Die dritte Jungfrau - Fred Vargas - E-Book
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Die dritte Jungfrau E-Book

Fred Vargas

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Beschreibung

Adamsberg hat ein altes, kleines Haus mitten in Paris erworben. Doch in dem Haus spukt es, sagt der Nachbar. Der Schatten einer männermordenden Nonne aus dem 18. Jahrhundert schlurft des nachts über den Dachboden. Gehört hat der Kommissar das schon, aber was macht ihm das aus, wo er es doch mit viel gegenwärtigeren, furchtbaren Schatten zu tun hat. Einem zum Beispiel, der in einer Pariser Vorstadt zwei kräftigen Männern mit einem Skalpell die Kehle durchgeschnitten hat. Was keiner außer ihm sieht: Beide haben Erde unter den Fingernägeln. Wonach haben sie gegraben, das sie das Leben kostete?

Vargas' Buch ist nicht nur, wie immer, ein überaus spannender, hochdramatischer Kriminalroman - es ist reine Literatur.

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Fred Vargas

Die dritte Jungfrau

Kriminalroman

Aus dem Französischen von Julia Schoch

Impressum

Titel der Originalausgabe

Dans les bois éternels

ISBN 978-3-8412-0110-2

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Dezember 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 bei Aufbau, eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dans les bois éternels © Éditions Viviane Hamy, 2006

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg unter Verwendung eines Fotos von Steve Allen / getty images

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1

Wenn er die Gardine seines Fensters mit einer Wäscheklammer feststeckte, konnte Lucio den neuen Nachbarn besser beobachten. Es war ein kleiner, dunkelhaariger Kerl, der eine Steinmauer ohne Lot hochzog, noch dazu mit freiem Oberkörper im kühlen Märzwind. Nachdem er eine Stunde auf der Lauer gelegen hatte, schüttelte Lucio kurz den Kopf, wie eine Eidechse ihrem regungslosen Mittagsschlaf ein Ende setzt, und löste seine erloschene Zigarette von den Lippen.

»Der da«, sagte er und gab damit schließlich seine Diagnose ab, »kein Lot im Kopf und keins in den Händen. Der folgt seinem eigenen Kompaß. Gerad wie’s ihm paßt.«

»Na, dann laß ihn doch«, sagte seine Tochter ohne große Überzeugung.

»Ich weiß, was ich zu tun habe, Maria.«

»Vor allem nervst du gern alle Welt mit deinen Geschichten.«

Der Vater schnalzte mit der Zunge.

»Du würdest anders reden, wenn du an Schlaflosigkeit leiden würdest. Neulich nacht hab ich sie gesehen, so wie ich dich jetzt sehe.«

»Ja, das hast du mir erzählt.«

»Sie ging an den Fenstern im Obergeschoß vorbei, gespenstisch langsam.«

»Ja«, wiederholte Maria teilnahmslos.

Auf seinen Stock gestützt, war der alte Mann aufgestanden.

»Man hätte meinen können, sie warte auf die Ankunft des Neuen, sie hielte sich für ihre Beute bereit. Für ihn«, fügte er hinzu und deutete mit dem Kinn auf das Fenster.

»Wenn du dem davon erzählst«, sagte Maria, »wird es ihm zum einen Ohr rein- und zum andern wieder rausgehen.«

»Was er damit anfängt, ist seine Sache. Gib mir eine Zigarette, ich mach mich auf den Weg.«

Maria steckte ihrem Vater die Zigarette direkt zwischen die Lippen und zündete sie an.

»Herrgott, Maria, mach den Filter ab.«

Maria gehorchte und half ihrem Vater in den Mantel. Dann schob sie ein kleines Radio in seine Tasche, aus dem knisternd kaum hörbare Worte drangen. Der Alte trug es immer bei sich.

»Sei nicht zu grob zu dem Nachbarn«, sagte sie, während sie ihm den Schal richtete.

»Der Nachbar hat schon Schlimmeres erlebt, glaub mir.«

Adamsberg hatte unter dem wachsamen Auge des Alten von gegenüber unbekümmert gearbeitet und sich immer wieder gefragt, wann er ihn wohl leibhaftig prüfen käme. Er sah, wie er mit wiegendem Gang den kleinen Garten durchquerte, groß und würdevoll, ein schönes, von Falten gefurchtes Gesicht, weißes, volles Haar. Adamsberg wollte ihm schon die Hand geben, als er merkte, daß der Mann keinen rechten Unterarm mehr hatte. Er hob seine Maurerkelle als Willkommensgruß und blickte ihn ruhig und ausdruckslos an.

»Ich kann Ihnen mein Lot borgen«, sagte der Alte höflich.

»Ich komme schon zurecht«, antwortete Adamsberg und paßte einen neuen Mauerstein ein. »Bei uns hat man die Mauern immer nach Augenmaß hochgezogen, und sie stehen noch. Schief zwar, aber sie stehen.«

»Sind Sie Maurer?«

»Nein, ich bin Bulle. Polizeikommissar.«

Der alte Mann lehnte seinen Stock gegen die neue Mauer und knöpfte seine Strickjacke bis zum Kinn zu, das gab ihm Zeit, die Information zu verarbeiten.

»Fahnden Sie nach Rauschgift? Solche Sachen?«

»Leichen. Ich bin bei der Mordbrigade.«

»Gut«, sagte der Alte nach einem leichten Schock. »Ich war beim Parkett.«

Er zwinkerte Adamsberg zu.

»Nicht beim Börsenparkett natürlich, nein, ich hab Parkettfußböden verkauft.«

Wohl ein Spaßvogel gewesen, früher, dachte Adamsberg, während er seinem neuen Nachbarn verständnisvoll zulächelte, der sich offenbar ohne Zutun anderer über eine Kleinigkeit amüsieren konnte. Ein Spieler, eine Frohnatur, aber schwarze Augen, die einen unverhohlen musterten.

»Eiche, Buche, Tannenholz. Im Bedarfsfall wissen Sie, an wen Sie sich wenden können. In Ihrem Haus gibt’s nur Terrakottafliesen.«

»Ja.«

»Das ist nicht so warm wie Parkett. Ich heiße Velasco, Lucio Velasco Paz. Firma Velasco Paz & Tochter.«

Lucio Velasco lächelte breit, ließ dabei aber Adamsbergs Gesicht nicht aus den Augen, das er Millimeter für Millimeter genau inspizierte. Dieser Alte druckste doch herum, der hatte ihm doch irgendwas zu sagen.

»Maria hat die Firma übernommen. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen, erzählen Sie ihr also bloß keine Albernheiten, das mag sie gar nicht.«

»Was denn für Albernheiten?«

»Albernheiten über Gespenster zum Beispiel«, sagte der Mann und kniff seine schwarzen Augen zusammen.

»Keine Sorge, ich kenne keine Albernheiten über Gespenster.«

»Das sagt sich so, und dann kennt man eines Tages doch welche.«

»Mag sein. Ihr Radio ist nicht richtig eingestellt. Soll ich das für Sie machen?«

»Wozu?«

»Damit Sie die Sendungen hören können.«

»Nein, hombre. Deren Quatsch will ich nicht hören. In meinem Alter hat man das Recht erworben, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen.«

»Natürlich«, sagte Adamsberg.

Wenn der Nachbar unbedingt ein Radio ohne Ton in seiner Tasche herumschleppen und ihn hombre nennen wollte, bitteschön, es stand ihm frei.

Der Alte ließ wieder ein Weilchen vergehen, sah prüfend zu, wie Adamsberg seine Mauersteine aneinandersetzte.

»Sind Sie zufrieden mit diesem Haus?«

»Sehr.«

Lucio machte einen kaum hörbaren Scherz und fing laut an zu lachen. Adamsberg lächelte freundlich. Es lag etwas Jungenhaftes in seinem Lachen, während seine gesamte übrige Körperhaltung darauf hinzudeuten schien, daß er für das Schicksal der Menschen auf dieser Erde mehr oder weniger verantwortlich war.

»Hundertfünfzig Quadratmeter«, fuhr er fort. »Ein Garten, ein Kamin, ein Keller, ein Holzschuppen. So was gibt’s in Paris nicht mehr. Haben Sie sich nicht gefragt, wieso Sie es für ein Butterbrot gekriegt haben?«

»Weil es zu alt ist, nehme ich an, zu heruntergekommen.«

»Und Sie haben sich nicht gefragt, wieso es nie abgerissen wurde?«

»Es steht am Ende einer Gasse, es stört niemanden.«

»Trotzdem, hombre. Seit sechs Jahren kein einziger Käufer. Hat Sie das nicht stutzig gemacht?«

»Also eigentlich, Monsieur Velasco, macht mich kaum etwas stutzig.«

Adamsberg strich den überstehenden Mörtel mit der Kelle ab.

»Aber nehmen Sie mal an, es machte Sie stutzig«, beharrte der Alte. »Nehmen Sie mal an, Sie würden sich fragen, wieso das Haus nie einen Abnehmer fand.«

»Weil die Toilette draußen ist. Das ertragen die Leute nicht mehr.«

»Sie hätten eine Wand hochziehen können für einen Anbau, genau wie Sie es tun.«

»Ich tue es nicht für mich. Es ist für meine Frau und meinen Sohn.«

»Mein Gott, Sie werden doch nicht etwa eine Frau hier drin wohnen lassen?«

»Ich glaube nicht. Sie werden nur ab und zu vorbeikommen.«

»Aber sie? Sie wird doch hier nicht etwa schlafen, Ihre Frau?«

Adamsberg krauste die Stirn, während die Hand des Alten sich auf seinen Arm legte und seine Aufmerksamkeit suchte.

»Glauben Sie nicht, Sie seien stärker als andere«, sagte der alte Mann mit gesenkter Stimme. »Verkaufen Sie. Das sind Dinge, die wir nicht begreifen. Das geht über unseren Horizont.«

»Was?«

Lucio bewegte die Lippen, kaute auf seiner erloschenen Zigarette herum.

»Sehen Sie das?« sagte er und hob seinen rechten Arm.

»Ja«, sagte Adamsberg ehrfurchtsvoll.

»Hab ich verloren, als ich neun Jahre alt war, im Bürgerkrieg.«

»Ja.«

»Und manchmal juckt es mich da. Es juckt mich auf meinem fehlenden Arm, neunundsechzig Jahre später. An einer ganz bestimmten Stelle, immer an derselben«, sagte der Alte und zeigte auf einen Punkt in der Luft. »Meine Mutter wußte, warum: Das ist der Spinnenbiß. Als ich meinen Arm verlor, kratzte ich ihn gerade und war noch nicht fertig. Darum juckt er mich noch immer.«

»Ja, natürlich«, sagte Adamsberg und rührte lautlos in seinem Mörtel.

»Weil der Biß noch nicht aufgehört hatte zu leben, verstehen Sie? Er fordert, was ihm zusteht, er rächt sich. Erinnert Sie das nicht an irgendwas?«

»An die Sterne«, überlegte Adamsberg. »Sie leuchten noch, während sie schon längst erloschen sind.«

»Wenn Sie so wollen«, gab der Alte überrascht zu. »Oder ans Gefühl: Nehmen Sie einen Mann, der noch immer ein Mädchen liebt, oder umgekehrt, während doch alles längst kaputt ist, wissen Sie, was ich meine?«

»Ja.«

»Und warum liebt der Mann noch immer das Mädchen, oder umgekehrt? Wie erklärt sich das?«

»Ich weiß nicht«, sagte Adamsberg geduldig.

Zwischen zwei Windstößen wärmte die blasse Märzsonne ihm sanft den Rücken, er fühlte sich wohl, wie er hier in diesem verwilderten Garten eine Mauer hochzog. Lucio Velasco Paz mochte auf ihn einreden, soviel er wollte, es störte ihn nicht.

»Ganz einfach, weil das Gefühl noch nicht aufgehört hat zu leben. So was existiert außerhalb von uns. Man muß warten, bis es zu Ende geht, man muß an der Sache herumkratzen bis zuletzt. Und wenn man stirbt, bevor man aufgehört hat zu leben, ist es genauso. Die Ermordeten geistern weiter im Nichts herum, eine Brut, die uns unablässig juckt.«

»Spinnenbisse«, sagte Adamsberg und schloß so den Kreis.

»Gespenster«, sagte der Alte ernst. »Verstehen Sie jetzt, warum niemand Ihr Haus wollte? Weil es in ihm spukt, hombre.«

Adamsberg machte den Zementkübel sauber und rieb sich die Hände.

»Warum nicht?« sagte er. »Das stört mich nicht. Ich bin’s gewohnt, daß ich manches nicht begreife.«

Lucio hob das Kinn und betrachtete Adamsberg ein wenig traurig.

»Dich, hombre, wird sie sich greifen, wenn du hier große Töne spuckst. Was glaubst du denn? Daß du stärker bist als sie?«

»Wieso sie? Ist es eine Frau?«

»Eine Gespensterfrau aus dem vorvorvorigen Jahrhundert, aus der Zeit vor der Revolution. Eine alte Übeltäterin, ein Schatten.«

Der Kommissar strich langsam über die rauhe Oberfläche der Mauersteine.

»Ach ja?« sagte er plötzlich nachdenklich. »Ein Schatten?«

2

Adamsberg, noch nicht recht vertraut mit dem Ort, bereitete in der geräumigen Wohnküche Kaffee. Das Licht, das durch die in kleine Vierecke aufgeteilten Fenster fiel, erhellte das matte Rot des alten Fliesenbodens, auch der war aus dem vorvorvorigen Jahrhundert. Ein Geruch nach Feuchtigkeit, verbranntem Holz und neuem Wachstuch, etwas, das er mit seinem Haus in den Bergen verband, wenn er genau überlegte. Er stellte zwei ungleiche Tassen auf den Tisch, da, wo die Sonne ein Rechteck hinwarf. Sein Nachbar hatte sich sehr aufrecht hingesetzt und stützte seine einzige Hand aufs Knie. Eine breite Hand, die zwischen Daumen und Zeigefinger einen Ochsen hätte erdrosseln können; sie schien doppelt groß geworden zu sein, um die fehlende andere zu kompensieren.

»Hätten Sie nicht irgendein Tröpfchen, um den Kaffee runterzuspülen? Nur so eine Frage.«

Lucio warf einen mißtrauischen Blick in Richtung Garten, während Adamsberg in seinen noch übereinandergestapelten Kartons nach etwas Alkoholischem suchte.

»Ist Ihre Tochter dagegen?« fragte er.

»Sie bestärkt mich nicht gerade.«

»Das hier? Was ist das?« fragte Adamsberg und zog eine Flasche aus einer Kiste.

»Ein Sauternes«, meinte der Alte mit zusammengekniffenen Augen, gleich einem Ornithologen, der aus der Ferne einen Vogel bestimmt. »Es ist etwas früh für einen weißen Bordeaux.«

»Was anderes hab ich nicht.«

»Es wird schon gehen«, entschied der Alte.

Adamsberg schenkte ihm ein und setzte sich neben ihn, mit dem Rücken zu dem Sonnenviereck.

»Was also wissen Sie?« fragte Lucio.

»Daß die vormalige Besitzerin sich in dem Zimmer oben erhängt hat«, sagte Adamsberg und deutete mit dem Finger zur Decke. »Deshalb wollte niemand das Haus. Mir ist das egal.«

»Weil Sie schon eine Menge Erhängter gesehen haben?«

»Habe ich, allerdings. Aber die Toten haben mir nie Schwierigkeiten gemacht. Nur ihre Mörder.«

»Wir sprechen hier nicht von richtigen Toten, hombre, wir sprechen von anderen, von denen, die nicht gehen. Die hier ist nie fortgegangen.«

»Die Erhängte?«

»Die Erhängte ist fort«, erklärte Lucio und goß sich einen ordentlichen Schluck hinter, wie um das Ereignis zu begrüßen. »Haben Sie gewußt, warum sie sich umgebracht hat?«

»Nein.«

»Das Haus hat sie in den Wahnsinn getrieben. Alle Frauen, die hier wohnen, werden von dem Schatten zermürbt. Und dann sterben sie dran.«

»Von dem Schatten?«

»Dem Gespenst aus dem Kloster. Deshalb heißt diese Sackgasse auch Ruelle aux Mouettes.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Adamsberg und schenkte den Kaffee ein.

»Im vorvorvorigen Jahrhundert stand hier mal ein altes Frauenkloster. Das waren Ordensschwestern, die nicht sprechen durften.«

»Ein Schweigeorden.«

»Genau. Man sagte Rue aux Muettes, die Straße der Stummen. Und dann ist schließlich ›Mouettes‹, Möwen, daraus geworden.«

»Es hat also nichts mit den Vögeln zu tun?« sagte Adamsberg enttäuscht.

»Nein, gemeint sind die Nonnen. Aber ›Muettes‹ läßt sich schwer aussprechen. Muettes«, fügte Lucio hinzu, indem er sich besondere Mühe gab.

»Muettes«, wiederholte Adamsberg langsam.

»Sehen Sie, wie schwer es ist. Zu jener Zeit hat eine dieser Stummen das Haus hier besudelt, müssen Sie wissen. War, scheint’s, mit dem Teufel im Bunde. Aber nun ja, dafür gibt’s keine Beweise.«

»Und wofür haben Sie Beweise, Monsieur Velasco?« fragte Adamsberg lächelnd.

»Sie können mich Lucio nennen. Beweise hat man genug. Es hat damals einen Prozeß gegeben, im Jahre 1771, das Kloster ist danach aufgegeben und das Haus gereinigt worden. Die Stumme ließ sich heilige Clarisse nennen. Für eine Zeremonie und Geld versprach sie alten Frauen, sie kämen ins Paradies. Nur wußten die Alten nicht, daß die Reise dahin sofort losging. Wenn sie mit ihren prall gefüllten Geldbeuteln ankamen, schnitt sie ihnen die Kehle durch. Sie hat sieben umgebracht. Sieben, hombre. Eines Nachts jedoch wurde ihr Elan gedrosselt.«

Lucio brach in sein jungenhaftes Lachen aus, dann faßte er sich wieder.

»Mit diesen bösen Geistern sollte man nicht spaßen«, sagte er. »Da, mein Biß juckt schon wieder, das ist die Strafe.«

Adamsberg sah zu, wie er seine Finger in der Luft bewegte, und wartete in aller Ruhe das Weitere ab.

»Verschafft es Ihnen Erleichterung, wenn Sie sich kratzen?«

»Einen Moment lang, dann fängt es wieder an. Am Abend des 3. Januar 1771 kam eine Alte zu Clarisse, um sich das Paradies zu kaufen. Aber ihr Sohn, mißtrauisch und gewinnsüchtig, begleitete sie. Er war Gerber, er hat die Heilige umgebracht. Einfach so«, zeigte Lucio und drückte seine Faust auf den Tisch. »Er hat sie unter seinen Riesenhänden plattgemacht. Konnten Sie mir folgen?«

»Ja.«

»Sonst kann ich auch noch mal anfangen.«

»Nein, Lucio. Fahren Sie fort.«

»Doch diese verdammte Clarisse ist nie richtig fortgegangen. Weil sie erst sechsundzwanzig Jahre alt war, verstehen Sie. Und alle Frauen, die nach ihr hier gewohnt haben, sind mit den Füßen voran wieder rausgekommen, gewaltsamer Tod. Vor Madelaine – das ist die Erhängte – war da eine gewisse Madame Jeunet, in den sechziger Jahren. Sie ist grundlos aus dem obersten Fenster gestürzt. Und vor der Jeunet eine Marie-Louise, die man mit dem Kopf im Kohlenofen gefunden hat, im Krieg. Mein Vater kannte sie beide. Nichts als Ärger.«

Die beiden Männer nickten, Lucio Velasco voller Ernst, Adamsberg mit einem gewissen Vergnügen. Der Kommissar wollte den Alten nicht verdrießen. Im Grunde sagte die amüsante Spukgeschichte ihnen beiden sehr zu, und als Kenner zogen sie sie genauso in die Länge, wie man dem Zucker im Kaffee Zeit zum Auflösen gibt. Die Schandtaten der heiligen Clarisse bereicherten Lucios Leben und lenkten Adamsberg für eine Weile von den banalen Morden ab, die er am Hals hatte. Dieses weibliche Gespenst war doch weitaus poetischer als die beiden aufgeschlitzten Burschen vergangene Woche an der Porte de la Chapelle. Fast hätte er Lucio von seinem eigenen Fall erzählt, schien der alte Spanier doch eine sichere Meinung zu allem zu haben. Er mochte diesen einhändigen, weisen Spaßvogel, wäre nur nicht sein Radio gewesen, das unablässig in seiner Tasche vor sich hin summte. Auf ein Zeichen von Lucio schenkte er ihm nach.

»Wenn alle Ermordeten im Nichts herumgeistern müssen«, fuhr Adamsberg fort, »wie viele Gespenster gibt es dann in meinem Haus? Die heilige Clarisse plus ihre sieben Opfer? Plus die beiden Frauen, die Ihr Vater gekannt hat, plus Madelaine? Elf? Oder noch mehr?«

»Nur Clarisse«, versicherte Lucio. »Ihre Opfer waren zu alt, die sind nie zurückgekehrt. Es sei denn, sie halten sich in ihren eigenen Häusern auf, das ist durchaus möglich.«

»Ja.«

»Bei den drei anderen Frauen liegen die Dinge anders. Sie sind nicht ermordet worden, sie waren besessen. Während die heilige Clarisse ihr Leben noch nicht zu Ende gelebt hatte, als der Gerber sie unter seinen Fäusten zermalmte. Begreifen Sie jetzt, warum man das Haus nie abreißen wollte? Weil Clarisse sich einfach eine andere Bleibe gesucht hätte. Bei mir zum Beispiel. Und wir alle hier in der Gegend ziehen es vor, zu wissen, wo sie sich verborgen hält.«

»Hier.«

Lucio bestätigte mit einem Zwinkern.

»Und solange man seinen Fuß nicht hierhersetzt, richtet sie keinen Schaden an.«

»Sie ist gewissermaßen eine Stubenhockerin.«

»Sie geht nicht mal in den Garten. Sie wartet da oben auf ihre Opfer, auf Ihrem Dachboden. Und jetzt hat sie wieder Gesellschaft.«

»Mich.«

»Sie«, bestätigte Lucio. »Aber Sie sind ein Mann, sie wird Sie nicht allzusehr schikanieren. Sie treibt nur Frauen in den Wahnsinn. Bringen Sie Ihre Frau nicht hierher, folgen Sie meinem Rat. Oder aber verkaufen Sie.«

»Nein, Lucio. Ich mag dieses Haus.«

»Dickschädel, was? Woher stammen Sie?«

»Aus den Pyrenäen.«

»Dem großen Gebirge«, sagte Lucio voller Ehrerbietung. »Ich brauche also gar nicht erst zu versuchen, Sie zu überzeugen.«

»Kennen Sie es?«

»Ich bin auf der anderen Seite geboren, hombre. In Jaca.«

»Und die Leichen der sieben alten Frauen? Hat man zu der Zeit, als der Prozeß stattfand, nach ihnen gesucht?«

»Nein. Damals, im vorvorvorigen Jahrhundert, stellte man noch keine Ermittlungen wie heutzutage an. Wahrscheinlich sind die Leichen immer noch da drunter«, meinte Lucio, wobei er mit seinem Stock in den Garten wies. »Deshalb hackt man auch nicht allzu tief. Man will den Teufel nicht reizen.«

»Nein, wozu auch?«

»Sie sind wie Maria«, sagte der Alte lächelnd, »es amüsiert Sie. Aber ich habe sie oft gespürt, hombre. Nebelschwaden, Dunst und dann ihr Atem, eisig wie der Winter oben auf den Bergspitzen. Und vorige Woche, ich pinkelte nachts unter den Haselnußstrauch, da habe ich sie tatsächlich gesehen.«

Lucio trank sein Glas Sauternes aus und kratzte seinen Biß.

»Sie ist mächtig alt geworden«, sagte er in beinahe angeekeltem Ton.

»Ist immerhin eine Ewigkeit her«, meinte Adamsberg.

»Natürlich. Clarisses Gesicht ist runzlig wie eine alte Nuß.«

»Wo war sie?«

»Im Obergeschoß. Sie ging in dem Zimmer oben hin und her.«

»Das wird mein Arbeitszimmer.«

»Und wo werden Sie Ihr Schlafzimmer einrichten?«

»Nebenan.«

»Sie haben wirklich Mut, Mann«, sagte Lucio und stand auf. »Ich bin doch nicht etwa zu grob gewesen? Maria will nicht, daß ich grob bin.«

»Ganz und gar nicht«, sagte Adamsberg, der sich plötzlich im Besitz von sieben Leichen unter den Füßen und einer Gespensterfrau mit einem Nußgesicht sah.

»Um so besser. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, sie zu besänftigen. Obwohl es heißt, nur ein sehr alter Mann werde sie zur Strecke bringen. Aber das sind Legenden. Glauben Sie nur nicht jeden Blödsinn.«

Wieder allein, trank Adamsberg den Rest seines kalten Kaffees aus. Dann hob er den Kopf zur Decke und lauschte.

3

Nachdem er eine ruhige Nacht in der lautlosen Gesellschaft der heiligen Clarisse verbracht hatte, stieß Kommissar Adamsberg die Tür zum gerichtsmedizinischen Institut auf. Neun Tage zuvor war zwei Männern an der Porte de la Chapelle die Kehle durchgeschnitten worden, nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt. Zwei arme Würstchen, zwei Kleinganoven, die auf dem Flohmarkt mit Drogen dealten, so hatte der für diesen Bezirk zuständige Bulle als einzigen Kommentar bemerkt. Adamsberg legte großen Wert darauf, sie noch einmal zu sehen, seitdem Kommissar Mortier vom Drogendezernat sie ihm wegzunehmen gedachte.

»Zwei Penner mit durchschnittener Kehle an der Porte de la Chapelle, die sind für mich, Adamsberg«, hatte Mortier erklärt. »Zumal ein Schwarzer mit von der Partie ist. Du solltest sie mir übergeben, worauf wartest du noch? Soll’s Weihnachten darüber werden?«

»Ich warte, bis ich weiß, warum sie Erde unter den Fingernägeln hatten.«

»Weil sie vor Dreck nur so starrten.«

»Weil sie gegraben haben. Und Erde ist was für die Mordbrigade und was für mich.«

»Hast du noch nie gesehen, daß irgendwelche Idioten Stoff in Blumenkästen versteckt hatten? Du verschwendest deine Zeit, Adamsberg.«

»Das ist mir egal. Ich mag das.«

Die beiden nackten Leichen lagen nebeneinander, ein großer Weißer, ein großer Schwarzer, der eine stark behaart, der andere nicht, jeder unter einem Neonlicht des Leichenschauhauses. So wie sie jetzt dalagen, mit geschlossenen Füßen, die Hände am Körper, schienen sie im Tod zu braven Schülern geworden zu sein. Eigentlich, dachte Adamsberg beim Anblick ihrer folgsamen Körperhaltung, hatten die beiden Männer ein durchaus klassisches Dasein geführt; so geizte das Leben mit Originalität. Durchorganisierte Tagesabläufe: Der Morgen war stets dem Schlaf vorbehalten, der Nachmittag wurde dem Schwarzhandel gewidmet, der Abend war den Mädchen bestimmt und der Sonntag den Müttern. Wie überall, so herrschte die Routine auch in den Randbezirken des Seins. Ihre bestialische Ermordung brach auf ungewöhnliche Weise mit dem Hergang ihres sonst so faden Lebens.

Die Gerichtsmedizinerin sah zu, wie Adamsberg um die Leichen herumlief.

»Was soll ich mit ihnen machen?« fragte sie, eine Hand auf dem Schenkel des großen Schwarzen, den sie lässig tätschelte wie für einen allerletzten Trost. »Zwei Burschen, die in den Elendsvierteln mit Drogen dealten, mit einer Klinge aufgeschlitzt, das sieht nach Arbeit für die Drogenfahnder aus.«

»In der Tat. Sie fordern sie ja auch lauthals für sich.«

»Und? Wo liegt das Problem?«

»Das Problem bin ich. Ich will sie ihnen nicht geben. Und ich erwarte, daß Sie mir helfen, sie zu behalten. Finden Sie irgend etwas.«

»Warum?« fragte die Gerichtsmedizinerin, die Hand noch immer auf dem Schenkel des Schwarzen, wie um zu betonen, daß sich der Mann im Augenblick noch in ihrer Obhut befand, in einer freien Zone, und daß allein sie über sein Schicksal entschied, in Richtung Drogendezernat oder in Richtung Mordbrigade.

»Sie haben frische Erde unter den Fingernägeln.«

»Ich nehme allerdings an, die Drogenfahnder haben auch ihre Gründe. Sind die beiden Männer bei ihnen registriert?«

»Nicht mal das. Diese beiden Männer sind für mich bestimmt, Schluß, aus.«

»Man hatte mich vor Ihnen gewarnt«, sagte die Gerichtsmedizinerin ruhig.

»In welchem Sinne?«

»In dem Sinne, daß man nicht immer begreift, wonach Ihnen der Sinn steht. Die Folge: Konflikte.«

»Es wäre nicht das erste Mal, Ariane.«

Die Gerichtsmedizinerin zog mit der Fußspitze einen Rollhocker zu sich heran und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen darauf. Adamsberg hatte sie schön gefunden, damals, vor dreiundzwanzig Jahren, und sie war es noch immer, mit sechzig Jahren, wie sie da so elegant auf dem Schemel des Leichenschauhauses saß.

»Soso«, sagte sie. »Sie kennen mich.«

»Ja.«

»Aber ich Sie nicht.«

Die Medizinerin zündete sich eine Zigarette an und dachte eine Weile nach.

»Nein«, sagte sie schließlich, »sagt mir nichts. Ich bedaure.«

»Es war vor dreiundzwanzig Jahren und dauerte nur ein paar Monate. Ich erinnere mich an Sie, an Ihren Namen, Ihren Vornamen und daran, daß wir uns duzten.«

»So weit war es schon gekommen?« sagte sie nicht gerade herzlich. »Und was haben wir ach so Vertrauten miteinander angestellt?«

»Wir hatten einen Riesenkrach.«

»Als Verliebte? Ich wäre untröstlich, wenn ich mich daran nicht erinnern würde.«

»Als Kollegen.«

»Soso«, wiederholte die Gerichtsmedizinerin, die Stirn gekraust.

Abgelenkt von den Erinnerungen, die diese hohe Stimme und der schroffe Ton ihm wieder ins Gedächtnis riefen, neigte Adamsberg den Kopf. Da war sie wieder, jene Zweideutigkeit, die ihn als jungen Mann so verlockt und verunsichert hatte, die strenge Kleidung, aber die saloppe Haartracht, der hochmütige Tonfall, aber die natürlichen Worte, die einstudierten Haltungen, aber die spontanen Gesten. So daß man nicht wußte, ob man es mit einem überragenden und überheblichen Intellekt zu tun hatte oder aber mit einem rüden Arbeitstier, das auf Äußerlichkeiten nicht achtete. Bis hin zu jenem Soso, mit dem sie ihre Sätze oft begann, ohne daß man erkennen konnte, ob dies eine verächtliche oder eine rotzige Erwiderung war. Adamsberg war nicht der einzige, der ihr gegenüber Vorsicht walten ließ. Dr. Ariane Lagarde war die angesehenste Gerichtsmedizinerin im Land, und ohne Konkurrenz.

»Wir haben uns geduzt?« fuhr sie fort, wobei sie ihre Asche auf den Boden fallen ließ. »Vor dreiundzwanzig Jahren hatte ich meinen Weg bereits gemacht, Sie müssen damals erst ein kleiner Lieutenant gewesen sein.«

»Genaugenommen ein junger Brigadier.«

»Sie erstaunen mich. Ich duze meine Kollegen nicht so schnell.«

»Wir verstanden uns gut. Bis jener Riesenkrach losging, daß die Wände eines Cafés in Le Havre nur so wackelten. Die Tür schlug zu, wir haben uns nie wieder gesehen. Ich kam nicht mehr dazu, mein Bier auszutrinken.«

Ariane zertrat ihre Kippe, machte es sich erneut auf dem Metallhocker bequem, wobei sie wieder zögernd zu lächeln begann.

»Habe ich dieses Bierglas«, sagte sie, »zufällig auf den Boden geschmissen?«

»Ganz genau.«

»Jean-Baptiste«, sagte sie, indem sie jede Silbe einzeln aussprach. »Dieser junge Spund Jean-Baptiste Adamsberg, der glaubte, alles besser zu wissen als andere.«

»Genau das hast du zu mir gesagt, bevor du mein Glas zerschlagen hast.«

»Jean-Baptiste«, wiederholte Ariane langsamer.

Die Gerichtsmedizinerin stand von ihrem Hocker auf und legte Adamsberg eine Hand auf die Schulter. Sie schien kurz davor, ihn zu umarmen, schob die Hand aber wieder in die Tasche ihres Kittels zurück.

»Ich hatte dich gern. Du brachtest die Welt ins Wanken, ohne daß es dir überhaupt bewußt war. Und nach dem, was man sich über Kommissar Adamsberg erzählt, ist es mit der Zeit nicht besser geworden. Jetzt begreife ich: Er ist du, und du bist er.«

»Gewissermaßen.«

Ariane stützte die Ellbogen auf den Seziertisch, auf dem die Leiche des großen Weißen lag, wobei sie den Oberkörper des Toten wegschob, um es bequemer zu haben. Wie alle Gerichtsmediziner ließ Ariane gegenüber den Verstorbenen keinerlei Respekt erkennen. Dafür wühlte sie mit unübertroffenem Talent im Rätsel ihrer Körper herum und erwies so auf ihre Weise der unendlichen und einzigartigen Komplexität eines jeden die Ehre. Die Abhandlungen von Dr. Lagarde hatten die Leichen gewöhnlicher Sterblicher berühmt gemacht. Wer in ihre Hände geriet, ging in die Geschichte ein. Bedauerlicherweise tot.

»Es war eine sehr ungewöhnliche Leiche«, erinnerte sie sich. »Man hatte sie in ihrem Schlafzimmer gefunden, mit einem fein ausgetüftelten Abschiedsbrief. Ein kompromittierter und ruinierter Abgeordneter der Stadt, der sich durch einen Stoß mit dem Säbel in den Bauch umgebracht hatte, auf japanische Art.«

»Mit Gin abgefüllt, um sich Mut anzutrinken.«

»Ich sehe ihn noch genau vor mir«, fuhr Ariane fort, im gedämpften Ton eines, der sich eine nette Geschichte ins Gedächtnis ruft. »Ein lupenreiner Selbstmord, dem noch dazu eine langjährige Neigung zu zwanghaften Depressionen vorausgegangen war. Der Stadtrat war erleichtert, daß der Fall keine höheren Wellen schlug, erinnerst du dich? Ich hatte meinen Bericht abgegeben, einen einwandfreien. Du hattest die Kopien gemacht, sie geheftet, Einkäufe erledigt, alles etwas widerwillig. Abends gingen wir am Seine-Quai einen Schluck trinken. Ich stand kurz vor der Beförderung, du träumtest ohne Ambitionen vor dich hin. Damals mischte ich Grenadine ins Bier, das schäumte sofort.«

»Hast du auch später noch solche Mischungen erfunden?«

»Ja«, sagte Ariane in etwas enttäuschtem Ton, »jede Menge, aber bis jetzt ohne wirklichen Erfolg. Erinnerst du dich an die Violine? Geschlagenes Ei, Minze und Malagawein.«

»Das habe ich nie kosten wollen.«

»Ich hab sie aufgegeben, die Violine. Sie war gut für die Nerven, aber zu kalorienreich. Wir haben viele Mischungen versucht in Le Havre.«

»Außer einer.«

»Soso.«

»Die Mischung der Körper. Die haben wir nicht versucht.«

»Nein. Ich war noch verheiratet und ergeben wie ein kranker Hund. Dafür bildeten wir ein perfektes Duo bei den Polizeiberichten.«

»Bis …«

»Bis ein kleiner Idiot namens Jean-Baptiste Adamsberg sich in den Kopf setzte, daß der Abgeordnete von Le Havre ermordet worden sei. Und warum? Wegen zehn toter Ratten, die du in einem Lagerhaus des Hafens aufgelesen hattest.«

»Zwölf, Ariane. Zwölf Ratten, die verblutet waren, nachdem man ihnen den Bauch aufgeschlitzt hatte.«

»Zwölf, wenn du willst. Daraus hattest du geschlossen, daß ein Mörder sich Mut antrainiert, bevor er losstürmt. Und war noch etwas anderes. Du fandest, die Wunde läge allzu waagerecht. Du sagtest, der Abgeordnete hätte den Säbel eigentlich schräger halten müssen, von unten nach oben. Während er doch stockbetrunken war.«

»Und dann hast du mein Glas auf den Boden geschmissen.«

»Ich hatte ihm doch einen Namen gegeben, verdammt, diesem Grenadine-Bier.«

»Grenaille. Du hast dafür gesorgt, daß ich gefeuert wurde in Le Havre, und deinen Bericht ohne mich abgegeben: Selbstmord.«

»Was hast du schon davon verstanden? Nichts.«

»Nichts«, gab Adamsberg zu.

»Laß uns einen Kaffee trinken. Und du wirst mir erzählen, was dir an deinen Leichen so zu denken gibt.«

4

Lieutenant Veyrenc war seit drei Wochen mit diesem Auftrag betraut und saß eingeklemmt in einem ein Quadratmeter großen Wandschrank zum Schutz einer jungen Frau, die er zehnmal am Tag auf dem Treppenabsatz vorbeigehen sah. Diese junge Frau rührte ihn an, und dieses Gefühl wiederum wurmte ihn. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, suchte eine andere Sitzposition.

Doch kein Grund zur Aufregung, das war nur ein Körnchen Sand im Getriebe, ein Splitter im Fuß, ein Vogel im Motor. Der Mythos, demzufolge ein einziger kleiner Vogel, so entzückend er sein mochte, ganz allein die Turbine eines Flugzeugs zum Explodieren bringen konnte, war reiner Quatsch, wie so vieles andere, was die Menschen dauernd erfanden, um sich selbst Angst einzujagen. Als hätten sie nicht schon genug solcher Sorgen. Veyrenc verscheuchte den Vogel, indem er an etwas anderes dachte, schraubte seinen Füller auf und machte sich daran, sorgfältig die Feder zu reinigen. Es gab ohnehin nichts anderes zu tun. Im Haus war es vollkommen still.

Er schraubte seinen Füller wieder zu, klemmte ihn an seiner Innentasche fest und schloß die Augen. Fünfzehn Jahre lang war er Tag für Tag im verbotenen Schatten des Nußbaums eingeschlafen. Fünfzehn Jahre harter Arbeit, die ihm keiner nehmen würde. Beim Aufwachen hatte er seine Allergie mit dem Saft des Baumes behandelt, und im Laufe der Zeit hatte er die Schrecken gezähmt, war er bis zum Ursprung der quälenden Fragen hinabgestiegen, um seine Qual zu bändigen. Fünfzehn Jahre Anstrengung, um einen schmächtigen jungen Burschen, der sein Haar verbarg, in einen kräftigen Körper und eine robuste Seele zu verwandeln. Fünfzehn Jahre Kraftaufwand, um nicht mehr als verletzlicher Tollkopf durch die Welt der Frauen zu taumeln, eine Welt, die ihn gesättigt von Gefühlen und überdrüssig ihrer Verwicklungen zurückgelassen hatte. Als er wieder aufgestanden war unter jenem Nußbaum, war er in Streik getreten wie ein erschöpfter Arbeiter, der vorzeitig den Ruhestand wählt. Sich fernhalten von den steilen Höhenlagen, Wasser in den Wein der Gefühle mischen, verdünnen, dosieren, den Zwang der Begierden brechen. Für seine Begriffe kam er inzwischen gut damit zurecht, er mied verworrene und chaotische Situationen und war einer gewissen idealen Ausgeglichenheit schon ganz nah. Nur harmlose und flüchtige Beziehungen, rhythmische Schwimmbewegungen hin zu seinem Ziel, Arbeit, Lesen und Verseschmieden, ein beinahe vollkommener Zustand.

Sein Ziel, in die Pariser Brigade criminelle versetzt zu werden, die von Kommissar Adamsberg geführt wurde, hatte er erreicht. Er war zufrieden, wenn auch überrascht. Es herrschte ein ungewöhnliches Mikroklima in diesem Team. Unter der kaum spürbaren Leitung ihres Chefs ließen die Beamten ihre Fähigkeiten nach Belieben sprießen, gaben sich Stimmungen und Launen hin, die in keinerlei Zusammenhang mit den gesetzten Zielen standen. Die Brigade hatte eine Menge unbestreitbarer Resultate vorzuweisen, aber Veyrenc blieb äußerst skeptisch. Es fragte sich, ob diese Leistung das Ergebnis einer Strategie oder eine Frucht der Vorsehung war. Einer Vorsehung, die die Augen beispielsweise vor der Tatsache verschloß, daß Mercadet im oberen Stockwerk Kissenblöcke ausgelegt hatte, auf denen er mehrere Stunden am Tag schlief, oder daß eine exzentrische Katze ihre Kothäufchen auf die Papierstapel setzte, daß Commandant Danglard seinen Wein in einem Schrank im Keller versteckte, daß auf den Tischen Papiere herumlagen, die mit den Ermittlungen nicht das geringste zu tun hatten, Immobilienanzeigen, Wettlisten, Artikel über Ichthyologie, private Vorwürfe, geopolitische Zeitschriften, ein Spektrum in allen Regenbogenfarben, soweit er das in einem Monat überblickt hatte. Dieser Zustand schien keinen zu stören, außer vielleicht Lieutenant Noël, einen brutalen Kerl, der niemanden nach seinem Geschmack fand. Und der schon am zweiten Tag eine beleidigende Bemerkung über seine Haare gemacht hatte. Vor zwanzig Jahren hätte er deswegen geheult, aber heute war es ihm vollkommen egal, oder doch beinahe. Lieutenant Veyrenc verschränkte die Arme und lehnte seinen Kopf an die Wand. Unverrückbare Kraft, in kompakte Materie eingerollt.

Was den Kommissar selbst betraf, so hatte er ihn nur mit Mühe erkannt. Von weitem sah Adamsberg nach nichts aus. Er war diesem kleinen Mann schon mehrmals begegnet, sehniger Körper und langsame Bewegungen, ein seltsam zusammengestückeltes Gesicht, zerknitterte Sachen und ein ebensolcher Blick, unvorstellbar, daß es sich dabei um einen der berühmtesten Repräsentanten der Kripo handelte, im Guten wie im Schlechten. Selbst seine Augen schienen ihm zu nichts dienlich zu sein. Seit dem ersten Tag wartete Veyrenc auf sein offizielles Gespräch mit ihm. Aber Adamsberg, versunken in irgendwelchen Strömen tiefsinniger oder auch leerer Gedanken, hatte ihn nicht bemerkt. Es kam vor, daß ein volles Jahr verstrich, ohne daß der Kommissar gewahr wurde, daß sein Team ein neues Mitglied zählte.

Die anderen Beamten allerdings hatten den großen Vorteil, den die Ankunft eines Neuen darstellte, sofort genutzt. Deshalb auch saß er nun in diesem Kabuff, auf dem Treppenabsatz eines siebten Stockwerks, und führte einen Überwachungsjob aus, bei dem man vor Langeweile umkam. Der Dienstvorschrift nach hätte er regelmäßig abgelöst werden müssen, und so war es anfangs auch gewesen. Dann hatte die Ablösung immer schlechter funktioniert, der eine bedauerte unter dem Vorwand, er werde schnell trübsinnig, der andere schlief angeblich ein, wieder ein anderer neigte zu Klaustrophobie, zu Ungeduld, hatte ein Rückenleiden, so daß er jetzt allein von morgens bis abends hier auf einem Holzstuhl Wache hielt.

Veyrenc streckte seine Beine aus, so gut er konnte. Das war das Los aller Neuen, und es machte ihm nichts aus. Mit dem Bücherstapel zu seinen Füßen, dem Taschenaschenbecher in seiner Jacke, dem Ausblick auf den Himmel durch das Oberlicht und seinem funktionstüchtigen Füllfederhalter hätte er hier beinahe glücklich leben können. Geist in Ruhestellung, beherrschte Einsamkeit, Ziel erreicht.

5

Dr. Lagarde hatte die Dinge kompliziert, indem sie ein klein wenig Mandelsirup verlangt hatte, den sie ihrem doppelten Café crème beimischen wollte. Aber schließlich waren die Getränke auf ihren Tisch gelangt.

»Was ist mit Dr. Romain los?« fragte sie, während sie die dickliche Flüssigkeit verrührte.

Adamsberg breitete die Hände in einer Geste der Unkenntnis aus.

»Er hat hysterische Launen, Zustände. Wie eine Frau im vorigen Jahrhundert.«

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