Die doppelte Frau - Beate Thalberg - E-Book

Die doppelte Frau E-Book

Beate Thalberg

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Beschreibung

Salzburg 1946. Eine mysteriöse, verdächtig selbstbewusste Frau, ein Detektiv mit Vergangenheit und ein Zug voller Nazi-Gold. Klingt wie das Setting eines Krimi- Noirs – und ist es auch. Vor der Kulisse der Festspielstadt entfaltet Beate Thalberg eine rasante Story, die pointiert in eine dunkle Welt führt – und in deren Zentrum die wahre Biografie einer außergewöhnlichen Frau steht: Betty Steinhart. Die Salzburger Fotopionierin ist selbst ein Rätsel. Aus nächster Nähe dokumentierte sie die Stars der frühen Festspielära, von Max Reinhardt bis Marlene Dietrich. Nach dem »Anschluss« von den Nazis inhaftiert, blieb ihre Geschichte lange unbekannt. Das Geheimnis um ihre Fotografien rückte Beate Thalberg in den Mittelpunkt ihrer Film-Noir-Serie »Die doppelte Frau«. Nun erzählt sie die ganze Geschichte.

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© Archiv Susanne Gordon

Betty Steinhart1892-1979

Kommen Sie nur näher. Sie werden mich auf den nächsten Seiten kennenlernen. Falls Sie danach mehr über Betty Steinhart erfahren wollen, blättern Sie auf Seite 174.

Auf Seite 186 finden Sie Hintergründe zu den Fotografien. Sie alle stammen aus dem Atelier Photo Ellinger.

»Sie fühlen sich sicher und haben Ihr Leben im Griff? Schön. Das wird sich bald ändern. Nichts an diesen Bildern ist zufällig.Erkennen Sie es? Diese Fotos verbergen ein großes Geheimnis. Und niemand hat es bemerkt.«

Inhalt

Max

Eva

Harry

Photo Ellinger

Der Stummfilmstar

Der Zug

Der Kronzeuge

Unterwelt

Die Order

Nächtlicher Besuch

Trugbild

Eine Spur

Alte Feinde

Die Beichte

Verwundeter Krieger

Die Salzbourgeoisie

Geheimtreffen

Die Jagd

Verrat

Die Warnung

Das Rollfeld

Betty

Amok

Gespenster

Untote

Schweigen

Alte Rechnung

Die Verachtung

Der Pakt

Unter Ratten

Liebe, kälter als der Tod

Tickende Bombe

Doppelbelichtung

Harry

Eva

Max

Max

Hätte ich mich an diesem Vormittag meinen Geschäften gewidmet, so wie jeden Tag, wäre mein Leben nicht vollkommen aus der Bahn geraten. So aber gab ich einem völlig durchschaubaren Lockruf nach, den nur ich nicht durchschaut hatte, und machte mich auf den Weg in die Salzburger Innenstadt.

Die erbarmungslose Frühlingssonne hatte den Schnee geschmolzen, der sich zuvor, sanft wie ein Totentuch, über die Wunden der Stadt gelegt hatte. Das Skelett der Bürgerspitalskirche ragte aus dem Stein. Schutthaufen in den Gassen, wo Menschen einst ihre lächerlichen Träume von einer bürgerlichen Zukunft eingerichtet hatten. Ab und zu fanden Kinder jetzt Leichen darin. »Sie fühlen sich sicher und haben Ihr Leben im Griff? Schön. Das wird sich bald ändern«, stand in diesem Brief ohne Absender. Er lag in einem Koffer voller Fotos, den mir irgendwer geschickt hatte. »Nichts an diesen Bildern ist zufällig. Erkennen Sie es? Diese Fotos verbergen ein großes Geheimnis. Und niemand hat es bemerkt.« Die Aufnahmen wurden in Salzburg gemacht, das war nicht zu übersehen. Der Domplatz, eine Probe des »Jedermann« in den 20er-Jahren. Exaltiert lachende Menschen auf der Straße, vielleicht Schauspieler. Ich kannte sie nicht, ich gehe nicht ins Theater. Nur ein Bild fesselte meinen Blick. Eine junge Frau schiebt ein Fahrrad über den Kapitelplatz. Dunkles Haar, offener Blick. Ihre Kleidung verriet die 1910er-Jahre. Ich nahm zwei, drei Fotos und steckte sie in mein Jackett.

Auf einem Trümmerberg beim Alten Rathaus stand noch ein Sofa, ich war mir sicher, auf meinem Rückweg würde es dort nicht mehr sein. Verlangen Sie nicht von mir, dass ich irgendeinem Gebäude hier nachtrauere, schon gar nicht dem zertrümmerten Geburtshaus von Mozart. Der Salzburger Barock interessiert mich nicht, und diese Stadt wird nicht von Mozart regiert. Es sind drei, vier Familien, die sich hier seit Jahrhunderten alles aufteilen: die Bankengeschäfte, die nicht minder schmutzige Politik, die Festspiele und alles, womit sich Gewinn machen lässt. Ihre verwandtschaftlichen Verbindungen reichen hinunter zu Bierbrauern, Hoteliers, Trachtenhändlern, den Gewerkschaften. Das ist alles, was man über Salzburg wissen muss. Vielleicht noch dieses: Bricht ein Machtkampf zwischen ihnen aus, halten sie es wie einst das österreichische Kaiserhaus: Sie führen keinen Krieg gegen ihre Feinde. Sie heiraten sie.

Auf der Staatsbrücke schaute ich mich kurz um, aber mir folgte niemand. Noch immer prangte hier in Stein gemeißelt eine Inschrift der Nazis: Dr.-Todt-Brücke. Doch, sie hatten Humor, die Deutschen. »Kommen Sie, wühlen Sie sich durch das Rätsel.« Ich hatte diesen Brief drei Mal gelesen und wurde nicht schlau daraus, »Vielleicht werden Sie dabei den Glauben an das Gute verlieren. Vielleicht Ihr Leben. Aber beschweren Sie sich nicht. Sie sind doch freiwillig hier, in diesem Fall. Oder?« Schreibmaschinenschrift, kein persönlicher Hinweis, nur das Datum und ein Treffpunkt. Der Österreichische Hof.

Das Hotel gehörte den Amerikanern, wie zu dieser Zeit so ziemlich alles in Salzburg. Selbstverständlich kamen diese drei, vier Familien gut mit ihnen aus und behandelten sie wie alle Fremden: Sie ließen sie in aller Freundlichkeit gnadenlos im Unklaren. Das wussten die Amerikaner aber nicht, und deshalb ging es ihnen gut. Auch in ihrem Hotel. Nichts hier hatte auch nur irgendetwas mit dem realen Leben in der Stadt zu tun. Es gab Hühnerragout, Cakes und echten Kaffee im Überfluss. Die Band am Samstag war »big«, und das Selbstbewusstsein sowieso. Wissen Sie, warum alle amerikanischen Soldaten gut aussehen? Weil sie so jung sind! Keiner über 30, strahlend weiße Zähne, strotzend vor Gesundheit. Dabei gehen sie niemals zu Fuß. Ein Wunder, dass sie sich hier von der Rezeption zum Lift nicht auch mit dem Jeep fahren lassen.

Ein warmer Hauch aus Nähe und Distanz lag in der Lobby. Es gibt wohl keinen Ort, an dem intime Dinge wie Abschied, Zähneputzen oder eine heimliche Affäre so direkt auf Fremdheit und Flüchtigkeit stoßen wie in einem Hotel. Erwartung und Gleichgültigkeit lehnen stets gemeinsam an der Bar. »Sie möchten bitte noch ein wenig warten, man lässt dann nach Ihnen schicken.« Das Faktotum des Hauses hatte zu mir gesprochen. Herr Franz, jeder wusste es, handelte von seiner Rezeption aus mit amerikanischen Zigaretten, Salzburger Frauen und russischen Informationen. In seiner gespielten Unterwürfigkeit besaß er weit mehr Macht als die neuen Drahtzieher oder die alten drei, vier Familien, aber man ließ ihn gewähren. Herr Franz war nützlich. Für alle.

Zwei Stars & Stripes-Flaggen waren am Rand der Halle eingepflanzt, schräg zueinander, als würden sie für eine Revue posieren. Überall Zeichen. Rang, Name, Unbescholtenheit. Zu wem gehörst du? Zu den Amerikanern, Russen, Franzosen? Zu den Ex-Nazis? Du, die du an mir vorbeigehst und mich mit leeren Augen anblickst, bist du Salzburgerin, Displaced Person, entlassene Gefangene? Unermüdlich erzählten mir die Hotelgäste Geschichten. Durch ihre billige Straßenkleidung, die einmal gut gewesen war, vorm Krieg. Durch ihre amerikanischen Uniformen und tadellos geputzten Schuhe, die ja ohnehin nur dazu da waren, mitsamt den Füßen auf irgendwelche Tische gelegt zu werden. Durch eine Aktentasche. Sollte sie den gehobenen Berufsstand vermitteln? Das Buch in der Hand. Nur die vom Lebenskampf Verschonten haben Zeit zu lesen. Wer war in diesen Tagen verschont? Die Menschen mit ihren wenigen Habseligkeiten wussten, womit sie sich schmücken mussten, um abzulenken. Denn im Salzburg des Jahres 1946 war alles gelogen.

Eine Weile zu warten war mir einerlei. Während die gesamte Stadt von früh bis spät mit dem Auftreiben des Nötigsten beschäftigt war – Essen, ein Dach über dem Kopf, eine Unbescholtenheitserklärung –, war ich versorgt. Die Tage tropften dahin, die Geschäfte liefen. Es gab für jede Situation in meinem Leben eine Lösung, meist lag oder stand sie an einer Bar. Ich schnappte mir das halb ausgetrunkene Whiskyglas, das irgendwer stehen gelassen hatte, der sich so etwas leisten konnte, und blätterte lustlos in den »Salzburger Nachrichten«. Einzig die Heiratsanzeige einer jungen Frau interessierte mich. »Kleine Wohnung vorhanden, zwei CARE-Pakete pro Monat.« Na bitte, eine gute Partie. Vielleicht sollte ich ihr schreiben. Schreiben. Der Brief, der Koffer, die Fotos. Wer steckte hinter all dem? Wahrscheinlich ein Ami, ein Emigrant aus Salzburg. Oder ein russischer Spion? Ein Brief verrät keinen Akzent.

»Papiere!«, riss mich ein GI aus meinen Gedanken, unterer Dienstgrad. Betont langsam zog ich meinen Ausweis in allen vier Besatzungssprachen hervor und übergab ihn, ohne mein Gegenüber anzusehen. Das hatte ich gelernt in den Jahren 38 bis 45. Wie man sich wann verhält und so aus jeder Situation lebend herauskommt. Darüber könnte ich viel erzählen. Versuchen Sie es gar nicht erst. Über diese Zeit spreche ich nie.

»Buddy, du weißt, warum ich dich jetzt mitnehmen muss?«, fragte der untere Dienstgrad.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Er packte mich am Schlafittchen und presste zwischen seinen makellosen Zähnen hervor: »Du weißt es genau, und du weißt noch viel mehr.«

»Any problem, Sergeant?« Harry J. Collins stand vor uns. General Collins, Chef der amerikanischen Streitkräfte in Salzburg. Dabei wanderten seine flinken Pupillen zwischen dem unteren Dienstgrad und mir hin und her. Seine Augen sind schneller als sein Colt, dachte ich. Harry hatte seine besten Tage hinter sich. Er war um die 50, das Gesicht etwas aufgedunsen, fast bullig die Statur. Das Milchgesicht knallte die Hacken zusammen wie ein Wäschermädl bei der Bauernpolka. Ich musste jedes Mal grinsen, wenn ich die Amis in Zweier- oder Dreierreihen durch die Stadt stolpern sah. Das konnten die zehnjährigen Pimpfe besser. Nur Hollywood-Harry hatte Charisma. Der General lebte gern auf großem Fuß und ließ sich mit einer Motorrad-Eskorte durch die Stadt kutschieren. Ich bediente seine Eitelkeit mit der Bewunderung des Jüngeren und versorgte ihn mit der einen oder anderen lokalen Rarität aus dubioser Quelle. Harry hatte das kriminelle Milieu von Salzburg nie wirklich begriffen. Wir kamen gut miteinander aus.

Ein junger Page erschien, kaum 15, schob seinen albernen Hut nach hinten und faselte aufgeregt, mit der Hand auf mich deutend: »Ich soll den Herrn auf Zimmer 106 führen.« »Na dann«, wechselte der General ins Deutsche und zu mir. Er wies seinen Untergebenen und den Pagen weg. »Ich werde Sie begleiten.« Etwas benebelt vom Whisky folgte ich ihm. Er kannte sich hier bestens aus. Vor einer Tür blieb er stehen und wurde ernst. Nach seinem nicht zu leisen, nicht zu lauten Klopfen öffnete sie sich. Vor uns stand eine blonde Frau.

Ich musste wegsehen, um mich von ihrer Attraktivität nicht an das Ende des Hotelflurs zurückwehen zu lassen. Als Harry mir ins Zimmer folgen wollte, schob sie ihn sanft zurück. »Sie wissen doch, Officer, ich komme gut allein zurecht.« »General«, stammelte der und war weg. Endlich.

Eva

Fünf Sekunden. Länger dauert es nicht, bis ich einen Menschen einschätzen kann. Als dieses Exemplar in mein Hotelzimmer stolperte, wusste ich sofort die Kategorie, in die ich ihn stecken musste: harmloser Gauner. Misstrauisch. Zweimal hatte er sich während unserer Konversation zur Tür umgeblickt. Völlig grundlos. Er war jünger als ich, vielleicht Ende 30. Ein fast zu guter Glencheck-Zweireiher für einen dahergelaufenen Österreicher. Dass er kein Privatdetektiv war, wie er frech im Telefonbuch behauptete, war ihm drei Meilen gegen den Wind anzusehen. Er kam sich schlau vor. Gut so.

»Und?«, fragte ich, als ich ihm einen Brandy eingoss und das Glas hinüberschob. »Haben Sie etwas für mich? Sie waren doch sicher schon erfolgreich, hm?«

»Allerdings. Ich habe einiges herausgefunden über diesen Knaben, diesen Carl Ellinger.«

»Ich will alles über ihn wissen. Wer war er? Wie sind die Bilder entstanden?«

Er beugte sich eine Spur zu weit zu mir herüber und fragte: »Warum interessieren Sie diese Fotos?«

»Keine privaten Fragen.«

Er sank in seinen Sessel zurück. »Na schön, Carl Ellinger ist ausgewandert, 1916 nach Kanada.«

Gereizt stand ich auf. Warum machte der Kerl nicht einfach seine Hausaufgaben? »Ach, und wer hat dann all diese Fotos gemacht? Es ist sein Namensstempel drauf.« Ich schob ihm Bilder über den Tisch. »Hier, alles Fotos von den Salzburger Festspielen. Und die gibt es bekanntlich erst seit 1920. Was sagen Sie dazu?«

»Erst einmal nichts.«

Resigniert setzte ich mich wieder. Ohne besonderes Interesse ging er die Fotos durch. Ich schob ihm ein weiteres zu, das mir viel bedeutet. Eine junge Frau, ihr dunkles Haar zu zwei Schnecken über den Ohren aufgerollt, ernster, aber offener Blick. Er schwieg. Sollte dieser Pseudo-Schnüffler recht haben, war Carl Ellinger ein Betrüger.

»Da stimmt etwas nicht an Ihrer Ellinger-Geschichte, haben Sie das wirklich gut recherchiert?« Jetzt bekam er ein bisschen schlechte Laune. Mürrisch rückte er sich auf seinem Sessel zurecht. Ich sah ihn erst recht unverwandt an. Er hielt dem Blick stand. Tapfer. Hatte er nun blaue oder graue Augen? Etwas Grün war auch drin, wenn sie die Sonne reflektierten, die durchs Fenster schien.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, unterbrach er meine Erkundungen.

»Eva«.

»Eva. Und Eva wie? Ich meine, wie noch?«

»Ist das wichtig?« Ich stand auf und zündete mir eine Zigarette an, um dem Ganzen wieder die richtige Richtung zu geben.

»Sie sollten nicht rauchen, Engel, Sie ruinieren Ihr Herz.«

»Ich ruiniere dauernd mein Herz. Ich hab schon gar keins mehr.«

»Na fein, da hab ich doch schon etwas über Sie erfahren. Sehen Sie, das ganze Chaos hat auch sein Gutes. Sie können sich völlig neu erfinden. Das machen jetzt alle. Juden legen ihre jüdischen Namen ab, Nazis legen sich einen zu. Männer lassen sich für tot erklären, um mit ihrer Geliebten zu leben. In Maxglan haben sie einen hochgehen lassen, der …«

»Solche Geschichten interessieren mich nicht.«

»Engel, brauchen Sie einen Pass? Ich kann Ihnen so etwas besorgen.« »Ich will es logisch, klar und schnell. Und Ihr Engel bin ich nicht.« Als ich später die Gardine an meinem Fenster etwas zurückschob, um mir dieses Exemplar noch einmal aus der Ferne anzusehen, tat er mir fast leid. Ich würde ihn ein wenig im Kreis herumschicken. Die Sonne würde ihm guttun. Ich würde ihn beobachten und seine Fortschritte verfolgen. Wenn nötig, würde ich eingreifen und sicherstellen, dass alles nach Plan verlief. Ich war entschlossen, mein Ziel zu erreichen, koste es, was es wolle. Ein Klopfen an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken. Dieser Besuch würde weitaus schwieriger werden.

Harry

Genießen Sie nur ein wenig die Sonne. Wir Amerikaner sind gut im Genießen. Wir haben das nach Europa gebracht. Ich erinnere mich an diesen Tag im Hotel. Was danach bei Max und Eva passierte, kann ich nicht sagen. Ich musste in unser Headquarter, denn mir wurde überraschend ein Anruf meines Vorgesetzten General Clark avisiert. Noch ein Ärgernis. Sie müssen wissen, für einen Chef der amerikanischen Streitkräfte in der österreichischen Provinz bestand damals jeder Tag aus Ärgernissen. Der Chauffeur erschien mit meinem Dienstwagen, und wir preschten los. Auf der Fahrt ging ich einige wenige von mindesten 20 Ärgernissen durch, für die ich schleunigst eine Lösung finden musste.

Allein die Wohnungsnot. In dieser Stadt lebten vor dem Krieg 60 000 Menschen. Jetzt etwa 80 000. Ein Drittel hatte eine winterfeste Behausung. Ein anderes Drittel wohnte in Lagerbaracken. Gestrandete oder ehemalige Nazis. Der Rest vegetierte in Splittergräben, Kellern oder Ruinen. Viele hatten nicht einmal das. Kein Heizmaterial für die Schulen, ständig Stromsperren, wir bekamen das Leben hier nicht in Gang. Aufbau war meine Aufgabe. So etwas wie eine neue Moral musste in die Köpfe der Leute. Wenn Sie mich fragen, für Moral hatte damals niemand einen Penny übrig. Es ging ums nackte Überleben.

Meine 42. Infanteriedivision hatte das Konzentrationslager Dachau mit befreit. Sie wissen schon, die berühmte Rainbow Division. Seit dem 23. August 1945 hatten wir das Kommando in Salzburg. Wir hatten Geschichte geschrieben. Jetzt schrieb ich langweilige Berichte und ärgerte mich mit dem Verteilungsamt für Lebensmittel herum.

Eva fiel mir ein. Unsere erste Begegnung. Sie stand in meinem Büro und sah mich schweigend an. Niemand wusste, wie sie an den Sergeants vorbeigekommen war. Mager, mit ihrem strähnigen, dunklen Haar, mindestens zwei Wochen nicht gewaschen. Ihre schäbige Kleidung und, wie ein Witz, dieser mondäne Pelzmantel darüber. Weiß der Teufel, wo sie den herhatte. Seit diesem Tag kümmerte ich mich um sie. Ich hatte es bald aufgegeben, ihr Fragen zu ihrem Woher und Wohin zu stellen. Hören Sie, ich bin ein durch und durch hartgesottener Mann des Militärs, aber als Eva in meinem Büro weinte, hatte ich dem nichts entgegenzusetzen. Und so tat ich etwas, das gegen meine Prinzipien, meinen militärischen Ehrenkodex und jede Moral verstieß: Ich ließ ihren schlecht gefälschten Pass gegen eine handwerklich tadellose Arbeit austauschen, erklärte sie zur »erwünschten Person« der amerikanischen Streitkräfte in Österreich und besorgte ihr auf Staatskosten ein Zimmer im Österreichischen Hof.

Manchmal verhielt sich Eva wie eine ganz normale Frau, aber das meiste an ihr war seltsam. Als ich sie beobachtete, wie sie ihren Koffer auspackte, war darin nur ein kleines Etui mit einer Zahnbürste. Nicht einmal Wäsche. Dafür unzählige Fotografien. Ich hatte versucht, sie aufzumuntern, und scherzte, dass sie wohl eine recht große Verwandtschaft habe und ob die auch noch alle ein Zimmer im Hotel bräuchten. Evas kalter Blick hatte etwas so Unerbittliches gegen sich selbst, etwas so Endgültiges, als würde sie nie mehr glücklich sein. Sie versank vollständig in ihr Inneres, wie in einen eisigen Krater. Ich hätte mich ohrfeigen können. Wahrscheinlich hatte sie ihre gesamte Familie verloren. Und ich, dem sie wahrhaft leidtat, hatte ihr eine völlig unnötige Grobheit angetan.

Ein Motorrad, das uns knatternd überholte, riss mich aus meinen Gedanken. In zehn Minuten würde General Clark anrufen. Ich bat den Fahrer, auf die Tube zu drücken. Er überfuhr zwei Stoppschilder und beinahe einen Fußgänger. Der regte sich fürchterlich auf und schickte uns eine Drohung hinterher. Es war mir völlig egal, dass er sich wahrscheinlich schriftlich beim Magistrat über den schroffen Fahrstil der Amerikaner beschweren würde. Für so etwas haben nur Menschen Zeit, denen es an nichts mangelt. Mein Herz schlägt für die anderen.

Mit diesen Fotos war Eva völlig manisch. Sie suchte ständig neue Verstecke dafür und bewachte sie wie Kronjuwelen. Ich bewachte Eva. Ließ sie observieren. Es war noch immer möglich, dass sie einen Fehler begangen und sich den Russen überreicht hatte. Zwei Wochen lang verließ sie das Hotel nicht. Ich schickte ihr ein Kuvert mit 50 Dollar und eine Friseurin. Einige Tage später erschien sie im Offizierscasino. Ich bemerkte es nur, weil auf einmal alle in eine Richtung starrten. Ihr Haar war platinblond und in Wellen gelegt. Sie trug ein eng anliegendes, kühl seidenes Abendkleid. Fast hätte ich sie nicht erkannt. Als sich unsere Blicke trafen, verspürte ich einen Schmerz. Bei wirklicher, allumfassender Schönheit verspüre ich den immer. Sie können sich vorstellen, dass ich nichts mit der Schönheit zu tun haben will. Ich verstehe sie nicht und ich halte sie für eine überflüssige Laune der Natur.

Der General war gut gelaunt am Telefon.

»Harry, wie geht es Ihnen, alter Knabe?«

»Immer wie die anderen wollen«

»Ah, dieser Spruch steht Ihnen gar nicht, Harry.« Seine Stimme wurde ernst und vertraulich: »Hören Sie, ein Spezialauftrag. Wir schicken Ihnen einen Zug nach Salzburg mit Kriegsbeute der Deutschen aus Ungarn, die sie noch um die Ecke bringen wollten.«

Warum erst jetzt?, fragte ich mich, während Clark weitersprach, der Krieg war seit fast einem Jahr vorbei.

»Wir haben den Zug in einem Nest im Pongau beschlagnahmt. Warten Sie, Werfen heißt der Ort. Wahrscheinlich Waffen, wir untersuchen das gerade.«

»Verstehe.«

»24 Güterwagen. Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich, dass kein Waggon, kein Projektil verschwindet. Verstanden?«

»Yes, Sir, verstanden.« Er legte auf.

Woher sollte ich die Leute nehmen, um einen Zug mit 24 Waggons zu bewachen? Über so etwas denken Vorgesetzte nicht einmal nach. Mir fiel ein, dass ich vergessen hatte, Max observieren zu lassen. Ich hatte ihn Eva zugespielt als Privatdetektiv, der er nicht war. Mir war es ganz recht, dass beide einander von nun an im Blick hatten und ich so jederzeit erfahren konnte, was der andere trieb. Heute würde Max schon nichts mehr anstellen. Schon am nächsten Tag klebte ihm einer meiner Männer an den Fersen.

Photo Ellinger

Seit diesem Tag im Hotel, als ich Eva das erste Mal gesehen und sie mir ihren Auftrag präzisiert hatte, verfiel ich in eine dumme Angewohnheit. Immer, wenn sie nicht bei mir war, unterhielt ich mich mit ihr in Gedanken. Jetzt in etwa so: »Haben Sie alles dabei? Ihren Passierschein, die Identitätskarte, Lebensmittelkarten, Wohnungsschein, Arbeitsbescheinigung, Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung, die Raucherkarte für den Tabakbezug, Kleiderkarte, Sonntags-Fahrbewilligung für Kraftfahrzeuge? Sie haben kein Kraftfahrzeug. Gut. Ich auch nicht. Und auch ich habe all diese Scheine nicht. Wir sind also frei.« Ich sah ihr ironisches Lächeln statt einer Antwort vor mir. Sie wollte mich also testen. Alles, was ich herausbekommen sollte, konnte sie auch im Stadtmuseum erfahren. Gut. In zwei Tagen würde ich alles über sie wissen. Beim »Äußeren Stein« sprang ich von der noch fahrenden Roten Elektrischen. Den Rest der Strecke wollte ich zu Fuß gehen. Auf der Imbergstraße kam mir ein älteres Paar entgegen, das einen Leiterwagen mit seinen Habseligkeiten hinter sich herzog. Sie sahen zufrieden aus. Vielleicht hatten sie eine feste Bleibe gefunden. Ich bog in Richtung Mozartsteg zum Kai ein. Zwei Männer angelten in der Salzach. Auf einer Bank saßen GIs und schauten den Mädchen nach. Hier muss sie auch immer wieder vorbeikommen auf dem Weg ins Hotel. Vor dem Landestheater war ich alle Gedanken an Eva los. Ich zündete mir eine Zigarette an und betrachtete das Werk stolzer Baumeisterkunst gegenüber.

Drei Stockwerke. Gründerzeit. Südseitig zum Fluss gelegen, im Norden Teil der rastlosen Schwarzstraße. In der zweiten Etage fehlten einige Scheiben im riesigen Atelierfenster. Es erstreckte sich über die gesamte mittlere Häuserfront und bestand aus vielleicht hundert kleinen Glasquadraten, alle in Metall gefasst. Darüber eine Fensterreihe, die mit ihren schweren Vorhängen auf ein besseres Leben dahinter deutete. Im Erdgeschoss das Geschäft. Ein kleiner Eingang mit anspruchslosem Schild: Photo Ellinger. Zeichen. In zwei Schaufenstern hingen Portraits, Hochzeitsfotos und Bilder vom Defilee der Luxuskarren vor dem Festspielhaus. Einfach an einer Schnur befestigt, wie Wäsche an einer Leine. Das verbreitete seriellen Frohsinn. Da ich für so etwas nichts übrighabe, wandte ich mich ab und eroberte diesen Ort wie jeden anderen auch. Über die Hintertür.

Ich umrundete das Haus an der linken Seite und befand mich bald in einem Garten mit den vertrockneten Resten des letzten Sommers. Eine Schaukel und ein Wäscheplatz träumten Friedlichkeit. Im Seiteneingang mit kleiner Treppe lehnte ein Teppichklopfer, darüber ein Glasdach, das in Schmiedeeisen gefasst war. Eine ältere Frau mit einer Einkaufstasche trat aus der Tür, ich griff zu meinem Taschentuch und schnäuzte mich, um Zeit zu gewinnen. Sie sprach mich an. Ich musste meinen Plan ändern.

Rasselnde Türglocken haben etwas Feierliches. Wie eine Fanfare begrüßen sie den Gast. Ich speicherte nur ab, dass eine diskrete Eroberung des Ateliers über den Haupteingang nicht möglich war. Kaum hatte ich das Geschäft betreten, hörte ich das »Komme gleich!« einer Stimme, die ich weder als männlich noch weiblich einordnen konnte. Ich sah mich um. Rote Samtvorhänge, holzverkleidete Wände und ein langer Verkaufstisch aus Eiche. So schwer, dass ihn sechs Männer nicht davontragen könnten. Auch die Stille, durch die wenig Straßengeräusche drangen, erinnerte mich an einen Tagesbesuch in einem Etablissement nahe der Riedenburger Kaserne. Mein Blick fiel auf ein Bild an der Wand. Darauf ein Mann mit Bart und kleinen Augen hinter einer runden Brille, flankiert von zwei jungen Kerlen in Militäruniform. Der Mann saß auf genau jener Holzbank mit der Rückenlehne aus Seilgeflecht, die unter dem Bild stand. »Sigmund Freud, mit seinen Söhnen.« Vor dem Puff-Vorhang war ein junger Mann in einem Kittel erschienen. Wie ein Zauberer in einem Zirkus. Er hatte keinen Bartwuchs und gehörte zu den Glücklichen, die nicht mit 17 oder 18 an der Front verheizt worden waren. »Professor Freud hat hier noch eine Fotografie machen lassen, bevor die Burschen eingezogen wurden. Im Ersten Krieg.«

Ambitionierte Hilfskraft, dachte ich und sah ihm zu, wie er den Verkaufstisch umrundete. Sichtlich um eine erwachsene Wirkung bemüht.

»Bitte, der Herr, was kann ich für Sie tun?« Ich zögerte.

»Ein Portrait für die werte Gattin, vielleicht ein Hochzeitsbild oder …, falls Sie noch nicht, … ein Passbild?«

»Kann ich das obere Stockwerk einmal sehen?«

Der Kopf des jungen Mannes fuhr zurück.

»Warum?«

»Es interessiert mich.«

»Das alte Lichtatelier? Nein, ich glaube nicht. Da fliegen die Tauben hinein, wird ja schon ewig nicht mehr benutzt. Unsere Apparate sind inzwischen weitaus lichtempfindlicher. Wollen Sie nicht doch eine Atelieraufnahme versuchen, der Herr?« Ich konnte ihm beim Denken zusehen. »Was wollen Sie mit einem Lichtatelier, sind Sie Fotograf?«

Ich holte schnell die Fotos aus meiner Jacketttasche, die ich aus Evas Koffer gefischt hatte.

»Aber nein, ich glaube nur, dass die hier bei Ihnen gemacht wurden. Schauen Sie, die sind doch aus Ihrem Atelier, oder?«

Der Assistentenblick prüfte die Bilder fachmännisch, verweilte auf dem Atelierstempel. »Offensichtlich. Ist aber schon a Zeitl her, da war ich noch gar nicht geboren.«

Ich auch kaum, du Grünschnabel, dachte ich und sagte: »Ist der Herr Ellinger im Haus?« Ich ließ es so klingen als ob ich Ellingers bester Freund sei.

»Der Herr Ellinger?«, erschien plötzlich eine junge Frau durch den Vorhang. »Den gibt es hier schon lange nicht mehr.« So schnell wie sie da war, war sie auch schon wieder verschwunden. Nicht ohne einen Berg frischer Fotoabzüge mit Zetteln auf dem Verkaufstisch zu hinterlassen. Der Assistent sortierte die frische Ware in Papiertaschen.

»Wo ist er denn, der Herr Ellinger?«, rief ich der Frau nach. Sie antwortete nicht. Hinter dem Vorhang lösten sich ihre flinken Schritte mit dem schwereren Gang einer anderen Person ab.

»Ich meine, ist der Chef da?«, wandte ich mich wieder an den jungen Mann. Der erhob sich aus seiner gebeugten Haltung über den Fotos und sah mich an.

»Sie meinen wohl die Chefin.«

»Ja, ist sie da?« Ohne ein Wort verschwand er hinter dem Vorhang.

Als der Knabe weg war, überprüfte ich kurz den Eingang zur Straße. Blitzschnell wühlte ich die Regale durch, die sich links und rechts neben dem Theatervorhang befanden, aber da waren nur Fotopapier in Schachteln, Negative, Auftragsbücher und Dinge, von denen ich nicht wusste, wozu man so etwas brauchen konnte. Ich hörte ihn zurückkommen und sprang wieder da hin, wo ich vorher gewesen war.

»Die Chefin hat jetzt ka Zeit für Sie.«

»Ach, das ist aber schade. Ich habe ein paar Fragen. Über vergangene Tage.«

Da drang es entschieden durch den Samtstoff: »Hören Sie, ich lebe nicht in der Vergangenheit. Mich interessiert nur, was heute ist.«

»Aber gnädige Frau«, flötete ich, »Sie sind die Einzige, die mir mehr von der Vergangenheit erzählen kann.«

»Bin ich nicht. Gehen Sie doch ins Café Bazar.« Ihre Stimme entfernte sich. »Da reden die Leute dauernd von früher. Schrecklich!«