Die dicke Helena - Inge Wolf - E-Book

Die dicke Helena E-Book

Inge Wolf

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Beschreibung

Warum kann Helena nicht aufhören zu essen? Überall heißt sie nur noch Die dicke Helena, und alle grinsen und denken natürlich an die schöne Helena aus der Sage. Keiner aus der Klasse will mit dem «Fettkloß» was zu tun haben. Also tröstet Helena sich heimlich, am liebsten mit Ölsardinen aus ihrem Versteck. Denn zu Hause haben sie sogar den Kühlschrank abgeschlossen, damit sie bloß nicht einen Bissen mehr bekommt als in ihrem Diätplan steht. Irgendwann fängt Helena an nachzudenken: Seit wann ist sie eigentlich so dick? Und als sie das herausfindet, hat sie den ersten Schritt auf einem neuen Weg gewagt ...

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Inge Wolf

Die dicke Helena

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Über dieses Buch

Warum kann Helena nicht aufhören zu essen? Überall heißt sie nur noch die dicke Helena, und alle grinsen und denken natürlich an die schöne Helena aus der Sage. Keiner aus der Klasse will mit dem «Fettkloß» was zu tun haben. Also tröstet Helena sich heimlich, am liebsten mit Ölsardinen aus ihrem Versteck. Denn zu Hause haben sie sogar den Kühlschrank abgeschlossen, damit sie bloß nicht einen Bissen mehr bekommt als in ihrem Diätplan steht. Irgendwann fängt Helena an nachzudenken: Seit wann ist sie eigentlich so dick? Und als sie das herausfindet, hat sie den ersten Schritt auf einem neuen Weg gewagt ...

Über Inge Wolf

Inge Wolf studierte an der Philosophischen Fakultät der Universität München Germanistik, Theaterwissenschaften, Phonetik. Sie lebt in München und ist dort als Lehrerin an der Volkshochschule tätig.

Inhaltsübersicht

Der trockene Oktoberwind ...

Der trockene Oktoberwind trieb leuchtende Ahornblätter über den Schulhof. Sie sammelten sich in lockeren Haufen vor dem Abfallkorb. Wie in jeder Pause, stand Helena dicht daneben. Es war ein sicherer Platz, rechts der große Drahtkorb, und im Rücken, nur zwei Schritte entfernt, die Mauer.

Helena hatte eine gelbe Rübe in der Hand, von Valerie gewaschen undgeschält. Aber sie konnte sich nicht entschließen, davon abzubeißen. Sie haßte gelbe Rüben, sie haßte auch Gurken, Tomaten und Radieschen, das ganze rohe Gemüse, das sie abwechselnd für die Pause mitnehmen mußte. Die andern aßen Wurstsemmeln und Butterbrezeln oder süße Nußhörnchen und Zuckerschnecken, die sie sich am Verkaufsstand geholt hatten.

Helena konnte nichts kaufen. Das Taschengeld war gestrichen, seit Wochen schon. »Wenn du etwas brauchst, Eßbares ausgenommen, wird Valerie es dir besorgen«, hat ihr Vater gemeint. Nichts will sie besorgt haben, gar nichts, nur eine Brezel will sie, eine runde, weiche, braune Brezel, zur Not auch ohne Butter. Aber das wären hundertfünfundzwanzig Kalorien zuviel. Einhundertfünfundzwanzig! Unausdenkbar! Denn Helena mußte abnehmen. Sie war zu dick, viel zu dick.

Die Ahornblätter raschelten, wenn man den Fuß hineinschob. Zu Hause male ich sie, dachte Helena, gelb, orange, rot, purpurn, Flammen werde ich daraus machen, ein helles, wildes Feuer, und darüber grauen, nein, schwarzen Rauch, dicke Rauchwolken werde ich malen, dann gibt es keine Schule mehr und keine Pause, nur Flammen und Rauch.

Ein Schlag auf ihren Arm ließ die gelbe Rübe auf den Boden klatschen und in den Blätterhaufen rollen.

Birgit und Angela waren plötzlich neben ihr, lachten kreischend auf, angriffslustig.

»Karnickel! Karnickel!«

So sicher also war der Standort doch nicht. Helena wich zur Mauer zurück.

Nun kam auch noch Sandra hinzu. Alle drei stellten sich breit vor ihr auf. Sie zogen die Lippen hoch, bleckten die Zähne und ahmten Kaninchen nach, die Kiefer rauf und runter, ritsch, ratsch, drei kauende Karnickelgesichter.

»Schmeckt’s?« fragte Sandra zwischendurch, »schmeckt’s Rübchen auch gut?«

Helena steckte die Hände in die Taschen ihres Anoraks. Sie hob die Schultern, legte den Kopf zurück und sah in den grauen Himmel. Unberührt mußte sie scheinen, gleichgültig. Der Spaß würde ihnen dann verleidet werden. Sie hatte da ihre Erfahrungen.

Aber heute kam es schlimmer. Peter und Andreas drängelten sich zwischen die drei Mädchen, rempelten mit den Schultern, drückten Helena gegen die Mauer. Andere aus der Klasse liefen vorbei, blieben stehen, lachten.

»Da wird sie ja noch breiter!«

»Plattfisch, Plattfisch!«

»Plattfisch mit Karpfenaugen!«

»Karpfen, fetter Karpfen!«

Helena blieb stumm. Sie fühlte das Gewicht der Körper auf sich, immer wieder eine neue harte Druckwelle aus Ellbogen, Schultern, Rücken, Knien. Sie werden schon aufhören, die Pause muß doch gleich vorbei sein! Aber es dauerte noch lange. Ein großer Kreis lachender, schreiender Zuschauer hatte sich jetzt um Helena gebildet.

»Karpfen, Fettkarpfen!«

Endlich schrillte die Schulglocke.

Der Knäuel aus Kinderleibern löste sich auf. Aber sie hatten noch immer nicht genug. Noch beim Weglaufen plärrten sie: »Der Karpfen, der Karpfen, der folge mir!«

Die Hände in den Anoraktaschen, stapfte Helena langsam hinterdrein und versuchte, den Abstand möglichst groß zu halten.

 

Mathematik bei Eduard Kirschensteiner. Er war ihr Klaßleiter, beliebt, weil er jung war, Spaß verstand und gerecht war. »Kirschkern« war sein Spitzname, aber meistens sagten sie nur »der Kirsch«.

Sie mußten aufstehen, wenn er das Klaßzimmer betrat und im Chor sagen: »Grüß Gott, Herr Kirschensteiner!«

Heute klappte das nicht so richtig. Der lange Ulrich suchte in seiner Mappe nach der Brille, Ines rutschte unter der Bank herum, um ihren Bleistift aufzuheben. Helena saß teilnahmslos auf ihrem Stuhl.

»Gute Nacht, schlaft gut!« Kirschensteiner war schon wieder draußen.

Da wußten sie, was es geschlagen hatte. Als sich die Tür fünf Sekunden später wieder öffnete, stand jeder mustergültig an seinem Platz.

»Grüß-Gott-Herr-Kir-schen-steiner!« Die Lautstärke des Chors war unübertrefflich.

»Grüß Gott, Kinder!« Kirschensteiner tat, als sei nichts vorgefallen.

Der Unterricht begann: »Alle Primzahlen!«

Petra, blond, quirlig, schnalzte beim Fingerzeigen, stand vor Aufregung auf, pfiff fast, hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Helena bewunderte sie. So wollte sie auch aussehen, so dünn, so leicht und mit dieser hübschen blauen Libellenspange im welligen Haar! Gegen Petra war sie wirklich ein Karpfen. Die schwarzen Jeans, in die sie sich mit Mühe gezwängt hat, schnitten überall ein. Sie waren schrecklich unbequem beim Sitzen. Über den Hosenbund quoll ein dicker Fettwulst. Warum mußte sie auch heute noch diesen blöden quergestreiften Pullover anziehen und drunter den schwarzen Perlonrolli! Es war viel zu heiß dafür hier im Klassenzimmer. Sie schüttelte die langen hellbraunen Haare nach hinten, sie bedeckten den halben Rücken. Gestern hätten sie dringend gewaschen werden müssen, immer schneller wurden sie jetzt strähnig und fettig.

»Haben das nun alle kapiert?« Kirschensteiner schaute fragend in die Runde.

Einstimmiges »Ja«.

Aber Helena hat nicht aufgepaßt, sie wußte nicht einmal, wovon die Rede war.

Sie saß in der Fensterreihe an dem letzten der beiden Tische, die mit den Breitseiten aneinandergeschoben waren. Angela, am Platz gegenüber, schrieb eifrig etwas auf ihren Rechenblock. Helena neigte sich vor, um genauer sehen zu können. Aber Angela baute sofort eine Barriere, stellte ihr Rechenbuch auf, dahinter das Federmäppchen.

»Helena, was ist los?« Kirschensteiner schaute sie an. In diesem Augenblick bemerkte sie etwas Furchtbares: ihr linker Schuh war fort. Sie trug Gesundheitssandalen aus Holz, mit einem Fuß war sie herausgeschlüpft, jetzt war die Sandale weg. Sie angelte mit dem freien Fuß danach. Vergeblich. Dann sah sie ihren Schuh unter der Heizung am Fenster. Angela mußte ihn dorthin befördert haben, ohne daß sie etwas gemerkt hatte. »Helena, an die Tafel!« Kirschensteiner hielt ihr aufmunternd die Kreide entgegen.

Sie mußte aufstehen. An einem Fuß die Holzsandale, am andern nur den rotgeringelten Socken, humpelte sie ungeschickt zur Tafel.

Die Klasse wieherte.

Kirschensteiner klatschte in die Hände. Es wurde sofort still, nur Petra gluckste noch.

Helenas Backen brannten. Und sie wußte, wie sie aussahen: scharlachrot.

Kirschensteiner sagte nichts. Er ging langsam an den Schulbänken entlang zum letzten Fenster, bückte sich, hob die Holzsandale auf, ging zurück, stellte sie vor Helena auf den Boden. »Schreib alle Quadratzahlen bis 100 untereinander«, sagte er ruhig zu ihr. »Und ihr dividiert diese Quadratzahlen durch 3 und sucht die Primzahlen heraus. Und denkt mal etwas nach, es könnte nicht schaden.«

Bei diesem letzten Satz wußten alle, daß nicht nur die Primzahlen gemeint waren.

 

Noch war dieser Schultag nicht zu Ende. Das Ärgste stand noch bevor. Zwei Stunden Turnen. Bei Frau Schubert.

Helena hatte das Turnzeug vergessen.

»Wohl absichtlich?« Frau Schubert zog die Brauen hoch.»Du turnst trotzdem mit.«

Geschrei in den Umkleideräumen. Bei den Mädchen war das Gekreische lauter.

Frau Schubert hatte eine Trillerpfeife um den Hals hängen. Ein langgezogener Pfiff, alle stürmten aus den Garderoben, stellten sich der Größe nach in einer Reihe auf. Helena war ziemlich am Anfang, als einzige in Jeans, als einzige barfuß.

Die Turnstunde begann nach dem immer gleichen Schema. Alle rannten kreuz und quer durch den Turnsaal. Beim ersten Pfiff aus Frau Schuberts Trillerpfeife hatten sie sich auf den Boden zu werfen, dann mußten sie weiterlaufen bis zum zweiten Pfiff. Stehenbleiben bedeutete das. Wieder weiter. Beim dritten Pfiff mußten sie versuchen, das nächste Turngerät zu erreichen, also rauf auf die Sprossenwand, den Kasten, auf die Schwebebalken. Dann ging’s von vorne los, erster Pfiff, zweiter Pfiff, dritter Pfiff. Wer nicht schnell genug war oder die Reihenfolge verwechselte, schied aus. Wer übrig blieb, wurde als Sieger geehrt.

Es ging los. Sie liefen. Erster Pfiff: Helena stand noch, während alle anderen lagen. Sie schied schon aus, setzte sich auf eine der Bänke an den Wänden. Sie blieb lange allein dort. Dann hatte Ulrich nicht aufgepaßt, mußte ausscheiden, das Spiel wurde schneller, die Pfiffe folgten immer rascher aufeinander. Frau Schubert sah alle Fehler, unerbittlich wurde jeder hinausgeschickt. Siegerin war Petra, dieses flinke, leichte Geschöpf.

Sie konnte auch am besten die Flugrolle und durfte sie vormachen. Hoch schnellte sie sich vom Sprungbrett ab, rollte im Flug schon den Körper ein, setzte federleicht auf und stand sicher mit beiden Füßen. Die andern klatschten Beifall.

Helena seufzte. Sie wußte im voraus, was für eine Figur sie machen würde. Sie konnte nämlich keine Flugrolle. Purzelbaum, ja, den hatte sie jetzt raus, sie hatte ihn auch lange genug zu Hause geübt.

Natürlich sprang sie schon falsch vom Federbrett ab, hüpfte tollpatschig auf die gepolsterte Ledermatte, machte schließlich ihren umständlichen, langsamen Purzelbaum. Sie hörte das Kichern hinter sich, aber sie war ja daran gewöhnt, sie hatte nur Angst, daß ihre Jeans aus den Nähten platzten.

»Weiter!« rief Frau Schubert ungeduldig. »Helena, wenigstens rascher aufstehen könntest du! Weiter, Herrschaften, weiter!« Dreimal noch mußte Helena über das Federbrett auf die Matte und ihren schwerfälligen Purzelbaum vorführen, auch wenn sie versuchte, sich beim Anstellen weiter nach hinten zu mogeln.

»Kasten herrichten!« rief Frau Schubert. »Einmal quer stellen, einmal längs!«

Kasten! Auch das noch!

Petra turnte die erste Übung wieder vor: Anlauf, abspringen, durchhocken, abspringen.

Als Helena an der Reihe war, sprang sie zu früh ab, bremste dann und blieb vor dem Kastenungetüm hilflos stehen.

»Los, rauf!« rief Frau Schubert, »jetzt plag dich doch mal!«

Aber sie plagte sich ja. Sie sprang aus dem Stand zwanzig Zentimeter hoch, legte sich mit Brust und Bauch auf den Kasten, rutschte mühsam vorwärts, bis auch die Beine oben waren. Hinter ihr Gejohle. Das war ein Spaß! Helena richtete sich auf dem Kasten ungelenk auf, machte die Augen zu, nahm all ihren Mut zusammen und sprang hinunter.

Frau Schuberts Pfeife trillerte wieder. »Weitermachen, los, los!«

Nicht noch einmal, dachte Helena, nein, nicht noch einmal. Sie fragte, ob sie aufs Klo könne. Frau Schubert nickte. Helena blieb so lange draußen, bis sie sicher sein konnte, daß das Geräteturnen vorbei war.

In der zweiten Stunde machten sie Gymnastik. Eine »Trimm-dich-fit-Platte« lief dazu mit Musik. Arm- und Kopfkreisen, das ging ja noch, auch das Rumpfdrehen mit Wippen. Aber bei der Rumpfbeuge mußten die Hände den Boden berühren. Helena kam nur bis zu ihren Knien. Jetzt hinlegen, radfahren, eins, zwei, eins, zwei, immer schneller.

»Die Bauchmuskulatur muß gestärkt werden«, rief Frau Schubert dazwischen, »mitmachen, eins, zwei, eins zwei!«

Dann folgte die Fußarbeit: Laufen am Ort, drei Minuten. So lang konnten doch drei Minuten gar nicht sein! Helena tropfte buchstäblich der Schweiß von der Stirn, der Hals war naß, der Rücken, aber sie mußte durchhalten. Sie keuchte mit offenem Mund, die Farbe ihres Gesichts näherte sich einem Violett. Auch die andern strengte das an, aber sie waren ehrgeizig, verdoppelten noch das Tempo im Endspurt.

Helena flimmerte es vor den Augen, in ihrem Kopf dröhnte ein Preßlufthammer. Weit weg hörte sie Frau Schuberts Stimme: »Du hast mangelhaft mitgemacht, Helena!«

Auch zu anderen sagte sie: »Mangelhaft, ja, Andreas, du auch, mangelhaft, mangelhaft.« Ihr Arm deutete auf vier oder fünf Kinder. Dann kam er zu Helena zurück. »Mußt du denn diesen Wollpulli anhaben und darunter noch das Perlonzeug? Na, mich wundert es nicht, wenn du so schwitzt. So, alle legen sich auf den Boden zum Entspannen. Locker lassen, ausruhen!«

Helenas Kopf dröhnte auch im Liegen. Wenn sie die Augen aufmachte, sah sie nur ihren Bauch, eine rotgestreifte Kugel. »Aufstehen!« kommandierte Frau Schubert. Jeder suchte sich einen Partner. »Wir nehmen Boxstellung ein.« Rechts neben Helena war Birgit. Die rückte von ihr ab und wandte sich Heide zu, die sie sonst nicht leiden konnte.

Als Helena sich umschaute, war niemand mehr neben ihr. Sie stand allein, die andern hatten alle ihre Partner. Sie verschränkte die Arme, zog den Kopf zwischen die Schultern, versuchte, gleichgültig auszusehen. Hoffentlich bemerkte Frau Schubert sie nicht. Sie hatte Glück.

Aber zum Schluß wurde es noch mal schlimm. Dreiergruppen waren zu bilden, um den Hilfestellungsgriff zu üben. Sofort stand sie wieder allein.

»Hier fehlt noch der dritte Mann«, rief Frau Schubert und winkte Helena zu Peter und Michael.

Sie trottete hin. Die beiden sahen ihr widerwillig entgegen. »Die stinkt ja«, sagte Peter so laut, daß es alle hören konnten. »Du riechst auch nicht nach Veilchen«, sagte Frau Schubert ebenso laut. »Sportkameraden seid ihr hier, habt euch nicht so!«

Dann erklärte sie den Stützgriff. Abwechselnd sollte immer einer in die Mitte, an dem dann der Griff erprobt wurde. Als Helena an der Reihe war, wollte Peter nicht ihren Arm anfassen.

»So’n schwammiges Zeug«, murmelte er, »zum Kotzen.«

Genug jetzt, endlich genug.

»Geh du noch mal in die Mitte«, sagte Helena leise zu Michael. »Bitte.«

 

Valerie wartete schon auf sie zu Hause. Sie war ungeduldig, sie wollte mit der Küche fertig werden.

»Eine Ewigkeit brauchst du immer für den Nachhauseweg. Der ist doch in fünfzehn Minuten spielend zu schaffen!«

Helena sagte nichts. Sie setzte sich erschöpft an ihren Platz am Küchentisch. Wenn sie mit Valerie allein aß, und das war fast die ganze Woche über, machte Valerie sich nicht die Mühe, in der Eßecke im Wohnzimmer zu decken.

Neben Helenas Teller lag ein Zettel. Valerie schrieb jeden Tag genau auf, was es gab. Sie kochte nach einem Diätplan, den Dr. Halmschneider aufgestellt hatte.

Heute gab es also Gemüsesuppe, Quarkknödelchen und Apfelmus. Die Suppe bestand aus 80 Gramm tiefgekühltem Suppengemüse, einem Viertel Liter Brühe und 50 Gramm Kartoffeln. Zusammen waren das 110 Kalorien, so stand es auf dem Zettel. »Kann ich Salz haben?« fragte Helena. Die Suppe schmeckte nach gar nichts.

»Ist sie vielleicht nicht gut?«

Valerie war sehr empfindlich in diesem Punkt. Alles, was sie kochte, mußte man großartig finden, schließlich hatte sie die Haushaltsschule mit Auszeichnung absolviert. Sie schob Helena achselzuckend das Selleriesalz über den Tisch.

Die Quarkknödelchen waren mit Recht als Knödelchen bezeichnet, sie bestanden laut Diätzettel auch nur aus 125 Gramm Magerquark, einem halben Ei und einem Teelöffel Mehl. Dazu gab es drei Eßlöffel erwärmtes Apfelmus aus der Dose. Insgesamt 250 Kalorien.

Helena aß gehorsam mit dem Kaffeelöffel. Sie bekam grundsätzlich nur Löffelchen und Gäbelchen aufgedeckt, damit sie gezwungen war, langsam zu essen.

»Nicht so schnell, ordentlich kauen!« mahnte Valerie auch schon.

»360 Kalorien«, Valerie schien sehr zufrieden. »Ab jetzt werden wir übrigens nicht mehr in Kalorien rechnen, sondern in Joules.«

»In was? Was ist denn das schon wieder?«

»In der Schule lernt ihr wohl gar nichts? J-o-u-l-e-s«, buchstabierte Valerie, »das ist die neue Maßeinheit, nach der man jetzt international rechnet. Beruht auf Energie, die durch den elektrischen Strom erzeugt wird. Eintausendfünfhundertzwölf Joules hast du jetzt gegessen.

Das ist ja der reinste Wahnsinn, dachte Helena, das gibt’s doch gar nicht, das bißchen Zeug soll 1500 Joules haben!

»Es ist überhaupt nicht schwierig, man muß bloß die Kalorien mal vier nehmen«, fuhr Valerie fort. »Dein Mittagessen hatte 360 Kalorien, also sind das dann mal vier 1440 Joules. Eigentlich muß man die Kalorien sogar mit 4,2 multiplizieren.«

Helena war es gleichgültig, ob mit vier oder vier Komma zwei multipliziert wurde, sie spürte nur, daß sie so viel wie nichts im Magen hatte. Sie war hungrig, schrecklich hungrig.

»Heute abend haben wir Gäste«, sagte Valerie da. »Deine Mutter hat dreißig Leute eingeladen, sicher sind irre interessante Typen dabei.«

Die »irre interessanten« konnte sich Helena genau vorstellen: ein paar bekannte Fotografen, wahrscheinlich auch Leute vom Fernsehen und Redakteure von Modejournalen.

Muriel – wenn Helena an ihre Mutter dachte, dachte sie immer nur »Muriel« – wird wieder einmal Erfolg beim Fotografieren irgendeine Modeserie gehabt haben. Es gab dann regelmäßig solche Feste bei ihnen. Heute würde auch ihr Vater dabei sein müssen. Meistens richtete er es ja so ein, daß er einen »auswärtigen Termin wahrzunehmen« hatte, der für seine Anwaltspraxis ungeheuer wichtig war, so daß er ihn nicht seinem jungen Compagnon überlassen konnte.

Für Helena war das Fest ein sehr erfreulicher Gedanke: es würde, wie immer, ein großes kaltes Buffet geben, das eine Delikatessenfirma am Nachmittag anlieferte.

Und da sagte Valerie auch schon: »Daß du dich nicht dabei erwischen läßt, dir am Buffet den Bauch vollzuschlagen, jetzt, wo wir so schön drin sind in der Abmagerungskur. Wir steigen anschließend gleich mal auf die Waage. Ich kann dann morgen genau feststellen, ob du dich heute abend zusammennimmst. Denn natürlich kann ich meine Augen nicht immer bloß bei dir haben.«

Natürlich nicht. Helena war ziemlich sicher, daß sie die ganz wo anders haben würde.

»Du ziehst am besten das lange Indische mit der Stickerei an«, fuhr Valerie fort, »das kaschiert ganz gut.«

Was ist »kaschiert«? Helena wollte nicht schon wieder fragen. Sie würde im Duden später nachsehen, falls sie sich das Wort so lange merken konnte.

»Ich ziehe das neue Grüne an«, Valerie kam sichtlich in Fahrt. »Deine Mutter hat ausdrücklich gesagt, daß ich den ganzen Abend dabei sein soll. Und du wirst mir etwas helfen, Gläser abservieren und Aschenbecher ausleeren, ja?«

»Okay.« Sie würde helfen und das Buffet dabei nicht übersehen.

Aber zunächst mußte sie auf die Waage, die extra für sie angeschafft worden war.

»54,8 Kilo!« Valerie konnte es nicht fassen. »Du hast ja überhaupt nicht abgenommen! Zieh die Jeans aus, vielleicht sind die so schwer!«

Helena zerrte sich die Hose vom Leib. Welche Erleichterung! »54,4 Kilo – das gibt’s einfach nicht! Eine volle Woche Diät, und nichts, rein gar nichts abgenommen!«

Helena wußte, warum. Aber das war ihr Geheimnis.

 

Ihr Zimmer war so ziemlich der einzige Ort im Haus, wo sie sich wohl fühlte. Vor allem im Bett, in ihrem guten, warmen Bett. Nur hier war sie wirklich sicher. Ihr plumper Körper war verborgen, aufgehoben die Schwere, leicht war alles, warm, dunkel.

Aber Helena widerstand der Versuchung, sich ins Bett zu legen. Es gab noch etwas, was fast ebenso schön war. Sie ging zum Schrank, zog die unterste Schublade auf, holte den Zeichenblock heraus und die Ölkreiden. Malen.

Das Buffet von heute abend malte sie, eine große Tafel. Alle Köstlichkeiten türmten sich dort: ein saftiger rosa Schinken, eingeschlagen in braunkrustigem Brotteig, ein gespickter Rehrücken, dicke Scheiben Pastete mit geheimnisvollen Mustern, schwarze Trüffeln, auf einer silbernen Platte zarter Lachs, wie ein Spitzenfächer ausgebreitet, ein Riesenberg knuspriger Hühnerschenkel, als Girlande eine pralle Wurstkette, Käse, rund und goldgelb, und jetzt war schon kein Platz mehr für die süßen Nachspeisen, die Schokoladencreme mit Mandelsplitter, die geschichtete Eistorte, die Schüssel mit Schlagrahm, die Cremeschnitten, die Marzipanpralinen. Sie mußte einen zweiten Tisch haben. Sie malte ihn einfach davor. das Rosengesteck hat sie auch vergessen und die honigfarbenen Kerzen und noch etwas, das Wichtigste: die kleinen silbrigen Dosen. Überall, wo noch Platz war, malte sie ovale silbrige Dosen mit einem kleinen roten Fisch in der Mitte. Die würde sie nach dem Fest einsammeln, ein hoher Stoß wird das werden, sie wird ihn in ihr Versteck tragen, das niemand kennt, nur sie allein.

Helena stützte den Kopf in die Hände. Sie hatte nur noch zwei von diesen Dosen, und heute abend würde es sie bestimmt nicht geben, denn sie waren zu gewöhnlich für ein festliches Buffet. Ölsardinen sind es nämlich. Und die waren auch der Grund, weshalb sie noch immer 54,4 Kilo wog. Acht Stück sind in jeder Dose, schwimmen dort silberschuppig in dickflüssigem Öl, vierzig Stück hat sie gegessen in der letzten Woche, den Inhalt von fünf Dosen. Immer wenn sie so schrecklich hungrig und unglücklich war, konnte sie nicht widerstehen und schlich in den Abstellkeller, dorthin, wo ihre alten Schlittschuhstiefel in einem Karton aufbewahrt wurden. Da war ihr Versteck für die Ölsardinen, die sie durch einen Zufall unter einer Schuhstellage entdeckt hatte. Wie sie dort hingekommen sind, kann sich Helena nicht erklären. Vielleicht war die Stellage früher zum Aufbewahren von Lebensmitteln benutzt worden, und die Dosen sind durch den Zwischenraum von Brettern und Wand gerutscht. Es ist ja auch gleich, dachte sie, das Schlimme war, daß von den sieben, die sie gefunden hat, nur noch zwei übrig waren. Wie wohlig satt war sie jedesmal nach ihren acht Sardinen, das Widerwärtigste war dann leichter zu ertragen.

Aber heute brauchte sie keine Ölsardinen, heute gab es ja das kalte Buffet. Da konnte es ihr auch gleich sein, daß der Vorratsraum seit zwei Wochen abgesperrt ist und ein neuer Kühlschrank mit Schloß angeschafft worden war, daß nirgends etwas Eßbares herumstand, keine Zuckerdose mehr, kein Honigglas. Nur Mehl, Gustin, Grieß und Semmelbrösel wurden noch im Küchenschrank aufbewahrt. Auch die Haferflocken waren neuerdings weg, seitdem sie ihren Früchtejoghurt damit angereichert hatte.

Es gab nichts, wirklich nichts in diesem Haus, was eßbar und nicht verschlossen war.