Die Clans der Seeker (3). Die Tage des Widders - Arwen Elys Dayton - E-Book

Die Clans der Seeker (3). Die Tage des Widders E-Book

Arwen Elys Dayton

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Beschreibung

Quins größter Kampf steht bevor: Gemeinsam mit ihrem Freund Shinobu und dem angehenden Seeker John will sie die Seeker, die doch eigentlich für das Gute stehen, wieder auf ihren ursprünglichen Pfad zurückbringen. Doch dabei werden sie immer weiter in eine schon seit Jahrhunderten andauernde Verschwörung verwickelt. Denn selbst die rachsüchtige Maggie, die für Quin zur größten Bedrohung wird, ist nur eine weitere Schachfigur in einem perfiden Spiel. Kann Quin die Clans dennoch vereinen und in eine friedlichere Ära führen?

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Arwen Elys Dayton

DIE CLANS DER SEEKER

Die Tage des Widders

Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler

1. Auflage 2017 Text © Arwen Elys Dayton 2017 © für die deutsche Ausgabe: Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017 Published by Arrangement with Arwen Elys Dayton Zuerst erschienen unter dem Titel Disruptor bei Delacorte Press, einem Imprint von Random House Children’s Books, New York Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Karte des schottischen Guts © Jeffrey L. Ward 2015 Fuchs- und Widder-Symbol © Shutterstock 2016 Bär-, Keiler-, Adler-, Drachen-, Pferde- und Hirsch-Symbol © John Tomaselli 2016 Cover: unimak ISBN 978-3-401-80549-8

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FÜR ALEXANDRA, weil sie von Tag eins an mein Leben lustiger, chaotischer und sehr viel besser gemacht hat.

Prolog

Die Schwärze des Nicht-Raums schluckte das Licht. Jede Lichtquelle hatte nur eine kurze Reichweite, dann senkte sich Dunkelheit über sie, löschte sie aus, als bestünden diese verborgenen Dimensionen aus schwarzem Wasser.

Dex bewegte sich wie ein Fisch durch dieses Wasser, er durchschnitt die Dunkelheit, ohne innezuhalten, doch niemals schnell. Wie ein Fisch schimmerte er leicht silbrig, als wäre er von glänzenden Schuppen bedeckt. Der Schimmer rührte von dem Steinmedaillon um seinen Hals her, das ein Licht aussandte, so schwach wie der erste, beinahe unsichtbare Glanz der Morgendämmerung. Doch Dex’ Augen hatten gelernt, jegliche Helligkeit aufzunehmen und sparsam einzusetzen, und so vermochte er im Schein der gemeißelten Steinscheibe etwas zu sehen.

Nun, nach Ewigkeiten der Stille, erbebte das Medaillon an seiner Brust, schreckte ihn auf. Es gab nur einen einzigen Grund, weshalb es von allein anfangen würde zu zittern: Ein anderes Medaillon rief und als Antwort darauf vibrierte das von Dex. Behutsam umfasste er die Scheibe und veränderte seinen endlosen Gang durch den Nicht-Raum, um zu sehen, wer kam und ging.

Dex führte ein Pferd am Zügel, das er sanft mit sich zog. Es schien, als wäre er erst vor einigen Momenten auf das Pferd gestoßen. Das Tier war weder wach noch schlief es. Der Nicht-Raum hatte Macht über das Tier, doch nicht auf dieselbe Weise wie über den Menschen. Das Pferd existierte in einem Halbleben, geduldig und gehorsam.

Nach einiger Zeit hörte das Medaillon auf zu beben, doch da konnte Dex schon sehen, wohin er gehen musste. In der Ferne blitzte etwas auf, so hell, dass es ihn blendete. Er sah einen runden Durchgang, der zurück in die Welt führte.

Die Welt. Sie ist immer noch da, brennend unter der Sonne. Sie dreht sich immer weiter.

Wenn er den Durchgang erreichte, würde er erfahren, wer von der alten Familie ihn gerufen hatte. Das Licht war lange, bevor Dex in seine Nähe gelangte, verschwunden – aber das war gleichgültig. Er folgte weiterhin seinem Nachglanz.

Jetzt kam er an der Stelle vorbei, an der für gewöhnlich ein Kreis aus Jungen stand, stumme Wachposten in der Finsternis. Er hatte diese Jungen viele Male gesehen, den Geruch des Todes wahrgenommen, der sie wie ein Nebel umgab. Doch sie waren verschwunden.

Nur eine einsame Gestalt war bei der Ansammlung von Waffen zurückgeblieben, die die Jungen einst bewacht hatten. Dex ging um eine Reihe Disruptoren herum und schauderte unwillkürlich.

Die einsame Gestalt war ein Mädchen. Natürlich waren auch Mädchen im Nicht-Raum hängen geblieben und Dex hatte sie alle gesehen, kannte alles, was es hier an diesem Ort außerhalb der Welt gab. Doch dieses Mädchen war neu. Das Pferd gab einen Laut von sich, ganz leise und schwach, ein Traumwiehern, als hätte es die Fährte von jemandem aufgenommen, den es kannte. Eines seiner samtigen Ohren zuckte.

Dex konnte das Gesicht des Mädchens nicht in allen Einzelheiten erkennen. Nach langem, ängstlichem Abwägen beschloss er, mehr Licht einzusetzen. In der Tasche seines Gewandes stießen seine Finger auf den kühlen Zylinder. Wie lange war er schon da, völlig unbenutzt? Eine Spule aus Zeit, die sich endlos abgewickelt hatte – auch wenn es für ihn nur Tage waren.

Sein Daumen betätigte den Zündmechanismus einmal, zweimal, dreimal … Ein weißes Licht leuchtete auf. Im ersten Augenblick war es heller als die Sonne, wie er sie in Erinnerung hatte. Er wandte den Kopf ab, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Als er wieder hinschauen konnte, betrachtete er das Mädchen eingehend.

Er kannte sie. Auf den ersten Blick war es, als würde er in die Vergangenheit blicken. Oder in sein eigenes Herz.

Doch nein. Dieses Mädchen war nicht jenes Mädchen. Wie auch?

Ihre blassen Wangen waren von starken Gefühlen gerötet und ihre Miene war besorgt – wütend auch. Ihr Mund sah aus, als wäre er mitten im Sprechen erstarrt. Ihre Hände streckten sich nach einem Gefährten aus, der inzwischen nicht mehr da war.

Sie hatte kein Medaillon in der Hand, daher gehörte die Scheibe, die Dex gerufen hatte, wohl jemand anderem – jemandem, der sie hier zurückgelassen hatte und durch den blendenden Durchgang, der sich bereits geschlossen hatte, zurück in die Welt geflüchtet war.

Er berührte den Geist des Mädchens mit seinem eigenen, bewegte die Gedanken, die wie Steine in ihrem Kopf lagen. Ganz langsam kam Bewegung in diese Steine.

Quin, teilte ihm ihr Geist endlich mit.

Die Enttäuschung war überwältigend. Quin. Er hatte gehofft … Dex versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, aber er ließ sich nur widerwillig abschütteln; es war ein anderes Mädchen und sein Name war nicht wichtig. Nur ihre Kleider zählten; sie waren modern, die Nähte zeugten von Fabriken und Maschinen.

Etwas steckte in ihrer Hosentasche. Dex zog vorsichtig ein zerknittertes Päckchen heraus, auf dem Körner und Beeren abgebildet waren. Etwas zu essen. Die Beschriftung war auf Englisch und Chinesisch. Chinesisch konnte er nicht besonders gut lesen, aber modernes Englisch war einfach.

Ein Verfallsdatum stand darauf, das er mehrmals las.

Na also.

»Nun«, sagte er laut. Er staunte über seine Stimme, nachdem er so lange geschwiegen hatte; das einzelne Wort klang wie ein Nebelhorn und verzog seinen Mund in seltsame Formen. Wie viel Zeit war vergangen, seit er zum letzten Mal gesprochen hatte? Hundert Jahre? Tausend? Zehntausend? So lange bestimmt nicht. Versuchsweise sagte er noch einmal etwas: »Es ist Zeit zu gehen.«

Vorsichtig beugte er sich vor. Er legte den Arm um die Taille des Mädchens und hob sie, während er sich wieder aufrichtete, hoch. Sie war vollkommen erstarrt, deshalb balancierte er sie auf seiner Schulter wie einen Holzbalken. Sie stieß gegen Dex’ Metallhelm, doch er saß weiterhin fest auf seinem Kopf, so wie er es getan hatte, seitdem … all dies begonnen hatte.

Er griff nach dem Medaillon, das an seinem Hals hing.

Er würde sich wieder an das Sonnenlicht gewöhnen müssen.

Der Gedanke war Furcht einflößend.

KAPITEL 1

QUIN

Quin trieb völlig ohne Bewusstsein in einem dunklen Ozean. Dann wurde sie sich nach und nach ihrer selbst bewusst. Irgendwoher kam Licht, es war bläulich und gedämpft. Sie lag, der Untergrund unter ihr war hart, uneben und kalt.

Da war jemand. Eine weiche Berührung ihrer Lippen, so sanft und schnell, dass sie sich fragte, ob sie es sich nur eingebildet hatte. Um sie herum waren Geräusche, es klang wie ein sintflutartiger Regen in der Ferne, aber viel zu schnell, so schnell wie der Luftzug auf ihrem Gesicht.

Sie erinnerte sich. Sie und Shinobu waren ins Dort gegangen, doch sie hatte sich selbst verloren und er hatte sie um Hilfe angefleht. Sie musste zurück zu ihm. Sofort!

Quin füllte ihre Lunge mit Luft und sprang auf.

»Bring mich weg, Shinobu!«, sagte sie. »Schneide eine Anomalie!«

Ihre Stimme war langsam und eingerostet, und sie war nicht mehr im Dort. Vor wenigen Sekunden war da noch der Schein einer Laterne gewesen und Shinobus dunkle Gestalt vor ihr, dahinter tiefste Finsternis. Sie hatten herausgefunden, dass der mittlere Dread schon seit Hunderten von Jahren Seeker gegeneinander aufhetzte, wobei er sorgsam darauf geachtet hatte, dass er selbst mit weißer Weste vor den übrigen Dreads dastand, indem er andere dazu brachte, das tatsächliche Morden zu übernehmen. Quin und Shinobu waren ins Dort gegangen, weil sie zu finden hofften, was immer der Mittlere benutzt hatte, um Zwietracht zu säen. Doch wo war sie jetzt?

An einem neuen Ort. In einer Höhle – raue Oberflächen, die von einer Öffnung hoch oben in einer der Wände in ein bläuliches Licht getaucht wurden. Das Licht veränderte sich, als würde es von einem Himmel mit rasch ziehenden Wolken kommen. Das Geräusch war immer noch da, weit weg und nah zugleich, das Geräusch von rauschendem Wasser. Sie konnte Shinobus Silhouette sehen. Er war bei ihr, in eine Ecke des Raumes gedrängt, genauso verwirrt wie sie. Quin stolperte auf ihn zu, merkte, dass ihr Körper nicht so richtig funktionierte. Die Wände taumelten und schwankten – nein, es waren ihre eigenen Muskeln, die nicht funktionierten. Sie erinnerte sich daran, wie der Alte und der mittlere Dread vor Monaten auf dem schottischen Anwesen auf sie zugekommen waren. Ihre Bewegungen waren unstet, nicht im Einklang mit ihrer Umgebung, weil sie jahrelang in den verborgenen Dimensionen verloren gewesen waren. Sie war jetzt wie sie, umtost vom Strom der Zeit.

»Shinobu, wie lange waren wir im Dort?«

Sie berührte mit beiden Händen die dunkle Gestalt in der Ecke. Diese wandte sich ihr zu. Zu schnell. Alles ging zu schnell. Ein Gesicht, das sie nicht kannte, ein junger Mann, der sie überragte. Widerspenstiges Haar und Augen, die im gedämpften Licht der Höhle dunkel waren. Er trug einen Fokal; sein Gesicht war wild. Dieser Mensch war nicht Shinobu und er griff nach Quin.

»Gut, dass du aufgewacht bist.« Er sprach so schnell, dass Quin ihn fast nicht verstanden hätte.

Sie hatte sich im Dort verloren, als sie eigentlich Shinobu hätte im Auge behalten sollen. Waren sie diesem Mann begegnet? Hatte er Shinobu den Fokal abgenommen und Quin verschwinden lassen? Sie machte einen Satz nach hinten, wobei sie versuchte, wieder richtig in der Welt anzukommen. Ihre Hand fand das Messer an ihrer Taille.

»Shinobu? Shinobu?« Vielleicht war er ja ganz in der Nähe.

Der seltsame junge Mann kam zu ihr, bewegte sich viel schneller, als sie es konnte.

»Schon gut«, sagte er.

Gar nichts war gut. Was hatte er mit ihnen gemacht? Wie viel Zeit war vergangen? Quin spürte, wie seine Hand nach ihrem Ellbogen griff. Sie riss sich los, zog ihr Messer – langsam, zu langsam. Die Wände bewegten sich ruckartig, während sie sich abstieß.

»Shinobu, bist du hier? Antworte mir!«

Die Höhle war klein, eher ein erweiterter Durchgang zwischen Felsen als eine richtige Kammer. Sie stolperte den einzigen Weg entlang, den es gab.

»Halt, halt!«, rief der Fremde und klang dabei verärgert und ängstlich zugleich. Der Gang verschmälerte sich schon nach ein paar Schritten dramatisch, doch dann wurde er wieder breiter. Quin quetschte sich durch die engste Stelle, sie bewegte sich wie in einem Traum und fand sich in einer anderen Kammer wieder. Sie hörte ihn hinter sich an der schmalen Stelle, er war zu groß, um ihr leicht folgen zu können.

Das Geräusch war hier lauter, ein Tosen von Wasser in den Felsen, so schnell, als würde man eine Aufnahme auf Schnellvorlauf stellen. Es gab weniger Licht. Quin tastete sich ein paar Meter durch den dunklen Tunnel, die Luft veränderte sich, wurde feucht, während der Lärm noch heftiger in ihren Ohren dröhnte.

»Ich kann dir nicht folgen!«, rief er. »Bitte!« Es lag etwas Schreckliches, beinahe Verzweifeltes in der Art, wie er das sagte.

»Shinobu, bist du hier?« Ihre Stimme war immer noch langsam und schwerfällig.

Wieder wurde der Gang schmaler, inzwischen war der Boden unter ihr dunkel von Wasser und die Luft voller Nebel. Quin trat um eine scharfe Kurve – wurde abrupt in frühmorgendliches Licht getaucht und starrte direkt in einen Abgrund. Der Gang hatte mitten im Nichts geendet und ihr vorderer Fuß hing schon mehrere Zentimeter über der Kante einer Klippe. Tröpfchen hingen in der Atmosphäre, blendeten sie mit Regenbögen. Sie befand sich hinter einem Wasserfall, an der Kante eines senkrechten Abgrunds; dröhnend und widerhallend stürzte das Wasser kaskadenförmig über den zerklüfteten Felsvorsprung über Quin heraus, schoss gen Himmel und fiel dann tief, tief nach unten.

Mit einem Übelkeit erregenden Ruck spürte Quin, wie sie wieder in den Strom der Zeit eintrat. Einen Moment lang fühlte sie sich ganz; dann verlor sie in einem Anflug von Schwindel die Balance. Die Höhe … die Höhe … Sie ließ das Messer fallen, griff nach den Wänden der Felsspalte, in der sie stand. Der Stein unter ihren Fingern war fest, aber ihr Fuß, der über der Kante hing, vermittelte ihr das Gefühl, sie würde fallen. Ihre Knie gaben nach. Von Höhenangst überwältigt, klammerte sie sich, so fest sie konnte, an ihren Halt und flehte sich selbst inständig an, nicht loszulassen.

Hände auf ihren Armen zogen sie von der Kante weg. »Ich habe dich«, sagte der Fremde, seine Stimme war jetzt nicht mehr zu schnell, sondern klang ganz normal. »Du bist in Sicherheit.«

Er hielt sie fest und zusammen stolperten sie dahin zurück, wo sie hergekommen waren. Als sie die enge Stelle erreichten, quetschte sich Quin erneut hindurch und mit einiger Anstrengung folgte er ihr.

An der Stelle, an der sie zu sich gekommen war, ließ sie sich fallen, lehnte den Kopf an die Wand und schlang die Arme um ihre Knie. »Oh Gott«, murmelte sie, während sie sich heftig an den Felsen presste, als könne sie so die Erinnerung daran, wie ihr Fuß über diesem Abgrund gehangen hatte, abwehren.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gesammelt hatte. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, verfolgte, wie er ein- und ausströmte, bis sie wieder sie selbst war. Als sie die Augen aufschlug und die Höhle ins Blickfeld rückte, entdeckte sie, dass der geheimnisvolle junge Fremde ein Stückchen von ihr entfernt kauerte und sie beklommen beobachtete.

»Na endlich«, sagte er. »Ich hatte gehofft, wenn du aufwachst, würde sich das etwas anders gestalten.«

Quin schloss wieder die Augen. Sie fand ihr Messer auf dem Boden neben ihrem Bein. Er musste es für sie geholt haben. Warum hatte er das getan? Sie umklammerte das Heft – es verlieh ihr Stärke; Shinobu hatte ihr diese Klinge geschenkt.

Das Licht in der Höhle wurde heller, sodass Quin allmählich neue Details zu erkennen vermochte. Der Fremde war zwar jung, aber eindeutig älter als sie selbst, vielleicht Mitte zwanzig. Er trug so etwas wie eine Mönchskutte aus grobem braunen Stoff. Auch sein lockiges Haar war braun, ebenso wie seine Augen. Er wäre gut aussehend gewesen, wenn diese Augen nicht gewesen wären, die fast unnatürlich groß waren und wie von einer Macht verzerrt, die ihn im Griff zu haben schien. Sie verliehen seinem Gesicht etwas Bedrohliches.

»Sollte ich es persönlich nehmen, dass du dich lieber in den Tod stürzen würdest, anstatt mit mir in einem Raum zu sitzen?«, fragte er. Es war ein Scherz, auch wenn er weder amüsiert noch entspannt aussah.

»Hast du mich aus dem Dort geholt?«, fragte sie ihn, während sie mit jedem Moment, der verstrich, mehr zu sich kam.

»Du warst im Nicht-Raum gestrandet.«

Sie hatte diesen Ausdruck nie zuvor gehört, doch sie wusste sofort, dass es ein anderes Wort für die verborgenen Dimensionen war.

»Shinobu war bei mir.«

»Nein, war er nicht. Ich kenne den Nicht-Raum besser als meine Westentasche. Er war weg, bevor ich dich gefunden habe.« Seine Stimme zitterte, Quin wusste jedoch nicht, ob vor Angst oder vor Wut. Etwas stimmte nicht mit ihm.

Offensichtlich war er ein Seeker und sie würde herausfinden, was er getan hatte. War er ein Handlanger im Spiel des mittleren Dreads, um alle Seeker gegeneinander aufzuhetzen? »Hast du ihm seinen Fokal weggenommen?«, wollte sie wissen und blickte dabei in seine wilden Augen. »Hast du Shinobu hilflos im Dort zurückgelassen?«

»Wenn er dort war, dann ist er weggegangen, bevor ich dich gefunden habe. Und du …« Er sah aufgewühlt aus, durch ihre Frage verletzt. »Es ist mein Fokal. Er hat schon immer mir gehört. Ich habe dich gerettet.«

Quin ging noch mal die verschwommenen, langsamen letzten Momente mit Shinobu durch. Er war in Schwierigkeiten gewesen. Er hatte gewollt, dass sie ihm den Fokal abnahm, aber sie war nicht mehr in der Lage gewesen, sich zu bewegen.

Schweigend betrachtete sie den verstimmt dreinblickenden jungen Fremden und ihr wurde klar, dass es absolut denkbar war: Womöglich hatte Shinobu irgendetwas völlig Verrücktes unternommen. Es war ihre Aufgabe gewesen, ihn im Auge zu behalten, sicherzustellen, dass die Gedanken des Fokals nicht seine eigenen überwältigten. Wenn dieser Fremde die Wahrheit sagte, dann hatte Quin sich selbst verloren und danach hatte sie irgendwo auch Shinobu verloren.

»Wo sind wir jetzt?«, fragte sie, wobei sie versuchte, nicht so vorwurfsvoll zu klingen. Vielleicht hatte dieser Mensch sie ja tatsächlich gerettet.

»Wir sind in der Welt«, antwortete er in ehrfürchtigem Tonfall, als könnte er gar nicht an die Welt glauben. Als wäre dies sein erster Besuch hier.

»Und wo …?«, fragte sie.

»Du willst einen Ortsnamen, irgendetwas Konkretes.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann in diesen Kategorien nicht denken. Gib mir Zeit!«

Seine Stimme zitterte heftig. Sie merkte, dass er sich große Mühe gab, sich zusammenzureißen, aber er sah aus, als könnte er jeden Moment die Nerven verlieren.

Quin musterte ihn jetzt genauer, um ihn als Gegner einzuschätzen. Er war kräftig, mit Sicherheit erheblich schwerer als sie, und er war beweglich. Sie war unter Kämpfern aufgewachsen und erkannte einen gefährlichen Mann, wenn sie ihn sah.

»Ich werde dir nichts zuleide tun«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Du kannst das Messer, das du da umklammerst, ruhig behalten. Es macht mir nichts aus. Ich habe Stunden gewartet, bis du aufgewacht bist. Wenn ich dir etwas hätte antun wollen, dann hätte ich das längst getan. Ich kämpfe nicht gern.«

Seine Worte klangen aufrichtig. Trotz seines wilden Blickes war sie geneigt, ihm ein gewisses Maß an Vertrauen zu schenken. Nur weil er unausgeglichen war, hieß das nicht notwendigerweise, dass er böse war.

»Wer bist du? Zu welchem Haus gehörst du?«, fragte sie ihn. »Wo hast du deine Ausbildung zum Seeker gemacht?«

»Ich komme nicht so schnell auf konkrete Dinge.«

»Aber dein Name …?«

»Ich habe deine Kleider und dein Essen gesehen und gewusst, dass es an der Zeit ist«, sagte er verärgert. Offenbar hatte sie ihn zu sehr unter Druck gesetzt. Sie beobachtete, wie er sich erneut zusammenriss, doch seine Stimme schwankte, als er hinzufügte: »Deine Kleider und dieses Essen sind modern. So modern, wie sie für meine Zwecke sein müssen.« Er deutete auf einen eingepackten Müsliriegel, der auf dem Boden lag; Quin erinnerte sich vage daran, ihn sich irgendwann in die Tasche gestopft zu haben. Vorsichtig rutschte er etwas näher. »Würde es dich stören, wenn ich deine Hand nähme?«

»Was?« Fragte er, ob er ihre Hand halten durfte, oder war er so verrückt, dass er um Erlaubnis bat, sie ihr wegzunehmen? Sie umklammerte den Griff des Messers noch fester.

Er lachte überrascht auf. »Deine Hand halte«, korrigierte er sich. »Ich meinte damit nicht, dass ich sie abschneiden will. Ich frage nur, weil ich nicht an so viel Licht gewöhnt bin. I-ich habe keine Waffen bei mir, auch wenn es in der Höhle welche gibt. Und Wunder.«

Was bedeutete das? Als hätte der Himmel ihre Frage gehört, veränderte sich mit einem Schlag das Licht. Die Wolken draußen hatten sich geteilt und im goldenen Sonnenschein, der nun durch das natürliche Fenster im Felsen hereinfiel, konnte Quin jetzt auch ihre Umgebung endlich deutlich wahrnehmen. Der Raum, in dem die beiden saßen, war groß genug für sechs oder sieben Leute, zumindest wenn sie sich eng aneinanderdrängten. Außer dem Klippenabgrund zu ihrer Linken gab es keinen Weg hinaus. Sie entdeckte einige Peitschenschwerter in der Nähe, zusammen mit ein paar anderen Gegenständen – seltsamen Objekten, die sie nicht kannte und die aus Stein und Glas bestanden; Gegenstände, die uralt und zugleich faszinierend aussahen – wie Dinge, die die junge Dread mit sich herumtragen mochte; wie Dinge, über die Quins Vater ihr während ihrer Ausbildung zum Seeker etwas hätte erzählen sollen. Wunder hatte dieser Fremde sie genannt.

Er rückte immer näher, wich dabei einem Sonnenstrahl aus, als wäre er Gift. Im helleren Licht konnte sie seinen Fokal deutlicher sehen und hörte seine Energie knistern. Es stimmte: Das war nicht Shinobus Helm. Er sah ganz anders aus, war größer, vielleicht primitiver, und ein D war an der Schläfe eingeschmolzen, von einem Kind, nahm sie an, als sie die ungleichmäßige Form des Buchstabens sah.

»Ich sagte doch, dass das mein Fokal ist«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. »Er ist der älteste, den es gibt.«

Seine große Hand umfasste die ihre und Quin ließ es zu, weil sie über das, was er gerade gesagt hatte, nachdachte: Sein Fokal war der älteste Fokal? Zu welchem Clan gehörte er demnach? Und wie war er auf all diese herumliegenden Artefakte gestoßen?

»Ich brauche deine ruhige Hand«, sagte er. Er warf einen Blick auf das Sonnenlicht, das nur ein paar Zentimeter von seiner Schulter entfernt auf die Wand fiel.

»Machst du dir Sorgen, dass es dich verbrennt?«

»Ein wenig.« Er holte tief Luft, atmete aus und ein, während er mit beiden Händen ihre Hand drückte. »Nimmst du mir den Helm ab? Man kann ihm nicht entrinnen – er muss abgenommen werden. Und dann können wir hier raus.«

Der Gedanke wegzugehen, erfüllte ihn sichtlich mit Entsetzen, doch Quin verlieh er neue Energie. Sie hatte keinen Athame und musste sich daher mit diesem unberechenbaren Fremden als Begleiter abfinden, wenn sie an irgendeinen – jeden beliebigen – vertrauten Ort gelangen und nach Shinobu suchen wollte.

Nachdem sie ihre Hand befreit hatte, nahm sie ihm behutsam den Fokal ab, während er sich auf den Schmerz gefasst machte und sie aus gequälten Augen ansah. Sobald sie den Helm entfernt hatte, brach er zusammen und presste seine Stirn an den Boden. Als sie den Helm abstellte, hörte sie das Summen, als die Energieströme sich wie ein Schwarm sterbender Bienen von dem jungen Mann lösten.

Quin schnappte nur ein paar der gemurmelten Worte auf, die durch seine zusammengebissenen Zähne entwichen: »… Es sollte fokussieren … ich wollte nie, dass es zerreißt … hätte es besser machen sollen …« Er redete, als hätte er eine lange und bewegte Geschichte mit dem Fokal hinter sich, und sie fragte sich, ob der Helm die gleiche Wirkung auf ihn hatte wie auf Shinobu.

»Stopp! Komm her«, sagte sie. Er hatte sich an dem zerklüfteten Boden eine Wunde an der Schläfe zugefügt. Sie zog seinen Kopf nach oben, und als er ihre Berührung spürte, klammerte er sich an sie wie ein Ertrinkender, der nach einem Stück Treibholz greift.

»Ich hasse es, ihn zu tragen, und ich hasse es, ihn abzunehmen«, murmelte er. »Und das Sonnenlicht tut weh.«

Sie beruhigte ihn, indem sie ihm die Hand auf die Wange legte. Dann verlagerte sie ihr Sehvermögen in die Sicht der Heilerin, wie Meister Tan es ihr in Hongkong beigebracht hatte.

Als ihr Blick verschwamm, konnte sie die Energielinien erkennen, die um seinen Körper strömten, helle kupferrote Ströme, die ein wenig unter der Ebene des normalen Sehens lagen. Bei einem normalen Menschen flossen diese Linien langsam, in einem regelmäßigen Muster, und als Heilerin hatte Quin gelernt, sie zu manipulieren. Bei ihm jedoch sah sie etwas völlig anderes. Aus seiner rechten Schläfe brach ein heller Schwall hervor, der sich rasch abwärts über seinen Körper ergoss, bis ganz nach links zu seiner Hüfte, wo er sich zu einem einzelnen Strom verband, der in dem jungen Mann verschwand. Er war selbst wie ein Wasserfall, brachiale Ausbrüche fielen immer wieder in Kaskaden in ihn hinein und aus ihm heraus, von der Schläfe zur Hüfte. Sein Entsetzen und seine ausweichenden Antworten wirkten dadurch weit weniger mysteriös; es konnte nicht angenehm sein, mit einem solchen Energiemuster zu leben.

Quin fragte sich, ob sie ihn würde heilen können. Doch als sie ein paar Sekunden lang dieses lebhafte, wilde Strömen beobachtet hatte, verwarf sie diesen Gedanken. Ein solches Muster hatte sie noch nie gesehen und sie bezweifelte, dass sie die Fähigkeiten hatte, es zu verändern. Sie würde sich damit begnügen müssen, ihm gut zuzureden, bis er sie aus dieser Höhle hinausführte.

Endlich wurde er ruhiger, woraufhin sie ihre Augen zurück in ihre normale Sehweise entließ. Ihr fiel auf, dass diese seltsamen Energielinien ihre Spuren hinterlassen hatten. Ein Haarbüschel über seiner rechten Schläfe war völlig farblos, beinahe durchsichtig, als wäre es tot. Sie fragte sich, ob sie links an seiner Hüfte ein entsprechendes Mal finden würde.

»Danke, dass du zu mir zurückgekommen bist«, flüsterte er.

»Du hast mich gefunden«, sagte sie sanft. »Und vielleicht wirst du mir helfen, Shinobu zu finden.«

»Schhh…« Er ließ sie los, legte sich auf den Boden der Höhle und starrte zu ihrem Dach hinauf.

Er sah erschöpft aus, aber wenigstens nicht mehr verstört. Irgendwie kamen ihr seine feinen Gesichtszüge bekannt vor, stellte sie fest, während sie ihn musterte. Ihm haftete etwas altmodisch Vornehmes an, aber sie konnte nicht so recht den Finger darauf legen, wodurch genau dieser Eindruck entstand. Vielleicht lag es an den herunterhängenden Haaren, die zwar recht zottelig waren, jedoch aussahen wie die Locken eines dieser mittelalterlichen Ritter in den uralten Romanen ihrer Mutter.

»Wir sind jetzt beide am Leben, Quilla«, flüsterte er in einem ganz anderen Tonfall als bisher. Quilla. War dies der Name eines Mädchens, das er geliebt hatte? »Ich kann es kaum glauben.«

Sie versuchte, ihre Stimme an diesen sanften Tonfall anzupassen, als sie sagte: »Wo ist dein Athame?«

»Ich habe keinen Athame, ich brauch ein so grobes Werkzeug nicht.«

Sie hatte noch nie gehört, dass ein Seeker einen Athame auf diese Weise beschrieben hatte – als wäre es etwas Minderwertiges. »Wie sind wir dann hierhergekommen?«

»Auf die übliche Weise«, flüsterte er und legte sich die Hand aufs Herz. Etwas in dieser Geste deutete an, dass er durch und durch verrückt war. Und doch waren da Spuren von Informationen, denen Quin nachgehen wollte. Hatte er sie ohne einen Athame aus dem Dort zurückgebracht? Sie war von Shinobu getrennt worden, als sie gerade dabei waren, die lang verborgenen Geheimnisse der Seeker zu entdecken. War sie nun auf jemanden getroffen, der ihr einige der Antworten liefern konnte?

»Was ist ›die übliche Weise‹?«, fragte sie behutsam, in der Hoffnung, mit einer vorsichtigen Frage seine Schutzmauern umgehen zu können.

Abrupt wandte er sich zu ihr um. »Du weißt, dass ich es dir sagen will. Ich wäre für dich gestorben, wenn es mir nur gelungen wäre, rechtzeitig bei dir zu sein.« Er sprach in einem Tonfall liebevoller Vertrautheit mit ihr, als würden sie jede Kleinigkeit voneinander wissen. »Ich wünschte, du und Adelaide wärt anstatt meiner am Leben, Quilla.«

»Ich … ich bin nicht Quilla«, sagte sie leise; Trauer überkam sie, nachdem sie einen Blick auf seine Geschichte erhascht hatte. Plötzlich erinnerte sie sich an den leichten, warmen Druck, den sie auf ihren Lippen gespürt hatte, als sie aufgewacht war. »Hast du mich vorhin geküsst?«

»Du bist wie sie«, sagte er, als wäre er in Trance. »Was, wenn du sie bist?«

Sie berührte ihn an der Schulter. »Ich bin Quin.«

Er sah verwirrt aus, ließ sich jedoch nicht beirren. »Aber wirst du mir helfen?«

»Ich muss …«

»Hör auf, mir von Shinobu zu erzählen!«, schrie er wild. Mit einer ungestümen Bewegung setzte er sich auf und funkelte sie an. »Wer immer er ist, ich werde ihn finden, wenn es das ist, was du willst. Ich bitte dich nur zuerst um ein wenig Hilfe!«

Quin schluckte eine Antwort hinunter. Sie brauchte ihn, um aus dieser Höhle hinauszukommen, und dann musste sie Shinobu finden und ihn davon abhalten, etwas Verrücktes zu tun. Doch als sie sich wieder die Glas-und-Stein-»Wunder« anschaute und den seltsamen Fokal, den ihr Begleiter getragen hatte, merkte sie, dass sie bereits eine Entscheidung getroffen hatte. Sie und Shinobu würden beide von diesem wilden jungen Mann lernen wollen, wenn sie nur entdecken könnten, was unter seinem Wahnsinn verborgen lag.

»Wer bist du?«, fragte sie ihn vorsichtig.

Der Blick, den er ihr zuwarf, war wie eine körperliche Kraft, schwer und ungemütlich. Er sah aus, als müsste er sich dazu durchringen, freundlich zu sein. »Ich heiße Dex«, sagte er schließlich, als er sich wieder im Griff hatte. »Wir können jetzt gehen, wenn du willst. Ich weiß, dass die meisten Leute enge dunkle Räume nicht so sehr mögen wie ich.«

»Wie kommen wir hier raus?«

Suchend ließ er den Blick über den Boden schweifen und sammelte dann die Wunder ein. »Nimm sie als eine Art Versprechen. Du hilfst mir und ich verspreche, dass ich dir ebenfalls helfe.«

Sie nahm die Gegenstände an sich und fragte: »Sind das alte Seeker-Werkzeuge?«

Ihre Gelassenheit wirkte beruhigend auf ihn. »Zumindest sind sie genauso alt«, sagte er. »Sie müssen in einem großen offenen Raum benutzt werden, deshalb brauche ich dich. Ich werde dich die Dinge lehren, die ich dich früher nicht lehren wollte.«

Ganz langsam, als hätte er Angst, verletzt zu werden, streckte Dex seine linke Hand in den Sonnenstrahl, der durch die Öffnung fiel. Als die Sonne auf seine Haut fiel, sah Quin einen winzigen Gegenstand aus Glas und Stein, der über seinen Mittelfinger gestülpt war und in seiner Handfläche lag.

»Was ist das?«

»Sie alle zu fangen, wird nicht einfach sein. Aber sie müssen gefangen werden, Quilla.« Er blickte mit seinen großen braunen Augen auf sie hinunter und Quin dachte flüchtig, dass Quilla – wer auch immer sie gewesen war – die Wärme dieses Blickes genossen haben musste, ganz egal, wie verrückt er war. »Sie haben es gründlich vermasselt und es ist Zeit, dass dies ein Ende hat.«

Sie würde Dex nicht fragen, von wem er da redete. Sie hatte ihn, wie sie annahm, bereits an den Rand der Verzweiflung getrieben. Er hatte gesagt, dass sie weggehen würden – sie konnte die Klappe halten, bis er ihr gezeigt hatte, wie.

Doch als er seine linke Hand wieder aus dem Sonnenlicht nahm und sie stattdessen um ihren Nacken legte, schreckte sie zurück.

»Nicht …«

»Ich will dich nicht küssen«, versicherte er leise, der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Seine Hand lag in ihrem Nacken und der warme Stein des seltsamen Gegenstands in seiner Handfläche drückte sich in ihre Haut.

Eine Schockwelle wanderte durch ihre Wirbelsäule hinauf in ihren Kopf. Quin wurde schlaff in seinen Händen und verlor beinahe sofort das Bewusstsein.

KAPITEL 2

SHINOBU

Shinobu stand auf dem abbröckelnden Sims und kaute auf seinen Fingernägeln herum, während er sich das Chaos ansah, das er verursacht hatte. Zwanzig Watcher – zwanzig! – lagen auf dem zerklüfteten Boden von Dun Tarm. Die Festungsruine ragte ins Wasser von Loch Tarm und die Hälfte des Gebäudes war eingestürzt und in den See gerutscht. Was übrig war, war nach oben hin überwiegend offen, der Boden ein Patchwork aus alten Steinplatten; sie waren löchrig, aus den Fugen geraten und mit Moos und Pfützen bedeckt. Zwischen den Steinplatten wuchsen sogar Bäume, knorrige, verkrüppelte Eichen mit hellgrünen Frühlingstrieben.

Shinobu stand mit dem Rücken zum kalten Wasser und den Granitgipfeln, die sich jenseits des Sees erhoben. Es war ein schöner, milder Tag und die Sonne, die hier und da zwischen den dräuenden Wolken hervorblitzte, streichelte seinen Rücken mit der Wärme des späten Frühlings. Nichts davon bemerkte er. Er beobachtete die Watcher. Sie lagen noch in der gleichen unnatürlichen Haltung da – genau so, wie er sie abgelegt hatte, als er sie mit in die Welt gebracht hatte. Sie waren so reglos, als hätte man sie aus den ausrangierten Steinen von Dun Tarm gemeißelt. Dann jedoch, ganz langsam, einer nach dem anderen, wurden ihre Posen entspannter und natürlicher, als sie wieder in den Strom der Zeit eintraten. Sobald ihnen das gelungen war, wären sie wach und gefährlich.

Das ist Wahnsinn.

Nein. So sorge ich dafür, dass Quin in Sicherheit ist. Ich zähme diese Jungen und setze sie für meine Zwecke ein.

Sein Gehirn stritt mit sich selbst, das tat es inzwischen fast dauernd.

Er steckte die Hand in die Tasche seines Umhangs und zog das Medaillon heraus. Es handelte sich dabei um eine Steinscheibe von etwa zehn Zentimetern Durchmesser, die in der Mitte ungefähr zweieinhalb Zentimeter dick war. Jetzt, wo er es im hellen Sonnenlicht betrachtete, fielen ihm mehr Einzelheiten auf. Vorne war das Symbol der Dreads zu erkennen, drei ineinandergreifende Ovale. Die Rückseite war pockennarbig und zerkratzt; oder vielleicht nicht zerkratzt – es sah eher aus, als wären Linien eingeätzt, die konzentrische Kreise bildeten. Und da war noch etwas: Hatte das Medaillon vorhin vibriert? Er hatte sich darauf konzentriert, alle Watcher mitzunehmen – aber hatte er nicht gespürt, wie es in seiner Tasche gebebt hatte, als er in der Finsternis des Dort war?

Das Medaillon wog schwer vor lauter unbekannten Eigenschaften. Alles, was Shinobu wusste, war, dass es ein Talisman war, mit dem diese Jungs im Zaum gehalten werden konnten. Es hatte dem mittleren Dread gehört und die Watcher hatten Shinobu bereits gezeigt, dass sie es als Symbol der Autorität respektierten. Dank ihm war er ihr Meister, genau wie es der mittlere Dread gewesen war. Als er alle zwanzig Watcher ansah, hatte er jedoch seine Zweifel. Er hatte einmal gegen vier von ihnen gekämpft, zusammen mit Quin, und Quin war nur knapp mit dem Leben davongekommen.

Warum will ich diese Watcher bei mir haben? Sie sind gefährlich.

Quin will die Geschichte der Seeker verstehen. Wenn diese Jungen dabei nicht auf unserer Seite sind, sind sie gegen uns.

»Aber Quin ist nicht da, um mir auf die Finger zu schauen«, flüsterte er laut. Plötzlich presste er fest die Lippen zusammen, als würde das verhindern, dass die Jungen hörten, was er gesagt hatte.

Du hast sie im Dort gelassen, damit sie in Sicherheit ist.

Ich habe sie verlassen. Ich habe sie verlassen.

Die Hand eines der Jungen zuckte. Der Fuß eines anderen Jungen bewegte sich auf dem Steinboden; ein Kopf ruckte zur Seite. Sie waren fast wach. Sie trugen dunkle, kratzig aussehende Umhänge, wodurch sie aussahen, als hätte der mittlere Dread sie allesamt in mittelalterlichen europäischen Dörfern gefunden. Doch ihrem Aussehen nach mussten sie von überallher aus der Welt stammen – Asien, Afrika, Amerika, woher auch immer. Sie erfüllten die Luft mit dem Geruch des Todes, der, wie Shinobu herausgefunden hatte, von kleinen Stückchen verrottenden Tierfleisches herrührte, die sie in ihren Taschen mit sich herumtrugen.

Sie sind schauderhaft.

Er wollte sich mit der Hand durch die Haare streichen, wurde jedoch von dem metallischen Fokal daran gehindert. Wie lange trug er ihn jetzt schon? Er sollte den Überblick behalten.

Warum war die Sonne so warm? Schottland war kalt gewesen, als er und Quin zum letzten Mal hier gewesen waren. Wann war das gewesen?

Wie lange ist sie schon allein in der Dunkelheit?

Jeder Moment im Dort ist sicherer als hier.

Ist das so?

Ein Junge in der Nähe stöhnte und tastete nach seinen Messern. Ein anderer murmelte etwas. Dann regten sich plötzlich zwanzig Jungen, zwanzig Augenpaare wurden aufgeschlagen und hefteten den Blick auf Shinobu.

KAPITEL 3

QUIN

Wie lange ist sie schon allein in der Dunkelheit?, fragte Shinobu. Er klang, als wäre er weit weg und verwirrt. Jeder Moment im Dort ist sicherer als hier.

Ist das so?, versuchte Quin zu fragen.

»Quin, willst du aus dieser Höhle heraus?«

Sie war wach und hatte es plötzlich eilig. Noch immer war in den Felsen, die sie umgaben, das Dröhnen des Wasserfalls zu hören, aber da war ein weiteres Geräusch – ein tiefes, leises Brummen durchdrang ihre Lunge und ihren Magen, sodass ihr beinahe übel wurde. Quin setzte sich auf und hielt sich die Ohren zu.

»Komm!«, brüllte Dex so laut, dass er die widerstreitenden Vibrationen in der Luft übertönte.

Direkt hinter ihm, wo eigentlich die Höhlenwand hätte sein sollen, war etwas ganz anderes. Es war, als wären die Felsen herausgerissen und durch Finsternis ersetzt worden.

Nein, nicht direkt Finsternis.

»Ist das eine Anomalie?!«, rief Quin, während sie zu begreifen suchte, was sie da sah. Wieso war sie eingeschlafen? Das Geräusch lenkte sie zu sehr ab – sie wusste, dass sie etwas vergessen hatte.

»Meinst du eine Öffnung in den Nicht-Raum?«, schrie Dex zurück. »Ja, ist es! Und wenn sie offen ist, dann ist dies der stärkste Ton im Summen des Universums.«

Die Öffnung war größer als jede Anomalie, die Quin je gesehen hatte. Die ganze Wand war verschwunden und anstatt eines runden Umrisses, wie er erschien, wenn man eine Anomalie mit einem Athame schnitt, waren die glühenden Ränder dieser Öffnung dicker und hatten die Form eines riesigen Halbkreises; es sah aus wie ein Tunnel, der in den Berg getrieben worden war, Lichtstreifen waren nach hinten verwischt und führten tief in diesen Tunnel hinein.

Dex zog sie auf die Beine. Quin blieb vor dem weiß glühenden, wallenden Umriss stehen und blickte zur Decke hinauf, die der Bogen der Anomalie teilte. »Du hast mich das Bewusstsein verlieren lassen«, sagte sie, weil sie sich inzwischen wieder daran erinnerte. »Warum hast du das getan?«

Dex war höflich genug, ein wenig betreten auszusehen. »Weißt du, ich soll dir nicht zeigen, wie es funktioniert.«

Mehr würde sie als Entschuldigung nicht erhalten. »Wie …« Sie suchte nach der Frage. »Wie lange ist sie schon offen? Fällt sie nicht zu?« Aus ihrer Ausbildung wusste sie, dass man Anomalien rasch und vorsichtig benutzte.

Dex schüttelte den Kopf. Er hatte seinen Fokal nicht auf; er hing an seinem Rücken, an einem Lederriemen um seinen Hals. Seine zotteligen braunen Locken hingen ihm ins Gesicht, wodurch er auf einmal viel jungenhafter aussah – und er wirkte ängstlich. Er deutete auf den Boden der Höhle.

»Sie wird erst in sich zusammenfallen, wenn ich sie einstürzen lasse«, erklärte er. Neben Quins Füßen lag eine kleine Steinscheibe. Sie erkannte sie – es war das Medaillon, das Shinobu ihr in der Scheune auf der Klippe gezeigt hatte. Es lag in der Mitte der flachen Basis des glühenden Halbkreises; die Anomalie strömte aus dieser Scheibe heraus.

»Wo hast du das her?«, fragte sie ihn.

Dex zog sie vorwärts. »Bitte, sonst verliere ich noch die Nerven.«

Sie schüttelte ihn ab und beugte sich vor, um sich die Scheibe genauer anzuschauen. Es war doch nicht Shinobus Medaillon. Genau wie in Shinobus Medaillon war zwar das Symbol der Dreads eingeritzt – drei ineinandergreifende Ovale –, doch das Muster am Rand war ein anderes. Dex hatte es Shinobu nicht gestohlen; insofern hatte er sie nicht angelogen und sie hatte ohnehin keine andere Wahl, als mit ihm zu gehen.

Sie erlaubte Dex, sie zu führen, und zusammen traten sie über die Schwelle. Diese war mit Sicherheit mehr als dreißig Zentimeter breit, ein helles Band aus zischender, wirbelnder Energie. Quin hielt den Atem an, als sie das betrat, was eigentlich die vertraute Finsternis des Dazwischen sein sollte.

»Es ist nicht dunkel«, sagte sie überrascht. Das Licht, das der Rand der Anomalie aussandte, strahlte auf beiden Seiten wie verschwommene Orientierungslichter in einem Tunnel.

Dex lächelte sie an, ein erfahrener Entdecker mit einer unwissenden Gefährtin. Er beugte sich über das Medaillon und stellte die Scheibe zwischen seinen Händen durch eine winzige Drehbewegung etwas anders ein. Als er das Medaillon hochhob, verzerrte sich der Raum, als würde sich ein Wassertropfen mit anderen Tropfen vereinen und seine Form ändern. Auf einmal war die Höhlenöffnung weit hinter ihnen und sie waren tief in dem dunklen Tunnel.

Im Vergleich zu dem Medaillon in seinen Händen war ein Athame … ein grobes Werkzeug, genau wie Dex gesagt hatte. Die Scheibe beeinflusste das Dazwischen so, wie ein Töpfer seinen Ton bearbeitete.

Das Medaillon in der offenen Hand, lief Dex los. Die verschwommenen Lichtspuren auf beiden Seiten nahmen Gestalt an. Quin sah die Felsklippe, in der sie gewesen waren, das Wasser oben am Wasserfall, Gras und Sonnenlicht. Diese Dinge waren in der Finsternis erkennbar, als würde die Landschaft hinter einem dunklen Vorhang um sie und Dex herumfließen, als würde sich der Tunnel, in dem sie sich befanden, durch die Welt schieben.

Sie erkannte sofort, wo sie waren. Die Landschaft, die sich hinter dieser hoch gelegenen Wiese erstreckte, war das schottische Anwesen. Es war der Wasserfall, den Shinobu und sie ein Dutzend Mal besucht hatten, als sie noch Kinder gewesen waren. Bisher war sie immer nur bis zu dem Teich an seinem Fuß gekommen und hatte nichts von der verborgenen Höhle gewusst, zu der Dex sie gebracht hatte. Es war, als würde er das Anwesen besser kennen als Quin, die den Großteil ihres Lebens hier verbracht hatte.

»Wir sind durch die Klippe hindurchgegangen und oben gelandet?«, fragte sie ungläubig.

»In gewisser Weise.« Dex hatte den Blick von der Aussicht abgewandt. »Die verborgenen Dimensionen sind an jeder Stelle unserer Welt zusammengerollt. Mit einem Athame kann man sie alle auf einmal entfalten oder man kann sie hiermit im Vorangehen entfalten.« Er hielt ihr das Medaillon hin.

Dann nahm Dex weitere Einstellungen an der Steinscheibe vor.

»Schau«, sagte er. Zugleich mit den Veränderungen am Medaillon wurde der Vorhang zu ihrer Linken weniger greifbar und die Formen wurden deutlicher. Quin konnte eine hoch gelegene, offene Wiese sehen, die von frühlingsgrünem Gras bedeckt war. Der breite Fluss über den Wasserfällen floss durch sie hindurch. Und dort, am Wasser …

»Yellen?«, flüsterte Quin erstaunt.

Das Pferd graste die langen Halme ab. Quin konnte die ungleichmäßige Blesse ausmachen, die sich über die breite rötlich braune Stirn zog. Das war zweifellos Yellen.

Sie hatte ihr Pferd vor zwei Jahren aus den Augen verloren, als sie auf seinem Rücken durch eine Anomalie gesprungen war; so war sie während Johns Angriff vom Anwesen geflohen. Quin hatte eine Schusswunde in der Brust gehabt und war mit Shinobu verheddert gewesen, keiner von ihnen hatte gewusst, was aus ihrem Pferd geworden war.

»Wie ist er hierhergekommen? Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.«

»Ich bin im Nicht-Raum auf ihn gestoßen«, sagte Dex, als ob ihm so etwas andauernd passieren würde. »Ruf ihn doch, wenn du willst.«

»Yellen!«

Das Pferd hob den Kopf, seine Ohren zuckten in ihre Richtung, dann wieherte es. Sie pfiff und klatschte rasch hintereinander in die Hände, so wie sie es getan hatte, als sie zehn Jahre alt gewesen war und Yellen beigebracht hatte, zu ihr zu kommen. Das Pferd näherte sich misstrauisch, offenbar konnte es Quin nicht sehen, auch wenn sie es deutlich erkennen konnte. Es trug immer noch sein Zaumzeug, dasselbe, das sie ihm vor zwei Jahren angelegt hatte. Sie lockte es mit ihrer Stimme weiter an, bis es den Kopf durch den hauchdünnen Nebel streckte und seine Nüstern ihre Hand berührten.

»Komm her«, flüsterte sie und zog ihn vollends in die Anomalie. Yellen wieherte und Quin legte ihre Stirn an seine, überglücklich, ihn wiedergefunden zu haben. Es war, als hätte sie einen Teil ihrer selbst wiedergefunden, den sie verlegt hatte.

Sobald er ganz und gar bei ihnen in dem seltsamen Tunnel war, schwand die helle Wiese allmählich. Dex verstellte das Medaillon erneut und lief wieder los. Quin folgte ihm mit ihrem Pferd und beruhigte es, als es nervös den Kopf nach hinten warf. Schon bald wurde es jedoch fügsam und folgte ihr problemlos.

Spuren der Welt zogen auf beiden Seiten geisterhaft an ihnen vorbei. Es war, als würden sie innerhalb des Tunnels durch die Welt gehen, aber auch so, als würde die Welt um sie herum vorbeiziehen.

Quins Gedanken wanderten immer wieder zurück zu Shinobu und sie fragte sich, wo er war und wie sie ihn finden würde. Doch der Tanz, den Dex zwischen der Welt und den verborgenen Dimensionen des Dort aufführte, überstieg alles, was sie sich vorstellen konnte, und unwillkürlich verlor sie sich in diesem Erlebnis, während sich die Dimensionen um sie herum entfalteten.

KAPITEL 4

QUIN

»Darf ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte Dex und riss Quin damit aus ihren Gedanken, während sie Yellen hinter ihm herführte. Dex hatte sich sichtlich entspannt, seit die Wiese und der Fluss hinter dem dicken Vorhang der Dunkelheit verblasst waren, der die Grenzen ihres Tunnels darstellte. »Es wird mir helfen und du findest sie vielleicht interessant.«

»Also gut.« Die Chance, dass seine Geschichte einen Sinn ergab, war gering, aber sie wollte alles hören, was Dex zu sagen hatte, in der Hoffnung, ein paar nützliche Körnchen Wahrheit zu sammeln. Die mühelose Benutzung des Medaillons in seiner Hand war ein Beleg dafür, dass er weit gründlicher zum Seeker ausgebildet worden war als Quin.

»Es war einmal ein Mann, und zwar in England – einem anderen England als das, das du finden würdest, wenn du jetzt nach Süden reist, denn es war vor dieser Zeit«, begann Dex. Er warf ihr einen Blick zu, vielleicht um sich zu vergewissern, dass sie seiner Erzählung die angemessene Aufmerksamkeit zollte, dann senkte er den Blick wieder. »Aber trotzdem war es England. Dieser Mann – Quilla, kannst du dir das vorstellen? –, er trug ein riesiges Bündel auf seinem Rücken, mit allen möglichen Wundern darin.«

Dex schwieg, er hatte sich in den Details seiner Vorstellung verloren. Jenseits der dunklen Tunnelwände konnte Quin freies Land erkennen, der Wasserfall lag jetzt hinter ihnen.

»Was für Wunder?«, fragte sie leise.

Dex nickte zu den Gegenständen aus Stein und Glas hin, die Quin in ihren Hosenbund und ihre Taschen gesteckt hatte. »Solche Dinge. Sie sind wundervoll, wenn du dich daran erinnern kannst, wie man sie benutzt.«

»Wenn ich das kann?«

»Oder ich«, sagte er mit unbehaglichem Blick. »Oder ich, natürlich.«

Zu Quins Rechten tauchte geisterhaft ein größerer Fluss auf, darüber die Wälder des Anwesens.

»Die Frau des Mannes war bei ihm«, sagte Dex, »wenn auch widerwillig, um ehrlich zu sein. Ich will schließlich ehrlich sein. Und sein Sohn war auch bei ihm und ein zweiter Sohn ebenfalls. Dieser war noch so klein, dass seine Mutter ihn überallhin trug. Ihm gefiel das. Babys gefällt es, wenn man sie herumträgt – das weißt du doch von Adelaide.« Er schenkte ihr ein intimes Lächeln, das Lächeln, das er für Quilla reserviert hatte. »Wie es sich später noch herausstellen sollte, waren die Jungen sehr unterschiedlich, aber zu diesem Zeitpunkt war es noch zu früh, um das zu wissen. Wie hätten sie das wissen können? Wenn Kinder klein sind, kann noch alles aus ihnen werden.

Diese Familie wanderte durch ganz England, ganz hinunter in den Süden und hinauf in den Norden, damals, als das Land offen war und England so wild wie eh und je.«

»Wie lange ist das her?« Quin versuchte, sich ein Bild von der Welt zu machen, die er beschrieb, während sie beobachtete, wie die gespenstischen Formen von einem Hügel und Bäumen vorbeizogen. Innerhalb ihres dunklen Tunnels reisten sie über das Anwesen, über ihr Zuhause.

»Wir müssen das auf zwei Weisen betrachten«, sagte Dex nachdenklich. Er starrte etwas an, das nur er in dem schwärzesten Teil des Tunnels sehen konnte. »Es ist vor langer Zeit geschehen oder es ist vielleicht noch gar nicht passiert.«

Und damit war die kurze Phase zu Ende, in der das, was Dex sagte, einen Zusammenhang hatte. Er schwieg, während dichte Wälder vorbeiglitten, dunkel und unförmig. Quin und Dex schritten voran und es war unmöglich zu sagen, ob sie und der Tunnel sich durch die Welt bewegten oder ob die Welt an ihnen vorüberzog.

»Ist das alles?«, fragte Quin nach einer Weile behutsam.

»Du meinst die Geschichte?« Er lachte, leise und aufrichtig. »Nein, sie ist sehr viel länger und vom Ende gibt es verschiedene Versionen. Aber der erste Teil ist gut – der, in dem die vier durch weites, offenes Land wandern, um sie herum Hügel, Wälder und Berge.« Die Vorstellung von so viel offenem Raum schien ihn zu entsetzen und gleichzeitig zu faszinieren. »Die Welt hat sie nicht gefressen, oder? Auch wenn wilde Tiere das ab und an versucht haben.« Er verstummte und fragte sie dann: »Hast du früher schon mal ein Medaillon gesehen? Du schienst überrascht zu sein, dies in meinem Besitz zu finden.«

Für jemanden, der seinen eigenen Wahnsinn so leicht ein- und ausknipsen konnte wie andere das Ein- und Ausatmen, hatte er eine sehr gute Beobachtungsgabe. Da sie nicht so recht wusste, was sie ihm erzählen sollte und was nicht, sagte Quin: »Ein Freund hatte so eines.«

»Du meinst den, den du finden willst, nicht wahr? Du liebst ihn. Das kann ich an deiner Stimme hören.«

»Oder vielleicht kannst du meine Gedanken lesen«, schlug sie vor.

Er sah sie von der Seite an. »Vielleicht kann ich das, wenn du sie nicht beschützt. Und du bist nicht besonders gut darin, sie zu beschützen.« Er missdeutete ihren Gesichtsausdruck völlig und fügte hinzu: »Du hast dich in einen anderen verliebt. Das nehme ich dir nicht übel, Quilla. Wir sind so lange voneinander getrennt gewesen. Ist er gut zu dir?«

»Ich bin nicht …«, begann sie, doch sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Der Ausdruck auf Dex’ Gesicht im Halbdunkel war so verletzlich, so schutzlos, dass sie ihm in dem Moment unmöglich mitteilen konnte, dass sie nicht Quilla war. Er würde sich bald genug wieder daran erinnern. »Ja, er ist gut zu mir … wenn er … er selbst ist. Und ich bin gut zu ihm, wenn ich ich selbst bin«, murmelte sie, während sie an die anderthalb Jahre dachte, in denen sie sich selbst und damit auch Shinobu vergessen hatte; als sie es ihm überlassen hatte, in Hongkong seinen eigenen gefährlichen Weg zu finden.

»Wie wir also«, flüsterte Dex.

Darauf wusste Quin keine Antwort.

Sie erhaschte einen schemenhaften Blick auf den Stehenden Stein des Anwesens, der an ihrer linken Seite vorbeizog. Im Schatten dieses Steines hatte sie ihren Seeker-Eid abgelegt, in jener Nacht, in der sie entdeckt hatte, dass ihr Vater ein Killer war. Wohin führte sie Dex?

Er nickte zu seinem Medaillon hin. »Zuerst gab es vier von ihnen. Als ich deine Kleider gesehen habe, wusste ich, dass es an der Zeit wäre.«

Quin konnte nicht beurteilen, ob sie auf diese verwirrenden Bemerkungen eingehen oder lieber das meiste unkommentiert lassen sollte. Ihre Neugier gewann die Oberhand.

»An der Zeit wofür?«, fragte sie argwöhnisch.

»Die Besitzer der anderen drei Medaillons zu finden«, erwiderte er. Wieder las er ihre Gedanken, vielleicht verriet sie aber auch ihr Gesichtsausdruck, denn er fügte hinzu: »Ich meine damit nicht den, den du liebst. Ich meine die ursprünglichen Besitzer.«

Das war enttäuschend. Der Gedanke, dass Dex von sich aus versuchen könnte, Shinobu zu finden – ohne dass Quin ihn dazu zwingen musste –, hatte ihr einen Hauch von Hoffnung verliehen.

»Wer sind die anderen Besitzer?«, fragte sie. »Seeker?«

Seine Antwort war kryptisch. »Du kannst sie so nennen, wenn du willst. Aber sie sind jetzt nicht mehr das, was sie einmal waren.« Sein Gesicht wurde hart. Es hatte einen Ausdruck angenommen, den sie bisher noch nicht an ihm gesehen hatte, und er verwandelte ihn ziemlich abrupt in einen Mann, dem man besser nicht in die Quere kam. »Es wird Zeit, sie aus dieser Welt zu schaffen«, fuhr er fort. »Oder vielleicht müsste man korrekterweise sagen, dass es an der Zeit ist, sie in die Welt zu bringen, wie andere Menschen sie kennen. So, wie es sein sollte.«

Die wilde Panik, gegen die er in der Höhle angekämpft hatte, schlich sich erneut in sein Gesicht. Quin hielt ihre Zunge im Zaum.

Vor ihnen war es hell, die Welt nahm wieder eine solide Form an, als er das Medaillon einstellte. Bruchstücke von Mauerwerk, ein Hof übersät mit Steinen. Er brachte sie zu den Burgruinen.

»Ich könnte uns direkt hineinbringen.« Dex’ Worte waren wenig mehr als ein Murmeln, sodass es schwer zu sagen war, ob er damit auch Quin meinte oder nur sich selbst. »Ich könnte uns direkt nach unten bringen. Das wäre einfacher. Aber dorthin können wir kein Pferd mitnehmen und irgendwann muss ich mich dem ja stellen.«

Quin hätte ihn fast nach dieser Sache gefragt, der er sich stellen musste, aber es war klar – sein Mut zerbröckelte beim Anblick der sich nähernden Welt. Er packte sie an der Schulter und einen Moment später stolperte er. Er kniete sich hin – vielleicht knickte er auch ein – und legte das Medaillon ab.

»Du sollst es nicht sehen«, flüsterte er. »Aber du wirst es nicht gegen mich verwenden, oder? Das hast du nie getan.«

Quin kniete sich neben ihn, versuchte, ihn zu beruhigen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie gegen ihn verwenden könnte. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie.

Mit bebenden Händen legte Dex die Hand auf das Medaillon und stellte es mit einer Reihe rascher Bewegungen ein, denen Quin nicht folgen konnte; jede von ihnen machte die Welt vor ihnen zunehmend deutlicher, bis sie voll ausgeformt war. Sie blickte durch eine große bogenförmige Anomalie hinaus auf die Burgruinen und einen leicht bewölkten schottischen Nachmittag.

Er murmelte: »In dem weiten Himmel gibt es nichts, was mich auffängt.«

Quin spürte die Tiefe seiner Angst, auch wenn sie das verblüffte. Sie nahm seine Hand in ihre und drückte sie. »Ich halte dich fest, Dex.«

Er war nicht gerade klein, wodurch es schwierig für sie war, ihn auf die Füße zu ziehen. Er hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, während sie die wallende Grenze überschritten und in den Burghof traten.

Yellen folgte ihnen, er wieherte, als er die Heimatluft witterte, und Quin nahm ihm die Zügel ab, um ihn laufen zu lassen.

Dex sank auf Hände und Knie, kroch zurück zu dem Medaillon, das immer noch auf der anderen Seite der Anomaliegrenze lag. Er griff durch die Anomalie und zog das Medaillon hindurch; dabei drehte er es mit einer Bewegung, die sie an einen Magier erinnerte, der einen Gegenstand von innen nach außen wendet. Sofort verstummte die Vibration, die Öffnung fiel in sich zusammen – alles zugleich, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Dann setzte er sich auf den Boden, den Kopf an die Knie gelegt. Ganz automatisch ließ er das Medaillon zurück in die Lederschlaufen an seinem Hals gleiten, wo es nun wie ein Anhänger unter seinem Gewand hing. Er zog sich die Kapuze über die Augen und streckte die Hand nach Quin aus.

»War das, was ich gerade gesehen habe, Wirklichkeit? Ist die Burg eine Ruine?«

Quin warf einen Blick auf den verfallenden Burghof und die Überreste der Burg, die für sie aussah wie immer.

»Ja.«

»Man denkt, dass Zeit nichts ist.« Seine Hand zitterte, als er ihre umklammerte. »Aber sie verstreicht, ob man es nun spürt oder nicht.«

»Wie alt bist du?«, fragte sie ihn. Hatte er diese Burg wirklich noch vollständig erhalten gesehen? Oder verwechselte er sie mit einem anderen Ort, so wie er Quin dauernd für ein anderes Mädchen hielt?

Dex lachte nervös. »Viel jünger, als ich aussehe.«

KAPITEL 5

JOHN

John kroch so nah, wie er es wagte, an das große Zelt heran, dann ließ er die Rauchkanister aus seinen Händen rollen, einen nach dem anderen. Die Kanister holperten zischend über den schlammigen Untergrund und hielten in dem fluoreszierenden Licht an, das durch die breite Segeltuchtür des Zeltes nach draußen fiel.

Sekunden später schlängelten sich schwarze Rauchschwaden aus den Kanistern und bildeten am Boden Gewitterwolken, wodurch die Sicht nahezu null werden würde. John spürte, wie ihn die Freude an der Zerstörung überwältigte, als er auch noch Blitze hinzufügte – von seinem Versteck hinter einem ramponierten Flugmobil, das halb im Schlamm vergraben war, warf er ein Leuchtgeschoss und eine Kette Knallkörper direkt ins Zentrum des Rauches.

Soldaten strömten aus dem Zelt, sie fluchten und griffen zu ihren Waffen, ihre Gesichter waren in den roten Schein des Leuchtgeschosses getaucht, ihre Körper zeichneten sich im Rauch nur als schwache Silhouetten ab. John war inzwischen auf der anderen Seite des Camps. Er steckte ein zweites Leuchtgeschoss in den Tank eines geparkten Vans und rannte dann durch die triefend feuchte Nacht, um das Camp herum und am Rand des Dschungels entlang auf die baufällige Baracke am südlichen Ende des Camps zu. In dem Moment explodierte das Geschoss im Van und tauchte die Nacht in orangefarbenes Licht. Jedes Blatt, jeder Farnwedel und jeder Regentropfen leuchtete vorübergehend wie ein schönes, kontrastreiches Relief auf, bevor die Explosion abflaute, und John fühlte eine wilde Freude, weil er der Angreifer war.

Er brauchte seinen Kopf nicht zu drehen, um zu wissen, dass Maud ihm folgte, ihm schweigend hinterherrannte. Sie hatte ihn allerdings schon gewarnt, dass sie ihm bei dieser Aufgabe nicht helfen würde. Es lag allein bei ihm, sie zu erfüllen – sein letzter Test, wenn er erfolgreich wäre. Er unterdrückte das Hochgefühl, das in ihm aufstieg. Bei diesem Angriff ging es nicht um ihn. In dieser Nacht ging es darum, ein wahrer Seeker zu sein, indem er andere rettete.

Natürlich waren Wachen vor der Baracke, mit Gewehren und schlammverschmierten Arbeitsuniformen, aber sie hatten sich jetzt auf der Camp-Seite des Gebäudes versammelt und starrten auf das Chaos, das um das Kommandozelt ausbrach – das Zelt selbst und das halbe Camp waren des Rauches wegen unsichtbar. In der Ferne wurden Befehle gebrüllt; Männer gingen in Verteidigungsposition. Die Wachen an der Baracke unterhielten sich nervös miteinander, diskutierten, ob sie ihren Posten verlassen oder an Ort und Stelle bleiben sollten.

Die junge Dread hat mir beigebracht, mich zu konzentrieren, und das werde ich tun. John riss seine Gedanken zu einer geraden Linie zusammen. Er tauchte aus der Deckung des Dschungels hinter den Männern auf. An einem Lederriemen quer über seiner Brust steckte eine Reihe kleiner Messer, ihre Klingen waren von einer Substanz geschwärzt, die er mit Mauds Hilfe zubereitet hatte. John zog vier der Messer heraus und gestattete sich nicht, bei dem Gedanken zu verweilen, dass er Gift als Waffe einsetzte und damit in die Fußstapfen seiner Mutter Catherine und seiner Großmutter Maggie trat.

Er warf zwei Messer, schleuderte sie so, dass sie sich drehten, um maximale Kraft zu erzielen – ein Trick, den Maud ihm gezeigt hatte. Die Wachen, die ihm am nächsten standen, zuckten zusammen, als wären sie von Insekten gestochen worden. John trat leise zwischen die übrigen Männer und erwischte sie unter der Schulter, wo er die winzigen Klingen, so weit es ging, hineinstieß. Die Schreie der Männer brachen ab – die Droge gelangte rasch in die Blutbahn. Binnen Sekunden waren alle vier zusammengebrochen. Sie würden mehrere Minuten gelähmt sein.