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Ein Eisbär, eine Journalistin, ein Marketingexperte, Didgeridoos, ein Unternehmen für Gärtnereibedarf und ein skurriler, alter Mann. Eine kleine Geschichte über Manipulation und Freiheit.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2019
Gewidmet zwei ganz besonderen Männern in meinem Leben:
Meinem Vater und meinem Mann.
Danke für eure Unterstützung!
Bernadette Reiskopf
Die dunkle Seite des Eisbären
© 2015 Bernadette Reiskopf
3. veränderte Auflage 2019
Herausgeberin und Autorin: Bernadette Reiskopf
Umschlaggestaltung, Illustration: Bernadette Reiskopf
Titelbild Eisbär: Copyright © bokononist/fotalia.com
Verlag: Tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
9978-3-7482-4722-7(Paperback)
978-3-7482-4723-4(Hardcover)
978-3-7482-4724-1(e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Eine auch nur teilweise Wiedergabe, Weitergabe, Vervielfältigung oder Übersetzung des Werks ist ausschließlich mit Genehmigung der Autorin zulässig. Alle Rechte vorbehalten.
Alle handelnden Personen, Ereignisse und Orte sind rein fiktiv. Etwaige Ähnlichkeiten sind daher zufällig und nicht beabsichtigt. Auch wird jegliche wie auch immer geartete Haftung abgelehnt.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 1
Die Nachricht auf dem Anrufbeantworter der Redaktion war wirklich seltsam gewesen. Eine Männerstimme herrschte: »Wollen Sie die Wahrheit über die momentane Kälte wissen? Falls ja dann kommen Sie morgen um fünf Uhr am Nachmittag zu der folgenden Adresse: Schiesterstraße 38. Aber nur eine Person, ich habe nicht mehr viel Kaffee.«
Der Chefredakteur hielt es eigentlich für einen Streich. Nachdem die Stories derzeit aber sowieso eher rar waren, beschloss er dann doch, jemanden hinzuschicken. Und sie war nun einmal die Neue.
Sophia hatte erst vor einigen Wochen bei dem kleinen Lokalblatt zu arbeiten begonnen. Journalistin zu sein war ihr absoluter Traumberuf, aber trotz allem eigentlich nur ein Standbein neben ihrer eigentlichen Leidenschaft, dem Schreiben. Nichtsdestotrotz war es endlich mal eine sichere Anstellung und Geld konnte sie schließlich immer gut brauchen. Sie mochte den Job, sie mochte den Freiraum, das Entdecken, auch wenn ihr dadurch wenig Zeit für ihr eigenes Privatleben blieb. Im Grunde traf sich aber selbst das ganz gut, da die 38-Jährige sowieso ein zutiefst überzeugter Single war. Vor allen Dingen aber mochte sie ihren Chef Frank-Xavier und das war ja nun wirklich eine Seltenheit. Der etwas dickbäuchige Mittfünfziger mit der beginnenden Glatze, die er sorgsam mit geschicktem Styling zu kaschieren versuchte, hatte eine immense Erfahrung, das merkte man sofort. Seine Mutter kam aus dem französischen Teil Kanadas, während sein Vater gebürtiger Österreicher war. Auf diese Weise kam es schließlich zu diesem doch recht ungewöhnlichen Doppelnamen, so hatte er selbst es zumindest einmal in gemütlicher Runde erzählt. Es war einfach interessant mit ihm zusammenzuarbeiten, von ihm zu lernen. Frank-Xavier war ein eher dominanter Typ. Irgendwie erinnerte er Sophia immer ein klein wenig an einen alten Ranchbesitzer aus dem wilden Westen weshalb sie ihn insgeheim häufig „Big Boss“ nannte. Solange man ihm aber das Gefühl ließ, stets die Oberhand zu haben, war er ausgesprochen pflegeleicht. Kurz gesagt: Sophia war soweit wirklich zufrieden mit ihrem Job. Was sie zurzeit aber ganz besonders reizte, war diese neue Artikelreihe über lokale Firmengründungen, die ihr Blatt gerade plante. Es war eine ziemlich große Sache, die bereits im Vorfeld einiges an Interesse erregt hatte. Dementsprechend setzte die ehrgeizige Journalistin alles daran, auch tatsächlich federführend an der Story beteiligt zu sein. Schließlich konnte es gerade in diesem hart umkämpften Metier wohl kaum schaden, wenn der eigene Name ein wenig bekannter würde.
Eigentlich war Sophia daher gerade vollauf damit beschäftigt, sich die Unternehmen für die geplante Artikelserie näher durchzusehen. Frank-Xavier hatte ihr und zwei ihrer Kollegen nämlich bereits eine Liste mit möglichen Kandidaten gegeben und wer auch immer diese nun zu seiner Zufriedenheit ergänzte, der hatte die Story und durfte seinen Namen daruntersetzen. Allerdings hatte er dabei bereits drei Fixstarter grün angestrichen, was die weitere Auswahl aufgrund der vorgegebenen Anzahl von maximal drei bis fünf Unternehmen natürlich massiv einschränkte. Aber es gab noch ein weiteres Problem und zwar war es schier unglaublich, wie viele verschiedene Neugründungen es allein in diesem Jahr bereits gegeben hatte. Hier die richtige Auswahl zu treffen erwies sich als weitaus schwieriger als Sophia anfangs vermutet hatte. Daher hatte sie nun erst einmal damit begonnen, sich die Firmen, die Frank-Xavier bereits ausgewählt hatte, etwas genauer anzusehen. Vielleicht war ja eine Art Muster erkennbar und die Auswahl der restlichen Neugründer würde damit leichter werden. Sie stand noch ziemlich am Anfang.
Gerade hatte sie also den Internetauftritt einer kleinen Firma für Gärtnereibedarf und Kühlanlagen durchgeklickt, als das fordernde »Sophia, Sie haben ja eh Zeit, oder? Schauen Sie bitte einmal bei dem Spinner von heute Morgen vorbei, geht das?«, ihres Chefs den großen Raum mit den vielen Schreibtischen und Computern durchquerte. Sie zögerte kurz und dachte kurz an ihre Karrierepläne.
Leider hatte aber auch das seinen Preis und der war in ihrem Fall eben vermutlich, auch solchen unbeliebten Anrufen nachzugehen. Also rief sie, als sie denn auserkoren wurde ein möglichst motiviert klingendes: »Aber ja, klasse, mach ich schon. Ich mache nur noch die Recherche fertig, an der ich gerade dran bin!«, in die Runde, obwohl ihr der Auftrag eigentlich gerade so gar nicht ins Konzept passte.
Aber immerhin hatte Frank-Xavier ihre Zusage damit belohnt, dass er, kaum dass sie zugesagt hatte, nachsetzte: »Ach ja und wenn Sie sowieso schon in der Gegend sind, könnten Sie eigentlich auch gleich die erste Firma besuchen. Sie wissen schon, diese Werbeagentur meine ich.«
»Mach´ ich Chef!« Dieser Auftrag gefiel ihr schon deutlich besser. Zwar hatte sie diese Firma noch überhaupt nicht im Internet vorrecherchiert, aber dann ging sie eben unvorbereitet hin und improvisierte. Hauptsache sie hatte das erste Interview dieser wichtigen Serie.
»Aber vor den beiden machen Sie eh noch das Interview mit dem, ach wie heißt er nochmal, Sie wissen schon, der eine Typ der seit kurzem im Stadtrat sitzt.«
»Jap, weiß schon. Ich kümmere mich darum.« Das würde wohl wieder ein etwas längerer Tag werden. Und das bei dem ungemütlichen Schneematschwetter. Aber wenigstens gut für die Karriere, dachte sie zufrieden bei sich.
»Und vergessen Sie bloß nicht, alles aufzunehmen und vor allen Dingen nachher etwas zu posten. Unsere Leser wollen schließlich wissen was sich so tut bei uns«, rief Big Boss ihr nach, doch da hatte Sophia schon längst das Büro verlassen.
Das Interview mit einem äußerst langweiligen aber dafür umso arroganteren Lokalpolitiker war Gott sei Dank schneller erledigt als gedacht. So kam es, dass die Neugierde Sophia bereits am frühen Nachmittag vor dem Eingang der Werbeagentur eintreffen ließ.
Kritisch musterte sie das elegante, hellgraue Haus mit dem raffiniert gestalteten Firmenschild. Die Fassade des Hauses schien gerade erst frisch renoviert worden zu sein und dass satte Hellgrau wurde durch die in schlichtem Weiß hervorgehobenen Stuckarbeiten optimal ergänzt. Abgerundet wurde der Eindruck durch ein Glasschild, das links neben der ebenfalls weißen Haustüre mit zwei großen, diagonal angeordneten, goldfarbenen Schrauben befestigt war. Auf dem Schild war in geschwungenen, ebenfalls goldenen Lettern auf schwarzem Hintergrund der Name der Werbeagentur zu lesen. Daneben räkelte sich gemütlich vor weißem Hintergrund ein sitzender Eisbär, der seine Betrachter über die rechte Schulter hinweg anblickte. Das Logo hatte etwas Faszinierendes, etwas Zukunftsweisendes.
Während Sophia noch das Schild betrachtete und nach möglichen Zusammenhängen mit dem Firmennamen »Agentur Sommer« suchte, öffnete sich plötzlich die weiße Eingangstür und ein sympathischer Mann mittleren Alters lächelte sie freundlich an.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine ungewöhnlich samtige Stimme und vollführte dabei eine einladende, etwas linkisch anmutende Bewegung mit seiner rechten Hand.
Sophia musterte ihn kritisch. Er trug eine schwarze Jeans und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, wodurch der Blick unwillkürlich auf seine ungewöhnlich stark behaarten Unterarme gelenkt wurde.
»Ehrm, nein danke, das heißt doch eigentlich schon, irgendwie«, stammelte Sophia perplex. »Ich bin Journalistin und interessiere mich für Ihre Firma. Sie sind eine Werbeagentur, ist das richtig?«
»Ja, mein Name ist Dr. Reinhold Uthentahl und ich bin hier der Geschäftsführer. Möchten Sie vielleicht einen Sprung hereinkommen, dann erzähle ich Ihnen gerne mehr über mein Unternehmen. Publicity kann man schließlich immer brauchen«, lachte er sichtlich erfreut über die ungeplante mediale Aufmerksamkeit. »Ich habe zwar in einer Viertelstunde einen Termin, aber einen Moment hätte ich durchaus Zeit für Sie. Was meinen Sie?«
»Eh, ja, danke, gerne sehr nett.« Wie peinlich, der Typ muss mich ja für den letzten Deppen halten, dachte Sophia und seufzte. Aber irgendwie hatte er sie gerade echt überrumpelt.
Wenig später saß Sophia in Dr. Uthenthals Büro. »Ich darf Ihnen doch aus der Jacke helfen?«, hatte er sie galant gefragt und ihr dann höflich einen Sessel angeboten. Ein Mann von Welt. Oder zumindest gab er sich reichlich Mühe, so zu wirken. Sie mochte Männer mit Manieren. Erst jetzt kam sie dazu, sich etwas näher umzusehen. Der ganze Raum war, passend zum Äußeren des Hauses, in hellen Pastellfarben gehalten wobei aber klar ein helles Grün das Bild dominierte. Auf dem Fensterbrett residierte eine Orchidee, die offensichtlich schon länger kein Wasser mehr aus der Nähe gesehen hatte. Auf der rechten Seite des Raums blubberte als Kontrast dazu ein Wasserspender gelangweilt vor sich hin. Dr. Uthenthals stahlgrauer Schreibtisch war penibel sortiert, die Stifte lagen in Reih und Glied und auch sonst hatte alles seinen sorgsam zugewiesenen Platz. Über der Rückenlehne seines klassisch schwarzen Bürosessels thronte leger ein dunkelgrauer Blazer mit dem Etikett eines bekannten Herrenausstatters. Auch nicht gerade billig, stellte Sophia nun doch etwas beeindruckt fest. Hinter dem Schreibtisch hing stolz ein staatliches Diplom an der ebenfalls hellgrün gestrichenen Wand welches verriet, dass ihr Gegenüber wohl ein Psychologe war. Rechts und links davon bestätigten weitere Schreiben eine absolvierte NLP Ausbildung, eine Zulassung als Coach und eine Ehrenmitgliedschaft in irgendeiner Vereinigung.
Dr. Uthenthal lächelte sie freundlich und zugleich auffordernd an. Sophia lächelte zurück. Was sollte sie jetzt nur sagen? Wäre es vielleicht doch klüger gewesen, sich als eine potenzielle Kundin auszugeben, um an authentische Informationen zu gelangen? Aber was, wenn er dann Kontaktdaten gewollt hätte? Nun war es jetzt sowieso bereits entschieden. Aber wenn die Auswahl der vorgestellten Unternehmen vielleicht doch noch nicht ganz abgeschlossen war? Sophia nahm sich fest vor, von Anfang an die Unverbindlichkeit des Interviews zu betonen.
»Nun ja es ist so, mein Name ist Sophia Aloavera, ja fast wie die Pflanze, ich weiß witzig«, sie lächelte kurz, »und ich bin Journalistin bei »Das schnellere Blatt« «, eröffnete sie betont fröhlich scherzend das Gespräch. »Ich überlege gerade, einen Bericht über neue, innovative Firmen und deren Werbestrategien zu schreiben und da bin ich im Internet auf Ihr Unternehmen gestoßen. Hätten Sie Interesse, mir ein wenig über Ihr Konzept zu erzählen? Und dürfte ich das Gespräch aufnehmen?«, fragte sie, deutete mit einem Nicken auf ihr Diktafon und lächelte möglichst charmant. »Nur damit auch nichts verloren geht«, ergänzte sie möglichst beruhigend. Perfekt, dachte sie bei sich, damit bleibt das Ganze schön unverbindlich und wenn ich noch weitere Informationen brauche kann ich jederzeit anknüpfen. Somit halte ich mir alle Optionen offen.
Er nickte und sie drückte den Aufnahmeknopf. »Sie sind also einverstanden mit der Aufnahme? Sagen Sie bitte laut und deutlich ja. Nur aus rechtlichen Gründen.«
»Ja.«
»Sie sind Psychologe?«, ergänzte sie rasch.
Dr. Uthentahl sah sie zunächst verwundert an. Dann richtete er sich leicht auf, drehte sich um und sah zu der Wand hinter sich. Entspannt lächelnd lehnte er sich zurück und verschränkte seine Arme. »Ah, Sie haben das Diplom entdeckt. Ja, das bin ich. Ich habe an der Universität Innsbruck studiert. Promoviert habe ich über Medienpsychologie, genauer gesagt über Anwendungsmöglichkeiten der Medienpsychologie im Bereich des Marketings.«
»Sie meinen Manipulation?«, fragte die erfahrene Journalistin herausfordernd. Mal sehen, ob er sich ein wenig aus der Reserve locken ließ. Schließlich sollte das Endergebnis durchaus auch ein wenig Pepp abbekommen.
»Wenn Sie das so nennen wollen«, antwortete er gelassen.
»Und was ist es, was Sie hier genau machen? Ich meine was unterscheidet Sie von den vielen anderen Webeagenturen in unserer hübschen Stadt?« Sie öffnete auffordernd ihre aufgestützten, verschränkten Hände.
Arrogant lehnte er den Kopf zurück. »Die Methode. Sehen Sie, es ist so – normalerweise versucht Werbung, dem potenziellen Kunden das Produkt schmackhaft zu machen, ein bestimmtes Bedürfnis in ihm zu wecken. Doch was wäre, wenn man schon viel früher ansetzen könnte. Wenn man bereits lange vorher an den Betreffenden herankommen würde. Wenn er gar nicht erst überzeugt werden muss, weil er das jeweilige Produkt schon will, lange bevor er überhaupt das erste Mal davon hört. Wenn er sich danach sehnt, es begehrt – und es dann auf einmal wie zufällig in sein Leben tritt.« Betont langsam beugte er sich zu ihr, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und öffnete nun demonstrativ ebenfalls die Hände, während er sie gleichzeitig hypnotisierend fixierte. »Was meinen Sie, würde so jemand nicht alles, und ich meine wirklich alles, dafür geben nur um diese EINE Sache endlich zu bekommen, um endlich, endlich Frieden zu finden? Und zwar vollkommen egal was es kostet, vollkommen egal ob er es überhaupt benötigt. DAS meine Liebe, ist wahres Marketing, wahre Kunstfertigkeit, MEINE Kunstfertigkeit. Und das, genau das unterscheidet mich von all den Dilettanten da draußen.« Triumphierend hob er die Augenbrauen.
Sophia stockte der Atem. »Aber das ist doch unmöglich, ich meine wie in aller Welt soll so etwas den funktionieren? Sagen Sie bloß, Sie arbeiten schon damit?«
»Nun, sagen wir so, es ist alles noch im Aufbau aber durchaus bereits ausgereift und betriebsbereit. Derzeit wird das theoretische Konzept dahinter zwar noch redigiert aber die Testphase läuft bereits.«
Sophia überlegte angestrengt. »Also ist das dann so etwas wie diese ganzen Apps wo man mittels bestimmter Frequenzen seine Konzentration steigern können soll oder auch besser meditieren und so weiter? Oder wie genau funktioniert das?«
»Tut mir leid, aber das ist mein Geheimnis. Darüber rede ich nicht. Noch nicht. Sie verstehen sicher.« Der Psychologe widmete ihr ein verbindliches, entschuldigendes, gekünstelt wirkendes, knappes Lächeln.
»Was es alles gibt«, dachte die Journalistin bei sich und schüttelte insgeheim den Kopf. Ein leiser Schauder kämpfte sich ihren Rücken hinunter und bahnte sich seinen Weg. »Haben Sie denn gar keine ethischen Bedenken dabei? Überhaupt nicht?«, fragte Sophia ungläubig mit einem leicht schockierten Unterton.
»Nein, ich meine warum sollte ich auch. Sehen Sie, ich mache ja schließlich nur meinen Job. Und wenn ich ihn nicht mache, dann macht ihn eben jemand anderer. Ist ja wohl wirklich nicht mein Problem.« Der Psychologe zuckte demonstrativ mit den Schultern. »Und außerdem: Sehen Sie es einmal so: Die Leute bekommen ja letztendlich sowieso das, was sie so sehr wollen. Und Manipulation gab es schließlich schon immer und wird es vermutlich auch immer geben. Das ist übrigens auch die Bedeutung unseres Logos, des Eisbären.« Nicht ohne einen gewissen Stolz holte er einen niedlichen kleinen Stoffbären mit großen, schwarz umrandeten Knopfaugen und einer schräg sitzenden, roten Zipfelmütze hervor und hielt ihn Sophia entgegen.
»Möchten Sie übrigens einen Eierlikör? Ich habe einen ausgezeichneten, es würde mich freuen, Ihnen ein Glas davon zu kredenzen«, fragte ihr Gastgeber fürsorglich, während er sorgsam den Plüscheisbären vor Sophias Augen hin und her wiegte.«
»Nein danke, ich mag keinen Eierlikör. Aber sehr nett. Hm, hätten Sie vielleicht auch ein Glas Wasser für mich?«
»Nein, leider nicht. Nur Eierlikör.« Erneut reichte er Sophia den kleinen Bären.
Vorsichtig nahm diese das flauschige Bündel entgegen. Die Augen des Bären blitzten silbern während sie das Licht reflektierten. »Der Eisbär bringt Klarheit. Stärke. Kontrolle. Vor allen Dingen Kontrolle.«
Sophia rollte skeptisch mit den Augen. »Und wie genau funktioniert das? Ich meine, das ist ja schließlich eine unglaubliche Leistung, das heißt natürlich nur, sofern es auch tatsächlich funktioniert. So etwas verdient Publicity.« So schnell gab sie nicht auf und das Strahlen in seinen Augen als sie sich als Journalistin vorgestellt hatte war ihr schließlich auch nicht entgangen.
Dr. Uthenthal lächelte und hob stolz sein Kinn. Hatte er den Köder geschluckt? Sie hatte Pech. »Nun, ich bin mir sicher, Sie werden dennoch Verständnis dafür haben, dass ich darüber nichts sagen kann, schließlich handelt es sich um ein Betriebsgeheimnis.«
»Natürlich.« beteuerte Sophia beschwichtigend. So ein Mist aber auch. Das wäre die Sensation geworden. »Aber ist Ihre Vorgehensweise oder ihr Produkt oder was auch immer es genau ist … Ist es denn überhaupt schon fertig ausgereift?« fragte sie betont sarkastisch. Vielleicht lockte ihn das aus der Reserve.
»Natürlich ist es das, was denken Sie denn. Wir wissen schon was wir tun. Wir wissen was wir tun.« Die Ungeduld des Psychologen war nicht zu überhören. Sein Lächeln war verschwunden und seine Stimme wurde lauter: »Was denken Sie überhaupt? Und abgesehen davon: Überlegen Sie einmal, was man damit alles erreichen könnte. Man könnte den Konsumenten gesündere Lebensmittel schmackhaft machen, den Menschen ihre absolut irrationalen und inkohärenten Ängste vor neuen Technologien nehmen. Man könnte sie zum Frieden erziehen, zur Toleranz. Ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, wie unhöflich, ach was sage ich, wie unfreundlich diese unsere Welt mittlerweile geworden ist? Und vor allen Dingen wie beängstigend? Diese Technik wird die Welt verbessern, sie endlich einmal voranbringen. Da gibt es keine Risiken oder Nachteile. Die meisten Menschen brauchen nun einmal Führung, sie suchen regelrecht danach. Und sie brauchen Kontrolle. Sie glauben mir nicht, Sie wollen einen Beweis? Nun dann sehen Sie sich doch nur als Beispiel einmal die ganzen diktatorischen Regime da draußen an.« Theatralisch schwenkte er den Arm in Richtung Fenster. »Oder die ganzen Modetrends. Oder die Umweltverschmutzung und die qualvolle Tierhaltung, die ganzen Flüchtlingsdramen, die Kriege, religiöse Fanatiker. Oder diverse Hetzkampagnen. Zugegeben, wir machen nichts anderes, aber wir machen es überlegter, ausgeklügelter und vor allen Dingen verantwortungsbewusster. Die meisten Menschen wollen in Wahrheit doch gar keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Jeder einzelne von ihnen könnte etwas dagegen tun, dagegen angehen, doch tut das kaum jemand und die wenigen die es doch tun versinken in der Masse und ihr Bemühen hat, wenn überhaupt nur minimale Erfolge. Und warum? Weil die Leute wie gesagt Führung suchen und einfach auch nicht aus der Reihe tanzen wollen, denn das ist unter Umständen auch ganz schön unbequem. Genau deswegen funktionieren ja so viele schlimme Dinge überhaupt erst, so erst setzen sie sich durch und werden zu Traditionen, Gesetzen, Werten oder Dogmatiken. Nun gut, so zu agieren ist ja aber auch das gute Recht der Menschen und Adaptierung ist nun einmal auch bis zu einem gewissen Grad aus soziologischen Gründen nötig für ein funktionierendes Miteinander. Ebenso wie es Organisation und Steuerung braucht. Aber wenn Menschen nun einmal so funktionieren und Führung suchen dann geben wir ihnen eben was sie wollen und nehmen das Zepter in die Hand. Wenn die Menschen da draußen schon nicht wissen oder nicht entscheiden wollen, was gut für sie ist, nun auch gut, WIR wissen es.«
»Wer ist wir?«, unterbrach Sophia sein Plädoyer. Vergebens.
»Und nun haben wir endlich auch die Mittel, um es ihnen auch absolut idiotensicher klarzumachen, sie vor denen zu retten, die sie in irgendwelche ungesunden Lebensweisen oder überteuerte Spontankäufe treiben wollen oder noch schlimmer, sie für menschenverachtende Ideologien begeistern nur damit sie sich dann irgendwann schlussendlich von selbst als billige Waffen zur Verfügung stellen. Sie denken, ich sei ein schlichter Manipulator? Weit gefehlt: Ich bin ein wahrer Philanthrop.« Seine leidenschaftliche Überzeugung ließ seine Stimme vor Aufregung zittern.
»Überhaupt: WENN jemand das tatsächlich nicht will, dann kann er ja noch immer aus, dann kann er sich ja durchaus schützen. Es liegt also nicht NUR in meiner oder unserer Verantwortung. Die Menschen müssen eben endlich lernen, sich selbst und ihr Tun zu hinterfragen, lernen selbst zu entscheiden. Aber das wollen sie ja nicht. Zumindest die Mehrheit.« Entrüstet schüttelte er den Kopf, stand von seinem Schreibtisch auf und öffnete die Tür. »Und nun gehen Sie, ich habe zu tun. Überhaupt habe ich schon viel zu viel gesagt, viel mehr als ich eigentlich sagen wollte. Sie werden es schon noch verstehen eines Tages. Vielleicht auch schon sehr bald. Wie auch immer, auf Wiedersehen. Vorsicht, es ist glatt vor dem Haus.«
Sophia raffte ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich leicht verwirrt von dem nun wieder betont freundlich wirkenden Psychologen. Ein seltsames Gespräch, resümierte sie verwundert.
Als Sophia wieder in ihr Auto gestiegen war, startete sie erst einmal ihr Smartphone und öffnete den Blog der Zeitung. »Das erste Interview unserer demnächst erscheinenden Serie über neu gegründete, hippe Firmen ist fertig und es war« - was war nur das passende Wort dafür? Genau - »wirklich ungewöhnlich aber auch äußerst vielversprechend. Noch darf ich nicht viel verraten, aber es wird wirklich spannend und garantiert eine große Überraschung, also bleibt online!«, postete sie. Zusätzlich lud sie das Posting auch gleich bei diversen anderen bekannten Social Media Plattformen hoch, fügte noch schnell ein Selfie von sich im Auto hinzu und grinste bei der Vorstellung, wie ihre Konkurrenten in der Redaktion wohl auf diesen Post reagieren würden. Und Frank-Xavier legte wirklich wahnsinnig viel Wert darauf, dass möglichst viel gepostet wurde. Nicht nur über die Projekte der Zeitung selbst, auch sämtliche Mitarbeiter wurden diesbezüglich immer wieder aufs Neue angehalten. Jeder Mensch hat so seine, ihm ganz eigenen, Marotten und diese war eindeutig die seine. »Wir sind eine weltoffene Zeitung und haben auch nicht das Geringste zu verbergen!«, pflegte er mit einer betont tiefen Stimme zu sagen während er dabei, wohl um die Wirkung des Gesagten noch zusätzlich zu betonen, seine Augenbrauen entschlossen hochzog. Jede Diskussion mit ihm über dieses Thema war zwecklos. Doch in diesem Fall kam diese Regel der Journalistin durchaus gelegen. Denn mit diesem Posting war es offiziell: Sie hatte den ersten Wettlauf gewonnen. Nun war sie im Spiel.
Nichtsdestotrotz nutzte sie die verbleibende Zeit bis zu ihrem nächsten Termin damit, noch ein wenig Konkurrenzanalyse zu betreiben und in Ruhe einige Zeitungen durchzublättern. Dann suchte sie in ihren EMails nach der Adresse ihres nächsten Auftrags und hörte sich noch einmal das File mit der Aufnahme des Anrufbeantworters an. Die Uhr auf ihrem Armaturenbrett zeigte viertel vor fünf. Sie musste sich beeilen. Sophia startete den Motor ihres Wagens und fuhr los.