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Wenn deine Beute mehr über dich weiß als du selbst — bist du dann Jägerin oder Gejagte? Raptor Creek, 1860. Lynn Heartgold hat die Nase voll davon, übergriffigen Kerlen Drinks zu servieren. Die anstehende Winterjagdexpedition des legendären Sig Xant ist ihre Chance, sich endlich als Drachenjägerin zu beweisen. Die gnadenlose Kälte des winterlichen Hochgebirges, skrupellose Glücksritter und raubeinige, abweisende Jäger sind jedoch nicht die einzigen Gefahren, gegen die sie sich behaupten muss. Neue Freundschaften formen sich. Legenden entpuppen sich als trügerisch. Und das Geheimnis des mysteriösen Riiv, der ihr abwechselnd in die Quere kommt oder das Leben rettet, stellt ihr gesamtes Weltbild auf den Kopf.
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Seitenzahl: 511
Veröffentlichungsjahr: 2025
1.Auflage,2025
© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11,
72827 Wannweil
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: N. Raliel Pelangi
Korrektorat: Lisa Heinrich
© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Grafikdesign – www.julianafabula.de/grafikdesign
Unter Verwendung folgender Stockdaten: shutterstock.com: Lukas Gojda | freepik.com
ISBN: 9783988270559
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
UtahTerritory,September1860
Ein donnerndes Brüllen rollte über die karge Felswüste und hallte von den Berghängen der Sierra Nevada wider.
Lynn Heartgold schreckte aus dem Schlaf auf. Sie stürzte zum Fenster, dessen dünne Scheibe noch zitterte. Der feine rote Streifen der aufgehenden Sonne tauchte die menschenleere Main Road und das gegenüberliegende Post Office in fahles Licht.
»Was ist denn los?«
Lynn sah ungeduldig in Richtung des Nachbarbetts, in dem ihr Onkel, Logan Heartgold, sich schlaftrunken aufrichtete.
»Hast du das nicht gehört?« Ihr Herz klopfte so laut in ihrer Brust, dass es beinahe das Rauschen übertönte, das von der kühlen Morgenluft in den Raum getragen wurde.
»Was gehört? Das Gewitter?«, fragte Onkel Logan. »Geh zurück in dein Bett, bevor die ganze Stube auskühlt.«
Das Rauschen in der Luft schwoll an.
»Drachenalarm!« Lynn fuhr herum und rannte die Treppe hinunter, durch die Verbindungstür in den Saloon.
»Lynn, warte!«
Sie wich den Tischen in der Schankstube aus und stieß die Flügeltüren zur Straße hin mit so viel Schwung auf, dass diese krachend gegen die Hauswand donnerten. Hektisch griff sie nach der dicken Kordel der schweren Messingglocke, die jedes Haus in Raptor Creek besaß. Das Klingeln des Alarms hallte durch die menschenleeren Gassen. Dann brach das Chaos aus.
Aus den umliegenden Häusern stürzten Menschen auf die Straße und panische Rufe vermischten sich mit dem Läuten weiterer Warnglocken. Die Kette des Brunnens auf dem Marktplatz ächzte, als die Bewohner von Raptor Creek begannen, eine Wasserkette zu bilden und die großen Eimer, die neben jedem Eingang standen, zu befüllen.
»Komm sofort wieder rein!« Onkel Logan packte ihren Oberarm und versuchte, sie mit sich zu ziehen.
»Als ob wir in einem Holzhaus sicherer wären.« Lynn stemmte die Füße in den Boden und schüttelte seine Hand ab. »Ich will das sehen!«
Sie suchte den heller werdenden Himmel ab.
Nichts.
Ein Ächzen und Quietschen zog ihre Aufmerksamkeit zurück auf die Straße. Sie verdrehte die Augen beim Anblick der alten, manuellen Harpune, die der Marshall und zwei seiner Hilfskräfte mitsamt ihres klobigen Abschussstandes aus dem Verschlag zerrten. Die Verteidigungsmittel der Stadt waren lächerlich und die letzten professionellen Drachenjäger hatten Raptor Creek mit dem Ende des Sommers bereits verlassen. Die Jagdsaison in der Sierra Nevada war vorbei.
Der Drache brüllte erneut markerschütternd und dann war er da. Der aufgewirbelte Staub seiner Flügelschläge war die erste Warnung. Kurz darauf schob sich d er Körper des Drachens über die Dächer der umliegenden Häuser. Einige Männer feuerten sinnlos ihre Revolver ab.
»Ein Feuerschwanz.« Die rauschenden Schwingen des Drachen sangen von Tod und Vernichtung und verschluckten Lynns ungläubig gehauchte Worte.
Sein Kopf war groß wie eine Kutsche und die dunkelrote Schuppenpanzerung an seinem bulligen Körper wirkte beinahe schwarz vor der aufgehenden Sonne. Der Drache fegte einmal über die Main Road hinweg und donnerte seinen langen Schwanz gegen ein Hausdach. Holzbalken splitterten krachend und Lynn schirmte die Augen ab, um sich gegen die herabregnenden Splitter zu schützen.
»Feuer!«
Lynn riss den Kopf wieder nach oben. Flammen leckten über die Überreste des Dachgebälks. Die Spitzen seiner Schwanzstacheln mussten bereits entfacht gewesen sein.
Der Feuerschwanz flog einen weiten Bogen, verschwand für einen Moment aus ihrem Sichtfeld und tauchte dann direkt über der Main Road wieder auf. Er setzte zum Tiefflug an und riss das Maul so weit auf, dass Lynn die Doppelreihe messerscharfer Zähne sehen konnte. Der Luftsack am Hals des Drachen war halb aufgeplustert.
»Runter!« Onkel Logan warf sich neben ihr auf den Boden, aber Lynn blieb wie angewurzelt stehen, vollkommen im Bann des Drachen, der auf sie zu rauschte. Der Schwanz verfehlte um Haaresbereite den Heartgold Saloon. Sand peitschte in ihr Gesicht, aber der tödliche Feuerstoß blieb aus. Einer der jungen Hilfskräfte des Marshalls hieb kräftig auf den Auslöser des Harpunenabschussstands.
»Nimm das, du hässliches Biest!«
Die Harpune schoss durch die Luft und der Moment dehnte sich wie eine Ewigkeit. Dann erreichte sie den Höhepunkt ihrer Flugbahn, traf auf den hinteren Oberschenkel des Drachen – und prallte von den diamantharten Schuppen des Feuerschwanzes ab.
Lynn schlug die Hände vor den Mund, sprachlos angesichts der Dummheit des Mannes.
Der Drache knurrte tief und kehlig. Er machte eine schärfere Spitzkehre, als Lynn für möglich gehalten hätte, brauste heran wie eine Sturmfront und riss abermals sein Maul auf. Ein glühend heißer Feuerstoß fegte über die alte Harpune und den Hilfsmarshall hinweg. Die Hitze und der beißende Gestank verbrannten Fleischs trieben ihr die Tränen in die Augen.
Der Drache brüllte noch einmal und schickte einen weiteren Feuerball hinterher, der irgendwo am Rand der Stadt etwas in Brand setzte. Schreie vermischten sich mit dem Gestank des Feuers. Beißender Qualm vernebelte Lynn die Sicht. Sie glaubte, den Umriss des Feuerschwanzes noch einmal herabstechen zu sehen. Dann verschwand er, so schnell wie er gekommen war und ließ nur brennende Trümmer und Ratlosigkeit zurück.
Nachdem die Feuer gelöscht waren, öffnete Onkel Logan kurzerhand den Saloon und es schien, als habe die halbe Stadt nur darauf gewartet. Der Andrang war gewaltig. Lynn bediente die Gäste und wälzte Gedanken, die sich in den Gesprächsfetzen, die sie an der Theke aufschnappte, wiederfanden. Trotz der Nähe zu den Drachengebieten der Sierra Nevada war es fast zwei Jahrzehnte her, dass ein Drache die Stadt direkt angegriffen hatte. Was hatte sich verändert? Neben dem Marshall und seinen Hilfskräften zählten Rob und Lisa Ragburn zu den Opfern des Angriffs. Offiziell ging man davon aus, dass sie irgendwo in den verkohlten Überresten ihres Hauses lagen. Persönlich glaubte Lynn, dass sie im Maul des Feuerschwanzes gelandet waren. Nahrungssuche war noch eine der plausibleren Mutmaßungen zu dessen Auftauchen.
Zur Mittagszeit ließ der erste Ansturm nach. Lynn schlüpfte für eine Verschnaufpause in den Verbindungsbereich zwischen dem Saloon und dem angeschlossenen Lokal und setzte sich auf den ersten Treppenabsatz. Die Ruhe währte nicht lange. Die Tür des Nebenausgangs flog schwungvoll auf und Lynns beste Freundin Darcy stolperte herein. Ihre sonst rosige Haut war grau und ein paar vertrocknete Grashalme hatten sich in ihrem Haar verfangen .
»Was für ein grauenvoller Morgen.« Darcys Stimme klang zittrig. Sie reichte Lynn eine Hand, zog sie hoch und anschließend in ihre Arme. »Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist!«
»Ich habe den Feuerschwanz einfach nur angestarrt.« Lynn fuhr sich durch die Haare und fluchte leise, als sie an einem dicken Knoten in ihren dunklen Locken hängen blieb. Vielleicht hätte sie doch ein paar Minuten mehr für ein präsentables Aussehen in Anspruch nehmen sollen, bevor sie in den Saloon geeilt war. Sie beäugte sich und das desaströse Vogelnest auf ihrem Kopf kritisch in der Spiegelscherbe, die Darcy irgendwann mitgebracht und zwischen zwei Bretter geklemmt hatte.
»Das kommt sicher gut an, wenn ich nächste Saison einen Drachenjäger überzeugen will, mich mitzunehmen. Ob ich Erfahrungen mit Drachen habe? Ja klar, als Raptor Creek angegriffen wurde, stand ich einfach nur da und hab ihn angeglotzt. Klingt vielversprechend, oder?«
»Das war das Fürchterlichste, was ich je erlebt habe. Diese Drachen sind grausige Biester«, murmelte Darcy. »Ich lag heulend im Staub, genau wie alle um mich herum. Da ist Herumstehen gar nicht so übel.«
Sie schob Lynn beiseite und kniff sich nach einem Blick in den Spiegel in ihre Wangen. »Ich bin immer noch leichenblass.«
Lynn verzog das Gesicht.
»Komm schon!« Darcy stieß ihr in die Rippen. »Was hättest du denn tun sollen ? Ihn mit einem Pantoffel vom Himmel holen?«
Lynns Mundwinkel zuckten und dann brach sie in glucksendes Lachen aus. Darcy ließ sich nach einem Moment anstecken und kicherte, bis ihre Wangen doch noch ein wenig Farbe bekamen.
»Du hast ja recht.« Lynn lehnte sich gegen die Holzwand. »Ich hoffe so sehr, dass dieser Angriff die Drachenjagdsaison noch einmal anlaufen lässt.«
Darcy zuckte mit den Schultern. »Im Winter ist es doch viel zu kalt in der Sierra , oder?«
»Nur weil es noch nie gemacht wurde, ist es noch lange nicht unmöglich. Es gibt seit Jahren Gerüchte, dass die American Dragon Association über eine Winterjagdexpedition nachdenkt.«
Jeder, der sich schon mal mit der Jagd auf nordamerikanische Flugdrachen wie Feuerschwänze oder Silberrücken befasst hatte, wusste, dass diese sich zur Winterruhe hoch ins Gebirge zurückzogen. Das machte die Drachen zwar schwerer zu finden, aber war nicht genau das die Herausforderung, die neben all den Glücksrittern und Schatzjägern mal wieder ein paar echte Jäger anziehen würde?
UtahTerritory,November1860
Das Schnauben eines Pferdes in der trägen Stille des Mittags verriet die Ankunft der Fremden. Sie trugen breitkrempige Hüte und feuerfeste Mäntel. Der Herbstwind wirbelte Staub um ihre graphitverstärkten Drachenlederstiefel und auf dem Packpferd zwischen ihnen funkelte die Diamantharpune im Licht der Wintersonne. Es gab keinen Zweifel, Drachenjäger waren wieder in der Stadt.
Mit einem triumphierenden Grinsen drehte sich Lynn zu Darcy, die den großen gerahmten Kristallspiegel an der Wand mit einem Lappen polierte. Sie hatte die Spirituosen vom Regal genommen und auf der Theke verteilt.
»Drachenjäger!« Lynn schlug enthusiastisch auf den Bartresen und verfehlte nur knapp eine Flasche 1840er Bourbon Whiskey Liquor. »Ich wusste es!«
Darcy zuckte mit den Schultern. »Das werden nur ein paar Glücksritter sein nach dem Angriff vor ein paar Wochen.«
Lynn schüttelte den Kopf und spähte erneut aus dem Fenster. Die Männer bogen gerade in die Raptor Road ab. » Die Burschen da draußen haben eine Smith & Wesson DragonPro mit Diamantkopf.«
Darcy sah Lynn verständnislos an. »Und das ist … gut?«
Lynn schnaubte ungläubig. Wie Darcy in der Drachenjägerhochburg Raptor Creek leben und so wenig Ahnung haben konnte, war ihr ein Rätsel.
»Das ist so ziemlich die beste Harpune, die aktuell auf dem Markt ist.« Sie bewunderte die glitzernde Spitze der Jagdharpune, die sie zuvor nur in einem vom Sommer liegengebliebenen The Good Hunter Magazin gesehen hatte, bis diese mitsamt der Jäger aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Darcy verdrehte die Augen. »Schon verstanden, ich werde dir die anderen Gäste und Logan heute Abend vom Hals halten, damit du dich um die Jäger kümmern kannst, wenn sie ins Heartgold kommen.«
»Du bist die Beste!«
Darcy umfasste Lynns Hände, die nun doch vor Aufregung zitterten. »Verrenne dich in keine wilden Ideen, Lynn. Du willst doch nicht ernsthaft den Winter in einem Hochlager in der High Sierra verbringen?«
»Du verstehst das nicht.« Lynn riss sich los und ging vor Darcy auf und ab. »Du merkst doch selbst, wie jedes Jahr weniger Jäger nach Raptor Creek kommen. Die neuen Blauschuppenjagdgebiete in den Rocky Mountains, der jahrelange Streit zwischen Siedlern und dem Gouverneursbüro über die Jagdgebiete …«
Lynn blieb abrupt stehen und packte Darcy an den Schultern.
»Das könnte die letzte Chance für Raptor Creek sein, wieder ein bedeutendes Jagdgebiet zu werden. Wer weiß, wie lange der Feuerschwanz in der Gegend bleibt. Wir müssen diesen Winter nutzen!«
»Schon gut, du kannst mich loslassen.« Darcy lachte leise. »Mich musst du nicht von dieser Jagd überzeugen.«
Der Zusatz »sondern deinen Onkel« hing ungesagt in der Luft. Vielleicht würde er ihre Jagdambitionen endlich nicht mehr blockieren, wenn er erkannte, wie sie zum Erfolg der ankommenden Drachenjäger beitragen konnte und wie das Raptor Creek zugutekommen würde.
Lynn verließ den Saloon durch den Verbindungsraum. Die nächste Stunde beschäftigte sie sich damit, Chilischoten und Kartoffelstückchen in den brodelnden Bohneneintopf zu werfen und sich Worte zurechtzulegen, mit denen sie die Jäger am Abend beeindrucken wollte.
Am frühen Abend verkündete Onkel Logan die Hiobsbotschaft. »Du wirst heute die Gruppe aus Sacramento im Lokal betreuen. Das sind Herren von der Pacific Railroad Convention und du weißt, wie wichtig eine Haltestation an einer transkontinentalen Strecke für Raptor Creek wäre.«
Lynn starrte ihn entsetzt an. »Aber Onkel Logan, das geht nicht. Ich …«
Er unterbrach sie sofort und wie immer schaffte es sein strenger Blick, dass sie sich wie ein kleines Mädchen und nicht wie eine achtzehnjährige Frau fühlte.
»Ach ja, Lynn? Weshalb sollte das nicht gehen?«
Er dehnte die Frage bedeutsam aus. Die Adern in seinen verschränkten Armen traten unter den hochgekrempelten Hemdsärmeln hervor.
»Ich habe Darcy versprochen, dass sie heute das Lokal betreuen darf.« Lynns lahme Erklärung wurde zum Ende hin immer leiser. Sie verfluchte ihre unbedachte Reaktion. Onkel Logan machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen ihren Wunsch, Drachenjägerin zu werden. Er würde sich denken können, weshalb sie die Sacramento-Gruppe nicht bedienen wollte, obwohl Auswärtige meist gutes Trinkgeld versprachen und es im Lokal gesitteter zuging als im Saloon.
Der Konflikt um ihren Berufswunsch schwelte seit langem und Lynn hatte sich nach endlosen Streitigkeiten geschworen, ihn erst wieder damit zu konfrontieren, wenn sie sich tatsächlich einer Jagdgesellschaft angeschlossen hatte.
Onkel Logan machte sich nicht einmal die Mühe, auf das Scheinargument einzugehen. »Meine Entscheidung steht fest.«
Lynn presste die Kiefer aufeinander. Das Hinterfragen seiner Anweisungen hasste er noch mehr, als ihren Wunsch, Drachenjägerin zu werden.
»Also schön. Ich gehe mich umziehen.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, verschwand sie nach oben in den Wohnbereich. Die Kleiderstange in der Schlafkammer bot wenig Auswahl. Lynn fuhr mit den Fingerspitzen über die schlichten Kleider und strich über die zwischen zwei Unterröcken versteckten lederverstärkten Baumwollhosen, die sie für die künftige Drachenjagd hatte anfertigen lassen. Für einen Moment stellte sie sich Onkel Logans Blick vor, wenn sie mit diesem skandalösen Beinkleid im Lokal aufkreuzen würde. Kopfschüttelnd schob sie die Hose zurück in ihr Versteck. Der Tag für diese Konfrontation war nicht heute. Lynn wusste, was Onkel Logan erwartete, und griff nach dem schwarzen Kleid mit den roten Rüschen und dem tiefen herzförmigen Ausschnitt. So konservativ er auch war, sobald es um sein Geschäft ging, hatte Onkel Logan plötzlich keine Probleme mehr mit Offenherzigkeit – auch nicht bei seiner Nichte.
Sie warf ihr hochgeschlossenes Tageskleid aus Kaliko und das weiche Mieder aufs Bett. Missmutig zog sie das Korsett an. Es war bei Weitem nicht so eng wie jene, die Darcy trug, aber es drückte und kratzte, sodass Lynn es am liebsten an die Wand werfen wollte. Sie stieß die Luft aus und zog es fest. Wenigstens ließ es sich vorne schnüren und sie konnte sich ohne Hilfe anziehen. Lynn zupfte die Chemise unter dem Korsett zurecht und griff dann nach der spitzenbesetzten Kamisol. Beim Überziehen verfing sich die feine Spitze in einem der Haken des Korsetts. Lynn griff behutsam nach dem Haken und versuchte, den hauchdünnen Stoff wieder zu befreien. Es funktionierte nicht. Fluchend zog sie an dem Haken, um einen anderen Blickwinkel auf die verfangene Stelle zu erlangen. Ein Ratschen. Dann war der Haken befreit. Dafür hatte die Kamisol einen sichtbaren Riss im Spitzenmuster.
»So ein gottverdammter Drachenmist!« Fluchend trat Lynn näher an die Fensterscheibe, um sich in der Spiegelung zu betrachten.
Der Anblick war ernüchternd. Die Kamisol war ausgefranst, der Petticoat saß nicht richtig und der Saum der Röcke war ausgetreten. Wie alles in Raptor Creek hatte das Kleid seine besten Tage hinter sich.
Prompt juckte auch noch das verdammte Muttermal unter ihrer Brust, kaum dass sie sich unter dem starren Korsett nicht mehr kratzen konnte. Lynn seufzte. Es versprach einer jener Tage zu werden, an denen alles beständig weiter bergab ging.
Die Herren aus Sacramento waren zu fünft. Alle in feine Anzüge aus Seidenstoff gekleidet mit glänzenden, unpraktischen Zylindern auf dem Kopf, die im schummrigen Licht des Heartgold Lokals lächerlich wirkten. Der allgegenwärtige Staub in Raptor Creek hatte bereits begonnen, ihr vornehmes Äußeres aufzulösen, aber ihre arroganten Gesichtsausdrücke machten das wieder wett .
Lynn rümpfte innerlich die Nase und setzte ein unechtes Lächeln auf. »Einen schönen guten Abend, Gentlemen, ich bin Lynn Heartgold und stehe heute Abend ganz zu Ihrer Verfügung.«
Der Blick eines hochgewachsenen Blonden glitt verächtlich über ihren Rocksaum und die eingerissene Spitze an der Kamisol, bevor er an ihren Brüsten hängen blieb.
Lynn drückte ihre Schultern zurück. Ihr Lächeln verschwand und hinterließ den Wunsch, ein hochgeschlossenes Kleid zu tragen. Onkel Logans Eisenbahndeal hin oder her, sie würde nicht vor einem Haufen Männer kuschen, die nicht einmal in der Lage waren, ihre Kleidung den örtlichen Gegebenheiten anzupassen.
Einer aus der Gruppe, ein breitschultriger Mann, der trotz seines übertrieben akkurat gestutzten Schnauzers und des Zylinders recht attraktiv war, trat vor.
»Devon Milleford aus Washington.« Er vollendete seine Vorstellung damit, dass er ihre Hand ergriff und einen Kuss in die Luft darüber hauchte. Ein Ostküstensnob. Lynn hielt sich mit aller Kraft davon ab, die Augen zu verdrehen. »Ich bin Ingenieur bei der T.D. Judah & Company, Civil Engineers & Railroad Contractors und im Auftrag der Union Pacific Railroad Convention hier. Es ist mir eine Ehre, Miss Heartgold.«
Der Name des Unternehmens hatte mehr Buchstaben als die meisten Einwohner von Raptor Creek lesen konnten. Lynns Mundwinkel zuckten. Die anderen Männer stellten sich ebenfalls persönlich vor; etwas, das Lynn schrecklich unnötig vorkam. Die blassen Lippen des Blonden, der sich als Mr. Jeremy Stephan vorstellte, berührten als einzige tatsächlich ihren Handrücken.
Die nächsten Stunden verliefen ereignislos. Die Männer diskutierten über Pläne und Dokumente, die sie auf dem Tisch ausgebreitet hatten und beachteten sie kaum. Lynn war froh darum. Oft wollten Gruppen im Nebenzimmer deutlich mehr Kontakt mit ihrer Bedienung, mussten manchmal daran erinnert werden, dass sie sich im Lokal befanden und Lynn kein leichtes Mädchen aus dem Saloon oder Millies Freudenhaus war.
Nur die Blicke des herablassenden Mr. Stephan zogen sie jedes Mal aus, wenn sie sich über den Tisch beugte, um eine freie Stelle für Essen oder Getränke zu finden. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, wann immer sie es bemerkte.
Bei einer passenden Gelegenheit schlich Lynn zurück in den Saloon, um einen Blick auf die Drachenjäger zu erhaschen, doch diese saßen nicht in Sichtweite.
»Was hast du über sie herausgefunden?« Lynn schob sich sofort neben Darcy, als diese hinter der Bar auftauchte und nach einer Schnapsflasche griff.
»Der Anführer der Gruppe ist ein Kerl namens Sig Xant.« Darcy murmelte die Worte hinter einem höflichen Lächeln, während sie gekonnt die Flasche balancierte und goldenen Whiskey in das Glas eines Mannes am Tresen fließen ließ.
»Sig Xant?« Lynn fasste mit zittrigen Fingern nach der Kante der Theke. »Der Mann ist eine Legende!«
Darcy zuckte nur mit den Schultern und berichtete dann mit leuchtenden Augen von Bennett Becker, einem Kartographen, der sich der Gruppe angeschlossen und ihr schon mehrfach ein Lächeln geschenkt hatte.
Den restlichen Abend mit Onkel Logans Geschäftspartnern vertrieb Lynn sich damit, alle Geschichten über den legendären Drachenjäger durchzugehen, an die sie sich erinnern konnte.
Es war schon spät und die Eisenbahner rollten endlich ihre Unterlagen zusammen. Lynn griff gerade nach dem letzten benutzten Glas auf dem Tisch, als Mr. Stephan sie grob am Arm packte und auf seinen Schoß zog.
Überrascht keuchte Lynn auf und ließ alle Gläser fallen. Eines davon ging klirrend zu Bruch. Scherben flogen in alle Richtungen.
»Wird Zeit für ein bisschen Abendunterhaltung«, schnarrte der Blonde und drückte Lynn eng an sich. Sein Schnauzer kitzelte ihr Ohr und der heiße Atem roch nach Whiskey und faulen Zähnen.
»Lassen Sie mich bitte los, Mr. Stephan.« Lynn versuchte, jegliches Zittern aus ihrer Stimme herauszuhalten. Ihrer Erfahrung nach waren Typen wie Stephan nur mit Stärke zu beeindrucken.
Lachend strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
»Tu nicht so prüde, kleines Vögelchen. Wenn wir schon jenseits der Zivilisation sind, haben wir uns doch ein wenig Spaß verdient.«
Er knetete ihren Oberschenkel. Lynn sah sich wild um. Keiner der anderen Männer aus der Gruppe erwiderte ihren Blick. Mr. Milleford war nirgends zu sehen.
Stephans grobe Finger erreichten ihre Hüfte und Lynn beschloss, auf Onkel Logans Eisenbahngeschäfte zu pfeifen. Sie stieß kräftig ihren Ellenbogen nach hinten.
Stephan keuchte vernehmlich und ließ los.
Lynn sprang auf. Ihre Hüfte kollidierte mit der Tischkante. Sie stöhnte und stolperte ein paar Meter zurück. In ihrem Kopf war nur ein Gedanke: Flucht!
Wenige Schritte und eine gefühlte Ewigkeit trennten sie von der Tür.
Stephan stieß seinen Stuhl nach hinten, sprang auf und kam mit drohend erhobenen Fäusten auf sie zu.
»Du Miststück!« Blut pochte in seiner Schläfe und sein struppiger Schnauzer wackelte.
»Das ist ein ehrenhaftes Lokal. Wenn Sie ein verdammtes Vögelchen suchen, gehen Sie in Millies Freudenhaus.« Sie spie ihm die Worte entgegen. Die Herren starrten sie an, aber noch immer griff keiner ein. Stephan machte einen Schritt in ihre Richtung.
Drei Schritte noch bis zur Tür.
Lynn wich weiter zurück. Ihr Absatz verfing sich im ausgetretenen Saum ihres Kleides und sie konnte sich gerade noch mit beiden Händen an der Wand abfangen. Lynn drehte sich wieder um. Stephan hatte sie eingeholt und griff gierig grinsend nach ihr. Sie tauchte unter seinen Armen hindurch in Richtung der Tür, die in diesem Moment aufging.
Mr. Milleford trat herein, begleitete von Onkel Logan, der die Situation für einen Moment studierte. Nur sein zuckendes Auge verriet seinen Ärger. »Was ist hier passiert?«
»Ihr Saloonflittchen hat mich grundlos angegriffen!« Stephan rieb sich mit verzerrtem Gesicht die Seite.
Lynn entwich ein ungläubiges Schnauben. »Er hat mich begrabscht!«
Onkel Logan sah zwischen ihnen hin und her, als seien sie nervige Kakerlaken. Dann ignorierte er sowohl Lynn als auch Stephan und wandte sich an seinen Begleiter. »Ich bedauere diesen Zwischenfall, Mr. Milleford. Wenn wir dieses Missverständnis mit ein paar Drinks aufs Haus aus dem Weg räumen könnten, wäre ich Ihnen ausgesprochen verbunden.«
Wie bitte? Wut und Enttäuschung vernebelten Lynns Sicht.
»Ich werde mich selbst darum kümmern.« Onkel Logan bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, den Raum zu verlassen.
Lynn presste die Zähne zusammen und funkelte ihn wütend an. Wenn es nach ihr ging, konnte er sich sein Eisenbahngeschäft sonst wo hinstecken. Schweigend drehte sie um und stolzierte mit aller Würde, die sie zusammenkratzen konnte, aus dem Raum.
Lynn trat durch den Nebenausgang auf die Straße und sog gierig die Luft ein, aber es war nicht genug. Die Häuser erdrückten sie. Die Stadt roch nach Dreck, Whiskey und Menschen und sie brauchte frische Luft. Entschlossen rannte sie los. Die ganze Raptor Road entlang, vorbei an Wohnhäusern, der notdürftigen Kapelle und dem Bretterverschlag, der in Raptor Creek als Schule bezeichnet wurde, bis sie die Häuser endlich hinter sich ließ.
Ihre Röcke wirbelten Staub auf, als sie dem mondbeschienenen Pfad zwischen scharfkantigen Felsen und dornigen Kreosot-Büschen auf ein Plateau folgte. Oben angekommen blieb sie stehen. Lynn legte den Kopf in den Nacken und atmete die kalte Luft ein, die hier oben immer nach Ruhe und Freiheit roch. Ihr Atem blies kleine Dampfwolken in den sternenklaren Himmel. Doch heute vermochte selbst die Einsamkeit der Nacht es nicht, die Gedanken und Erinnerungen zu unterbinden, die in endloser Wiederholung durch ihren Kopf geisterten. Wie konnte dieser aufgeblasene Drachenbock es wagen? Was wäre passiert, wären Onkel Logan und Mr. Milleford nicht zurückgekommen? Ihr schauderte. Es fühlte sich an, als trüge der eisige Nachtwind heute den lüsternen Atem von Stephan mit sich. Derartige Umgangsformen waren nicht ungewöhnlich in einer Stadt wie Raptor Creek und schon gar nicht, wenn man in einem Saloon arbeitete. Lynn kannte keine Frau, die keine Erfahrungen mit Gewalt gemacht hatte, aber das machte es nicht erträglicher, diese zu erleben.
Sie ließ sich auf den Boden sinken und starrte in die Dunkelheit. Jenseits der Stadt lag die karge Felswüste. Das Land war flach. Gelegentlich erhob sich ein Kaktus wie ein mahnender Zeigefinger und am Horizont zeichneten sich die schattenhaften Gipfel der Sierra Nevada ab. Die Berge riefen nach ihr. Lockten mit dem Versprechen von Abenteuer und Ruhm und der Chance mehr zu sein. Mehr als die Nichte von Logan Heartgold. Mehr als Beute für Männer wie Stephan. Lynn schwor sich, einen Weg zu finden, Teil der nächsten Drachenjagdexpedition zu werden.
Sie rief sich das Gefühl in Erinnerung, als Sig Xants Eintreffen ihre Hoffnung auf eine baldige Gelegenheit hierzu geschürt hatte. Drachenjagd. Seit sie denken konnte, wollte sie auf die Jagd gehen. Je älter sie wurde, desto mehr war aus dem einstigen Mädchentraum eine ernsthafte Ambition geworden. Und jetzt? Jetzt war sie endlich bereit loszuziehen und ihre eigene Geschichte zu schreiben. Kalte Entschlossenheit machte sich in ihr breit. Onkel Logan hatte gerade eindrucksvoll bewiesen, wie wichtig sie ihm war. Sie würde nicht länger zögern, nur weil sie auf seinen Segen hoffte.
Das Gebüsch vor ihr bewegte sich. Das Flüstern der Schritte war so leise, dass es auch nur das Rascheln des Windes in den staubigen Büschen hätte sein können. Lynns Nackenhärchen stellten sich auf, noch bevor das Knurren erklang. Sie hatte nichts bei sich. Keine Waffe, kein schützendes Feuer, wie ein verdammtes Greenhorn! Fluchend sprang sie auf.
Der Kojote schlich zwischen den Büschen hervor, die Schnauze nach oben gerissen und zum Ansatz eines Heulens verzogen. Vielleicht Triumph, vielleicht der Ruf an ein Rudel, dass er lohnende Beute gefunden hatte. Der Wind drehte und eine scharfe Böe wirbelte Lynns Locken in ihr Gesicht. Ohne den Kojoten aus den Augen zu lassen, strich sie diese ungeduldig zurück. Das Raubtier erstarrte. Das hellbraune Fell zitterte. Seine Nase zuckte und sein Blick schien Lynn zu durchbohren. Dann heulte er auf, als sei er getreten worden, kniff den Schwanz ein und huschte zurück in das Gebüsch, die Schnauze unterwürfig nach unten gerichtet.
Lynns Atem hallte gehetzt und keuchend in die Nacht. Was hatte den Kojoten vertrieben? Sie lauschte, aber kein weiteres verdächtigtes Geräusch war zu hören. Zitternd vor Kälte machte sie sich auf den Rückweg. Ihr Bedarf an nächtlichen Begegnungen war gedeckt. Zurück in der Stadt lag der Gastraum bereits im Dunkeln und aus den Privaträumen drang kein Kerzenschein mehr.
Lynn schlich sich über die Treppe nach oben und zog im Dunkeln ihr ruiniertes Kleid aus. Onkel Logans sanftes Schnarchen begleitete sie bis in den Schlaf.
Alles verzehrende, schwarze Flammen wachsen aus dem Boden und züngeln empor. Höher, höher, bis sie Raptor Creek verschlingen. Rotglühendes Inferno. Der Saloon, Onkel Logan, Darcy, alles brennt. Schreie vermischen sich mit dem Knacken des Feuers. Lynn sieht sich selbst in der Mitte des Dorfplatzes stehen, die Hände erhoben. Ihre Haare peitschen in ihr Gesicht, ihre Augen blitzen mit gelbem Feuer und lange Krallen wachsen aus ihren Händen.
Sie will die Flammen ersticken, aber stattdessen strömen immer mehr und mehr und mehr aus ihrem Herzen und verschlingen alles, was ihr teuer ist.
»Lynn? Lynn!«
Die Worte drangen wie durch dichten Nebel zu ihrem Verstand durch. Lynn bäumte sich auf und warf sich hin und her. Unmenschliche Schreie verätzten ihre Kehle mit der Urgewalt, mit der sie aus ihr herausbrachen.
»Lynn!«
Starke Hände hielten ihr Gesicht fest und zwangen sie, in Onkel Logans weit aufgerissene Augen zu sehen. Die Sorge darin war wie ein Anker im Strudel der Verzweiflung.
Sie umklammerte seine Handgelenke und es war überraschend anstrengend, die Lippen zu schließen. Ihre Kehle war rau und schmerzte.
»Albtraum?«, fragte er unnötigerweise und löste sich vorsichtig aus ihrer Umklammerung.
Lynn nickte erschöpft und trank langsam das Glas Wasser, das er ihr reichte, bevor er aufstand und mit einem nassen Lappen zurückkam.
»Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.« Er drückte den Lappen sanft gegen ihre erhitzte Stirn. »Wieder ein Drachenalbtraum?«
Seine Frage weckte Lynns Lebensgeister. Sie presste die Lippen aufeinander und bereute einmal mehr, Onkel Logan jemals davon erzählt zu haben.
»Keine Drachen«, erwiderte sie und verdrängte das schlechte Gewissen angesichts der Lüge. »Mein Abend hat genug Material für Albträume hergegeben.«
Onkel Logans Schultern sackten ein winziges Stück nach unten. »Es tut mir leid, wie der Abend gelaufen ist.«
Lynn presste die Hände gegen die Schläfen. Die Schrecken des Abends waren verblasst vor dem Horror des Traums, doch nun kehrte die Erinnerung an Stephans gieriges Stieren zurück.
Onkel Logans Blick ruhte schwer und ernst auf ihr. Müde ließ Lynn sich in die Kissen zurücksinken. Sie schwieg erwartungsvoll, aber es folgten keine weiteren Worte. Stattdessen ging Onkel Logan zurück zu seinem Bett und sie sah ihm bitter hinterher.
LynnerwachteeinigeStunden später. Sie fühlte sich wie gerädert, aber sie war fest entschlossen, endlich bei den Drachenjägern um Xant vorstellig werden.
Wenig später trat sie vor die Tür des Saloons und reckte ihre Nase gen Himmel. Die Morgensonne vertrieb noch die letzten Schatten der Nacht. Mit einer verbeulten Metalldose in der Hand spazierte sie zu Darcys kleinem, windschiefem Holzhäuschen am Ende der Clearbridge Road, das diese sehr zum Missfallen der konservativeren Herrschaften in Raptor Creek allein bewohnte. Sie hatte jung geheiratet und war beinahe ebenso jung durch den Unfalltod ihres Mannes wieder zur Witwe geworden. Lynn hämmerte mit der freien Hand gegen die Tür. Es dauerte einen Moment, bis Darcy mit schlafverquollenen Augen die Tür öffnete. Ihre blonden Locken standen in alle Himmelsrichtungen ab und sie rieb sich über die Augen, bevor sie sich seufzend umdrehte und durch den winzigen Flur in die Küche wankte.
»Heute ist mein freier Tag und du weckst mich zu dieser gottlosen Stunde?« Darcy stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in ihren Händen, während Lynn den Inhalt der Dose in einen Topf schüttete und mit Wasser aufgoss. Bald füllte der nussigwarme Geruch frisch gebrühten Kaffees den Raum. Lynn bereitete zwei Tassen vor und stellte diese auf den Tisch.
Darcy griff gierig nach einer und hielt ihre Nase direkt in den Dampf. »Du hast mir den guten Kaffee aus dem Saloon gebracht?«
Lynn grinste triumphierend. Die Kaffeemischung, die Onkel Logan von einem Händler aus St. Louis bezog und im Lokal servierte, war weit über die Stadtgrenzen von Raptor Creek bekannt und nach eigener Aussage der beste Kaffee diesseits des Mississippi, da er weder mit Weizen gestreckt noch sonst wie verdünnt war.
»Ich habe mir gedacht, dass ich nach deinem langen Arbeitstag zu schweren Geschützen greifen muss.« Lynn zog grinsend ihre eigene Tasse näher.
»Komm du mal in mein Alter, dann reden wir weiter.« Darcy tat, als ob die drei Jahre einen riesigen Unterschied machen würden. Sie nahm einen andächtigen Schluck. Lynn begann auf ihrem Stuhl hin und her zu wackeln.
Darcy ließ sie schmoren, bis sie die halbe Tasse leergetrunken hatte, dann gab sie nach.
»Sig Xant und seine Truppe sind tatsächlich hier, um eine große Jagdexpedition zu starten. Die erste offizielle Winterexpedition in der Sierra Nevada.«
»Ja! Ich wusste es!« Lynn stieß die Hand in die Luft und sprang auf.
»Xant ist für die American Dragon Association tätig.« Darcy beobachtete Lynn mit einem amüsierten Lächeln. »Die statten die komplette Mission aus. Deshalb ist auch Bennett dabei. Er soll mögliche Wege in dem Gebiet kartographieren, sodass künftig auch im Winter regelmäßig professionelle Jagden möglich sind.«
»Das ist großartig.« Schmetterlinge tanzten in Lynns Bauch. »Das wird der Jagd Aufschwung geben. Da kann Onkel Logan zu meiner Teilnahme gar nicht mehr nein sagen.«
Die ADA hatte seit Jahren keine Expeditionen in Raptor Creek mehr ausgestattet. Wenn sie nun großzügig investierten, ging es nach der jahrelangen Blockade durch den Streit zwischen Siedlern, Mormonen und der ADA endlich voran.
»Lynn, Xant hält nichts von Frauen auf Expeditionen.« Darcy sah sie warnend an. »Das hat er gestern mehrfach erwähnt.«
Lynn ignorierte sie. In Gedanken ritt sie schon mit einer dicken Biberpelzmütze über die windgepeitschte Hochebene. »Es wird dauern, bis die alles zusammen haben. Mehr als genug Zeit, ihn zu überzeugen.«
Lynn zuckte zusammen, als Darcy direkt vor ihrem Gesicht schnipste und sie aus ihren Träumereien riss.
»Ich sagte, heute begleite ich Bennett und ein paar der anderen Drachenjäger zum Mittagessen in Shirly’s Lokal. Du kannst mitkommen.«
»Das ist perfekt.« Sie schlang ihre Arme um Darcy, die gerade noch rechtzeitig ihre Kaffeetasse aus der Gefahrenzone schob.
Die Umarmung gab Lynn die Gelegenheit, ihre Freundin aus nächster Nähe zu betrachten. Darcys Wangen machten jedem Sonnenuntergang hinter dem Kamm der Sierra Nevada Konkurrenz und Lynn schalt sich einen selbstgefälligen Esel, dass sie nicht früher nachgefragt hatte.
»Bennett, mh? Erzähl mir alles!« Lynn setzte sich vor Darcy auf die Tischkante und wackelte mit den Beinen.
»Das ist unziemlich«, schalt Darcy sanft und deutete auf Lynns weit über die Knöchel hochgerutschten Rock.
»Es ist niemand hier, den das stören könnte.« Lynn zuckte mit den Schultern. »Also hör auf abzulenken!«
»Er war gestern Abend wirklich sehr freundlich. Höflich. Zurückhaltend.« Darcys Worte waren ruhig, aber Lynn kannte sie gut genug, um die Nervosität dahinter zu erkennen.
Sie hob eine Augenbraue und sah ihre Freundin unverwandt an.
»Und er sieht so gut aus. Diese leuchtend blauen Augen und er hat so kräftige Hände.« Darcys Zurückhaltung endete mit einem quietschenden Geräusch. »Ich war den ganzen Abend furchtbar nervös und am Ende habe ich sein halbes Ale auf ihn gekippt. Er hat mich gemustert und gemeint, dass ich zur Entschädigung mit ihm essen gehen müsste.«
»Ich freue mich für dich!« Lynn strahlte Darcy an und beschloss für sich, diesen Bennett genauer unter die Lupe zu nehmen. Nach dem tödlichen Planwagenunfall ihres Mannes Phil vor zwei Jahren hatte ihre Freundin dringend etwas Glück verdient.
»Und ich freue mich, Bennett dann heute Mittag kennenzulernen.« Lynn hoffte, dass der Kartograph hielt, was er versprach.
Ihre Gedanken schweiften zum Vorabend und ihrer eigenen Begegnung mit Neuankömmlingen in der Stadt, die so viel weniger erfreulich verlaufen war. Etwas von ihren Gedanken musste sich in ihrem Gesicht spiegeln. Darcys Lächeln verblasste langsam und sie legte eine Hand auf Lynns Finger, die begonnen hatten, rastlos gegen den Tisch zu trommeln.
»Alles in Ordnung?«
Lynn atmete schaudernd aus. »Sei bei deinen nächsten Schichten vorsichtig bei den Eisenbahntypen. Ganz besonders bei dem großen Blonden. Mr. Stephan.« Sie spuckte den Namen des Mannes hasserfüllt aus und berichtete Darcy in knappen Worten, was vorgefallen war.
»Das nächste Mal haust du ihn um!« Darcy begleitete die Aussage mit einer dramatisch schwingenden Geste.
Lynn lachte und verbesserte die Haltung ihrer Freundin, sodass ihre Hände in Kopfhöhe erhoben waren und die Daumen auf der geballten Faust auflagen. Innerlich hoffte sie, dass diese Eisenbahner zum Teufel fuhren und Raptor Creek so schnell wie möglich verließen.
Eine Stunde später kollidierten ihre Mittagspläne mit Onkel Logans Vorstellungen von ihrer Tagesplanung.
»Auf keinen Fall werde ich mit diesen Menschen Mittagessen gehen!« Lynn stemmte bekräftigend die Hände in die Seiten.
»Mr. Milleford hat mir versichert, dass Mr. Stephan zu einer Erkundung potentieller Schienentrassen außerhalb der Stadt ist. Er bedauert dieses Missverständnis und bat mich, dir das auszurichten«, erwiderte Onkel Logan, so als löse das all ihre Bedenken in Luft auf.
»Missverständnis.« Lynn schnaubte.
An Onkel Logans Hals pochte eine dicke Ader und er kniff die Augen zusammen. »Du weißt, dass dieser Deal für den Fortschritt von Raptor Creek essenziell ist.«
»Ebenso wie die Drachenjagd!«, konterte Lynn. »Wir haben eine von der ADA ausgestattete Expedition in Raptor Creek. Eine Winterexpedition. Die ADA hat den Streit mit dem Gouverneursbüro offensichtlich beigelegt. Das ist die Gelegenheit, die Drachenjagd in der Gegend neu zu beleben.«
Onkel Logan verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie von oben herab an. »Das ist korrekt. Die ADA ist schon überzeugt. Die Pacific Railroad Convention hingegen ist es noch nicht. Darüber hinaus ist eine transkontinentale Eisenbahnstation viel nachhaltiger, als sich darauf zu verlassen, dass die südöstliche Sierra weiterhin reiche Drachenvorkommen hat.« Er legte den Kopf schief. »Und wenn es ein wenig weiblichen Charmes bei einem Mittagessen bedarf, um Mr. Milleford die Vorzüge dieses Standorts nahe zu bringen, dann kriegt er diesen.«
Der Blick, mit dem er sie maß, war pures, kaltes Kalkül. Vor ihr stand der Politiker Logan Heartgold und in seiner gesamten Haltung war nichts von Onkel Logan zu entdecken. Lynn wünschte sich einmal mehr, er wäre nie in den Stadtrat eingetreten und hätte seine politischen Ambitionen entdeckt.
»Das Interesse der ADA ist ein gutes Argument, Lynn. Du kannst es Mr. Milleford ja bei eurem Mittagessen näherbringen.«
Lynn ballte die Hände zu Fäusten und presste ihre Fingernägel in ihre Handinnenfläche. »Du willst, dass ich dir bei deinen Zielen für Raptor Creek helfe, aber du stellst dich meinem Traum von der Drachenjagd immer entgegen.«
Onkel Logan seufzte. Seine Stimme war besänftigend, aber seine Haltung büßte nichts von ihrer Härte ein. »Ich will nur das Beste für dich, Lynn. Wann erkennst du endlich, dass es dir nicht guttun würde, diese Biester zu jagen?«
»Ich weiß, was ich will. Was ich kann. Sprich doch mit James Smith, er wird es dir bestätigen.« Sie hasste, dass ihre Stimme selbst in ihren eigenen Ohren eher flehend als selbstbewusst klang und verfluchte sich, dass sie eine Diskussion begann, von der sie sich zuvor geschworen hatte, diese erst wieder bei einem konkreten Anlass zu führen.
»Ich zweifle nicht daran, dass Smith dir einiges beibringen kann«, erwiderte Logan. »Auch wenn ich es nicht schicklich für eine Dame halte. Das ändert jedoch nichts daran, dass du an Albträumen leidest, seit dieser Feuerschwanz die Stadt angegriffen hat. Ich bezweifle daher aus gutem Grund, dass du in der geistigen Verfassung bist, an einer Jagdexpedition in der Wildnis teilzunehmen.«
Seine Worte wurden zum Ende hin sanfter. »Es ist keine Schande, nicht für die Jagd gemacht zu sein.«
Lynn konzentrierte sich ganz auf ihre flache Atmung. Mühsam hielt sie die Tränen zurück. Sie würden ihn nur darin bestätigen, dass er sie für schwach hielt.
»Ein Mittagessen.« Schnell brachte sie die Worte hervor. Sie konnte keine Sekunde länger dieses Gespräch führen. »Aber wenn mir irgendeiner dieser Eisenbahntypen noch einmal zu nahekommt, halte ich mich nicht mehr zurück.«
Mr. Milleford war bemüht. Er war höflich und deutete sogar eine Entschuldigung für das Verhalten seines Begleiters an. Seine Erzählungen über die Expansion der Eisenbahn in den Westen waren so interessant, dass Lynn beinahe geneigt war, über die affektierte Art und Weise, wie er die Gabel hielt und mit gespitzten Lippen sein Steak aß, hinweg zu sehen. Beinahe, da keine Eisenbahn der Welt mit der Drachenjagd mithalten konnte und eine weitere Gelegenheit, bei Xant vorstellig zu werden, mit jeder verstreichenden Minute durch ihre Finger rann.
Lynn lächelte starr, nickte an den richtigen Stellen und verschlang ihren Eintopf so schnell, dass ihr Essverhalten mehr dem eines Goldgräbers als dem einer Dame ähnelte.
Mr. Milleford nutzte ihr Schweigen, um ihr mehr über die geplante Trasse bis nach Kalifornien zu erzählen und Lynn erkannte die Gelegenheit, das Gespräch in eine interessantere Richtung zu lenken. »Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wie Sie die Eisenbahn gegen Drachenangriffe schützen wollen, wenn Sie durch die Drachenterritorien fahren?«
Mr. Milleford fasste sich affektiert mit einer Hand ans Herz. »Sie meinen, ein Drache würde die Eisenbahn angreifen?«
Die Worte klangen ungläubig, als wäre der Gedanke unvorstellbar. Lynn schnaubte nicht sonderlich damenhaft. Ihr wollte kein Grund einfallen, weshalb ein Drache die Eisenbahn nicht angreifen sollte, insbesondere wenn diese durch sein Jagd- oder Brutgebiet fuhr.
Erst verspätet fiel ihr auf, dass diese Tatsache Onkel Logans Werben für Raptor Creek als Station der geplanten Eisenbahntrasse entgegenlaufen würde. Vorsichtig ruderte sie zurück. »Ich weiß es nicht.«
Mr. Milleford runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, die Konstrukteure werden sich etwas überlegen. Ich hörte, dass Drachenfeuer künftig auch für den zivilen Bahnverkehr als Energiequelle genutzt werden soll.«
Lynn beugte sich unwillkürlich weiter vor. »Wie aufregend.«
Mr. Milleford zuckte mit den Schultern. »Bedauerlicherweise kann ich nicht mehr dazu berichten. Mein Spezialgebiet ist die Trassenplanung, nicht die Bahnkonstruktion.«
Lynn hing noch einen Augenblick ihren Gedanken nach. Schwanzdornen von Feuerschwänzen wurden Gerüchten zufolge seit einiger Zeit in militärischen Zügen und angeblich auch in den neumodischen Luftschiffen, die Lynn nur aus Erzählungen kannte, eingesetzt. Die hochtrabenden Pläne für die Ausweitung des Schienennetzes würden bedeuten, dass eine viel größere Zahl an Dornen verfügbar sein müsste, wenn diese für die zivile Bahnfahrt eingesetzt werden sollten. Was wiederum einen erheblichen Hochlauf der Jagd zur Folge hätte. Nachdenklich widerstand sie dem Drang, an ihrem Muttermal zu kratzen und überlegte, wie sie das Wissen am besten in einer Diskussion mit Onkel Logan verwenden konnte.
Die Gesprächspause wurde unangenehm lang und sie bemerkte, dass Mr. Milleford sie erwartungsvoll ansah. Auf ihren fragenden Blick hin wiederholte er seine Frage:
»Waren Sie schon einmal in Washington, Miss Heartgold?«
Lynn bedauerte den Themenwechsel. Die Frage war zwar politisch weniger heikel, dafür aber auch viel langweiliger. »Ich war noch nie im Osten. Ich bin schon mein ganzes Leben lang in Raptor Creek und da gefällt es mir auch.«
Mr. Milleford riss übertrieben die Augen auf, als sei das eine völlig absurde Aussage.
»Aber würde es Sie nicht reizen, einmal den Frühling in Washington zu erleben? Alles blüht und die ersten Schiffe nach dem Winter bringen die neueste Mode aus Europa mit in die Städte. Seit ich in der kalifornischen Wildnis lebe, vermisse ich diese Vorzüge umso mehr.«
Lynn fragte sich, was seine geschätzten kalifornischen Kollegen dazu sagen würden, dass er ihre Hauptstadt Sacramento als Wildnis bezeichnete. Sie faltete damenhaft ihre Hände und beugte sich ein wenig vor, um ihm verschwörerisch zuzulächeln. »Im Gegenteil, Mr. Milleford. Was mich reizt, ist die Drachenjagd.«
Er schnappte empört nach Luft. »Sie meinen … Sie selbst?«
Lynn nickte vergnügt. »Aber ja. Es gibt durchaus erfolgreiche Drachenjägerinnen. Das ist ja das Schöne hier im Westen. Jeder ist seines Glückes Schmied.«
Das stimmte so natürlich nicht ganz. Die meisten Damen, die mit auf eine Expedition gingen, begleiteten ihre Ehemänner und bewirteten das Lager. Aber es gab durchaus Ausnahmen und Lynn war fest entschlossen, sich ihre Sporen auf der Jagd zu verdienen.
Mr. Milleford fing sich wieder und lenkte das Gespräch auf irgendeine Tanzveranstaltung in Washington. Zumindest beharrlich war er, das musste man ihm lassen.
Lynn warf einen Blick aus dem Fenster und fasste einen Entschluss.
»Mr. Milleford, es tut mir schrecklich leid, aber ich fühle mich unwohl. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich mich in meine Räume zurückziehe?«
Sie setzte eine leidende Miene auf und fasste auffällig unauffällig an ihren Unterleib. Die implizierten Frauenleiden erstickten jede potenzielle Nachfrage ihres Gegenübers und er war hastig darin, aufzustehen und ihr seine Genesungswünsche zu übermitteln.
Lynn behielt ihren leidenden Gesichtsausdruck bei, bis sie durch die Tür im Zwischengang nach draußen geschlüpft war.
Dann eilte sie zwischen leerstehenden Häusern und halbverfallenen Baracken, die teilweise schon länger leer standen und teilweise nach dem Drachenangriff einfach nicht wieder aufgebaut worden waren, auf Nebenpfaden zu Shirly’s Bar und betete, dass die Drachenjäger noch dort waren. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie durch eines der verrußten Fenster Darcys Locken erblickte.
Sig Xant sah aus wie ein Werbeplakat für einen Drachenjäger. Groß, breitschultrig, mit sorgfältig gestutzten dunklen Locken unter dem abgewetzten Hut. Intelligente Augen lagen in seinem wettergegerbten Gesicht, das jünger war als erwartet. An seinem Gürtel glänzten die Schuppen erlegter Drachen und um den Hals trug er eine Kette mit der Kralle einer Blauschuppe. Seine Körperhaltung strahlte pures Selbstvertrauen aus und es gab keinen Zweifel an seiner Machtstellung innerhalb der Gruppe, mit der er zusammensaß.
Lynn hielt zielstrebig auf Darcy zu und ballte ihre Hände zu Fäusten, um nicht nervös an ihrem Muttermal zu kratzen oder durch ihr Haar zu fahren.
Am Tisch saßen drei weitere Männer, von denen einer Darcy ansah, als hätte sie den Mond an den Himmel gehängt – Bennett demzufolge.
»Das ist meine Freundin Lynn.« Darcy machte eine einladende Geste. »Sie ist die Nichte von Logan Heartgold, dem Besitzer des Heartgold Saloon und Vorsitzenden des Stadtrats.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Lynn verfluchte das Zittern in ihrer Stimme und wünschte sich Darcys Leichtigkeit, als sie ungelenk neben Darcy auf die Sitzbank rutschte. »Es ist mir eine große Ehre, Mr. Xant.«
»Die Freude ist meinerseits, Miss Heartgold.« Er hob nicht einmal den Blick.
Keine Worte wollten Lynns Mund verlassen. Sie verfingen sich in ihrer zugeschnürten Kehle und formten einen großen Klumpen. Die unangenehme Stille am Tisch zog sich einen Moment, bis Darcy es brüsk brach: »Lynn interessiert sich sehr für die Drachenjagd.«
Xant hob eine Augenbraue und lehnte sich gönnerhaft in seinem Stuhl zurück.
»Ich hörte, Sie sind jetzt im Auftrag der ADA unterwegs.« Lynn brachte die Worte mühsam hervor. Schweiß lief ihren Nacken hinab.
»Das ist korrekt.« Auf Xants gelangweilte Worte folgte erneut unangenehme Stille.
Das Gefühl, unwillkommen zu sein, setzte sich wie ein Gewicht in Lynns Magengrube fest.
»Schau mich wenigstens an!« Lynn zuckte zusammen, als sich ihr alle Köpfe zuwandten und sie bemerkte, dass sie laut gesprochen hatte. Während sie auf den Gesichtern der anderen Jäger ungeduldige Geringschätzung fand, waren Xants eisblaue Augen spiegelnde Seen, die nichts von seinen Gedanken wiedergaben. Unauffällig rieb Lynn ihre schwitzigen Handflächen an ihrem Baumwollrock ab. Die bittere Flamme der Wut verbrannte den Kloß in ihrem Hals.
»Hängt die Erwägung der ADA eine Winterexpedition in der High Sierra zu fördern mit dem Feuerschwanzangriff in Raptor Creek vor einigen Wochen zusammen?«, fragte sie. »Die Drachenjagd in der südöstlichen Sierra Nevada war in den letzten Jahren aufgrund der politischen Situation rückläufig.«
Ein Hauch von Interesse blitzte in Xants gelangweiltem Blick auf und er neigte den Kopf. »Die Pläne existieren schon seit dem Ende des Utah-Kriegs, aber der Angriff trug zu ihrer schnellen Umsetzung bei.«
»Das sind gute Neuigkeiten.« Der unangenehme Druck in Lynns Magengrube ließ ein wenig nach. »Auch wenn ich gespannt bin, wie sie die Ausrüstung für eine Feuerschwanzjagd im Winter in die unwirtlichen Höhenlagen transportieren wollen.«
»Sie haben recht, das wird eine Herausforderung.« Einer der anderen Männer reichte ihr seine Hand. Er hatte das weiche Gesicht eines Mannes, der wenig Zeit in der Natur verbrachte. Lediglich das Alter hatte Furchen in seine Stirn gemeißelt. »Bill Crawley, Verbindungsmann der ADA. Wir planen schon lange eine Winterexpedition, aber bisher fehlte es an Mitteln, um diese in Angriff zu nehmen. Wie Sie richtig erkannt haben, war der eskalierende Streit zwischen den Siedlern und der Regierung in den letzten Jahren ein Hemmschuh für offizielle Expeditionen. Umso erfreulicher ist es, dass Gouverneur Cumming die wirtschaftliche Bedeutung der Drachenjagd wieder richtig einordnet.« Ein mörderischer Ausdruck huschte so kurz über Xants Gesicht, dass Lynn sicher war, ihn sich eingebildet zu haben. Crawley trank unbeeindruckt einen Schluck. Lynn musterte den ADA-Verbindungsmann mit neu erwachtem Interesse. Wenn Xant sich querstellen sollte und die ADA die Expedition finanzierte, war er vielleicht ihre Chance.
»Wie Darcy sagte, ist die Jagd für mich von großem Interesse.« Lynn sprach zu Crawley, aber aus dem Augenwinkel beobachtete sie Xant.
Dieser nahm sie nun doch genauer in Augenschein. Hoffnung kribbelte in ihren Fingerspitzen.
»Die erwarteten Witterungsbedingungen stellen uns vor gewaltige logistische Herausforderungen«, gab Xant zu. »Kann Ihr Onkel uns Hilfe bei der Beschaffung von Gütern leisten? Wir brauchen Pelze, Felle, haltbare Lebensmittel und einen zusätzlichen Grundstock an Brennholz.«
»Onkel Logan wird Ihnen die Kontakte vermitteln können. Die meisten Farmer und Händler in der Gegend kennen die Bedarfe einer Drachenjagdexpedition.«
Der Dritte in der Gruppe schaute aufmerksam auf. »Ich werde den Kontakt aufnehmen. Mein Name ist Mark Ashwinder, ich bin der Koch für das Basislager.«
Lynn nickte höflich und versuchte dann, das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken. »Müssen Sie außer ihren Vorräten auch ihre Mannschaft aufstocken? Ich nehme an, für eine Winterexpedition brauchen Sie viele gute Leute.«
Xants Augenbrauen zogen sich minimal zusammen. Lynn war sich sicher, dass ihr gesamtes Gesicht hoffnungsvoll leuchtete.
Dann lachte er spöttisch auf. »Das ist korrekt, Miss Heartgold. Das Basislager muss anders betrieben werden als im Sommer und ein paar zusätzliche Jäger mit Erfahrung sind immer gerne gesehen. Wir sind daher auf der Suche nach ein paar guten Männern.«
Crawley lachte unangenehm auf und ihre Hoffnung in ihn schwand. Hitze stieg in Lynns Wangen.
»In Raptor Creek gibt es viele Talente«, warf Darcy ein.
Xant kräuselte die Lippen und sah Lynn mit offener Geringschätzung an. »Mark braucht noch Unterstützung bei der Versorgung im Basislager. Wenn Sie gerne in der Kälte Eintopf kochen wollen, finden wir sicher etwas für Sie.« Wäre sie ein Feuerschwanz, hätte sie Xant in diesem Moment einen Feuerball entgegengespien, stattdessen maß sie ihn mit einem festen Blick, entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen.
»Ich will Sie nicht als Köchin begleiten, sondern auf die Jagd gehen. « Sie versuchte, die Worte so ruhig wie möglich vorzubringen, aber ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren schrill.
Xant seufzte gequält. »Sehen Sie, Ihr Temperament langweilt mich schon jetzt. Für die Jagd brauche ich tatkräftige Männer mit klarem Verstand.«
Darcy rutschte ein Stück näher und drückte Lynns schweißnasse Hand unter dem Tisch. »Wussten Sie, dass Raptor Creek ursprünglich Ruther Creek hieß und zu Ehren des legendären Drachenjägers Raptor Gore umbenannt wurde?« Darcy lächelte Xant unschuldig an.
»So hörte ich. Ein inspirierender Mann.« Seine Worte waren höflich, aber der Tonfall genauso geringschätzig wie sein Blick. Dann drehte er den Kopf demonstrativ zu Crawley, der dem Gespräch mit sichtlich strapazierter Geduld lauschte.
Darcy zwinkerte Lynn zu und flüsterte dann so laut, dass es problemlos am ganzen Tisch zu hören war: »Dein Vater war wirklich eine Legende.« Xants Kopf fuhr herum. Lynn drückte dankbar Darcys Hand.
»Ist das so?« Er musterte sie mit neu erwachtem Interesse.
»Kannten Sie ihn?« Lynn bemühte sich, ihren Übereifer in Zaum zu halten und legte ihren Kopf kokett schief.
»Ja, ich kannte ihn. Wir waren vor einigen Jahren gemeinsam für die Armee tätig, oben im Nebraska Territory.«
Ihr Sichtfeld verengte sich und die Luft in der Bar schien immer dünner zu werden, bis kaum noch genug davon da war, den nächsten Atemzug zu tun.
»Geht es Ihnen gut?«
Crawleys Stimme erklang wie aus weiter Ferne und sie umklammerte Darcys Hand wie eine Ertrinkende. Xants Worte dröhnten in ihrem Kopf.
Nebraska Territory. Wo ihr Vater bei der Jagd auf einen Feuerschwanz verschwunden und schließlich für tot erklärt worden war. Fünf Jahre bevor sie von ihm erfahren hatte.
»Dein Onkel hat gerade diese Bar betreten.« Darcys Worte waren der Anker, der Lynn aus dem Strudel der Panik auftauchen ließ. Onkel Logan. Derjenige, der schuld daran war, dass sie ihren Vater nie kennengelernt hatte. Mühsam schob sie die neu aufflammende Wut auf ihn beiseite. Sie musste hier raus. Wenn irgendetwas fatal für ihre Ziele mit Xant war, dann Onkel Logan, der ihr eine Predigt hielt, weil sie sich zu den Drachenjägern geschlichen hatte.
»Ich brauche etwas frische Luft.« Sie stieß die Worte hastig hervor und ihr Stuhl knarzte laut, als sie ihn schwungvoll über den Boden schob. An der Tür blickte sie über die Schulter. Onkel Logan sah ihr direkt in die Augen.
Die drohende Konfrontation mit Onkel Logan saß Lynn die gesamte Nachtschicht wie ein lästiger Parasit im Nacken. Zum Glück war es so voll, dass sie kaum zum Luftholen kam. Die Nachricht, dass Drachenjäger in Raptor Creek waren, hatte sich wohl bereits bis zu den Farmen und den nächsten Dörfern entlang der Postkutschenlinie herumgesprochen. Die Anzahl an Ortsfremden war erstaunlich hoch für einen Wochentag im November.
Es tat dem Geschäft im Saloon keinen Abbruch, dass die Drachenjäger an diesem Abend gar nicht dort einkehrten. Im Gegenteil, die Stimmung wurde immer ausgelassener und endete mit einer spontanen Tanzeinlage von Darcy und einer Prügelei zwischen zwei Farmarbeitern. Lynn fiel erst spät in der Nacht mit schmerzenden Füßen ins Bett. Onkel Logan war noch nicht in ihrer gemeinsamen Schlafkammer und sie war froh darum.
Die Haut an ihrem Rücken juckt, ein dumpfer Schmerz zieht durch ihre Knochen und wird zu einem Feuer, das durch ihre Adern schießt. Lynn greift nach hinten, um sich zwischen den Schulterblättern zu kratzen. Statt der Haut spürt sie kalte, glatte Schuppen. Unsichtbare Krallen bohren sich in ihre Schultern. Ihre Rippen werden auseinandergerissen und etwas bricht aus dem Wundkrater hervor. Lynn verliert das Gleichgewicht und stolpert nach hinten. Als sie auf dem Boden aufkommt, klingt der Schrei, der ihren Mund verlässt, unmenschlich und urgewaltig.
Dann schaut sie nach oben und durch den Schleier des Schmerzes sieht sie das weit aufgerissene Maul des Drachens und seine stechend gelben Augen. Sie wird fast ohnmächtig vom beißenden Gestank nach Rauch, bevor das Feuer sie verschlingt. Es verzehrt sie. Es wärmt sie. Lynn zerfließt in widersprüchlichen Gefühlen.
Mit einem Schrei wachte Lynn auf. Ihr Körper glühte. Das Phantom des Schmerzes hielt sie in seinen Fingern und mit zitternden Händen griff sie nach hinten, um die schweißnasse, aber unversehrte Haut zu spüren.
Onkel Logan war noch immer nicht in der Kammer und plötzlich hielt es auch Lynn keine Sekunde länger aus.
Sie schlang einen Morgenmantel um ihren Körper und schlüpfte in ihre Schlappen. Auf zittrigen Beinen stolperte sie die Treppe hinunter und aus dem Nebenausgang. Für einen Moment starrte sie reglos in den wolkenverhangenen Himmel, dann ging sie ein paar Schritte in der Gasse auf und ab. Ihre vom Schreien strapazierte Lunge schmerzte in der eiskalten, trockenen Luft. Der Horror des Albtraums verflüchtigte sich langsam in die Nacht. Mit jedem Atemzug befreite sie sich ein Stück weiter aus den lebhaften Erinnerungen. Die Nacht war eisig. Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus und sie fühlte die Kälte unter ihr Nachthemd kriechen. Zitternd kehrte sie zurück ins Innere und beschloss, noch einen Abstecher in die Schankstube zu machen, um sich einen ordentlichen Schuss Bourbon zu genehmigen. Die Tür zum Saloon stand ein Stück offen.
Lynn erstarrte. Durch den Spalt drang ein Hauch von Licht, den sie zuvor nicht bemerkt hatte und sie hörte gedämpfte Stimmen.
»… eigene Verantwortung nach dem Bruch unserer Abmachung.« Onkel Logan. Seine Stimme zitterte vor Wut.
»Wir brauchen keine Belehrungen von dir«, zischte ein Unbekannter, in dessen Tonfall das Versprechen von Gewaltbereitschaft lag. Lynn blieb mit der Hand am Türknauf stehen. Der Gedanke an die großen Fleischmesser in der Küche huschte durch ihren Kopf.
Onkel Logans Erwiderung war unnachgiebig: »Wenn ihr gegen euren Teil des Pakts verstoßen habt, was soll ich dann noch …«
»Wage es nicht, mir zu drohen!« Der Fremde klang, als würde er Onkel Logan in der Luft zerfetzen wollen. Lynns Blut begann so laut in ihren Ohren zu pulsieren, dass sie die nächsten Worte kaum verstand. Sie trat von einem Bein auf das andere. War Onkel Logan in Gefahr? Sollte sie eingreifen?
»… zu uns.«
»Auf keinen Fall!« Onkel Logans Worte waren resolut und er klang nicht im Geringsten eingeschüchtert. Lynn verharrte vor der Tür. »Sig Xant ist ein erfahrener Jäger. Ihr habt euch das vor zwei Monaten selbst eingebrockt und ich gebe meine Versicherung nicht aus der Hand.«
Stirnrunzelnd versuchte Lynn, sich einen Reim auf die Aussagen zu machen.
»Wir kennen Sig Xant.« Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Der Tonfall des Unbekannten war scharf wie ein Messer.
»Ich kann nicht mehr für euch tun.« Onkel Logan klang noch immer gänzlich unbeeindruckt.
»Nach diesem Winter wirst du keine Ausrede mehr haben, uns Jägerin des Erbes vorzuenthalten.« Die Stimme des Fremden hörte sich gepresst an. »Ich habe bereits mein Wort gegeben, eure Brut zu beschützen, was willst du noch?«
Lynn fuhr zusammen, als kräftige Schritte erklangen. Bevor sie erwischt werden konnte, schlich sie mit klopfendem Herzen zurück nach oben.
Kurz darauf kam Onkel Logan ebenfalls in die Stube. Er beugte sich über ihr Bett, aber Lynn hielt die Augen sorgfältig geschlossen, bis er sich hinlegte und sein Schnarchen erklang.
LynnverließdieSchlafkammer mit dem tief und fest schlafenden Onkel Logan im Morgengrauen. Sie erreichte das eingezäunte Coral hinter dem Farmhaus am Stadtrand mit den ersten Sonnenstrahlen. James Smith lehnte gegen die Holzbalken des Zauns. Die derben Stiefel des alten Trappers waren schlammverkrustet und seine wettergegerbten Gesichtszüge undurchdringlich. Die drei Wurfmesser, die er ihr wortlos reichte, waren hingegen perfekt ausbalanciert und die auf Hochglanz polierten Klingen schimmerten im Licht der aufgehenden Sonne. Lynn musterte mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung auf der Suche nach dem Ziel. Am Dachbalken eines Schuppens entdeckte sie die mit Kohle gezeichnete Markierung. Zu weit weg. Stirnrunzelnd überschlug sie die Entfernung. Sie musste mindestens drei Schritte näher ran. Vier für eine komfortable Distanz. Nach drei Schritten blieb sie stehen. Komfort war nichts, was James Smith in ihrer Ausbildung sehen wollte. Der alte Trapper beobachtete sie kommentarlos. Lynn stellte sich aufrecht hin, fixierte das Ziel an und warf mit einem lockeren Handgelenkschwung. Die Klinge flatterte und senkte sich viel zu früh in Richtung Boden.
Lynn fluchte lautlos und nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie das Ziel erneut taxierte. Diesmal traf sie.
Smith neigte minimal den Kopf.
Mit einem tiefen Atemzug wog sie die letzte Waffe in ihrer Hand. Zwei von drei wäre immer noch ein akzeptables Ergebnis. Immerhin würde sie kaum mit einem Messer bewaffnet auf Drachenjagd gehen.
»Nicht nachlässig werden nach einem Treffer. Bleib im Augenblick.« James Smith Worte waren leise und mahnend.
Lynn fixierte das Ziel. Sie musste es treffen. Angespannt ließ sie los. Noch im Wurf merkte sie, dass es nicht reichen würde. Die Waffe traf das Schuppentor, Zentimeter vom Ziel entfernt und prallte ab. Klappernd landete sie auf den Boden.
Lynn presste die Lippen aufeinander. Sie brauchte nicht zu Smith zu sehen, um zu wissen, dass zwei Fehler eine Enttäuschung waren.
Mit ihrem 1848er Colt, selbst mit einem indianischen Bogen fühlte sie sich sicher, aber mit den Messern wurde sie auch nach über einem Jahr Übung nicht richtig warm. Eine Aussage, die dieser nicht duldete. Wie oft schon hatte er ihr gesagt, sie werde sich nicht immer aussuchen können, mit welcher Waffe sie kämpfe. Seine eindringliche Botschaft war klar: Jede Waffe, die sie beherrschte, könnte eines Tages ihr Leben retten.
Er brauchte die Worte nicht zu wiederholen. Seine Lektionen waren auch so präsent in ihrem Kopf. Und dennoch hatte es nicht gereicht. Mit festen, zornigen Schritten marschierte sie zu der Schuppenwand und bückte sich, um die Schneide nach dem Abprallen zu prüfen.
»Ziel auf ein Uhr.«
Lynn fuhr bei Smith’ Ruf auf. Mit einer fließenden Bewegung ließ sie den Messergriff in ihre Handfläche rutschen und schleuderte es blind in die angegebene Richtung. Es durchbohrte das zusammengeschnürte Stoffbündel , das Smith in die Luft geworfen hatte, genau in der Mitte und fiel mit diesem gemeinsam vor seinen Füßen zu Boden. Die Sekunden zogen sich zu einer Ewigkeit, während Smith sie musterte und schließlich nickte.
»Besser.«
Er winkte Lynn mit sich in den Stall, wo zwei Mistgabeln, eine Kanne heißer Kaffee und Becher warteten. Myob, der prächtige Rappe, den sie bei ihren gemeinsamen Ausflügen ritt, begrüßte sie mit einem leisen Wiehern. Wie immer, wenn Lynn den Stall betrat, blähten die anderen beiden Pferde die Nüstern auf und stampften nervös mit den Vorderbeinen, bis Smith das Gatter öffnete und sie hinaus auf das Coral entließ.
Nachdem sie ihren Kaffee in angenehmem Schweigen leergetrunken hatten, begann Lynn kommentarlos gemeinsam mit Smith die Ställe auszumisten. Sie kannte sich mittlerweile auf seiner kleinen Farm aus, als sei es ihr Zuhause. Eine Weile arbeiteten sie schweigend. Ihr Körper fiel in einen monotonen Rhythmus und ihre Gedanken kreisten um die Drachenjäger.
»Du bist abgelenkt.« Smith sah nicht von der Arbeit auf.
»Sig Xant ist in der Stadt.«
»Der Drachenjäger.«
Lynn warf ihm einen scharfen Blick zu. Sein Tonfall war ruhig und verhalten, aber sie kannte ihn lang genug, um die kleine Nuance der Verachtung darin mitschwingen zu hören.
»Xant ist der Beste! Er hat fast sämtliche Jagdrekorde meines Vaters eingestellt und hat letztes Jahr einen Feuerschwanz erlegt. Allein.«
Sie hielt inne, als Smith ihren Redestrom mit einer schroffen Handbewegung unterbrach.
»Ich kenne die Geschichten.« Die Geringschätzung in seiner Stimme war nun unüberhörbar. »Zieh die Hälfte von dem, was er behauptet, ab und du kommst annähernd in Richtung der Wahrheit.«
»Aber … er ist ein Nachfahre von Sigfried von Xanten.«
»Ein Name, nichts weiter.« Smith wischte den Einwand weg.
»Weder die schiere Masse erlegter Drachen, mit der er sich brüstet, noch seine Vorfahren machen ihn zu einem Mann nach meinem Geschmack .«
»Du hältst nichts von ihm.« Lynn sah ihn verblüfft an.
Smith zuckte mit den Achseln und legte die Mistgabel dann beiseite.
