den Gästen gewandt, gibt sie dem Fahrer das Startzeichen. Frank Wagner hat als Einziger im Bus blaue Augen.

Das Fahrzeug macht einen Ruck, löst sich aus der Warteschlange und rollt auf die Fahrbahn.

Im hinteren Bereich des Gefährts herrscht rege Tätigkeit. Die neunzehn Mitreisenden, zwischen dreißig und sechzig Jahre alt, sind dabei, ihr Handgepäck zu verstauen oder sich einen Sitzplatz zu suchen. Dabei reden sie Mandarin und ihren Heimatdialekt laut durcheinander, so dass der Raum voller erscheint als er ist. Doch kaum ist der Bus zehn Meter gefahren, da sitzen die Gäste auch schon ordentlich auf ihren Plätzen und schauen zum Fenster hinaus.

Nach Ansicht des Busfahrers ähneln sich die Passagiere wie eine Schar frisch geschlüpfter Küken. Alle sind gelbhäutig, schwarzäugig und von kleiner Statur. Und sie piepsen auch so wie Küken. Kurzum: Die Unterschiede zwischen den Gästen entgehen ihm völlig.

Nicht aber der Reiseleiterin neben ihm. Sie braucht nur einen einzigen Blick, um festzustellen, dass der größte Teil ihrer Landsleute Funktionäre oder Beamte sind, und ein kleiner Teil Manager. Manche stecken in Anzügen, andere sind leger gekleidet, einige scheinen eher schlichten Gemütes, andere sehen gebildet oder gar klug aus. Mit den meisten Reisenden wird sie gut auskommen, da ist sie sich sicher. Nur bei einem hat sie gewisse Zweifel. Das ist der Delegationsleiter, der ihr bei der Ankunft als Kommandant Wang vorgestellt wurde. Er lächelt nicht und hat einen fast unangenehm strengen Gesichtsausdruck.

»Sehr verehrter Kommandant Wang, sehr verehrte Damen und Herren«, spricht Sanya ins Mikrofon und lächelt dabei ein sonniges Lächeln. »Ich heiße Sie, die Delegation für Stadtentwicklung Ningbo, in Europa herzlich willkommen!«

Ihr Hochchinesisch klingt aus dem Lautsprecher, als riesele weicher Sand an einem mit Seide bespannten Abhang hinunter. Das Stimmengewirr im Bus legt sich. Alle sind still und lauschen.

»Mein Name ist Song Sanya. Ich komme aus Chengdu, lebe seit elf Jahren in Berlin und habe die große Ehre, Sie auf Ihrer Europareise begleiten zu dürfen.«

»Sind Sie die ganzen neunzehn Tage bei uns?«, will ein Mann in westlichem Anzug sofort wissen.

»Ja. Von Rom, unserer ersten Station, bis zur letzten, Paris«, antwortet die Reiseleiterin. »Ich führe Sie durch all die acht Staaten, die auf Ihrem Programm stehen. In Rom und Paris haben wir zusätzlich einen lokalen Führer, sonst sind Sie mit mir und unserem Fahrer allein unterwegs. Ich werde mir selbstverständlich die größte Mühe geben, damit Europa in Ihrer Erinnerung unvergesslich bleibt. Bitte scheuen Sie sich nicht, mich jederzeit zu fragen, auch wenn Ihre Frage Ihnen so klitzeklein wie ein Reiskorn vorkommt.«

»Wo ist denn Rom?«, kommt prompt die erste Frage. Dabei kneift der Fragesteller die Augen zusammen, um möglichst weit durch seine Brille und die Panorama-Windschutzscheibe des Busses zu sehen. Ein Flugzeug mit ausgefahrenem Fahrwerk rast auf sie zu, während hinter ihnen der Flugplatz zurückbleibt. »Ich sehe nur Felder.«

»Die Ewige Stadt ist fünfunddreißig Kilometer vom Flughafen Fiumicino entfernt«, antwortet Sanya. »Es ist jetzt 17:15 nach mitteleuropäischer Zeit. Heute ist der 13. April. Vorgestern hat Papst Johannes Paul II die Ostermesse gelesen. Hunderttausende Gläubige haben daran teilgenommen. Gestern war ebenfalls ein Feiertag, und die Römer sind zum Picknick ins Grüne gefahren. Heute kehren viele nach Rom zurück. Deswegen wird es möglicherweise einige Staus geben, aber wenn wir Glück haben, sind wir in einer Stunde in unserem Hotel.«

»Oh Himmel«, stöhnt eine Frau in einer blutroten Bluse aus Seide. Sie ist gut angezogen, und ihre weiße, glatte Haut lässt eine regelmäßige Pflege vermuten. »Wir haben vierzehn Stunden im Flugzeug gesessen, und jetzt noch eine Stunde im Bus? Ich breche gleich auseinander.«

»Wir flicken dich wieder zusammen, große Schwester Wu«, sagt ein stattlicher Mann mit pechschwarz glänzenden Augenbrauen. »Und deine Haare tauschen wir gegen blonde aus, damit dein Mann dir auch glaubt, dass du in Europa warst.«

»Das hättest du wohl gern, Brüderchen Qian. Aber darauf kann ich verzichten. Wer durch deine Hand geht, hat hinterher garantiert ein nach hinten gerutschtes Gesicht. Das wäre mir nicht so recht«, erklärt die Frau mit der roten Bluse kokett.

Einige Mitglieder kichern. »Keine Angst, Frau Wu«, sagt Sanya besänftigend. »Herr Wagner ist ein Fahrer mit ruhiger Hand. Er wird Sie wie auf einem Seidenkissen zu unserem Hotel fahren.«

Einige Businsassen lachen laut auf. Nur der Fahrer versteht kein Chinesisch. Deshalb fragt er wie aus einer anderen Welt: »Was hast du über Herrn Wagner gesagt?«

»Nur, dass du ein guter Fahrer bist.« Sanya kramt die Namensliste der Delegation aus ihrer Handtasche. Nun weiß sie, wer die Gruppe zum Lachen gebracht hat: Die Frau mit der roten Bluse ist Wu Jiamei, 42, Sektionsleiterin der Abteilung gegen illegale Bauten im Baureferat von Ningbo. Der Komiker heißt Qian Shengde, 36, und ist Abteilungsleiter im Amt für Stadtentwicklung.

Ein korpulenter Mann in einer der mittleren Reihen, der gleich zwei Sitzplätze braucht, rülpst vernehmlich. »Das Mittagessen ist mir irgendwie nicht bekommen. Diese fette weiße Soße drückt mir immer noch auf den Magen«, beklagt er sich bei seinem Nachbarn. Dann wendet er den Kopf zu Sanya und ruft laut herüber: »Fräulein Reiseleiterin, wir werden unterwegs nicht so oft westliches Essen zu uns nehmen müssen, oder?«

»Ach, großer Panda! Du änderst dich nie! Was musst du auch immer alles in dich hineinfressen?«, meldet sich ein Mann mit Bauerngesicht. »Du bist wie die Straßenköter, die lecken auch jede Scheiße vom Boden.«

Dem derben Vergleich folgt erneutes Gelächter. Doch der "große Panda" scheint an solche Witze gewöhnt zu sein und ist nicht beleidigt. Sanya lächelt erleichtert. Nur gut, dass die Delegationsmitglieder so ungezwungen und so entspannt sind.

»Da wir durch demokratische Länder fahren, schlage ich vor, dass wir beim Essen die Demokratie auskosten«, erklärt sie. »Ich werde immer das bestellen, was die Mehrheit sich wünscht. Zum Beispiel morgen italienisch, übermorgen türkisch. Aber heute ist es schon zu spät für Demokratie, deswegen habe ich sicherheitshalber ein chinesisches Abendessen für uns bestellt.«

Sie schaltet das Mikrofon aus und wendet sich lächelnd dem Mann zu, der unmittelbar hinter ihr sitzt.

»Herr Kommandant Wang, wenn wir im Hotel sind, ist es ungefähr Viertel nach sechs. Wir lassen allen eine Viertelstunde Zeit, damit sie sich frisch machen können. Gegen halb sieben treffen wir uns dann im Foyer und gehen gemeinsam zum Restaurant. Nach dem Essen ist Freizeit. Ist das in Ordnung?«

Wang Jian, Stellvertretender Parteisekretär, Vizebürgermeister und Stadtbaurat von Ningbo, ist der ranghöchste Funktionär in der Gruppe. Mit dreiundsechzig Jahren ist er zwar der Älteste unter den neunzehn Mitgliedern, doch seine stattliche Gestalt und sein strenger Blick lassen ihn sehr viel jünger wirken. Die prägnanten Linien, die seine zusammengepressten Lippen formen, verleihen ihm einen Hauch von Unnahbarkeit.

»Wann wird es hier dunkel?«, kontert er mit einer Gegenfrage, den Blick auf den wolkenlosen blauen Himmel gerichtet.

»Gegen acht, glaube ich.«

»Dann machen wir nach dem Essen noch eine kleine Stadtbesichtigung mit dem Bus«, erklärt Wang.

»Das geht leider nicht«, erwidert die Reiseleiterin hastig. »Herr Wagner hat heute fast elf Stunden am Steuer gesessen, um den Bus von Innsbruck hierher zu fahren. Wenn wir im Hotel sind, muss er Feierabend machen.«

Wang würdigt weder den Fahrer noch die Reiseleiterin eines Blickes, sondern starrt durch die Windschutzscheibe hinaus. »Bei uns in Ningbo arbeiten wir von morgens um acht Uhr bis tief in die Nacht, manchmal sogar bis acht Uhr am nächsten Morgen. Wieso sind elf Stunden Autofahren schon zu viel für einen Deutschen?«

»Das ist gesetzlich geregelt, dass ein Busfahrer an einem Tag nicht mehr als zwölf Stunden fahren darf«, erklärt Sanya mit einem entschuldigenden Ton. »Aus Sicherheitsgründen.«

»Gesetz?« Kommandant Wang stößt verächtlich die Luft durch die Nüstern. Es klingt, als hätte er Missgeburt gesagt.

Sanya spürt, wie ihre Beine bis zum Magen kalt werden. »Das Hotel San Remo liegt mitten in der Stadt. Da gibt es gleich in der Nähe genügend zu sehen. Wenn Sie möchten, kann ich die Gruppe nach dem Abendessen noch durch die Gassen führen und dies und jenes zeigen«, sagt sie mit weicher Stimme.

Frau Wu, die nicht weit hinter Wang sitzt, hat einiges von dem Gespräch mitbekommen. »Oh ja, wir können ja einkaufen gehen. Gibt es da schicke Läden?«

»Die Läden in der Altstadt sind alle sehr schön«, sagt Sanya. »Einkaufen können wir allerdings nur bis acht.«

»Wieso?«, will Frau Wu wissen.

»Weil die meisten Läden dann schließen«, entschuldigt sich Sanya.

Frau Wu überlegt. »Können wir dann nicht das Essen verschieben?«

»Wenn die anderen damit einverstanden sind ...«, sagt Sanya vorsichtig.

Frau Wu versucht es gleich mit einer Abstimmung. »Wer ist dafür, dass wir erst um halb neun essen?«, ruft sie laut in den Bus.

Zwei Männer murmeln leise dagegen. Aber Frau Wu hat zwei weitere Frauen auf ihrer Seite, und die haben lautere Stimmen. »Die Mehrheit hat sich für einen Einkaufsbummel entschieden«, erklärt Frau Wu mit strahlendem Gesicht. »Kommandant Wang, was sagst du dazu?«

»Dann verschieben wir das Essen auf Viertel nach acht«, beendet der Kommandant die Debatte.

Fünf der Delegationsmitglieder sind Frauen. Vier davon freuen sich auf den Einkaufsbummel, nur die fünfte sitzt allein in einer Reihe am Fenster und starrt mit gleichgültiger Miene hinaus. Sie ist sehr viel teurer angezogen als die anderen Frauen, doch ihre Augenbrauen sind immer zusammengezogen, als spürte sie einen ständigen Schmerz.

Während Sanya über die Mitreisenden nachdenkt, hört sie den Kommandanten abrupt sagen: »Der Bus muss ausgetauscht werden.«

Sanya glaubt, sie hat sich verhört. »Wie bitte? Warum denn?«

»Ein Bus mit einer solchen Nummer ist nicht gut für so eine Reise«, sagt Herr Wang mit großer Entschiedenheit.

»Was für eine Nummer?«

»Die auf dem Nummernschild.«

Sanya fragt Frank nach dem Kennzeichen. Es lautet: B-CM 9044. Sofort versteht sie. Vier – das klingt auf Chinesisch so ähnlich wie Tod. Und eine doppelte Vier bedeutet gleich sicherer Tod. Kein chinesischer Autobesitzer würde sich so eine Zahlenkombination geben lassen. Unglücklicherweise klingt die Zahl 9044 im südlichen Dialekt sogar noch schlimmer: Sie klingt wie fest vernagelter Doppeltod. Was soll man dagegen sagen?

Sanya kaut auf der Unterlippe. Dann fällt ihr etwas ein. »Wir sind hier in Europa. Und ‚vier’ klingt doch auch wie ‚probieren’. Vielleicht will die Nummer uns sagen, wir sollen unterwegs neue Dinge probieren.«

»Sehen Sie zu, dass diese Nummer so schnell wie möglich verschwindet«, sagt Wang. Die Härte seiner Stimme duldet keine Widerrede.

»Tut mir leid«, murmelt Sanya schwach, als hätte sie den ganzen Tag nichts gegessen. »Ehe wir nicht in Berlin sind, können wir leider keinen neuen Bus bekommen!« Um die Stimmung zu retten, fügt sie schnell hinzu: »Aber das sind ja nur ein paar Tage. Die gehen schnell vorbei. Ich werde sofort meinen Chef anrufen und ihm sagen, dass wir ab Berlin unbedingt einen Bus mit einer besseren Nummer brauchen.«

Stille kehrt ein. Nur das eintönige Fahrgeräusch umgibt die Anwesenden. Doch es dauert nicht lange, bis sich der Kommandant erneut hören lässt. »Gerichte mit Hühnerfleisch kommen nicht auf den Tisch. Und das gilt nicht nur für heute, sondern für die ganze Reise.«

Die Art und Weise, wie dieser Mann mit ihr spricht, lässt Sanya innerlich beben. Doch sie lässt sich nichts anmerken. »Darf ich Sie fragen, warum?«

Der Parteisekretär gibt sich keine Mühe, der jungen Frau etwas zu erklären. Er ist gewöhnt, Befehle zu erteilen, aber nicht Fragen zu beantworten.

Neben Wang sitzt ein schlanker, etwas jüngerer Mann, der ein demütiges Lächeln im Gesicht trägt. Seine raue Haut lässt vermuten, dass er lange Zeit im Freien gearbeitet hat. Als die Stille zwischen dem Kommandanten und der Reiseleiterin zur Verlegenheit wird, meldet der schlanke Mann sich zu Wort: »In Südchina ist eine Hühnerpest ausgebrochen und hat schon einige Tote gefordert. Dabei ist SARS gerade erst ein Jahr vorbei.«

»Ja, richtig. Die Hühnergrippe, nicht wahr? Aber seien Sie ganz unbesorgt. Hier in Europa gibt es die nicht. Hier können Sie Hühnerfleisch essen.«

»Hühner bleiben weg vom Tisch«, sagt der Kommandant.

»Wie Sie wünschen«, sagt Sanya. Ihr wird immer klarer, dass es auf dieser Reise keine Demokratie geben wird. Sie wird nach Wangs Pfeife tanzen müssen, Krach mit dem Kommandanten kann sie sich nicht leisten. Sie muss Geld verdienen und Steuern bezahlen, sonst wird die Ausländerbehörde irgendwann ihre Aufenthaltserlaubnis nicht mehr verlängern.

Sanya presst die Lippen zusammen, als hielte man ihr einen Löffel Suppe mit einer zappelnden Fliege hin. Um nicht zu sehr als Verlierer dazustehen, versucht sie einen Scherz: »Der deutsche Kanzler Gerhard Schröder hat letzte Weihnachten eine Gans vor dem Schlachtmesser gerettet und wurde in allen Medien gefeiert. Vielleicht heißt es am Ende unserer Tour: Chinesische Delegation rettet Hunderten von Hühnern das Leben.«

Der alte Mann lässt sich kein Lächeln entlocken. »Was ist für morgen geplant?«

Sanya schlägt die Augen nieder. Dass der Kommandant sie beim Sprechen nicht ansieht, irritiert sie. »Das Besichtigungsprogramm für morgen hat der örtliche Führer zusammengestellt. Er holt uns um neun im Hotel ab.«

»Halb acht oder acht wäre besser.«

»Tut mir leid. Es ist grundsätzlich so festgelegt, dass die örtlichen Führer um neun Uhr ihre Arbeit aufnehmen.«

Als sie Wangs Gesicht sieht, versucht Sanya sofort, dem Gespräch eine Wendung zu geben. »Aber am ersten Tag einer Europareise ist es gar nicht so schlecht, ein bisschen später anzufangen. Sie brauchen alle einen erholsamen Schlaf, um sich an die hiesige Zeit anzupassen.«

»Che«, sagt Wang mit nicht zu überhörendem Spott. »Was sagst du dazu, Gao Rui? Zuhause haben alle gesagt, in kapitalistischen Ländern wären die Leute flexibel, und der Kunde sei König.«

Der hagere Nachbar des Kommandanten nickt eifrig. »Das ist ja klar wie eins plus eins: Wir sind viel flexibler als die ausländischen Teufel.«

Sanya sucht unauffällig die Namensliste ab. Gao Rui, 46, Geschäftsführer des Bauunternehmens Biaoshen steht auf der Liste. Die Altersangabe macht sie ein wenig stutzig. Der Mann sieht mindestens wie Mitte fünfzig aus.

»Wenn unsere Gäste das wünschen, schicken wir unsere Chauffeure um sechs los!«, fährt Wang fort. »Das nenne ich Kundendienst!«

Sanya errötet.

»Fräulein Song, der örtliche Fremdenführer ist doch auch Chinese, oder?«, wendet sich Gao an Sanya. »Wollen wir Chinesen die Sache nicht unter uns regeln?«

Irgendetwas an dem Mann rührt Sanya. Er sieht aus, als hätte er einiges hinter sich. »Wissen Sie, Herr Gao, ich bin seit vier Jahren Reiseleiterin«, erklärt sie mit sanfter Stimme. »Sie können mir glauben, dass ich schon einige Male versucht habe, die örtlichen Führer hier umzustimmen. Aber sie haben sich alle auf neun Uhr festgelegt. Da ist nichts zu machen.«

Gao lehnt sich nachdenklich in seinem Stuhl zurück. »Che«, macht Kommandant Wang. Wieder dieses messerscharfe, höhnische che. »Ich sage dir, der Westen ist faul und verdorben.« Er schaut weg und macht damit deutlich, dass sein Interesse erloschen ist.

Sanya nimmt das Mikrofon und wendet sich an die Gruppe. Kaum hat sie das Programm für diesen und den nächsten Abend bekannt gegeben, spürt sie die Unruhe in den hinteren Sitzreihen. Aber ehe die ersten Beschwerden laut werden, fängt sie an zu erzählen:

»Der deutsche Dichter Goethe war einer der bekanntesten Männer, die Italien bereist haben«, erzählt sie. »Er hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, das zu den schönsten der deutschen Sprache gehört.« Im nächsten Moment springt sie von Goethe zu Julius Caesar und entführt ihre Zuhörer in die Antike. Es dauert keine Minute, und die Gäste lauschen Sanyas Stimme, als wäre sie Scheherazade. Wie es scheint, haben alle denselben Wunsch: dass die Geschichte nie zu Ende geht.

 

Am nächsten Morgen steigt hinter Sanya ein neues Gesicht in den Bus ein. »Das ist Herr Duan Chen, unserer Führer für die Ewige Stadt«, sagt sie.

Duan ist ein unauffälliger Mann und dazu noch wortkarg. »Wir fahren jetzt zum Petersdom«, sagt er ins Mikrofon, nachdem er dem Fahrer den Weg erklärt hat. Danach hüllt er sich in Schweigen, und die Reisenden schweigen mit. Nur ihre Blicke verraten, dass sie gern mehr wüssten.

In einer Seitenstraße ausgestiegen, führt Duan die Gruppe die breite Via della Conciliazione hinauf, die auf den weiten Platz vor dem Petersdom mündet. Schon aus der Ferne können die Chinesen sehen, dass der Platz von einer großen Menschenmenge erfüllt ist.

»Was ist denn da los?«, fragt Gao. »Da ist doch was los.«

»Ja. Tatsächlich.« Mehr bringt Duan nicht über die Lippen. Dann stürmt er mit großen Schritten voraus. Er geht auf einen Polizisten zu und wechselt zwei, drei Sätze mit ihm. Dann kommt er zurück und sagt: »Der Papst wird eine Audienz geben.«

Kaum haben die Chinesen sich hinten angestellt, strömen neue Zuschauermassen heran und bilden rasch eine dichte Mauer. Es geht weder vor noch zurück. Nach einer Viertelstunde geht ein Ruck durch die Wartenden. Die Menge beginnt zu jubeln und schiebt sich nach vorn. Die Chinesen stehen auf Zehnspitzen und recken die Hälse, kriegen aber außer Rücken und Hinterköpfen nicht viel zu sehen. Xia Hongting, ein intelligent wirkender Mann Anfang vierzig und Referent des Amtes für Stadtplanung, hüpft auf der Stelle und erhascht dabei einen Blick auf einen mit Panzerglas gesicherten Wagen, in dem ein weiß gekleideter Mönch sitzt. Es folgen noch lautere Zurufe aus der Menge, dann dröhnt aus mehreren Lautsprechern die keuchende Stimme eines alten Mannes. Die Menge wird still.

»Wer ist der Mann im Wagen? Sein Kopf hängt schon ganz runter«, fragt Herr Xia.

»Das ist die Stimme vom Papst. Das muss er sein«, sagt Sanya, die zufällig neben ihm steht.

Die Menschen drängen weiter nach vorn, um Papst Johannes Paul II noch ein bisschen näher zu kommen, bleiben aber friedlich. Viele recken die Arme hoch, als wollten sie seinen Segen entgegennehmen. »Sind das alles seine Anhänger?«, fragt Herr Xia.

»So ungefähr«, antwortet Sanya. »Bis auf uns.«

»So ein alter Mann, und genießt so eine außerordentliche Beliebtheit«, staunt Xia.

»Der Papst hat sein Leben lang unerbittlich für den Frieden gekämpft. Dadurch hat er viel Respekt gewonnen«, erklärt Sanya. »Gerade vor drei Tagen hat er die Menschen noch bei der Ostermesse zum weltweiten Einsatz gegen Hass und Gewalt aufgerufen. Damit hat er vielen aus dem Herzen gesprochen.«

»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann hätte ich’s nicht geglaubt«, staunt Herr Xia. »Unsere Führer können nicht behaupten, dass sie in der Bevölkerung so beliebt sind.«

Die Menge bewegt sich nach vorn. Für den Bruchteil einer Sekunde kann Sanya den Papst sehen. »Wir haben Glück«, sagt sie. »Er ist alt und krank und zeigt sich immer seltener in der Öffentlichkeit.«

»Das hier erinnert mich an den Empfang der Rotgardisten für Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens«, meint Gao zu Duan Chen, dem Stadtführer. »Nur war die Inszenierung bei uns daheim monumentaler und pompöser.«

Duan wirft seinem Landsmann einen prüfenden Blick zu. »Dazwischen liegen aber Welten. Der eine hat für den Kommunismus gekämpft, der andere dagegen.«

»Der hier kämpft gegen uns?« Gao klingt ein bisschen beleidigt. »Pah, Stalin hat es nicht geschafft, uns klein zu kriegen. Und Bush wird es noch weniger schaffen. Dieser zittrige Alte da wird uns kein Haar krümmen.«

Duan spitzt die Lippen und schweigt.

Da niemand die Sprache des Papstes versteht, beginnen die Chinesen sich bald zu langweilen. »Schauen wir uns jetzt die Kirche an?«, fragt Frau Wu.

»Das geht nicht. Sie ist wegen der Audienz gerade gesperrt«, erwidert Duan.

»Und wann wird sie wieder geöffnet?«

»Das kann ein paar Stunden dauern.«

»So lange können wir aber nicht warten. Wir haben bloß einen Tag für Rom.« Frau Wu wendet sich an den Kommandanten: »Was meinst du?«

Wang wirft einen prüfenden Blick auf die Kuppel des Petersdoms. Er scheint nicht gerade beeindruckt. »Ist ja bloß eine Kirche. So was gibt’s in Europa an jeder Ecke«, sagt er entschlossen. »Wir gehen.«

»Kommen wir noch mal her?«, fragt Herr Xia.

»Das schaffen wir nicht«, meint Duan.

»Wie bitte?« Xia kann seine Enttäuschung nicht unterdrücken. »Das ist die prächtigste Kirche der Welt. Von hier geht eine Weltmacht aus. Alle anderen Kirchen können wir uns sparen, aber die nicht.«

»Wir reden später darüber«, sagt Wang.

Gao Rui dreht sich um und macht seinem "Kommandanten" den Weg durch die Menge frei. Frau Wu trippelt hinter ihm her und lächelt. Die anderen kommen allmählich nach. Nur Herr Xia lässt den Kopf hängen und folgt ganz am Schluss.

Bei der Engelsburg angekommen, hebt Duan Chen die Hand und hält die Gruppe an. In zwei Minuten erzählt er die Geschichte der Festung, danach ordnet er fünf Minuten für Schnappschüsse an. Diese Szene wiederholt sich auf der Piazza Navona, vor dem Pantheon und dem Kapitol.

Nur ein Mal wird das Programm von einer kleinen Demonstration unterbrochen. Ein paar Studenten kommen mit Transparenten den Corso herunter. Da die Chinesen so etwas zu Hause nur selten erleben, zeigen sie sich interessiert. Duan erklärt ihnen, das sei eine Demonstration für den Frieden. Berlusconi solle die italienischen Truppen aus dem Irak zurückholen. Das gefällt den Chinesen. Sie fotografieren.

Nach zwei Stunden Marsch stehen sie vor der Fontana di Trevi. Die Gesichter hellen sich auf, schon laufen alle auseinander, um sich vor dem berühmtesten Brunnen der Welt fotografieren zu lassen.

Nur Kommandant Wang scheint erschöpft. Er ist es nicht gewöhnt, so viel herumzulaufen. Zuhause wird er hin und her chauffiert. Als hätte er eine Schlacht hinter sich, lässt er sich am Rand des Brunnens nieder und wäscht sich das Gesicht. Eine Weile sitzt er regungslos da und starrt ins Leere. Erst als Gao Rui ihm eine eben gekaufte Flasche Mineralwasser in die Hand drückt, kehrt Leben in seine Augen zurück.

 

Nach dem Mittagessen will Kommandant Wang nur noch mit dem Bus fahren. Das ist allerdings kein Vergnügen. Obwohl es noch April ist, brennt die Sonne schon so heiß wie im Juni. Der Bus ist eine rollende Sauna. Jeder keucht und atmet mit offenem Mund. Am Kolosseum steigen alle erleichtert aus. Aber jetzt gibt es ein neues Problem: Vor der Kasse stehen Hunderte von Touristen, um eine Eintrittskarte zu kaufen. Kleinlaut stellen die Chinesen sich hinten an. Aber bald brennt die Sonne unerträglicher denn je. Der Ruf aufzugeben wird laut. »Wollen wir nicht lieber die Werke von Michelangelo sehen?«, fragt Herr Xia den Stadtführer.

»Dort ist die Schlange noch länger«, sagt Duan.

Herr Xia verstummt. Dann sitzen sie alle wieder im Bus und fahren unverrichteter Dinge davon.

Gegen halb vier stehen sie vor der Spanischen Treppe und staunen über die Straßen voller Leben. Duan sagt ein paar Worte zur Entstehung des Bauwerks und erklärt die Stadtführung damit für beendet. Jetzt stehen der Gruppe zweieinhalb Stunden fürs Bummeln und für Einkäufe zur Verfügung. Die Frauen freuen sich und stecken sofort die Köpfe zusammen, um sich zu beraten, wie sie vorgehen sollen. Nur Frau Zhang steht abseits und scheint völlig desinteressiert.

Herr Xia fragt den Führer, ob er die Besichtigung des Petersdoms jetzt noch nachholen kann. Aber da stürzen sich die vier Frauen, die anscheinend eine lange Einkaufsliste mitgebracht haben, auf den Mann aus Rom und umzingeln ihn.

»Herr Duan, Sie müssen uns begleiten«, erklärt Frau Wu mit aller Bestimmtheit. »Wie sollen wir denn Gucci oder Armani ohne Sie finden, hm?«

»Was wollt ihr denn mit dem Zeug?«, sagt Herr Xia ungehalten. »Ningbo ist doch ein internationales Modezentrum. Alles, was es hier gibt, kriegt ihr dort auch, und dazu noch viel billiger. Wird doch alles bei uns gemacht!«

»Du bist wie der Frosch, der den Himmel aus dem Brunnenschacht betrachtet. Du hast keine Ahnung«, sagt Frau Wu höhnisch und bringt Herrn Xia damit zum Schweigen.

Die zweite Frau, eine kleine Funktionärin vom Amt für Bodenverwaltung, stößt ins selbe Horn. »Wie sollen wir mit dem Verkäufer verhandeln, wenn Sie nicht für uns dolmetschen? Also, Sie müssen unbedingt mit uns kommen«, sagt sie zu Duan.

»Ich helfe Ihnen gerne«, sagt der Führer und winkt der Gruppe, die gerade dabei ist, sich aufzulösen. Ihm ist es offenbar recht, dass er sich nicht mehr um die blöde Kultur kümmern muss. Vielleicht denkt er auch schon an die Provisionen, die er von den Läden bekommt. »Wer einkaufen möchte, soll sich mir anschließen.«

Einige Männer, die nichts Besseres zu tun wissen, trotten hinter den Frauen her. Die Übriggebliebenen, knapp die Hälfte der Gruppe, stehen da und beraten darüber, wie sie ihre Zeit totschlagen sollen. Da geht der Bauunternehmer Gao auf Sanya zu und winkt sie zur Seite.

»Fräulein Song«, sagt er leise, »können Sie bitte dem Busfahrer sagen, dass er den Kommandanten jetzt zum Hotel fahren soll?«

Sanya blickt überrascht auf. »Geht es Herrn Wang nicht gut?«, fragt sie. Das Gesicht des Kommandanten zeigt die übliche Gleichgültigkeit. Nur die schlapp nach unten hängenden Mundwinkeln verraten seine Erschöpfung.

»Sie haben sicher schon beim Frühstück mitbekommen, dass die meisten nicht gut geschlafen haben. Der Zeitunterschied ist eben nicht so einfach zu verkraften. Den Kommandanten hat es besonders übel erwischt. Er hat die ganze Nacht kein Auge zugekriegt.« Gao macht eine kurze Pause, dann fügt er noch leiser hinzu: »Wir müssen zusehen, dass er sich nicht überanstrengt. Er ist nicht mehr der Jüngste.«

Während Sanya mit dem Busfahrer telefoniert, steht Xia Hongting neben ihr und starrt gedankenverloren in den Verkehr. Als er zufällig das Wort Frank aufschnappt, kommt plötzlich Bewegung in ihn. »Kommt der Bus jetzt? Könnte Frank uns vielleicht zum Petersdom fahren?«, unterbricht er die Reiseleiterin.

Aber Sanya klappt das Handy zusammen und schüttelt den Kopf. »Das würde zu lange dauern. Und wahrscheinlich würden wir sogar im Stau steckenbleiben.« Als sie sein enttäuschtes Gesicht sieht, fügt sie einer plötzlichen Eingebung folgend hinzu: »Wissen Sie, es ist gar nicht weit bis zum Petersdom. Ich bringe Sie hin, ja?«

Das Gesicht von Herrn Xia, das eben noch wie von Wolken bedeckt war, hellt sich auf. »Das wäre herrlich«, sagt er voller Dankbarkeit.

Sanya holt den Stadtplan aus ihrer Handtasche und beginnt ihn zu studieren.

Jetzt funktioniert alles bestens. Frank fährt den Kommandanten und sein Gefolge zurück ins Hotel, während Sanya sich mit Herrn Xia und zwei weiteren Mitgliedern der Delegation auf den Weg zur größten Kirche der Christen macht. Einen Teil der Strecke können sie sogar mit einem städtischen Bus fahren.

Im Inneren der Kirche stockt den Besuchern der Atem. »Welcher Reichtum! Welche Schönheit! So groß habe ich mir das nicht vorgestellt«, sagt Herr Xia und legt die Hand auf eine der Marmorsäulen. »Wissen Sie, bei uns gibt es so einen Themenpark, das ‚Fenster zur Welt’. Da gibt es das Kolosseum, den Eiffelturm und die Niagarafälle. Die sind alle nicht schlecht und wirken fast wie die Originale, aber der Petersdom ist nicht dabei. Jetzt weiß ich, warum. So viel Schönheit lässt sich nur schwer kopieren.«

Kurz danach bleibt er vor einem gekreuzigten Jesus stehen und betrachtet ihn lange. »Die Religionen prägen die Menschen«, sagt er schließlich.

Sanya schaut ihn an. »Wie meinen Sie das?«

»Sehen Sie«, sagt Herr Xia. »Die Europäer haben ihre Religion auf einem Mord- und Leidbild aufgebaut. Die Schmerzen, die aus diesem Bild herausströmen, machen sie unruhig und aggressiv. Deshalb finden sie keine Ruhe. Das hat sie zu Welteroberern und zu Propheten des Fortschritts gemacht.«

»Der Islam hat kein solches Bild«, wendet Sanya ein. »Und der ist erst recht aggressiv gegenüber Frauen.«

»Der Islam hat auch seine Bilder. Sie sind nur im Koran schön versteckt. Zum Beispiel die Unterdrückung der Frauen und die Verachtung der anderen Religionen.«

»Ihrer Meinung nach wird es also nie Frieden zwischen den Religionen geben?«

»Doch«, sagt Herr Xia. »Schauen Sie. Wir Chinesen ehren den lächelnden Buddha. Das ist eine Figur, die Friede und Ruhe ausstrahlt. Deswegen waren wir mit uns selbst zufrieden, bis die Europäer mit Opium und Kanonen kamen.«

»Das war wohl der Anfang unserer Globalisierung«, lacht Sanya. »Nur, früher fühlten sich die Chinesen dazu gezwungen, heute machen wir freiwillig mit. Wir haben gemerkt, dass uns die Globalisierung nutzt. Jetzt heißen wir die Europäer herzlich willkommen. Wir lächeln unser entzückendes, buddhamäßiges Lächeln und kaufen fröhlich ein: Computer, Fernseher, Autos, den Transrapid. Dann geht das Produkt direkt zum Kopieren. So gesehen hat Buddha schon einen großen Beitrag zur reibungslosen Globalisierung geleistet.«

»Kopieren ist nur ein Versuch, sich auf die Schultern der Riesen zu stellen. Eines Tages werden wir an der Spitze der Welt stehen«, prophezeit Xia. »Noch zwanzig Jahre, dann sind wir die größte Wirtschaftsmacht, und dann kopiert die Welt uns.«

Während sie langsam das Längsschiff hinuntergehen, erzählt Sanya aus der Geschichte des Petersdoms. Dass die schönste Kirche der Welt auf dem Grab des heiligen Apostels Petrus errichtet ist, beeindruckt die Männer sehr. »Das Grab muss ein gutes Fengshui besessen haben«, sagt Herr Xia. »Sonst wäre der zweitausendjährige Erfolg der katholischen Kirche nicht zu erklären.« Als er Sanyas Gesicht sieht, fügt er schnell hinzu: »Glauben Sie mir: Ein gut angelegtes Grab veredelt den Boden und sorgt für gutes Gedeihen. Das sieht man in China doch überall ...«

Sanya muss lächeln. »Der dialektische Materialismus ist wirklich sehr biegsam. Die chinesischen Traditionen lassen sich gut darin unterbringen, scheint mir. Oder haben die chinesischen Traditionen den dialektischen Materialismus geschluckt?«

»Fengshui steht mit dem Marxismus nicht in Widerspruch, Frau Song.« Xia zieht die feinen Augenbrauen hoch und schaut sehr ernst. »Ich war einmal in London und hatte das Glück, das Grab von Karl Marx besuchen zu können. Da sah ich in kurzer Zeit alle Hautfarben, die die Erde hervorgebracht hat, vor dem Grabstein versammelt. Auch das ist Fengshui.«

»Na, vergleicht man die Besucherzahl von dort und hier, ist das ein Verhältnis von einer Maus zu einem Elefanten«, widerspricht Sanya.

»Urteilen Sie nicht zu vorschnell«, mahnt Xia. »Wenn man auf dem Grab von Marx eine prächtige Halle des internationalen Proletariats errichten würde, kämen sicher noch mehr Besucher. Aber die englische Monarchie hat natürlich Angst, dass ihr Land sich rot färbt.«

»Wenn das Proletariat sich treu bleibt, hat es die britische Monarchie gar nicht nötig, sich einzumischen«, grinst Sanya. »Eine Prunkhalle wie diese werden die armen Leute nicht auf die Beine stellen können.«

»Diese Kirche ist auch vom Geld der Armen und Ärmsten gebaut worden«, sagt Xia. »Man hat ihnen dafür das ewige Leben versprochen.«

»Tja, das ewige Leben könnt ihr Kommunisten den Leuten nicht bieten«, lacht Sanya. »Aber wenn es den Menschen in dieser Welt besser geht, ist ihnen ja auch schon ein bisschen geholfen.«

»In Wirklichkeit lassen wir Chinesen als gute Kaufleute alles gelten, was nützlich für uns ist«, mischt sich Hai Dabo ein. Herr Hai ist ein eleganter Mann und trägt einen Anzug von Yves Saint-Laurent.

Der dritte Mann, der mitgekommen ist, heißt She Ren und ist mit 32 Jahren das jüngste Mitglied der Delegation. Bei allen Gesprächen hört der junge Mann aufmerksam zu, lacht auch gelegentlich mit, hält sich aber stets zurück, vermeidet jeden Augenkontakt mit Sanya und sagt nichts. Aber die drei anderen sind so in ihre Diskussion vertieft, dass der schweigende Mann gar nicht auffällt.

Da Herr Xia von Michelangelo schwärmt, führt Sanya die kleine Gruppe auch noch zu den Vatikanischen Museen. Das Museum schließt in einer halben Stunde und an der Kasse steht immer noch eine Schlange, aber das ist ihnen egal.

Herr Xia bittet zwei Chinesen, die ziemlich weit vorn stehen, ihnen vier Karten mitzubringen, dann stürmen sie zur Sixtinischen Kapelle wie beutegierige Tiger. Dort angekommen, starren sie zur Decke hinauf wie alle anderen Besucher. Ein paar Amerikanerinnen haben sich sogar auf den Boden gelegt und richten ihre kleinen Operngläser auf die Gemälde hoch über ihnen, was Herrn Hai fast noch mehr fasziniert als Michelangelos Fresken.

»Eins verstehe ich nicht«, sagt er schließlich. »Obwohl bis heute schulterfreie Kleider und kurze Hosen in der Kirche verboten sind, darf man auf den Bildern massenhaft nackte Menschen anglotzen.«

»Die italienischen Künstler haben es eben schon früh verstanden, die Schönheit eines nackten Körpers als etwas Reines darzustellen«, sagt Sanya.

»Schade«, sagt Hai und betrachtet Sanya nachdenklich. »Schade, dass Marco Polo keine solchen Bilder dabei hatte, als er nach China kam. Unsere Geschichte wäre womöglich ganz anders verlaufen. Stattdessen hat er bloß den Italienern die Nudeln mitgebracht, und wir sind heute noch so verklemmt wie vor tausend Jahren.«

Es schmeichelt Sanya, dass der elegante Herr Hai immer wieder Kontakt zu ihr sucht. Sobald er sich in ihrer Nähe befindet, schüttelt er ein Thema nach dem anderen aus dem Ärmel, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Das gefällt ihr. »Wie hätte Marco Polo das damals tun können? Michelangelo wurde erst zweihundert Jahre nach ihm geboren«, entgegnet sie mit keckem Blick.

Hai lächelt ironisch. »Eine historische Strafe für China«, murmelt er zweideutig. »Deswegen bekommen wir in unserer Werbung bis heute bloß nackte Europäer oder Amerikaner zu sehen, aber keine nackten Chinesen.«

»Wenn du es schaffst, nackt in die Fontana di Trevi zu springen, dann hast du deinen persönlichen Globalisierungsprozess abgeschlossen, Bruder Hai«, scherzt Herr Xia.

 

Auf dem Rückweg bedankt sich Herr Xia begeistert. »Sie scheinen sich in Europa gut auszukennen«, sagt er zu Sanya.

»Ich habe ein paar Semester Germanistik und europäische Geschichte studiert«, gibt Sanya zu. Sie kommen zur Bushaltestelle und warten.

»Ich war ziemlich frustriert, als Herr Duan so viele Dinge aus dem Programm gestrichen hat«, sagt Herr Xia.

»Bei einer Gruppenreise ist es schwer, allen Wünschen gerecht zu werden«, sagt Sanya vorsichtig. »Aber ich werde mir Mühe geben. Ich möchte ja nicht, dass Sie die Reise unglücklich macht.«

»Aber ich bin gar nicht unglücklich«, strahlt Herr Xia sie an.

Der Bus, der vor ihnen hält, ist zum Bersten voll. Die Chinesen, die so etwas gewöhnt sind, wollen nicht auf den nächsten warten und drängen sich entschlossen hinein. Sanya steht eingeklemmt zwischen Herrn Hai und Herrn Xia, versucht aber den Körperkontakt mit ihren Landsleuten auf ein Mindestmaß zu beschränken. Auch Herr Xia stemmt sich gegen zwei kräftige Italiener, um einen papierdünnen Anstandsabstand zwischen ihr und seiner Brust zu bewahren.

Hai dagegen kümmert sich nicht darum. Er lässt sich von anderen Fahrgästen zu Sanya schubsen und bleibt seitlich an ihrem Rücken kleben. Sie spürt den Stoff seines Anzugs durch ihre Bluse und flucht innerlich über die Lage, in die sie sich manövriert hat. Es gibt aber keine Möglichkeit, Hai zu entkommen. Nun fängt er auch noch laut an zu reden. »Reiseleiter in China haben alle ein Megafon. Wieso ist eigentlich in Europa alles so rückständig?«

»Italiener haben eben stärkere Stimmen und brauchen kein Megafon«, sagt Sanya und hofft, dass keiner im Bus sie versteht. »Es heißt, Pavarotti hätte mal vor lauter Begeisterung auf dem Platz des Himmlischen Friedens eine Arie gesungen, und kaum hat er den Mund aufgemacht, ist das Bild von Mao heruntergefallen.«

Hais Atem streift ihren Hals und kitzelt sie, so dass sie den Kopf einzieht. Nun strömt sein warmer Atem in ihr Haar. Sie drückt sich noch enger an zwei mollige italienische Frauen, um ein wenig Abstand von Hai zu gewinnen. Dabei verfängt sich ihr Zopf in einem Knopf seines Anzugs. Er fingert ungeschickt an ihren Haaren herum und befreit sie schließlich mit einem Ruck. »Jetzt haben Sie ein paar Haare bei mir gelassen«, sagt er lächelnd. »Kennen Sie den Spruch von den Haaren, die Liebende binden?«

»Der kann nicht sehr zutreffend sein«, versetzt Sanya schlagfertig, obwohl sie gar nicht weiß, von welchem Spruch die Rede ist.

»Verwirr unsere Reiseleiterin nicht zu sehr, sonst verpassen wir womöglich die Haltestelle«, sagt Herr Xia und drängt seinen Kollegen bei einer plötzlichen Schaukelbewegung des Busses unauffällig zur Seite. Sanya nimmt die Entfernung des männlichen Körpers mit Erleichterung wahr.

Im Getöse des fahrenden Busses fragt Herr Xia: »Sie heißen mit Vornamen Sanya. Heißt das nicht drei besondere Vorzüge? Wollen Sie uns verraten, welche drei das sind?«

Sanyas Gesicht zeigt einen Anflug von Röte.

---ENDE DER LESEPROBE---