Die Chronik der Engel - Daria Sarafin - E-Book
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Die Chronik der Engel E-Book

Daria Sarafin

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Beschreibung

Manchmal kann Liebe den Himmel öffnen – oder zur Hölle verdammen Als Lilly nach einem Unfall mit einer Amnesie erwacht, muss sie sich in ihr unbekanntes Leben finden. Doch ihr Job ist merkwürdig, ihre Freunde seltsam und einige ihrer Nachbarn scheinen sie gar zu überwachen. Allen voran Adam Primus, der anscheinend ebenso wie Lilly die außergewöhnliche Gabe besitzt, Engel sehen zu können. Rasch erkennt Lilly, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie erscheinen. Aber was Lilly am meisten beunruhigt: Der faszinierende Adam scheint auf der Seite des Guten zu kämpfen – und gegen sie!

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Seitenzahl: 395

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
Flügelrauschen
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog

Daria Sarafin

Die Chronik der Engel

Flügelrauschen

ELYSION-BOOKS

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2009 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG UND GRAFIKEN: Ulrike Kleinert

LAYOUT &WERKSATZ: Hanspeter Ludwig

www.imaginary-world.de

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-942602-25-5

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-942602-09-9

Print; 1. Auflage: Oktober 2021

eBook; 1. Auflage: Oktober 2021

www.Elysion-Books.com

Prolog

Plötzlich bin ich bei Bewusstsein. Und doch nicht so richtig, denn noch immer liegt ein Filter auf meiner Erinnerung, auf mir selbst und meinem Ich-Empfinden. Es fühlt sich an, als seien mein Bewusstsein und mein Körper in Watte gehüllt und vor allen äußeren Einflüssen geschützt - oder besser: getrennt.

Ich bin mir nicht einmal sicher, wo ich anfange und wo ich ende. Was bin ich und wo?

Verwirrt blicke ich an mir herab, doch allumfassende Finsternis ist alles, was ich sehen kann. Sie ist so tief und dunkel, dass ich einen Moment lang nicht sicher bin, ob ich nicht die Dunkelheit selbst bin oder ob ein »ich« wirklich existiert. Vielleicht existiere »ich« ja nur als Möglichkeit, als etwas, das eventuell irgendwann einmal sein kann.

Aber dafür sind meine Gedanken zu komplex. Zu drängend der Wunsch, etwas zu sehen. Irgendetwas. Ich blinzele und versuche, meine Augen zu öffnen – der Schmerz in meinen Lidern belehrt mich über die Wahrheit: Sie sind bereits offen. Und es ist wirklich dunkel. So dunkel, als habe es nie ein Licht gegeben, nie Leben.

Ich ignoriere den plötzlichen Druck des Unbehagens und atme ein, bis ich das Gefühl der Spannung in meinem Inneren kaum mehr ertragen kann.

Doch ein Teil meines Unwohlseins bleibt, nagend und um Aufmerksamkeit heischend.

Etwas stimmt nicht!

Obwohl ich nicht das Gefühl habe, in Gefahr zu sein, konzentriere ich mich auf meine zurückgewonnenen Sinne, und noch während die Welt um mich heller und wieder erkennbar wird - das Licht kommt von überall und nirgendwo - kristallisieren sich Schattierungen in meiner Umgebung heraus. Sie bewegen sich.

Erschrocken blinzele ich, als mich etwas Dunkles im Gesicht streift, und versuche, zurückweichend danach zu greifen, doch es ist verschwunden, bevor ich es zu fassen bekomme.

Ich blinzele bei einer zweiten, sanften Berührung, die meine Wangen streift und während es mir endlich gelingt, etwas zu sehen, wächst meine Verwirrung.

Schwarze und weiße Federn schweben in einer wilden Mischung verschiedener Schattierungen durch die Luft, liegen knöchelhoch auf dem Boden und kitzeln mein Gesicht. Sie scheinen von riesenhaften Vögeln zu stammen und ihre Größe variiert von armlang zu winzigen Flaumansammlungen.

Andere Lebewesen sind in meiner Nähe.

Hinter herumwirbelnden Federkaskaden, verborgen vor meinen Blicken, kann ich sie kämpfen hören. Sie wälzen sich auf dem flaumweichen Boden, Haut schlägt gegen Haut und leise, gequälte Seufzer werden unterdrückt.

Das warnende Kribbeln in meinem Inneren steigert sich.

Trotzdem siegt meine Neugierde. Ignorant trete ich einen Schritt näher und der fliegende Vorhang lichtet sich genug, um mich meinen Irrtum erkennen zu lassen.

Die Nicht-Kämpfenden sind nackt – und definitiv mehr als zwei!

Wie von einem Stroboskoplicht erhellt, kann ich nur ein bewegliches Szenenbruchstück nach dem anderen wahrnehmen, Teile, die meine Fantasie zu einem Ganzen zusammenpuzzelt.

Dunkle Hände gleiten über helle Haut, werden in schwarze Haare vergraben, andere Hände greifen nach einem Po. Ein weißes Männerbein schlingt sich um einen weiblich geformten Schenkel, während sich ein zweites Handpaar in die goldblonden Haare der Frau gräbt.

Sie seufzt genüsslich und mein Mund wird trocken, als ich begreife, von was ich gerade Zeuge werde.

Doch es ist zu spät, um mich zurückzuziehen, zu spät, um die Anziehungskraft des sinnlichen Tableaus zu leugnen, und zu spät, als Hände den Kopf der Frau zurückbiegen und ich ihr Gesicht sehe. Die fein geschnittenen, leicht herzförmigen Gesichtszüge sind elegant und klar, vollkommen symmetrisch; nur die etwas zu großen Augen und die zu vollen Lippen verringern den Eindruck der Perfektion – und verstärken ihn gleichzeitig.

Das Wesen vor mir ist nicht nur formvollendet weiblich, sondern erscheint auch schützenswert jung und unschuldig.

Selbst durch die verwirrenden Verwirbelungen der Federn und trotz des dumpfen Lichtes kann ich das Grün ihrer Augen hinter ihren langen Wimpern erkennen, den Lichtertanz der goldenen Sprenkel auf ihrer Iris. Etwas, was nicht sein kann, denn dafür ist sie viel zu weit weg, das Licht viel zu diffus.

Der Schock, als sich unsere Blicke treffen, ist elektrisierend und erklärt einiges. Ich bin diese Frau!

Dem Schock folgt Entsetzen, als ich eine Anziehungskraft zwischen uns spüre, der ich mich nicht widersetzen kann. Wie in Zeitlupe werde ich auf sie – auf mich – zugetragen, kann mich nicht dagegen wehren und obwohl ich mich nicht bewegen kann, habe ich das Gefühl, ich müsste panisch um mich schlagen.

Aber keines meiner Glieder gehorcht mir, meine Entscheidungen und mein Willen sind bedeutungslos gegen die Kraft, mein Sträuben vergeblich.

Dann sehe ich an mir hinab und begreife endlich vollständig: Ich träume!

Einem Gedanken gleich berühre ich körperlos ihre Haut. Gleite durch sie hindurch, werde eins mit dieser Frau.

Meine eigene Erregung trifft mich wie ein körperlicher Schlag und mein Rücken biegt sich ohne mein aktives Zutun durch, um den Händen und Mündern näher zu sein.

Finger gleiten über meine Haut und es dauert einen Augenblick, bis ich merke, dass sie nicht zwei Männern gehören, sondern dreien.

Ich versuche, meine Lust zu unterdrücken, gegen die Ekstase anzukämpfen, doch die Hände graben sich tiefer in meine Haare, halten meinen Kopf schmerzhaft und doch erregend fest. Ich spüre Lippen auf meinem Körper, meinen Schenkeln, Lippen an meinem Mund. Bestürzt öffne ich meine Eigenen, weiß selbst nicht, ob ich schreien oder küssen will, bis sich ein anderer Mund auf meinen legt und eine Zunge in mich hineingleitet. Schockiert atmete ich ein und der Fremde nutzte meine Unachtsamkeit, um mich noch tiefer und genussvoller zu kosten.

Ich weiß, ich sollte mich wehren, um meine Freiheit und meine Unabhängigkeit kämpfen, doch seine Zunge gleitet zwischen meine Lippen, berührt sie mit einem Geschmack, der mich schwindelig macht und mich raffiniert dazu verleitet, bei dem sinnlichen Spiel mitzumachen.

Als mäandernde Finger über meinen Rücken streichen, zucken heiße Funken der Erregung durch meinen Körper. Einzig Berührungen von Federn dringen durch den Panzer meiner eigenen Lust und bringen mich endlich dazu, stoppen zu wollen. Es ist zu viel. Zu viel Haut, zu viele Federn, zu viel alles.

Aber ich kann keine Gesichter sehen, nicht erkennen, wen ich küsse. Sein Gesicht ist nur Zentimeter von meinem entfernt, aber ich erkenne nur strahlend dunkelblaue Augen und frage mich, wann sie die Farbe gewechselt haben. In einem Traum scheint alles möglich zu sein, oder? Oder war es einer der anderen, der dunkle samtige Augen gehabt hat? Himmelblaue?

Mit aller Kraft beginne ich, mich gegen den Druck zu wehren, gegen Griffe, die plötzlich gar keine mehr sind, sondern eine Last, die von außen um mich herum existiert, mich körperlos umhüllt und in eine Form zu pressen versucht, die mir nicht passt. Ich will nicht und ich kann nicht. Aber vor allem will ich nicht.

Verzweifelt schüttele ich den Kopf. Weil nichts einen Sinn ergibt.

Doch statt zu erwachen, wird es wieder dunkler. Die Masse an Federn nimmt zu, passt sich aber den Lichtverhältnissen an. Von Lichtgrau zu Dunkelgrau bis schließlich nur noch schwarze Federn vom Himmel fallen.

Taumelnd gelingt es mir, dem Druck zu widerstehen, aufzustehen, inzwischen hüfthoch in Federn. Ich versuche zu laufen, doch obwohl Federn weich und flauschig sind, gelingt es mir nicht. Es sind zu viele. Selbst die Luft, die ich atme, scheint von ihnen erfüllt zu sein und mehr als einmal spüre ich das Kitzeln von Daunen an den Lippen.

Ich muss hier weg. Muss vor den Federn fliehen, vor der Dunkelheit, die sich immer weiter ausbreitet und inzwischen so dicht ist, dass sie jedes Licht zu absorbieren scheint, jeden bewussten Gedanken. Längst sind meine Lust und meine Erregung einer tiefsitzenden Angst gewichen, die mich kopflos taumeln lässt. In diesen Federn werde ich ersticken, kann nicht fliegen, nicht fliehen. Wohin auch? Das hier ist überall – und nirgendwo.

Ich werde sterben und vergehen und niemals wieder existieren. Das weiß ich mit einer Sicherheit, die an Unendlichkeit grenzt und die sich fast wie ein Ausweg anfühlt. Aber eben nur fast.

Ein Schrei dröhnt durch die Finsternis. Melodisch und vielschichtig wie eine Symphonie, transportiert einen Schmerz mit sich, Leid von Jahrhunderten, möglicherweise Jahrtausenden. Eine Ewigkeit voller Schuld, Verzweiflung und Einsamkeit. Ich bin mir nicht sicher, ob er von mir stammt oder von einem anderen Wesen. Hänge ihm nach, wie einem Urknall, der Welten entstehen lassen und Schöpfungen vernichten kann. Nur Tränen, die meine Wange hinunterlaufen als Reminiszenz auf den Laut, die fühle ich. Und plötzlich weiß ich es. Es ist nämlich meine Schuld. Es ist meine Schuld … Alles.

*

Ich setzte mich auf und heule und schüttele mich gleichzeitig, zittere wie Espenlaub. Tränen laufen über meine Wange und meine Zähne klappern, während ich mich darum bemühe, den Rotz in meiner Nase zu behalten.

Emotionen fluten so schnell durch meinen Körper, dass ich gar nicht so recht sagen kann, warum ich weine. Angst, Verwirrung und Verzweiflung kämpfen in meinem nun wachen Bewusstsein um die Oberhand und drohen, mich zu verschlingen, obwohl ich keine Ahnung habe, um was es in dem Traum überhaupt ging. Aber Träume sind ja bekanntlich selten realistisch.

Außerdem ist mir kalt. Eiskalt. Seit wann ist es in meinem Bett so kalt?

Die Luft scheint sich noch mehr abzukühlen und obwohl meine Haut immer noch von dieser seltsamen Leidenschaft, die ich im Traum gespürt habe, glüht, überzieht eine Gänsehaut meinen ganzen Körper. Ich winkele meine Beine an und umschlinge sie mit den Armen, dabei berühre ich etwas Weiches. Sekundenlang halte ich es in der Hand und drehe es unschlüssig, bis ich begreife, was sich da zwischen meinen Fingern befindet: eine Feder.

Schlagartig ist die Schuld wieder da. Tief und durchdringend und allumfassend. Aufgewühlt lasse ich das schwarze flauschige Ding los und schlage die Decke zurück. Mit dem Ergebnis, dass schwarze Federn aus meinem Bett quillen.

Verwirrt und trotz des Wissens, mich in einem Traum zu befinden voller Panik, springe ich aus dem Bett. So nackt, wie ich eben bin und versuche fortzulaufen. Aber so wie schon in dem Alptraum zuvor gibt es keinen Ort, zu dem ich laufen kann. Nichts, was eine Flucht möglich macht. Nur gleißende Helligkeit überall. Licht, das aus jeder Richtung zu kommen scheint und keinen Schatten wirft. Nicht einmal, als es immer mehr schwarze Feder werden, sie in atemberaubender Geschwindigkeit den Boden bedecken und ansteigen. Höher und höher.

Obwohl ich weiß, dass ich eigentlich schlafe und mir nichts geschehen kann, komme ich nicht gegen den Drang an, um Hilfe zu rufen – bis die Federn mir bis zum Halse stehen. Dann klappe ich den Mund zu und presse meine Lippen fest aufeinander. Ein letzter Atemzug durch die Nase, danach nichts mehr. Wattige Finsternis wie eine lebendige, greifbare Macht. Urdunkelheit, in der ich zerfasere, mich auflöse und aufhöre zu sein.

1 - Erwachen

Ich bin tot, denke ich im ersten Moment. Im Zweiten auch. Ich muss tot sein. Ich habe mich aufgelöst, bin vergangen, zum Ursprung aller Existenzen zurückgekehrt. Außerdem sind die Schmerzen so überwältigend, allumfassend, dass es gar keine andere Option geben kann. Es gibt Dinge, die sind unmöglich zu überleben. Diese Schmerzen zum Beispiel.

Dann stelle ich fest, dass meine Atmung funktioniert und der körpereigene Reflex mich zum Einatmen zwingt. Luft, die nach Kräutern riecht und nach Krankheit und nach irgendetwas undefinierbar Gesund-Sterilem und mir wird klar, wie widersinnig mein Gedanke gewesen ist. Ein Widerspruch in sich. Ich habe Schmerzen, ergo einen Körper und deswegen auch Augen zum Öffnen. Noch während ich diesen Gedanken umsetze, wünsche ich mir, ich sei tatsächlich tot. Die Helligkeit meiner Umwelt schießt durch meine Nervenbahnen, setzt sich wie gleißendes Feuer in meinen Adern fest und pulsiert im Takt meines Herzens durch meinen Körper. Selbst mit der Hand vor meinen Augen kann ich das Licht noch spüren. Lauernd und zu einem weiteren Attentat bereit.

Vorsichtig und hinter fest zusammengelegten Fingern blinzele ich.

»Ah, Sie sind wach!« Eine angenehme, maskuline Stimme schreckt mich auf. So sehr, dass ich beinahe trotz der Warnung, »lassen Sie die Augen lieber geschlossen,« die Hände nach unten genommen hätte.

»Wo waren Sie vor fünfzehn Sekunden?«, höre ich eine Stimme grummeln, die meine sein muss. Zumindest kommt sie aus meinem Mund. Sie klingt ungewohnt und rau und so, als hätte ich seit ziemlich langer Zeit keinen Mucks mehr von mir gegeben. Dafür spricht, dass jeder Ton in meinem Hals schmerzt und über die empfindliche Haut zu kratzen scheint. Ich klinge wie ein Reibeisen.

Ich fühle, wie sich mein Mund erneut bewegt und langsam Worte formuliert, auf die ich keinen Einfluss habe. Vielleicht träume ich immer noch? »Was machen Sie …?«

Moment mal! Maskulin? Und überhaupt. Ich korrigiere mich, als meine Gedanken aufholen und stoppe die Verbalinjurien noch auf meinen Lippen, um sie umzuwandeln und der Erkenntnis anzupassen. Ich lebe noch, habe Schmerzen, die Luft riecht nach Medikamenten und der Mann vor mir trägt Weiß und wann genau habe ich eigentlich die Augen geöffnet und … Die Kopfschmerzen kommen so heftig, dass ich würgen muss. Etwas, was sich in meinem wunden Hals anfühlt, als sei ich ein nicht sehr erfolgreicher Schwertschlucker.

Wie von selbst erscheint ein Spucknapf vor mir und wird mir unters Kinn gehalten. Erst Sekunden später begreife ich, dass es der Weißgekleidete gewesen sein muss, der ihn dort hinbefördert hat, schließlich hält er den Napf immer noch. Ich benötige trotzdem eine weitere Sekunde, um den Sinn seines Handels zu kapieren. Zum Glück bin ich dadurch so abgelenkt, dass sich mein Magen beruhigt.

Als ich mir sicher bin, den Mund öffnen zu können, ohne meinen Mageninhalt auf mein Gegenüber zu verteilen – oder mit einem bisschen Glück koordinativ in den Napf befördern zu können – füge ich all die bisherigen Bruchstücke zu der allentscheidenden Frage zusammen: »Was mache ich in einem Krankenhaus?«

»Wissen Sie das nicht mehr, Frau …?«

»Doch. Ich stelle nur gerne blöde Fragen«, kontere ich fast zeitgleich und ohne das die Worte einen Umweg über meinen Verstand genommen haben. Irgendetwas stimmt nicht. Überhaupt nicht. Ich schließe die Augen und lege meine Finger an meine Schläfen. Auch der sanfte Druck bringt nichts. Ablenkung hilft bei meinem inneren Aufruhr anscheinend herzlich wenig. »Wie zum Teufel kann man solche Kopfschmerzen haben, ohne daran zu sterben?«

»Ah! Das erklärt die schlechte Laune.«

»DAS ist doch noch keine schlechte Laune!« Erst als die Worte, die sehr lauten Worte, verklungen sind, wird mir klar, dass meine Antworten wie auf Automatik laufen. Würde es nicht so sehr in meinem Schädel dröhnen, hätte ich wahrscheinlich noch lauter gebrüllt. Nicht nur, um meine Laune und meine Schmerzen zu überspielen.

Das leise Lachen des Weißgekleideten ist die einzige Antwort, die er für meinen kurzen Ausbruch übrig hat. Wahrscheinlich übt er gerade für den Friedensnobelpreis.

Trotz meiner latenten Übelkeit geht mir sein amüsierter Laut durch und durch. Wahrscheinlich wäre es sogar auf eine sehr angenehme Art und Weise, wenn ich mich nicht zurzeit Gott-weiß-wo befinden würde. Wieder wird mir ein wenig übel.

»Ist nicht persönlich gemeint«, versichere ich. Dieses Mal gelingt mir ein Blinzeln. Es treibt mir zwar Tränen in die Augen, aber ich kann die Augen offen halten. Im nächsten Moment hoffe ich, dass ich nicht so scheiße aussehe, wie ich mich fühle.

Anscheinend bin ich direkt in eine Live-Sendung von Emergency Room gelandet. Nur, dass mein Doc noch besser aussieht als Clooney.

Groß, blond und attraktiv.

Der Arztkittel stört kein bisschen.

»Sehr charmant, Frau …«

»Nicht charmant, ehrlich.« Ich gehe nicht auf seine latente Frage ein, weil ein neuer Schwall Schmerzen über mich flutet. Deswegen füge ich ein »Ich kenne Sie schließlich nicht«, hinzu.

Es bringt mir ein Stirnrunzeln ein. »Sie erinnern sich nicht?«

»An Sie oder meinen Namen?«, erkundige ich mich ein wenig kleinlaut. Immerhin gewöhne ich mich langsam an meine eigene Stimme.

»Sowohl als auch …«

»Nein«, gebe ich zu und füge ein, »Sollte ich?«, hinzu, für das ich mir im nächsten Moment am liebsten in den Arsch treten würde. Man fragt doch so jemanden wie Mr. Superheiß nicht, ob man ihn akut vergessen hat. Das ist degradierend und zeigt, dass man nicht das geringste Interesse an demjenigen als Person hat. Krankenhaus hin oder her.

Zu meinem Glück scheint er es nicht persönlich zu nehmen, sondern greift nach meinem Arm. Gekonnt konzentriert er sich auf den Puls und zählt stumm mit. Sein Gesichtsausdruck lässt auf nichts Böses schließen. Ganz anders seine Bewegung, nachdem er meinen Arm wieder freigegeben hat.

»Wenn Sie mit dem kleinen Licht in meine Augen strahlen, werde ich wirklich böse.«

Sein nachsichtiges Lächeln beruhigt mich kein bisschen. Nur weil er gut aussieht, ist das doch keine Freikarte für einen Blick ins Zentrum meiner Kopfschmerzen.

»Wie geht es Ihrem Hals?«, erkundigt er sich und wirkt fachlich interessiert – und so, als gäbe es einen realen Grund für meine kratzige Stimme.

»Brennt wie Hölle«, gebe ich zu. »Wurde ich intubiert?«

Er nickt und zum ersten Mal fällt mir bewusst auf, dass ich immer noch keine Ahnung habe, was eigentlich passiert ist. Warum ich hier bin – und wo »hier« überhaupt ist. Selbst sein Namensschild kann ich nicht lesen. Obwohl es nur vierzig Zentimeter weit weg und nicht gerade klein und unauffällig ist. Aber die Buchstaben scheinen direkt vor meinen Augen ein Eigenleben zu entwickeln. Vielleicht bin ich ja unter normalen Umständen Brillenträgerin, oder habe einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen.

»Aber nur sicherheitshalber«, höre ich den Doc sagen und hebe den Kopf, um Aufmerksamkeit zu simulieren. Dabei hätte ich wirklich gerne gewusst, wen ich vor mir habe.

»Was ist das letzte, an was Sie sich erinnern können?«, erkundigt er sich interessiert. Natürlich. Ist ja auch sein Job.

Ich überlegt trotzdem. Und denke an die Kopfschmerzen, die wie auf Kommando wieder stärker werden.

Leider sind sie aber auch das erste und letzte, an was ich mich erinnern kann. Und Federn. Fluffige, alles erstickende Federn. Zerfasern in der Urdunkelheit. Als ich das laut ausspreche, runzelte mein Gegenüber die Stirn. Stirnrunzeln ist bei einem Arzt sicher kein gutes Zeichen. Wenigstens scheint er kein Psychiater zu sein. Denn das wäre wirklich ein schlecht.

»Waren sie weiß oder schwarz?«, hakt er nach, als überlege er umzuschulen.

»Spielt das eine Rolle?«

»Weiß ich nicht!«, behauptete er nicht sonderlich glaubwürdig und schlägt vor: »Ich hätte auch nach rosa oder himmelblau fragen können.«

Einen Moment lang sehe ich ihn entgeistert an.

»Sorry«, meint er, bevor er mir blitzschnell in die Augen leuchtet. Ohne Vorwarnung.

Ich versuche, meinen Kopf wegzudrehen, aber er ist schneller und hält mein Gesicht fest, bevor ich meinem Instinkt folgen kann. Unter seiner unerwarteten und festen Berührung erstarre ich förmlich, fühlen sich seine Finger doch so an wie die aus meinem Traum – und bringt mein Herz genauso zum Schnellerschlagen. Ob als Reaktion auf den Traum, die Lust, die Angst oder weil ich mich wirklich überrumpelt fühle, könnte ich nicht einmal für eine Millionen sagen.

Erst als er mich loslässt, kann ich mich wieder rühren und klar denken. »Und? Konnten Sie bis zum Hinterkopf durchsehen?«

Der Arzt lacht wieder sein unglaublich gut gelauntes Lachen. Entweder hat er ein tolles Leben, auf das er in Momenten wie diesen geistig zurückgreifen kann, oder er ist ein gemeiner Sadist.

»Fühlt sich nämlich so an«, behaupte ich und reibe mir die Schläfen.

»Ich lasse Ihnen gleich ein Kopfschmerzmittel bringen!« Er steht auf und zum ersten Mal schaffen es all meine Sinne, mehr als Kleinigkeiten wahrzunehmen, und mir ein Gesamtbild von meiner Situation – und von ihm – zur Verfügung zu stellen. Die Bruchstücke setzen sich blitzschnell zusammen: Krankenhauszimmer, die übliche Einteilung. Zweibettzimmer. Ein Fenster auf. Vorhang bläht sich durch Wind nach innen. Tisch. Zwei Stühle. Fernseher. Piependes medizinisches Gerät. Zweites medizinisches Gerät - ohne Piepen. Bettdecke. Zu dünn. Bezug zu kalt, fast klamm. Arzt, groß, blond. Haare verwuschelt. Himmelblaue Augen. Ein bisschen zu groß und schlank und muskulös für mein Seelenheil. Hautfarbe eines Naturburschen, so als wäre er gerne draußen, wenn er nicht arbeitet. Ein bisschen zu besorgter Gesichtsausdruck, trotz seines Lächelns. Ich schlucke und versuche, mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, doch es gelingt mir erst, als ich an das versprochene Kopfschmerzmittel denke.

Okay, der Doc sieht wirklich extrem gut aus und ist anscheinend kein gemeiner Sadist. Nur ein fröhlicher Mediziner. Ist klar. Ich bin in einer Folge »Scrubs - Die Anfänger« gelandet. »Emergency Room« wäre ja auch zu schön gewesen … Aber dazu sieht der Raum zu abgenutzt aus, zu sehr nach einer Anstalt in Gotham City.

Der Doc ist schon an der Ausgangstür, neben der ein langer Spiegel hängt, als mir auffällt, dass ich die Einzige gewesen bin, die Fragen beantwortet hat.

»Glauben Sie bloß nicht, ich hätte nicht gemerkt, dass Sie sich um die Antwort drücken!«, behaupte ich und lasse meine Worte wie eine Drohung klingen. In Wirklichkeit bin ich aber viel zu müde für ein Quiz, ausgelaugt von meinen Träumen und überhaupt von meiner Existenz.

Der Doc lacht noch einmal, bevor er aus dem Zimmer verschwindet. Allerdings ohne sich umzudrehen, und dieses Mal klingt das Lachen anders. Bitter. Wahrscheinlich weil er weiß, dass mit mir etwas nicht stimmt. Man ist für gewöhnlich nicht umsonst in einem Krankenhaus und erinnert sich an nichts.

Apropos: Das wäre eine gute Chance gewesen, zu fragen, was genau los ist. Eine offene Frage, die ihm Spielraum gibt und die er der Fairness halber beantworten müsste.

Ich schüttele den Kopf, um mich davon zu überzeugen, dass Mediziner außerhalb solcher moralischen Urteile leben und handeln – und ich keineswegs fit genug für eine Antwort bin. Denn wenn er der Meinung gewesen wäre, ich könne die Wahrheit verkraften, hätte er sie mir doch gesagt, oder? Oder?

Plötzlich hämmert eine ungute Vorahnung durch meinen Körper – wie ein fremdgesteuerter Herzschlag. Unwillkürlich sehe ich an mir hinab. Doch unter der weißen Decke kann ich Umrisse erkennen. Ich habe also einen Körper. Er ist vollständig und er tut weh. Alles an ihm. Ich habe vergessen, wie viele Muskeln und Knochen man hat oder wie viele Nervenenden, aber anscheinend schmerzt wirklich jeder und jede einzelne von ihnen. Vielleicht auch jede einzelne Zelle in meinem Körper inklusive der Haare.

Und nur ganz vielleicht bin ich ein kleines bisschen wehleidig, denke ich ein wenig amüsiert über mich selbst. Immerhin hab ich diese Schmerzen bisher nicht wirklich realisiert, weil Kopfschmerz und Verwirrung alles andere überlagert haben.

Nachdenklich hebe ich die Finger von der Bettdecke und bin dankbar, weil mein Körper diese Anweisung befolgt. Auch das Wackeln der Füße funktioniert. Eine Lähmung fällt damit schon einmal aus.

Trotzdem kostet es mich einiges an Mühe, um mich hinzusetzen. Es klappt. Auch wenn ich das Gefühl habe, jeden Moment auf den klinisch reinen Boden spucken zu müssen. Aber das gibt sich nach einigen Sekunden. Mein »Ich« justiert sich selbst in der neuen Position im Raum.

Vorsichtig schiebe ich die Decke zurück, stelle fest, dass ich einen Schlafanzug in schwarz trage und keine Federn zu sehen sind. Also schlage ich die Decke frohgemut weiter zurück, um mich ans Fußende des Bettes schieben zu können. Beinahe rechne ich damit, dass »Jane Doe« auf dem Schild steht. Stattdessen prangt dort ein Name. »Lilly Paradies«.

Wow. Bin ich ein Pornostar oder was? Ich brauche einige Sekunden, um meinen Namen zu verkraften, dann schwinge ich meine Füße aus dem Bett. Weniger vorsichtig als bei der Bewegung zuvor. Zum Glück scheint mein Gleichgewichtssinn aufgeholt zu haben, denn das Schwindelgefühl bleibt weitgehend aus. Die schwarzen Puschen direkt neben meinen nackten Füßen müssen mir gehören. Folgerichtig schlüpfe ich in sie und frohlocke, als sie passen. Bin ich nicht Sherlock-Lilly?

Ich fühle, wie sich meine Stirn runzelt, und überlege im selben Augenblick, wer Sherlock-Holmes ist und warum ich mich an den erinnern kann, aber nicht an mich, Lilly. Aber ich weiß es schlichtweg nicht. Das Einzige, was passiert ist, dass meine Kopfschmerzen zurückkommen. Verdammt!

Mit einer Hand am Bett – nur zur Sicherheit – stehe ich auf. Es funktioniert.

Anscheinend ist mit meinem Körper soweit alles in Ordnung. Nur mit meinem Kopf nicht. Aber den braucht man als Pornostar ja vielleicht auch gar nicht.

»Lilly Paradies, Pornostar auf dem Weg zum Spiegel«, murmele ich und gehe gen Tür zu dem halbblinden weil altersschwachen und zerkratzten Spiegel.

»Pornostar?«, fragt eine amüsiert klingende Stimme hinter mir.

Ich zucke zusammen und drehe mich so schnell um, dass ich mich beinahe selbst in die Erde gedreht hätte. Bis zur Hölle und zurück.

Stattdessen starre ich erschrocken die junge Frau an, zu der die Stimme gehört. Sie schaut ebenso erschrocken zurück. Hauptsächlich wahrscheinlich, weil ich so unerwartet reagiert habe. Dann fängt sie an zu lachen. Ein Laut, der so gar nicht zu jemandem passt, der leichenblass und eindeutig krank ist. Sie hebt sich kaum von dem Bett ab, denn obwohl ich vorhin hingesehen habe, um mich zu vergewissern, dass ich allein im Zimmer bin, erkenne ich sie erst jetzt. Ihre Haare sind nahezu farblos und sie ist so bleich wie das Leinen, auf dem sie liegt. Und sie ist … dünn. So dünn, dass sie sich tatsächlich wie ein Chamäleon an die Falten der Bettdecke angepasst hat.

»War nur ein Spaß!«, behauptete ich und bin versucht, nach meinem Busen zu tasten, ob der denn überhaupt groß genug wäre, um als notgeile Schnitte Karriere zu machen. Ist er wahrscheinlich nicht. Deswegen meine ich: »Aber mal ehrlich. Der Name ist Mist.«

»Schon schlimmere gehört«, behauptet mein Gegenüber und schenkt mir ein schwächliches Lächeln. Dabei wirken ihre Zähne viel zu groß für ihr schmales Gesicht. Genau wie ihr Mund, der fast die Hälfte ihres Antlitzes ausmacht. Die andere Hälfte gehört den gespenstisch großen Augen. Der Rest, selbst die Nase, ist verschwindend klein.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, belasse es aber dabei. Allein der kurze Dialog scheint dem Mädchen mehr Kraft abzuverlangen, als sie erübrigen kann. Aus diesem Grund überbrücke ich die letzten Schritte bis zum Spiegel und mustere mich.

»Weshalb bist du hier?«, erkundigt sie sich und einen Moment lang wundere ich mich, weil sie mich so selbstverständlich duzt. Dann sehe ich mich im Spiegel und bin überrascht. Ich bin jung. Ziemlich. So um die zwanzig. Plus minus zwei Jahre. Dabei fühle ich mich alt. Sehr. Also so um die zweihundertdreißig hätte ich schon geschätzt. Aber das kommt vielleicht davon, dass meine Gedanken ständig so naseweis sind. Und ich mich an unendlich viel erinnere. Kommt mir zumindest so vor, denke ich, während Reflexionen und Bruchstücke der Vergangenheit an mir vorüberziehen. Alexander der Große, Nero, Jesus. Ägypten, Kreta, die Weltkriege. Mathematische Formeln, Naturgesetze, Entdeckungen aus allen möglichen und unmöglichen Epochen. Ich fasse mir an den Kopf, da schlagartig Fakten an mir vorüberziehen, als hätten sie nur auf diese Gelegenheit gewartet. Nur eines fehlt.

»Keine Ahnung, ich weiß es nicht … mehr«, gebe ich zu. Und wahrscheinlich bin ich genau deswegen hier?!

Ich starre auf die glänzende Oberfläche des Spiegels und mein Abbild schaut zurück. Obwohl ich kaum etwas sehen kann, bin ich mir sicher: Ich kenne es nicht! Eine wildfremde Person blickt mir entgegen. Ich hebe den Arm, doch sie tut es auch. Irritierend.

»Amnesie«, liest meine Bettnachbarin vor. Irgendwie ist es ihr gelungen, aufzustehen und zu meinem Fußende zu wanken. Hatte ich sie vorher für dünn gehalten, muss ich meine Einschätzung nun korrigieren: Sie ist so dürr, dass es mir augenblicklich die Tränen in die Augen treibt. Scheiß aufs Vergessen, wie kann sie sich überhaupt aufrecht halten – und noch leben?!

Als sei mein Gedanke wesentlich mehr, eine unsichtbare Last auf ihren Schultern, beginnt sie zu torkeln und hält sich am Bett fest. Mit einem Schritt bin ich bei ihr und halte sie.

»Danke.« Ihre Stimme ist nur noch ein Wispern und ein Lächeln liegt auf ihren schmalen Lippen. Für einen unendlich langen Augenblick wirkt sie wunderschön, mit sich im Reinen, und wir teilen diesen Moment der stummen Verbundenheit. Dann plötzlich liegt in ihrem Blick etwas anderes. Dankbarkeit, aber auch eine unendliche Trauer. »Es geht zu Ende.«

»Nicht doch!« Ich weiß, sie hat recht, trotzdem will ich Hilfe holen. Deswegen versuche ich sie zu ihrem Bett zu bekommen. Aber es geht nicht. Für so ein mageres Persönchen ist sie erstaunlich schwer. Oder ich geschwächt von was auch immer. Ich lehne mich und damit auch sie an mein Bett.

»Ich will noch nicht sterben«, haucht sie. »Ich habe doch kaum gelebt.«

Schlagartig fühle ich mich noch älter und unendlich müde, schuldig und traurig, obwohl es für beides keinen Grund gibt. Zumindest keinen, den ich wüsste. Aber mir laufen Tränen die Wangen hinab und sie dauert mich. So wie mich jeder Tod dauert.

Moment! Wo kommt denn der Gedanke her?

»Es tut mir leid!«, sage ich und meine es ehrlich. Sie hat es nicht verdient zu sterben. Nicht nur »nicht so zu sterben« sondern überhaupt nicht. Niemand sollte sterben. Allein und verloren und voller Angst und Zweifel.

»Du bist ja nicht schuld an dem Magenkrebs.« Jetzt streicht sie mir tatsächlich über die Wange, um mich zu trösten! Dabei muss ich doch die Starke sein, die mit den tröstlichen Worten und der Hoffnung – der Hilfe. Ich blicke auf und zu dem Knopf, mit dem man die Schwestern oder einen Pfleger rufen kann. Aber er ist zu weit weg. Ich würde ihn nur greifen können, wenn ich das inzwischen bewusstlose Mädchen loslasse.

Mit der Kraft der Verzweiflung gelingt es mir, die Kleine so zu zieh-schieben, dass sie auf meiner Matratze zum Liegen kommt. Dann endlich kann ich den Knopf drücken. Aber das geht nicht schnell genug, zeigt nicht den Ernst der Situation.

»Ich hole Hilfe!«, verkünde ich, obwohl ich nicht weiß, ob mich das Mädchen hören kann. Ich weiß nicht einmal, wo das Schwesternzimmer ist, oder jemand, der helfen kann. Trotzdem laufe ich los. Jemand muss hier sein, muss helfen können. Aber überall dasselbe Bild: Leere.

Mit wachsender Angst laufe ich durch die Gänge, an einer Kapelle und einem leeren Schwesternzimmer vorbei, in welchem ein Alarm piepst. Ich drehe mich, um eine weitere Abzweigung auszuprobieren, öffne den Mund, um laut nach Hilfe zu rufen, und erstarre und verschlucke mich an dem Ton, der auf meinen Lippen hängt.

Einen Augenblick lang steht ein Mann, wie von einer Art Tür umrahmt, im Gang. Für mich, wie mitten in meiner Bewegung gefangen, scheint die Zeit still zu stehen. Beinahe in Zeitlupe dreht sich sein Gesicht zu mir, eine magische Sekunde kreuzen sich unsere Blicke und ich vergesse sogar das Atmen. Im nächsten Augenblick läuft die Zeit normal und der Gang vor mir ist genauso leer wie meine Gedanken und meine Erinnerung.

Ich blinzele und starre auf die Stelle, wo eben … Ja, was eigentlich? Es kann nicht sein, oder? Mit geballten Händen, die Fingernägel schmerzhaft in die Handballen gepresst, visualisiere ich den dunkelhaarigen Mann mit dem ebenso dunklen, akkurat geschnittenen Bart und den unglaublich dunklen Augen und konzentriere mich auf die selbst zugefügten Schmerzen. Nur durch sie kann ich weiteratmen, nur durch sie klar denken. Da war keine Tür. Aber ein schwarzer … Mantel. Er bauschte sich hinter ihm auf, genauso in dem Moment der Bewegungslosigkeit gefangen, wie der Rest von ihm. Nur … es ist kein Mantel gewesen. In einem Moment war da Schwärze gewesen, im nächsten … nichts.

Ich reiße mich aus meiner Starre, hetze zur nächsten Durchgangstür, doch auch der Gang dahinter ist leer und so lang, dass mein erster Gedanke unmöglich stimmen kann. Es sind KEINE Flügel gewesen. Mit schwarzen Federn und so groß, dass sie nicht von einem Vogel sein können.

Trotz dieser Logik tragen mich meine Füße in die Richtung, in die der Mann unterwegs gewesen ist, die kleinen Verräter. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich um die Ecke biege. Dort steht er. Direkt an der Glasfront, direkt am Ausgang zum Raucherbalkon mit dem Rücken zu mir. Dann ist er weg. Ohne Rauch oder Knalleffekt. Der kommt nämlich von hinten, aus der Richtung, aus der ich eben gekommen bin.

Ich mache das, was dämliche Leute normalerweise nur in Filmen machen – ich renne an der Kapelle vorbei, in Richtung des lauten Geräuschs, obwohl jede Faser in meinem Inneren mich stoppen will.

Nach der dritten Ecke pralle ich beinahe mit einem Mann zusammen, der aus meinem Zimmer biegt. Er ist schwarz gekleidet, so finster wie die Flügel zuvor, und ich kann ihm gerade noch ausweichen. Dabei scheint er mich gar nicht zu bemerken, sein Blick ist starr nach vorne gerichtet, wirkt glasig und wie unter Schock, als er an mir vorbei sprintet. Ein Blick, als habe er in die Hölle geschaut.

Etwas, was ich auch tue, als ich ins Zimmer sehe – und sich jeder klare Gedanke ins Nichts verabschiedet. Ich höre meinen eigenen Schrei, noch bevor ich die anderen Patienten höre, die plötzlich neben mir auftauchen und ähnliche Laute von sich geben. Schreie, Rufe, das Verlangen nach Hilfe, die nun definitiv zu spät kommt.

Und ich schreie immer noch.

2 - Engel

Ich verstumme erst, als endlich Hilfe kommt. Oder das, was sich dafür hält. Die Schwester drängt mich aus dem Türrahmen und … bleibt dann ebenfalls stehen. Ebenso fassungslos, wie ich und die anderen Patienten. Wenige Sekunden später wird sie von irgendeinem Mann in Weiß weiter in den Raum geschoben. Dorthin, wo die junge Frau in meinem Bett und ihrem Blut liegt. Erschossen und mit irgendetwas bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Fetzen von ihren Haaren kleben an der Wand und der metallische Geruch ist genauso betäubend wie der Anblick.

Irgendwann zwischen den vergeblichen Rettungsversuchen und der Ankunft der Polizei muss ich in einen Schockzustand gefallen sein. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, was dazwischen gewesen ist. In einem Augenblick habe ich auf das Blut gestarrt, welches hypnotisch in die rote Lache auf dem Boden tropft, im nächsten sitze ich in einem Aufenthaltsraum, halte einen Becher mit dampfender Flüssigkeit in den Händen und starre einen Mann an. Er kniet vor mir und wirkt sehr besorgt. Obwohl sich sein Mund bewegt, kommt kein Ton bei mir an.

Da ich nicht weiß, wovon er redet oder was er von mir will, nippe ich an dem Heißgetränk und sehe ihn danach wieder an. Aber es hat sich nichts geändert. Der Mann in Uniform starrt mich immer noch an, aber nach Sekunden wandert sein Blick an mir vorbei und seine Miene hellt sich auf. Ich habe kein Interesse daran, mich umzudrehen, bin aber erleichtert, als mein Arzt in mein Blickfeld tritt. Irritiert registriere ich, dass sich seine Lippen bewegen und ich auch ihn nicht hören kann. Lediglich ein Murmeln, das sich entfernt wie eine Sprache anhört. Nur ein Wort kann ich deutlich erkennen: Schock.

Im nächsten Moment schnappe ich zurück in mein Bewusstsein. Die Sinneseindrücke sind aber so überwältigend, dass ich mich wieder zurückwünsche. In die Stille, die Ohnmacht und sogar zurück in den Schmerz. All meine Sinne scheinen überscharf zu sein, arbeiten unter Hochdruck und ich kann sogar den unangenehmen Schweißgeruch des Polizisten wahrnehmen, der von einem kurzen, aber heftigen Adrenalinstoß zeugt. Genau wie den Geruch von Metall und Schießpulver, die beide noch in der Luft hängen und mich zu verfolgen scheinen. Verflogene Hoffnung.

»Sie ist gestorben, weil sie in meinem Bett lag, nicht wahr?« Ich will den blonden Arzt ansehen, aber es gelingt mir nicht. Stattdessen starre ich in den Becher, als könne ich aus dem Kaffeesatz lesen, und versuche, die Blutlache zu vergessen.

»Wie kommen Sie denn darauf?« Es ist der Polizist, der antwortet. Muss er sein, denn die Stimme kommt mir nicht vertraut vor. Und obwohl er ehrlich erstaunt klingt, muss meine Schlussfolgerung stimmen. Oder nicht? Wer könnte dieser kleinen, jungen Person etwas antun wollen? Sie ist so … süß gewesen, so unschuldig.

»Sie wollte so gerne leben.« Ich spüre den Kloß in meinem Hals und drohe daran zu ersticken. Sie hätte noch Minuten gehabt. Zeit, die ihr genommen worden ist. Es kostet mich alle Kraft, die Tränen zurückzuhalten.

»Sie muss etwas zur Beruhigung bekommen und ein wenig Ruhe haben!«, ermahnt mein Arzt den Polizisten, aber der geht nicht auf ihn ein und erkundigt sich bei mir: »Woher wissen Sie das?«

Der Polizist nimmt mir den beruhigenden Becher aus der Hand und stellt ihn vor mir auf den Tisch. Dann nimmt er meine Hände in seine. Sie sind sehr warm. Vielleicht auch nur weil meine trotz der Hitze des Getränkes sehr kalt sind.

»Wir haben uns kurz unterhalten«, meine ich abkanzelnd. Was will er denn von mir? Verwirrt sehe ich auf und begegne seinem prüfenden Blick.

»Und da hat sie Ihnen gesagt, sie wolle gerne leben?« Die Skepsis des Beamten ist beinahe greifbar. Ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Wahrscheinlich weiß er bereits mehr über mich als ich selbst. Wie zuverlässig kann meine Zeugenaussage da schon sein?

»Ihr ging es nicht gut. Sie hat – hatte - Magenkrebs und Angst daran zu sterben und dann ist sie zusammengebrochen. Ich habe den Knopf für die Schwestern gedrückt und ihr ins Bett geholfen, und weil immer noch keiner gekommen ist, wollte ich Hilfe holen und … ich dachte, sie würde sterben«, brabbele ich. Ich verstumme, weil ich fühlen kann, wie ich innerlich und äußerlich zittere. Einen großen Teil meines bisherigen Lebens – also der letzten Stunde, in der ich bei Bewusstsein gewesen bin – kann ich ihm nicht erzählen. Nicht ohne verrückt zu klingen.

»Sie sind aber aus der anderen Richtung zurückgekommen«, meint der Polizist analytisch.

»Woher soll ich denn wissen, wo das Schwesternzimmer ist?«, erkundige ich mich pampig, weil ich gezwungen scheine, mich verteidigen zu müssen. Und weil ich mich schuldig fühle. Aber was soll ich sonst sagen? Ich bin am Schwesternzimmer gewesen und dann habe ich die Todkranke wegen eines Engels vergessen, dem ich hinterhergerannt bin? Denn dann würden sie mich sicherlich in eine andere Abteilung verlegen: Die Geschlossene.

»Ich habe Hilfe gesucht und als ich ein Geräusch – den Schuss – gehört habe, bin ich zurückgelaufen«, erkläre ich. Das entspricht sogar der Wahrheit. Im Großen und Ganzen. Dann erinnere ich mich an den Rest und spüre, wie sämtliches Blut meine Wangen verlässt.

»Großer Gott!«, wispere ich und halte mir den Mund zu, um nicht abermals zu schreien. »Er ist mir entgegengekommen.«

»Wer?«, erkundigt sich der Polizist verwirrt. Anscheinend kann er mir nicht folgen.

»Der Schütze«, erkläre ich deswegen und erinnere mich nahezu zeitgleich an seine Laufrichtung. »Die Kapelle.«

Mein Gegenüber springt auf und sieht an dem Arzt und mir vorbei und dieses Mal kann ich mich bewegen, mich umdrehen und seinem Blick folgen. Dort steht ein weiterer Uniformierter und vage erinnere ich mich daran, dass es hier und eigentlich im ganzen Krankenhaus zwischendurch vor Menschen gewimmelt hat. Patienten, Besucher, Polizisten. Das ganze Haus ist durchsucht worden. Alles, während ich hier untätig und kaum bei Besinnung herumgesessen habe!

Mit einer Kopfbewegung deutet der Mann, der mich befragt hat, seinem Kollegen, sich in Bewegung zu setzen und folgt ihm nahezu zeitgleich. Ich springe auf und gehe ebenfalls los.

Sekunden später stoppt mich ein Griff um mein Handgelenk. »Was wird das?« Mein Arzt setzt sich und zieht mich dabei zurück auf meinen Stuhl. Er ist mir nun viel zu nahe und ich empfinde seine Nähe gleichzeitig einschüchternd wie beruhigend. Anders als der Polizist riecht er gut, wie ein Regentag in der Natur. Der Geruch löst unbestimmte Erinnerungen in mir aus und ein wohliger Schauer läuft über meinen Rücken. Anscheinend mag ich Regentage.

»Ich kann ihn identifizieren!«, versuche ich meinen Arzt davon zu überzeugen, es wäre eine gute Idee hinter der Polizei herzugehen. Dabei weiß ich mit hundertprozentiger Sicherheit, dass es in Wirklichkeit eine dumme ist.

»Tatsächlich?«, meint er folgerichtig, lässt aber meine Hand los, als falle ihm erst jetzt ein, dass er sie noch hält.

»Ja, ich habe den Mann gesehen.« Das hatte ich doch schon gesagt, oder? Aufgewühlt bin ich beinahe bereit abermals aufzuspringen und hinter den Bewaffneten herzulaufen.

Meinem Gegenüber in Weiß trommelt mit den Fingernägeln auf dem Tisch, als müsse er einem unwilligen kleinen Kind die Welt erklären: »Und wie sicher und gut ist Ihre Erinnerung?«

Ich schweige und starre den Arzt böse an. Dann schließe ich die Augen. »Fragen Sie mich etwas, irgendetwas!«, fordere ich.

»Das ist niedlich und ein toller Partytrick, aber vor Gericht wird das unmöglich standhalten.«

»Weil ich eine Amnesie habe?«, rate ich und kann das Nicken des Arztes beinahe spüren.

»Doc A. Primus mit den himmelblauen Augen und den Schuhen, die nicht zu seinen Socken passen …«, beginne ich. »Wofür steht das A.?« Ich öffne meine Augen wieder und habe das Gefühl, direkt in das Himmelblau zu fallen. Leider ist der Aufschlag sehr hart, denn seine Iriden färben sich und werden sturmgrau. So als spiegelten sie seine Stimmung wieder. »Es steht für Adam und meine Socken passen sehr wohl zu den Schuhen.«

»Ist wohl Geschmackssache«, versuche ich, den Frieden zu wahren. »Aber wenn Sie eine Umfrage dazu machen würden …«

»Sie sind kein Comedian und auch kein Detektiv. Also lassen Sie die Polizei ihren Job machen!« Er klingt so angefressen, als habe ich ihn persönlich beleidigt. Was ich ja strenggenommen sogar habe.

»Sie werden aber niemanden mit Soutane und Kollar verdächtigen, oder?« Woher ich die Begriffe kenne, weiß ich nicht. Aber das Wissen ist da, als wäre es nie fort gewesen, als wäre meine Amnesie nur ein schlechter Schwindel.

»Ein Priester?« Der Doktor starrt mich an und jetzt sind seine Augen wirklich grau. Gewitterverhangen. Nach sekundenlangem Schweigen, in denen er abzuwägen scheint, was gewichtiger ist, meine geistige Gesundheit oder das Leben des bereits toten Mädchens, steht er auf und hält mir seine Hand hin, um mir aufzuhelfen. Erst als ich stehe bemerkt er meine nackten Füße, runzelt die Stirn, sagt aber nichts.

»Als ich aufgestanden bin, habe ich mir Schuhe angezogen«, fühle ich mich trotzdem genötigt zu erklären. Inzwischen fühle ich mich in seiner Gegenwart beinahe wie ein Kind, das sich ständig zu rechtfertigen hat. Muss an seiner Aura liegen.

Immerhin sieht sich der Arzt suchend um, während wir Richtung Ausgang gehen und tatsächlich findet er meine Schlappen und schiebt sie mir wortlos mit den Füßen zu, damit ich sofort hineinschlüpfen kann.

»Wie geht es Ihnen sonst?«, erkundigt sich Doc Primus aus heiterem Himmel. So als fiele ihm erst jetzt ein, dass ich eventuell traumatisiert sein könnte.

Ich zucke mit den Schultern. »Seltsam. Losgelöst von mir selbst und vollkommen ohne Gedächtnis bis zu dem Moment an dem ich aufgewacht bin.«

Er nickt wissend.

»Das wird aber nicht immer so sein, oder? So wie in dem Film, in dem sich das Gehirn der Frau jeden Tag rebootet und sie jeden Morgen wieder von vorne anfangen muss …?« Ich starre ihn fragend an, während er die Tür öffnet und mich galant vorgehen lässt.

Doch statt zur Kapelle wendet er sich zu einem verwaisten Empfang, der viel zu prominent ausschaut, aber durch eine Art Sicherheitsglas vom normalen Flur abgetrennt ist. Als er meinen irritierten Blick sieht, meint er: »Wir werden auf keinen Fall in einen Polizeieinsatz platzen oder uns freiwillig irgendwohin begeben, wo jemand mit einer Waffe sein könnte.«

Ich öffne den Mund und will sagen, dass unser Aufstehen dann doch gar keinen Sinn hatte, aber da hat der Doc das Zimmer bereits aufgeschlossen und betreten. Ich folge ihm und bin froh, als die Glastür mit einem lauten Geräusch ins Schloss fällt. Zu. Das Wissen gibt mir das Gefühl von Sicherheit.

Ich sehe zu, wie sich der Doc über einen Stuhl gebeugt, ein Telefon greift und wählt. Nachdem er sich vorgestellt hat, reicht er mir den Hörer und ich erzähle nach seinem auffordernden Nicken in kurzen Worten von dem Mann mit Soutane und Kollar.

»Gut gemacht!«, lobt der Doc das Telefonat, nachdem ich aufgelegt habe, und deutet mir, mich hinter den Tresen zu setzen. »Hier können wir warten. Es ist warm und kugelsicher.«

Mit einer Hand deutet er erklärend auf die Tür, dann auf die Scheibe. »Sicherheitsglas.«

»Wieso glauben Sie, wir bräuchten Schutz?« Nicht zum ersten Mal wundere ich mich, dass das Krankenhaus nicht evakuiert worden ist, obwohl der Täter sich eventuell noch im Inneren aufhält.

»Habe ich nicht gesagt, oder?«, meint er und sieht mich prüfend an. »Aber Sie glauben es, nicht wahr?« Er setzt sich zu mir und ist mir wieder viel zu nahe. Das scheint eine schreckliche Angewohnheit zu sein. »Sie glauben, der Mann hatte es auf Sie abgesehen?!«

»Es wäre leichtsinnig von etwas anderem auszugehen«, meine ich, »also ja.«

»Ich würde ja fragen, was Sie ausgefressen haben, aber Sie erinnern sich ja an nichts«, neckt mich der Arzt und ein Lachen schwingt in seinen Worten mit. Etwas, was mir sehr gefällt. Vielleicht mehr, als gut für eine Patientin ist.

»Ihnen ist kalt«, stellt er mit neutraler Besorgnis fest und ist mit einem Satz auf den Beinen und im Hinterzimmer des Empfangs. Nach kurzer Zeit kehrt er mit einer dieser schrecklich dünnen Krankenhausdecken zurück.

»Es ist aber nicht kalt«, melde ich nach einem raschen Blick auf den Thermostat. Trotz meiner Worte nehme ich die Decke und wickele mich in den glatten Stoff. »Danke!«

»Wenn man unter Schock steht, dann schon.« Da ist es wieder, das innere Amüsieren. So, als habe er mit seinen zehn Jahren, die er geschätzt älter ist als ich, eine Lebensweisheit angehäuft, die mir fremd ist. Als würde ihn die Welt im Großen und Ganzen belustigen.

»Zurück zu meiner Amnesie«, wechsele ich das Thema, weil ich mich schon wieder schuldig fühle, obwohl ich keine Ahnung habe, was los ist.

Die Stimmung des Docs schlägt wieder um, aber nur kurz, dann sind die grauen Wolken verschwunden und haben dem ausdrucksstarken Himmelsblau Platz gemacht. Faszinierend. Genauso faszinierend wie die Tatsache, dass ich mich am liebsten nach vorne beugen möchte, um die letzten Zentimeter zwischen uns zu überbrücken.

»Sie leiden an etwas, was man als retrograde Amnesie bezeichnet. Das heißt, sie können sich an alles erinnern, Politik, Geschichte, eigentlich alles – außer an bestimmte Dinge. In Ihrem Fall scheint es alles zu sein, was Sie selbst betrifft.« Die Erklärung klingt sanft, mitfühlend.

»Also kann ich mich an nichts erinnern? Nicht an meine Wohnung, nicht an meine Freunde, an nichts?«, hake ich ungläubig nach. »Habe ich ein Haustier? Verhungert es gerade?«

»Sagen Sie es mir!«, fordert er und rutscht von mir fort, als falle ihm gerade auf, wie nahe er mir ist – oder ich ihm. Ein bisschen bedauernd stelle ich fest, dass mit mehr Abstand auch der Geruch nach einem paradiesischen Regenguss schwächer wird.

Ich blicke auf die weiße Wand, um mich abzulenken und zu konzentrieren. Doch so sehr ich mich anstrenge, ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß, wer Präsident der Vereinigten Staaten ist, wer Queen Elisabeth II ist, dass sich Meghan und ihr Mann vom Königshaus getrennt haben, und könnte ohne Probleme Nova Scotia auf einer Karte finden. Ich kenne verschiedene Rezepte für Marmeladen und kann mich an Früchte und Anbauweisen erinnern, an afrikanische Stammesgebiete, verschiedene mathematische Formeln und »eine kleine Geschichte der Menschheit« genau wie an einen Exkurs von Stephen Hawking. Trotzdem habe ich keine Ahnung, ob ich ein Tier besitze oder eine Hundeperson oder ein Katzenmensch bin.

Langsam und immer noch nachdenklich schüttele ich den Kopf. Wie kann es möglich sein, dass man ausgerechnet sich selbst vergisst? Und anscheinend alles, was auch nur annähernd mit einem selbst zu tun hat?

»Sie haben keine Tiere«, klärt mich der Arzt auf. »Die Polizei hat das überprüft, als sie ins Krankenhaus gekommen sind.«

»O«, mache ich. Ich hätte schwören können, ich sei ein Mensch, der Tiere liebt, und gerne welche um sich hat. Zumindest lieber als Menschen.

»Wann bin ich hergekommen?«, erkundige ich mich, obwohl mein Blick in Richtung Flur schweift. Er ist menschenleer. Ich kann spüren, wie sich meine Stirn in Falten legt. »Ist das Krankenhaus eigentlich evakuiert worden?«