Die dunkle Tür - Ria Bienholz - E-Book

Die dunkle Tür E-Book

Ria Bienholz

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Beschreibung

Frankreich, 1774. Als das Gerücht um einen verfluchten Schatz die Runde macht, wird der berüchtigte Kopfgeldjäger Renard Leblanc beauftragt, einen Jesuitenpriester aufzuspüren, von dem man glaubt, er kenne das Schatzversteck. Doch als Leblanc die Mission hinterfragt, macht er sich seinen mächtigen Auftraggeber zum Feind und wird so vom Jäger zum Gejagten. Dabei stürzt er zunehmend in die tiefen, vergessen geglaubten, Abgründe seiner eigenen Vergangenheit und bringt eine beängstigende Erkenntnis ans Licht: Der ominöse Schatz und er sind Teil eines schrecklichen Verbrechens. Klebt etwa das Blut Unschuldiger an seinen Händen?

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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INHALT

Fuchsjagd

Blutspur

Halali

Fuchsjagd

Das Kloster stand in hellen Flammen. Prasselnd und fauchend schlugen sie aus den Fenstern in den Nachthimmel und fraßen gierig alles auf. Der Lärm des Infernos und die panischen Schreie der eingeschlossenen Bewohner schufen eine schreckliche Geräuschkulisse für ein Szenario des Wahnsinns.

Verzweifelt kämpfte sich der Junge durch die rauchige Hölle, doch ehe er die Tür nach draußen erreichen konnte, begannen die Balken der Deckenkonstruktion zu ächzen und gingen, dem Brand erliegend, mit mächtigem Getöse als tödlicher Feuerhagel nieder. Die Arme schützend über den Kopf gelegt, versuchte er, den brennenden Trümmern auszuweichen, während ihm Hitze und Rauch die Besinnung zu rauben drohten. Seine Lunge schmerzte bei jedem Versuch zu atmen, vor seinen Augen tanzten bizarre Flammenwesen mit zuckenden Schatten einen gespenstischen Reigen, und manche der lodernden Teile trafen ihn, ehe es ihm gelang, sich keuchend ins Freie zu schleppen. Dort jedoch wurde er Zeuge weiterer Schrecknisse. Nicht alle seiner Mitbewohner waren im Rauch erstickt oder in den Flammen umgekommen. Nun musste er hilflos mit ansehen, wie einige schreiend als lebende Fackeln aus den Fenstern der oberen Stockwerke in den sicheren Tod sprangen. Sie klatschten wie Melonen am Boden auf, und ihr Blut tränkte die Erde. Von Schwäche und Schock überwältigt, sank der Junge nieder und verlor das Bewusstsein.

14 Jahre später.

Paris im Spätsommer 1774.

Im Zwielicht rußiger Funzeln und inmitten der Opiumschwaden, die wie schwere Baldachine in der verruchten Lasterhöhle hingen, rannte Clavel durch die schummrige Halbwelt. Er hatte keinen Blick für die schrillen, abgetakelten Huren, die sich ihre schlaffen Brüste von ungepflegten Kerlen begrapschen ließen. Er war nicht als Freier gekommen. Auch die berauschten Zecher, die billigen Fusel tranken und noch billigere Zoten rissen, interessierten ihn nicht. Nein, heute stand ihm nicht der Sinn nach Amüsement. Selbst das Gerücht um einen wertvollen Schatz, das zurzeit in aller Munde war, hielt ihn nicht auf.

Er war getrieben von der nackten Angst um seinen Bruder. Er musste ihn retten!

So rannte er auch achtlos an einem schwarz gelockten Mann vorbei, der sich mit zwei jungen Dirnen vergnügte, die Treppe hinauf, den Flur entlang, bis zu einer Tür. Er stieß sie auf und erstarrte jäh, denn ihm bot sich ein Bild wahrer Teufelei.

Man hatte seinen Bruder Henri entkleidet, gefesselt und geknebelt und als wehrloses Bündel an ein Seil gebunden. Genau unter dem Genitalbereich des Nackten stand ein umgestülpter Bienenkorb, offensichtlich mit einem Volk darin, denn ab und an summte die eine oder andere fleißige Bewohnerin um den Korb herum. Clavels Blick folgte dem Seil, das über einen Dachbalken geführt und drei Schritte weiter an einem Pfosten befestigt war. Das Teuflische daran war allerdings die dicke, brennende Kerze unterhalb des Seils, die bereits begonnen hatte, es anzusengen. Und würde die Flamme das Seil kappen, käme es zu einer stichhaltigen Konsequenz: Henri würde auf den Korb stürzen, diesen zerstören und Hunderte von wild gewordenen Bienen freisetzen, die nicht zögern würden, sich mit ihren Stacheln zur Wehr zu setzen.

Es gab nur eine Möglichkeit: Clavel stürmte in den Raum, ignorierte das unverständliche Brüllen seines geknebelten Bruders und ergriff die Kerze. In diesem Augenblick fiel die Tür hinter ihm zu, und eine Stimme klatschte ihm in den Nacken.

„Guten Abend, Clavel.“

Der fuhr herum und erblickte einen schwarz gekleideten jungen Mann, der ihm offenbar aufgelauert hatte. Eine Falle!

„Sprachlos?“, bemerkte dieser spitzzüngig. „Nun, ist Isabelle auch seit ihrer brutalen Schändung. Du erinnerst dich sicher. Nein? Die Tochter der Honighändlerin, diese kleine Zarte, fast noch ein Kind.“

Er holte ein nadelspitzes Stilett unter seinem Mantel hervor, was bedeutete, dass es nicht bei einem Plauderstündchen bleiben würde.

Clavel sah nur einen Ausweg, sich selbst zu retten. Er warf die Kerze nach dem finsteren Mann. Der musste ausweichen und den Weg zur Tür freigeben. Diese Chance blieb nicht ungenutzt. Clavel floh Hals über Kopf, den Flur entlang, die Treppe hinab, durch das Bordell, wobei er Vasen, Stühle, Dekoration und selbst Huren umstieß, um seinem Verfolger einen möglichst schwierigen Hindernisparcours zu bereiten.

Doch der nahm einen anderen Weg. Er sprang aus dem Fenster auf einen Balkon im Stockwerk darunter, dann auf einen Baldachin, rollte sich ab und landete geschmeidig auf der spärlich beleuchteten Gasse just in dem Augenblick, als Clavel das Bordell verließ. Der erstarrte erneut, denn dieser heimtückische Halunke hatte ihm den Weg abgeschnitten.

„Wir sind noch nicht fertig.“, versicherte er.

Clavel wich zurück und stieß plötzlich mit jemandem zusammen. Es war ein Bursche mit zu weiter, abgewetzter Kleidung und einem Schlapphut. Er strauchelte und ließ dabei ein Bündel Briefe fallen. Clavel überlegte nicht lange, packte ihn und schlang seinen kräftigen Arm um dessen Hals. Dadurch verrutschte der Hut ein wenig und offenbarte eine rote Locke.

„Leg die Waffe auf den Boden oder ich erwürge ihn.“, knurrte Clavel. Sein Gegenüber schien einen Augenblick lang abzuwägen, dann folgte er der Aufforderung.

Während Clavel ein überlegenes „Schon besser.“ von sich gab, strich die Hand seines Gegners flüchtig zum Stiefelschaft. Dann erhob er sich und warf übergangslos und blitzschnell. Das Wurfmesser traf präzise zwischen Clavels Augen und fällte ihn wie einen Baum.

Der Bursche starrte seinen Retter aus weiten, ungläubigen Augen an, aber nur kurz, dann besann er sich der Briefe und verschwand um die nächste Ecke.

„Tja, Pech für dich. Es hieß, bringt mir die Clavel-Brüder, lebendig oder tot.“, sagte der Kopfgeldjäger und entfernte sein todbringendes Eigentum mit einem Ruck aus Clavels Schädel.

Er ahnte nicht, dass der Bursche ihn beobachtete.

Schon segelten die ersten braunen Blätter als Vorboten des Herbstes zu Boden, doch der Abend war lau, und es roch intensiv nach Humus und frisch gemähtem Gras. Nachtfalter tanzten vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr durch den großen, kunstvoll gestalteten Rokokogarten mit all den hübschen Ziersträuchern, zu Formen geschnittenen Hecken und grazilen, nicht selten erotisch anmutenden Statuen aus edlem Marmor. Doch für diese Schönheit hatte der finstere Besucher keine Muße, als er durch den Garten des hübschen

Lustschlosses schlich. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen Pavillon, der in der beginnenden Dunkelheit durch Kerzenlicht erleuchtet und deutlich zu sehen war. Als er sich lautlos näherte, hörte er eine männliche Stimme.

„Siehst du, Vivi, das ist fein.“

Schmatzen.

Auf den Lippen des Schleichers lag ein wissendes Lächeln, denn schon am Vorabend hatte er die Gewohnheiten dieses Mannes im Geheimen studiert. Er erkannte den dicken Mann mit der weiß gepuderten Perücke, der mit dem Rücken zu ihm auf einem verzierten Gartenstuhl saß, und er roch den Duft seines herben Parfums. Aber er war nicht alleine. Neben ihm ragte ein großer, dünner Mann in Livree auf, dessen Gesicht und Hakennase unweigerlich an einen Geier erinnerte. Der Schleicher verharrte im Schutz eines Zierstrauchs.

„Der Gesandte des Königs wartet schon eine Stunde. Mit Verlaub, Herr, aber Ihr solltet ihn…“, sagte der dünne Mann, doch der Dicke erstickte die Bedenken seines Kammerdieners mit einer knappen Handbewegung.

„Sag ihm, will der König seinen Vorteil, so soll er unverzüglich handeln.“

„Sehr wohl, Herr.“

„Ist er schon vorstellig geworden?“

„Nein, Herr, aber Männer wie er pflegen im Allgemeinen nicht anzuklopfen.“

„Wie wahr.“, sinnierte der Dicke. „Danke, Gustave, du darfst jetzt gehen.“

„Sehr wohl, Herr.“

Der Kammerdiener verneigte sich und verließ gehorsam den Pavillon.

Der Schleicher im Dunkel hingegen trat unverhohlen aus seinem Versteck. Im gleichen Augenblick hob helles, halbherziges Knurren an, das auf groteske Weise an das Gackern einer Henne erinnerte.

„Klopf, klopf.“, machte er sich bemerkbar, was dem beleibten Adligen ein amüsiertes Lächeln entlockte.

„Welch später Besuch.“, sagte er, „Monsieur Leblanc, nehme ich an.

Bitte lasst meine bescheidene Hütte mit Eurem Ruhm erstrahlen.“

Er machte eine einladende Geste, und der nächtliche Besucher trat in den Schein der Kerzen.

Der Dicke musterte den hoch gewachsenen, sehnigen Mann neugierig.

Er war mit einem schlichten, schwarzen Hemd bekleidet und einer ebenfalls schwarzen Hose, die in staubigen Stiefeln verschwand. Er mochte Ende Zwanzig sein, besaß ein schmales Gesicht, das sonnengebräunt war und dennoch wenig sonnig wirkte. Es trug eine kleine Narbe an der Oberlippe und offenbarte eisgraue Augen, die nicht zeigten, was ihr Besitzer wirklich dachte. Sein weißblondes Haar war zu einem lockeren Zopf gebunden und wirkte gepflegt.

Dazu trug er einen langen, dunklen Mantel, der vorn auf klaffte, und er hielt einen eleganten Spazierstock.

Waffen konnte er nicht erkennen, trotzdem ahnte der beleibte Mann, dass sein Besucher eine beängstigende Vielfalt davon besaß. Doch beängstigender als das war seine hundertprozentige Erfolgsquote als Kopfgeldjäger, und das bedeutete, er war intelligent, wachsam, ausdauernd und fähig, das ganze Unterfangen sorgsam zu koordinieren. Dazu kam die Tatsache, dass er sich nicht durchschauen ließ. Kurzum, Renard Leblanc war ein gefährlicher Zeitgenosse.

Statt eines angemessenen „Euer Durchlaucht.“, gefolgt von einer tiefen Verbeugung, grüßte dieser schlicht:

„Marquis de Repugnant.“ und nickte knapp.

Das war unverschämt, respektlos, aber selbstbewusst. Repugnant schmunzelte.

Leblanc musterte nun seinerseits Herrchen und Hund, und ihre Ähnlichkeit war verblüffend.

Schlapp und träge waren sie beide und kurzatmig vom maßlosen Übergewicht. Der eine dekadent, der andere degeneriert, und beide waren sie schlichtweg eine Beleidigung der Natur.

Doch selbstverständlich blieben dem Adligen die Überlegungen seines Besuchers verborgen, lediglich das Hündchen schien dieses niederschmetternde Urteil zu spüren, denn es duckte sich in den Schoß seines Herrchens, aus dessen Sicherheit es den Eindringling frech anschaute.

„Euer Wachhund ist beeindruckend.“, stellte Leblanc nicht ohne Ironie fest.

„In der Tat.“, erwiderte Repugnant geheimnisvoll, „In Vivi steckt mehr als man denkt.“

„Mir scheint, es steckt viel zu viel drin.“

Der Dicke wandte sich an sein Schoßhündchen.

„Impertinent ist er, nicht wahr Vivi?“

„Ich bitte vielmals um Verzeihung.“

Leblanc verneigte sich theatralisch vor dem Tier, was der Adlige jedoch ignorierte und stattdessen beschloss, sich dem eigentlichen Grund des Besuches zuzuwenden.

„Und bekannt für einfallsreiche Lösungen, wie man hört.“

„Hört man das?“

„Aber ja.“, bestätigte Repugnant und deutete mit seiner speckigen, mit wertvollen Ringen geschmückten Hand lächelnd auf den Stuhl gegenüber.

„Bitte setzt Euch.“

Während Leblanc der Aufforderung lässig nachkam, fischte der Marquis ein Häppchen aus einer weißen Porzellanschale, die vor ihm auf dem Gartentisch stand. Das fette Hündchen leckte sich gierig übers Maul, als es des Leckerbissens gewahr wurde, da es wusste, er würde seiner sein. In der Tat.

„Hier, Vivi, das ist fein.“

Schmatzen.

„Wein?“, fragte der Adlige und ohne die Antwort abzuwarten, nahm er eine edle Karaffe vom Tisch und schenkte seinem Gast ein, was sich aufgrund seines Übergewichts als mühevolle Angelegenheit erwies und seinen teuren Brokatrock zu zerreißen drohte, als er sich beängstigend straff um seinen fetten Bauch spannte. Dann langte er nach einem schreiend bunt verzierten Kästchen.

„Und dazu Pralinés?“

„Nein, danke.“, erwiderte Leblanc.

„Ihr wisst nicht, was Euch entgeht.“

Marquis de Repugnant fischte ein großes, schokoladiges Praliné aus dem Kästchen und schob es in den Mund.

„Diese köstlichen Trüffelpralinées sind wirklich ganz exquisit.“, schmatzte er. „Ich werde nachbestellen müssen.“

Tatsächlich, überlegte der Kopfgeldjäger, war die Ähnlichkeit der Fressweise von Herr und Hündchen ebenso verblüffend.

„Oder präferiert Ihr lieber diese Leckerei?“

Repugnant nahm die Porzellanschale auf.

„Häppchen mit feinster Leberpastete.“

Das war eine dreiste Provokation, die Leblanc nicht entging, denn obwohl viele Menschen für eine solche Köstlichkeit sterben würden und die meisten bestenfalls davon träumen konnten, waren diese leckeren und sündhaft teuren Häppchen hier und jetzt eben nur Hundefutter. Und er sah sich gewiss nicht als Hündchen, das Repugnant aus der Hand fraß. Dem entsprechend erntete der Marquis einen geringschätzigen Blick, der ihm zeigte, was man von dieser unverschämten, plumpen Prüfung hielt.

Repugnant verstand und grinste:

„Ich bitte vielmals um Verzeihung.“

Er fischte ein Häppchen und gab es dem Hund.

Schmatzen.

„Was kann ich für Euch tun, Marquis?“, wollte Leblanc wissen.

„Ah, Ihr wollt Euch dem Geschäftlichen zuwenden. Löblich, löblich.“

Repugnant stellte die Schale auf den Tisch zurück und nahm sein Weinglas.

„Ich fände es höchst amüsant, wenn Ihr Euch in Notre-Dame die Beichte abnehmen ließet.“

Leblanc hob überrascht eine Braue.

„Ihr habt es auf den Bischof abgesehen? Euer spezieller Freund, wie man hört.“

„Ihr habt Euch über mich erkundigt.“, stellte Repugnant mit lauerndem Unterton fest.

„Ein wenig.“, erwiderte der Kopfgeldjäger und erlaubte sich ein feines Lächeln.

„Nun, Monsieur Leblanc, der Bischof hat es auf Euch abgesehen.“

Leblancs Lächeln verschwand, während sich der Marquis entspannt zurücklehnte, sein Glas Wein schwenkte und schließlich mit sichtlichem Genuss einen Schluck nahm. Dabei schien er sein Gegenüber in Ruhe zu studieren.

Leblanc seinerseits betrachtete den Marquis taxierend.

Was ging in diesem Halunken vor?

Wenn er in seiner Fettleibigkeit und Genusssucht auch eher harmlos wirkte, hatte Leblanc doch erfahren, dass Repugnant ein einflussreicher Mann war und im Geheimen vielleicht der mächtigste Mann Frankreichs. Mit seiner Schläue, seiner Ausdauer und seiner meisterhaften Rhetorik verstand er es, selbst den König in seinen Entscheidungen zu manipulieren. Dieser gerissene Gauner war immer bestens informiert und wusste die Gunst der Stunde perfekt zu nutzen. Für seine Interessen ging er über Leichen, und es wäre Selbstmord gewesen, sich ihn zum Feind zu machen.

„Der Bischof und ich? Ein drolliges Gespann.“, murmelte Leblanc nach einer Weile, und seine Stimme erlangte sogar ihren spöttischen Unterton zurück, als er hinzufügte:

„Will er meinen Kopf oder gelüstet es ihn nach einem anderen Teil von mir? Wie pikant!“

Nun war es Marquis de Repugnant, der überrascht eine Braue hob.

„Der ehrenwerte Kirchenmann besitzt doch eine Vorliebe für Kerle, oder sind meine Informationen diesbezüglich unkorrekt?“, fragte Leblanc unverblümt, was den Adligen hell auflachen ließ.

„Chapeau!“, rief er begeistert. „Ihr habt wahrhaftig Sinn für Humor!

Santé!“

Er erhob sein Glas auf seinen Gast, doch der war nicht in Zecherlaune, sondern fragte sachlich:

„Was will Monseigneur denn nun?“

Repugnant kehrte, trotz offenkundigem Amüsements zum Geschäftlichen zurück.

„Was wohl? Er ist an Euren Künsten interessiert und erwartet Euch.“

Leblanc dachte einen Augenblick über diese merkwürdige Begegnung nach, dann erhob er sich und sagte:

„Nun denn, ich bin sehr gespannt auf seine Beichte.“

Er trank einen Schluck Wein, grüßte mit einem knappen „Marquis.“ , und verschwand in der Nacht.

Der Adlige sah ihm mit einem geheimnisvollen Lächeln nach.

„Und ich bin sehr gespannt auf Euch, Monsieur Leblanc.“

Als wäre das ein Stichwort gewesen, glitt eine Gestalt in einem langen, dunklen Umhang hinter einer der grazilen Statuen des Parks hervor und sah Marquis de Repugnant abwartend an.

„Es geht los.“, sagte er. „Schlag zu, wenn er am wenigsten damit rechnet.“

Die Gestalt verbeugte sich knapp und huschte geschmeidig davon.

Der Marquis, offenbar voll und ganz mit sich zufrieden, fischte sich ein weiteres Praliné.

Über Paris war die Nacht hereingebrochen, als der hagere, glatzköpfige Mann im weißen Messgewand die Pforten der prunkvollen, gotischen Kirche schließen wollte, denn die Abendmesse war vorüber und die Gläubigen gegangen. Nauster begrüßte diesen Umstand, freute er sich doch auf seinen Nachttrunk in Form eines Gläschen Weins und darauf, in seiner Bibel zu lesen, obwohl er seinen Dienst als Messdiener und als persönlicher Assistent des Bischofs gerne versah. Er war ein alternder, gottesfürchtiger Mann, der die Entscheidungen seines mächtigen Vorgesetzten niemals in Frage gestellt hätte und der festen Überzeugung war, dass dieser immer das Richtige tat, wofür er ihn von Herzen bewunderte.

Und wie jede Nacht blickte er sehnsüchtig zum Himmel empor, als könnte er den Sternen manches Geheimnis entreißen, doch wie jede Nacht blieben sie kalt und stumm.

Diese Nacht war lau und wolkenlos, der Mond nahm zu, und die Wasserspeier am dunkelgrauen Mauerwerk der Kirche zeichneten sich wie immer als bizarre Schatten im Gegenlicht des Mondscheins ab. Nauster kehrte von den Sternen zurück und schloss einen Flügel der Pforte. Dann wandte er sich dem anderen zu, als plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihm stand. Nauster erschrak bis ins Mark.

Als er nach mehreren Augenblicken wieder zu sich gefunden hatte, hörte er sich stammeln:

„Verzeiht, aber die letzte Messe ist schon vorbei.“

Nun sah er, dass es sich bei seinem Gegenüber um einen Mann handelte, der einen langen, schwarzen Mantel trug. Der Fremde hielt den Kopf gesenkt, als er sagte:

„Ich bin ein reuiges Lamm, das seine Sünden beichten will.“

Dann sah er auf und Nauster direkt ins Gesicht. Dieser wich unwillkürlich zurück und konnte nicht verhindern, dass ihn ein Schauer durchfuhr.

Nein, das war nicht der Ausdruck eines reuigen Lammes, sondern der eines Wolfes, gefährlich, berechnend und vor allem gottlos; ein lauerndes Raubtier in der Nacht, das keinen Hehl daraus macht, im geeigneten Augenblick zuzuschlagen.

„Kommt... kommt morgen wieder.“, kam es mühsam über Nausters Lippen.

Morgen, dachte er, wenn es Tag ist und viele Menschen unterwegs sind.

Doch der Fremde hatte sich bereits an ihm vorbeigestohlen und betrat die prunkvolle Kirche, wo er sich nun mit deutlich geringschätziger Miene umsah. Auch das blieb Nauster nicht verborgen. Nervös geworden, suchte er nach einer Möglichkeit, den unheimlichen Mann hinauszukomplimentieren, doch er fand keine und wusste zu allem Übel, dass er nichts gegen ihn würde ausrichten können. Also wurde er noch nervöser, aber es erfolgte unerwartete Rettung.

„Ein bußfertiger Sünder ist Gott zu jeder Zeit willkommen.“

Diese samtweiche und dennoch autoritäre Stimme gehörte keinem Geringeren als seinem Herrn, dem Bischof. Mit seiner großen, schlanken Statur und in den liturgischen Gewändern wirkte er sehr würdevoll, als er neben dem prächtig ausgestatteten Altar erschien und den späten Besucher mit einem huldvollen Lächeln betrachtete.

Im Gegensatz zu Nauster schien der Fremde ihn nicht nervös zu machen.

„Schließ die Pforte, Nauster“, bat er freundlich, „und dann geh nur.

Ich brauche dich heute nicht mehr.“

Nauster war erleichtert, einerseits, doch andererseits mochte er seinen Herrn mit dieser gottlosen Kreatur nicht allein lassen.

„Aber, Herr...!“

Doch der sanfte, aber bestimmte Blick des Bischofs erstickte sein Veto augenblicklich, und so tat sein Assistent, wie ihm geheißen.

Renard Leblanc sah dem Glatzkopf kurz nach, wie dieser durch eine kleine Seitentür verschwand. Dann schlenderte der Kopfgeldjäger dem Bischof entgegen und musterte ihn abschätzend.

Bischof Simon de la Grace mochte Ende Vierzig sein und war ein gepflegter, gut aussehender Mann mit halblangen, graumelierten Haaren und glatt rasiertem Kinn. Dennoch, trotz seines angenehmen Äußeren, sprachen seine Augen eine andere Sprache: Machtgier ohne Gnade.

„So seid Ihr also mein nächtliches, verruchtes Rendezvous“, lächelte er, „Renard Leblanc?“

„Leibhaftig, Monseigneur.“, erwiderte Leblanc unbeeindruckt und fläzte sich mit der größten Selbstverständlichkeit in die erste Sitzreihe, die normalerweise höhergestellten Persönlichkeiten der Gesellschaft vorbehalten war.

„Ich kann Eure Predigt kaum erwarten.“

Bischof de la Grace lächelte schmunzelnd in sich hinein. Es schien ihm zu gefallen, was er hörte. Doch zunächst blieb er seinem späten Besucher eine Predigt schuldig und setzte sich in die zweite Reihe, genau hinter Leblanc, wo er diesem ins Ohr flüsterte:

„Ihr wollt also ohne Umschweife zur Sache kommen, Monsieur Leblanc?“

Offensichtlich gefiel ihm nicht nur, was er hörte.

„Ganz und gar ohne Umschweife.“, bestätigte Leblanc ungerührt.

„Wie schade.“, schnurrte de la Graces samtweiche Stimme, die allerdings ziemlich hart wurde, als sie fragte:

„Wie viel Risiko seid Ihr bereit, auf Euch zu nehmen?“

„Das kommt darauf an, wie viel Ihr bereit seid, für meine Künste der Kollekte zu entnehmen.“

„Gefielen Euch 250 hübsche Louisdor?“

Leblanc wandte sich dem Bischof zu und schien kein Problem damit zu haben, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

„Dafür würde ich sogar beichten.“

„Eure Kunst wurde mir wärmstens ans Herz gelegt.“, flüsterte de la Grace eindringlich. „Bringt mir einen bestimmten Mann, lebend.

Erledigt das, und ich erteile Euch Absolution.“

„Solange sie in bar erfolgt, sind wir im Geschäft.“

De la Grace holte einen zusammengerollten Bogen Papier aus seinem Ärmel hervor und reichte diesen dem Kopfgeldjäger, welcher, davon überzeugt, dass es sich dabei um einen Steckbrief handelte, nicht zögerte, das Konterfei des Gesuchten anzusehen. Er blickte in das Gesicht eines alternden Mannes.

„Sein Name ist Robert de Valdor.“, erklärte der Bischof. „Aber seht Euch vor, ich bin nicht der einzige Interessent, denn er hütet ein Geheimnis, das Begehrlichkeiten weckt.“

„Ganz offensichtlich.“, bemerkte Leblanc spöttisch.

„Es ist zum Wohle der Kirche.“, stellte de la Grace klar und erhob sich.

„Die Ihr ganz nebenbei repräsentiert.“

Leblanc erntete einen strafenden Blick, dennoch konnte er sich eine weitere ironische Bemerkung nicht verkneifen.

„Und natürlich wird er sein Geheimnis zum Wohle der Kirche preisgeben.“

„Natürlich.“, erwiderte de la Grace mit gefährlichem Unterton. „Denn seht Ihr, meine Kunst ist die des Überredens.“

Leblanc schauderte ein wenig, denn er ahnte, dass der Bischof selbst vor Folter nicht zurückschrecken würde, um an das begehrte Geheimnis zu gelangen. Deshalb murmelte er deutlich angewidert:

„Das wird sicher ein nettes Plauderstündchen.“, was de la Grace nicht entging.

Plötzlich packte er Leblanc an den Schultern und funkelte ihn wild an.

„Hört zu!“, knurrte er und wirkte dabei wie ein zähnefletschender Wolf. „Ich will diesen Mann, und Ihr werdet ihn mir ausliefern.

Schwört es, Leblanc!“

Seine Hände begannen, sich schmerzhaft in Leblancs Fleisch zu graben.

„Schwört es, bei allem, was Euch heilig ist!“

Von dieser Wildheit völlig überrascht, war der Kopfgeldjäger unfähig zu handeln, doch als seine Schlüsselbeine knackend zu kapitulieren drohten, sprengte er mühsam beherrscht de la Graces Griff.

„Beruhigt Euch.“, sagte er schließlich. „Ihr habt mein Wort.“

Das schien dem Bischof zu genügen, denn er entspannte sich.

„Nun gut, zu den Details.“

Während er dem Kopfgeldjäger nun seinen Auftrag erläuterte, begann Nauster beunruhigt zu schwitzen. Er hatte es nicht gewagt, seinen Herrn allein zu lassen und hatte sich stattdessen in die Sakristei geschlichen, welche Gewänder, Kerzen und andere Kirchenausstattung beherbergte, und die beiden belauscht. So entgingen ihm die Absichten seines Vorgesetzten nicht, die alles andere als gottesfürchtig klangen und Fragen aufwarfen.

Und während das fahle Mondlicht der fortschreitenden Nacht die Wasserspeier in geheimnisvolle Bestien verwandelte, lag Nauster irgendwann wie eine bleiche Leiche auf seinem schlichten Bett in seiner kleinen Kammer und starrte an die Decke. Eine alte, abgegriffene Bibel ruhte aufgeschlagen auf seinem Bauch, aber der Messdiener hatte heute keine Muße, darin zu lesen. So schlug er sie zu, legte sie beiseite und blies die Kerze aus, die auf dem Nachttisch stand. Schlafen konnte er allerdings nicht, denn das, was sein Herr zu dem gefährlichen Mann gesagt hatte, ließ ihn keine Ruhe finden.

Erfreulicherweise führte den Kopfgeldjäger nicht jeder Auftrag in zwielichtige Lasterhöhlen. Dieses Mal ging er im Le Perche auf die Jagd, einer malerischen Hügellandschaft westlich von Paris. Anstelle des lauten Geschnatters und unerträglichen Gestanks der Großstadt, lauschte Leblanc dem unbeschwerten Gesang der Vögel und sog den intensiven Duft der dichten Wälder genüsslich ein. Von den ausgedehnten Wiesen und Feldern inspiriert, erlaubte er sich einen erfrischenden Galopp, ehe er seinen Schimmel, einen kräftigen Andalusier, in der Nähe eines Gestütes auf der Hauptstraße zügelte.

Der Le Perche war nicht nur für seine erholsame Natur bekannt, sondern auch berühmt für die Zucht der mächtigen Percheronpferde, schwere Kaltblüter, welche man bevorzugt als Arbeits- und Zugtiere einsetzte. Und so führte sein Weg an weiträumigen Pferdekoppeln entlang, bis ein kleines, unscheinbares Dorf sichtbar wurde, sein Ziel.

Mochte jene ländliche Idylle alles andere als Böses vermuten lassen, Leblancs Entschluss, diesen Auftrag anzunehmen, sollte dramatische Folgen haben. Aber natürlich ahnte er nichts davon, sondern ritt ins Dorf und blickte sich aufmerksam um.

Dieser Ort wirkte so, wie man es ihm beschrieben hatte - verlassen.

Der Wind trieb den Staub durch die Ruinen, und von den kreischenden Raben, die über den Ort hinweg glitten abgesehen, herrschte die Stille des Todes. Es gab kein schreiendes Vieh und kein lachendes Kind, das dieser Stätte Leben eingehaucht hätte.

Viele der Leute, die einst hier wohnten, waren nach Kanada ausgewandert, um dort ein neues, besseres Leben anzufangen, wusste Leblanc.

Er erreichte den Dorfplatz, wo sich ein Brunnen und die Kirche befanden, doch eine andere Tatsache fesselte seine Aufmerksamkeit.

Gänzlich verlassen war dieser Ort nicht.

Als Leblanc den reglosen Mann entdeckte, der hingesunken am Brunnenrand saß, sträubten sich seine Nackenhärchen in der sicheren Vorahnung von Schwierigkeiten, denn er erkannte sofort, dieser Mann war tot. Renard Leblanc sah sich misstrauisch um, aber er konnte nichts Verdächtiges oder gar Gefährliches ausmachen, so saß er schließlich ab und beschloss, sich den Toten genauer anzusehen.

Glücklicherweise handelte es sich dabei nicht um den Gesuchten auf dem Steckbrief, sondern um einen großen, kräftigen Mann Mitte Dreißig, der die dunkle Kutte eines Geistlichen trug. Der dezente Blutfleck auf der linken Brust sagte Leblancs Kennerblick sofort, dass hier ein Profi sein Handwerk verrichtet hatte. Offensichtlich hatte man das Opfer so gezielt getötet, dass es seinen Degen noch immer in der Hand behielt, als es sterbend niedersank. Leblanc betrachtete die Waffe des Toten. Sie war ein einfacher, schmuckloser Degen, des Öfteren benutzt, sehr wahrscheinlich die Waffe eines Soldaten.

Ein seltsamer Umstand, überlegte er, ein Priester, der den Degen eines Soldaten in der Hand hielt, das passte nicht zusammen. Und ein Mörder, der entweder ein ausgebildeter Assassine oder zumindest ein ausgezeichneter Fechter war, verhieß mehr Schwierigkeiten als erwartet.

Schließlich berührte Leblanc die Hand des Opfers, was ihn veranlasste, gewarnt aufzublicken, denn sie war noch nicht eiskalt und auch nicht steif, woraus er schloss, dass der Ärmste vor Kurzem noch gelebt hatte. Das wiederum konnte aber auch bedeuten, dass sein Mörder noch hier war. In höchste Alarmbereitschaft versetzt, erhob sich Leblanc und verengte die Augen. Dann nahm er seinen Spazierstock, der am Sattel befestigt war und zog langsam einen Degen heraus. Es handelte sich dabei aber nicht um eine einfache Waffe, sondern um einen eleganten Stoßdegen, einen so genannten Pariser, der dafür gefürchtet war, Durchstiche der Lunge zu verursachen, welche man im allgemeinen als Lungenfuchser bezeichnete. So offenkundig bewaffnet, machte er einen noch gefährlicheren Eindruck, und als wollte die sinkende Sonne dieses Bild verstärken, zauberte sie einen blutroten Reflex auf die Klinge.

Vielleicht war sein Verdacht unbegründet, aber „nur nichts dem Zufall überlassen“, dachte er und entschied sich dafür, sehr gut vorbereitet zu sein, wie immer.

Er blickte zur Kirche hinüber. Sie hatte dem Verfall weitgehend standgehalten. Wenngleich ihr Dach teilweise undicht und einige Fensterscheiben zerbrochen waren, wirkten ihre Mauern massiv und das halb geöffnete Portal intakt. Leblanc zweifelte keinen Augenblick, das Objekt der Begierde seines Auftraggebers im Hause Gottes zu finden und möglicherweise auch den Mörder, deshalb entschied er sich, nicht den direkten Weg zur Kirchenpforte zu wählen. Leblanc lächelte grimmig. Wie gut, dass alle Kirchen dieser Art mindestens einen Seiteneingang besaßen. So führte der schwarz gekleidete Mann sein Pferd am Zügel und verschwand geschmeidig in einer Gasse zwischen den verfallenen Häusern, wo er mit den langen Schatten des frühen Abends verschmolz. Seine Sinne waren aufs Äußerste geschärft und seine Klinge zum tödlichen Stoß bereit, denn er musste jeden Moment mit einem Hinterhalt rechnen, der aus einer der dunklen Ruinen erfolgen konnte.

Als ein Angriff jedoch ausblieb, ließ er seinen Schimmel in geeigneter Deckung zurück und schlich weiter. Schließlich führte der strategische Umweg Renard Leblanc tatsächlich zur Seitenansicht der Kirche, wo er einen schmalen Eingang nahe der Apsis bemerkte, ein zerschlagenes Fenster darüber und noch etwas anderes. Sofort huschte er in das sichere Dunkel einer Ruine und blickte vorsichtig hinaus. Ein falbfarbenes Pferd, das gesattelt und mit Taschen bepackt war, graste das spärliche Grün auf der staubigen Erde ab. Von seinem Besitzer fehlte allerdings jede Spur, dennoch sah Leblanc seinen Verdacht bestätigt.

Jetzt hieß es, schnell und präzise vorzugehen. Wenn er mit dem Glück des Tüchtigen gesegnet war, würde ihn der Mörder noch nicht bemerkt haben. Darauf verlassen konnte er sich allerdings nicht, aber er vertraute seinen Fähigkeiten und denen seines Begleiters.

„Salto!“, flüsterte Leblanc, woraufhin der Andalusier die Ohren aufstellte und zu seinem Herrn trabte. Kaum angekommen, nutzte dieser das Pferd als Leiter, um ans Fenster zu gelangen.

„Was, in Gottes Namen, habt Ihr vor?“

Der schlanke Mann mit dem vornehm zurechtgestutzten, grauen Bart wand sich in seinen Fesseln, denn seine Arme begannen taub zu werden.

„Schscht!“, zischte der andere Mann leise, der sich in der spärlich erleuchteten Kirche neben dem Seitenausgang an die Wand gedrückt hatte und angestrengt nach draußen lauschte. Sein Degen war zum Erstschlag erhoben. Auf seinem jungen Gesicht, das zwischen den wilden, schwarzen Locken recht ansehnlich aussah, glänzte der Schweiß der Anspannung. Er war groß und muskulös und trug ein weißes Hemd, eine blaue Weste darüber, die leger aufklaffte und braune Hosen, die in langschäftigen Stiefeln endeten. Auffällig war die große, goldene Creole, die eines seiner Ohren zierte und im Schein der Kerzen matt schimmerte.

„Komm schon, Bastard.“, flüsterte der verwegen anmutende Mann nervös.

Der Gefesselte hingegen bemerkte die plötzliche Bewegung an einem der zerbrochenen Fenster und sah blitzschnell nach oben. Für eine Sekunde verdunkelte ein großer Schatten das ersterbende Rot des Sonnenuntergangs, dann sprang ein Mann ins Kirchenschiff hinab.

Sein weißblondes Haar und sein langer, dunkler Mantel wehten dabei wie Unheil verkündende Fahnen, aber vor allem die lange, scharfe Klinge, die er in der Hand hielt, gab ihm das Aussehen eines Todesengels. Er landete geschmeidig und sicher, und während der Schwarzhaarige entsetzt erkannte, was geschah, hatte sich der unerwartete Eindringling bereits erhoben und griff derart raffiniert an, dass der Mann mit dem Ohrring in seiner Überraschung nur in letzter Sekunde parieren konnte. Dann hielt er allerdings sehr geschickt dagegen. Ihre Klingen kreuzten sich in einer blitzschnellen Folge aus Finten und Stichen, was Leblanc ein wildes Grinsen entlockte. Das machte ja richtig Spaß!

In beinahe jugendlichem Übermut, trieb er seinen Gegner zum schmucklosen Altar zurück, wo er in Rücklage kam und der Attacke im letzten Moment dadurch entging, indem er sich blitzartig über den Ambo hinwegrollte. Der Hieb fegte einige Kerzen vom Opfertisch und verfehlte die Füße des Gefesselten nur knapp, denn der Graubart war an das Kreuz gebunden, das direkt hinter dem Altar aufragte.

„Verzeiht“, entschuldigte sich Leblanc und sah kurz zu ihm hoch, „das galt nicht Euch.“

„Aber das gilt dir, du Hurensohn!“, brachte sich der Mann mit dem Ohrring wieder in Erinnerung und warf mit einem Kandelaber nach seinem Gegner. Leblanc wich aus, das Geschoss landete scheppernd an der Wand, wo es einer jener feisten Putten den Schädel einschlug und sie vom Sockel riss. Die Gunst des Augenblicks nutzend, hatte sich der Schwarzhaarige seinem Kontrahenten genähert und deckte ihn seinerseits mit gefährlichen Streichen ein, was die beiden durch das Kirchenschiff trieb.

Entsetzt beobachtete der gefesselte Mann die Schneise der Verwüstung, welche diese gottlosen Teufel dabei hinterließen, und zwischen der Zerstückelung von Kerzen, dem Aufschlitzen eines Heiligenbildes und der Enthauptung einer Madonna, schluchzte er:

„Oh nein!“ und „Bitte nicht!“

Als der Schwarzhaarige dann ein Weihrauchfass ergriff und drohend mit der Kettenkonstruktion spielte, fragte Leblanc lauernd:

„Die Gangart wird verschärft, ja?“

Die Antwort folgte umgehend. Der Mann mit dem Ohrring schlug mit der Kette zu, um den Waffenarm seines Gegners zu fangen, doch sein Widersacher wich geschickt aus, fasste in seinen Mantel und hielt schon im nächsten Moment ein nadelspitzes Stilett in der Linken.

Stoßdegen und Stilett gekreuzt, parierte er gekonnt den nächsten Stich, weil er den Degen seines Kontrahenten in die Zange nahm, drehte ihn und entwaffnete den Schwarzhaarigen. Gleich darauf trat er ihm das Weihrauchfass aus der Hand. Und ehe er sich versah, kitzelte nur einen Lidschlag später der Stoßdegen die Kehle des Verlierers.

Der Mann mit dem Ohrring keuchte fassungslos.

„Wer bist du?“

Leblanc lächelte schmal.

„Heute nur ein Mann, der sich bei einem anderen Mann für das überaus erbauliche Duell bedankt.“

„Du bist ja verrückt!“

„Verrückt genug, es fortzusetzen?“

Er nahm die Waffe zurück und machte eine einladende Geste, die dem Anderen bedeutete, seinen Degen wieder aufzuheben, doch der Schwarzhaarige zögerte, denn er fürchtete zurecht, diesem Gegner unterlegen zu sein.

Nun, der Kerl hatte zwar Gelegenheit gehabt, ihn zu töten und hatte es nicht getan, doch würde er es sich nicht anders überlegen, wenn er des Duells überdrüssig war?

„Warum bist du hier?“, fragte der Besiegte stattdessen, worauf der Kopfgeldjäger geheimnisvoll erwiderte:

„Finde es heraus.“

Er senkte die Fechtwaffe und ließ das Stilett in seinem Versteck unter dem Mantel verschwinden. Dann lupfte er den Degen seines Gegners mit der Fußspitze an, fing ihn und warf ihn wuchtig Richtung Balkenkonstruktion der Kirche, wo er stecken blieb und nachfederte, unerreichbar für seinen Besitzer.

„Habt Ihr nun endlich genug Heiligtümer geschändet?“, brachte sich der Gefesselte in bitterem Tonfall in Erinnerung, und während der Schwarzhaarige ihm ein „Halt den Schnabel, Messdiener!“ zuwarf, betrachtete Leblanc den Mann, der ans Kreuz gebunden war, mit ruhigem, abschätzendem Blick. Kein Zweifel, er war der Mann auf dem Steckbrief und somit seine Beute. Er trug ein einfaches, weißes Leinenhemd, einen abgewetzten Gehrock darüber, dunkle Kniehosen, helle Kniebundstrümpfe und Schuhe aus festem Leder. Er war mittelgroß, schlank und etwa Ende Fünfzig, besaß graues, volles Haar und einen ebenfalls grauen, kurz geschnittenen Bart, was ihm trotz der misslichen Lage ein beinahe würdevolles Aussehen verlieh.

Als der verwegene Kämpfer fragte: „Warum hast du mich nicht kalt gemacht?“, wandte sich Leblanc ihm wieder zu.

„Ich kann kein Blut sehen.“

Das versetzte sein Gegenüber kurzzeitig in Heiterkeit.

„Komm schon, im Ernst?“

„Nun gut, vielleicht, weil du dich noch nicht vorgestellt hast.“

„Oh, natürlich! Eugène Sagace, Fechter, Glücksritter und bei den Damen immer gern gesehen.“ Er verbeugte sich galant. „Und der Mann, der einem anderen für das überaus erbauliche Duell dankt, hat der auch einen Namen?“

„Ja.“, sagte Leblanc knapp und beließ es dabei.

Eugène Sagace hatte zwar mehr erwartet, aber schließlich zuckte er leichthin die Achseln.

„Auch gut, dann bleibt es eben bei Hurensohn.“

„Ein wenig mehr Einfallsreichtum hätte ich dir schon zugetraut.“, entgegnete Leblanc lakonisch und ging nachdenklich zum Altar zurück. „Aber bitte, nenn mich wie du willst. Bist du gekommen, um die gesamte Landbevölkerung gegen dich aufzubringen?“

„Wer hätte gedacht, dass es wild gewordene Pfaffen gibt?“, erwiderte Eugène Sagace. „Der Kerl wollte mich umlegen.“

„Ich meine nicht den armen Teufel am Brunnen. Wieso hast du ihn ans Kreuz gefesselt?“

Sagace folgte dem undurchsichtigen Mann und antwortete:

„Damit er nicht abhaut. Wer weiß, vielleicht hat ihm der Pfaffe seine Geheimnisse anvertraut?“

Leblanc sah ihm direkt in die Augen. Sein Blick war berechnend, als er lächelte.

„Ich habe eine ausgesprochene Schwäche für Geheimnisse.“

Sagace lachte erneut, nur klang es dieses Mal eher spöttisch.

„Wusste ich’s doch! Du bist auch hinter dem Jesuitenschatz her.“

„Manche Zufälle sind nahezu unglaublich, nicht wahr?“, murmelte Leblanc.

Die beiden belauerten sich eine Weile und wieder lag Spannung in der Luft, bis Sagace schließlich verwegen grinste.

„Vielleicht sollte ich dich fürchten und vielleicht bin ich dumm genug, es nicht zu tun, aber vor allem bist du zuweilen recht amüsant, Hurensohn. Suchen wir den Schatz gemeinsam.“

Leblanc überlegte nur kurz, denn die Rolle des Schatzjägers war die perfekte Tarnung, dann sagte er:

„Einverstanden. Was weißt du darüber?“

„Reinstes Silber aus den Minen der neuen Welt“, begann Eugène Sagace, „Bücher aus purem Gold und Reichtum, den du dir in deinem ganzen, gottverdammten Leben nicht vorstellen kannst, mein Freund.

Als man die Jesuitenpatres im vorigen Jahr verfolgte und aus dem Land jagte, sollen sie einen Großteil ihrer Schätze auf ihrer Flucht nach Liège übereilt versteckt haben.“

„Ich hörte davon.“, log Leblanc.

„Meine Nachforschungen haben mich schließlich hierher geführt“, erklärte Sagace weiter und grinste breit, „und da auch du hier gelandet bist, scheinen die Gerüchte nicht gelogen zu haben. Nun bist du an der Reihe.“

„Im Allgemeinen“, begann Leblanc zögernd, „versteckt man wertvolle Dinge gerne in Altären.“

Sagaces Augen glommen vor freudiger Erregung.

„Und? Hast du den Schlüssel oder so was?“

„Ich hoffte, du würdest dieses kleine Problem lösen.“

Der Mann mit dem Ohrring war nicht lange enttäuscht, sondern blickte zu dem Gefesselten empor.

„Und damit kommt der Meister der Geheimnisse ins Spiel, nicht wahr?“

„Hier werdet Ihr keinen Schatz finden.“, sagte der Graubart gelassen.

„Und wenn Ihr hundert Jahre sucht.“

„Ich kenne da einige sehr einfallsreiche Methoden, dich zum Reden zu bringen, Freundchen.“, drohte Sagace, doch Leblanc, der deutlich spürte, dass keine Folter dieser Welt die Meinung des Graubarts ändern würde, sagte ruhig:

„Gib dir keine Mühe.“

Während Sagace ihn völlig überrascht anstarrte, nahm Leblanc den Altar näher in Augenschein. Er war mit steinernen Hochreliefs geschmückt, welche die Stationen des Kreuzweges bis zur Kreuzigung Jesu in eindrucksvoller Detailtreue darstellten.

„Was suchst du?“, wollte Eugène Sagace wissen, als Leblanc innerhalb der Motive nach Gemeinsamkeiten oder Auffälligkeiten fahndete und gedankenverloren murmelte:

„Den Schlüssel.“

Sagace, der zunächst nicht verstand, schnaubte verächtlich:

„Glaubst du ernsthaft, die hängen den Schlüssel einfach an den Altar?

Diese Jesuitenpfaffen sind gescheite Leute, weißt du...?“

Er hielt plötzlich inne, als er erkannte, sich soeben die Antwort gegeben zu haben.

„Merde, es sind die Bilder selbst!“

Und dann huschten seine Augen fieberhaft über die Reliefs, bis sie eine entscheidende Entdeckung machten.

„Das Kreuz“, entfuhr es ihm, „es kommt in jedem Bild vor.“

Er bemerkte nicht, dass Leblancs Blick plötzlich in jäher Erkenntnis einfror, sondern stürzte zum Altar, um die Kreuzsymbole zu untersuchen und zu betasten in der Hoffnung, ein mechanisches Schloss müsste durch die Berührung jeden Augenblick geöffnet werden, doch seine Bemühungen waren keineswegs von Erfolg gekrönt. Diese frustrierende Tatsache entlockte ihm ein weiteres „Merde!“, und er musste im Folgenden beinahe wie betäubt mit ansehen, wie der geheimnisvolle Blonde sehr gezielt und fast ehrfürchtig auf ein winziges Detail drückte, auf die Schale nämlich, die das Blut des gekreuzigten Christus auffing.

Es ertönte ein leises Klicken, dann schien sich irgendwo auf der Rückseite des Altars eine Art Klappe zu öffnen. Und als ob er diese unerwartete Wendung plastisch untermalen wollte, fiel Eugène Sagace der Unterkiefer herab.

„Es war der heilige Gral, das Symbol, das nur ein einziges Mal abgebildet ist.“, sagte Leblanc schlicht und ging um den Altar herum, um nachzusehen, was sich geöffnet hatte.

Nun beeilte sich auch Sagace, doch Leblanc erreichte das Ziel ihrer beider Begierde zuerst und stellte fest, dass sich tatsächlich eine Klappe im Opfertisch geöffnet hatte, welche den Blick in ein kleines Geheimfach freigab. Aber darin lag weder ein Schlüssel, noch ein Schatz, sondern ein kleines, sorgfältig in Leder eingeschlagenes Bündel, das etwas Schmales, Viereckiges verbarg. Renard Leblanc nahm es an sich, noch ehe Sagace in der Lage war, das Gleiche zu tun.

„Was meinst du?“, fragte der Mann mit dem Ohrring und starrte gierig auf das Lederbündel. „Beinhaltet es den Schlüssel oder eine Schatzkarte?“

„Ich werde es herausfinden.“, erwiderte der Kopfgeldjäger und ließ sein Gegenüber durch sein schmales Lächeln wissen, dass er nicht die Absicht hatte, weiterhin zu kooperieren. Sagace verstand und beschloss, es unter keinen Umständen zuzulassen.

„Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, unser überaus erbauliches Duell fortzusetzen.“, sagte er mit demselben Lächeln. „Und wenn ich dir den Hals umdrehen muss.“

„Gerne.“, nickte Leblanc und schlug übergangslos zu.

Eugène Sagace fiel gegen den Altar, verdrehte die Augen und sank bewusstlos nieder.

„Ein andermal.“, fügte er unbeeindruckt hinzu und wandte sich ab.

„Was für eine eindrucksvolle Vorstellung.“, hörte er die ironische Stimme des Graubarts. „Wenn ich nicht gefesselt wäre, würde ich klatschen.“

Renard Leblanc sah zu ihm hoch und erkannte trotz Sarkasmus die Hoffnung in dessen Augen, befreit zu werden, doch er machte keinerlei Anstalten, den Mann von seinen Fesseln zu erlösen.

„Es liegt mir nichts an Eurem Applaus.“, erwiderte er.

Es war der Augenblick, als er draußen das Trommeln mehrerer Pferdehufe hörte und eine männliche Stimme, die „Halt!“ befahl.

Pferde schnaubten, als sie offenbar nach längerem Ritt gezügelt wurden.

Leblanc verengte die Augen, stahl sich zur Kirchenpforte, die noch immer halb offen stand und erkundete im Verborgenen die Neuankömmlinge.

Es handelte sich um sieben königliche Soldaten in rot-blauer Uniform, welche ihre Pferde am Dorfplatz gezügelt und die Leiche am Brunnen entdeckt hatten. Ein sehr großer, stämmiger Mann, der eine Reitgerte hielt, befahl einem anderen abzusteigen und den Toten zu untersuchen, was der Soldat sogleich befolgte und nach kurzer Prüfung den Kopf schüttelte.

Die Konkurrenz konnte wirklich nicht pünktlicher erscheinen, dachte Leblanc, dann kehrte er unbemerkt zum Altar zurück und versteckte das Bündel in seinem Mantel.

„Wie viel Aufhebens um einen verlassenen Ort wie diesen“, stellte er fest, „dem ich für die Gastfreundschaft danke. Doch nun ist es Zeit, mich zu verabschieden.“

Ihm entging die Anspannung im Gesicht des Graubarts nicht, als dieser raunte:

„Wartet!“

Und als die befehlsgewohnte Stimme draußen bellte: „Robert de Valdor, im Namen des Königs, Ihr seid verhaftet!“, zuckte der Gefesselte zusammen.

„Seid Ihr gemeint?“, gefiel sich Leblanc in Hinblick auf die Fesseln zu bemerken. „Wie treffend.“

„Schwärmt aus! Durchsucht alles!“, ordnete der Hauptmann nach einer Weile forsch an. „Findet und bringt mir Valdor!“

Seine Reitgerte beschrieb einen scharfen Bogen, als er damit herumfuchtelte. Die Männer gehorchten. Sie saßen ab und begannen, Handlaternen anzuzünden.

„Helft mir, und ich helfe Euch.“ Der Graubart blickte Leblanc eindringlich ich die Augen. „Ich kenne mich hier sehr gut aus.“

„Das ist ein Argument.“, entschied Leblanc schließlich und löste geschickt die Fesseln. Er hatte einen Plan gefasst, und mit einem Blick auf Sagace sagte er: „Fasst mit an.“

Jean und Mouche blickten sich ernst an, dann nickten sie sich entschlossen zu. In der einen Hand Vorderladerpistolen, in der anderen Laternen, wandten sie sich zur Kirchenpforte. Kaum dem Knabenalter entwachsen, wirkten sie in ihren königlichen Uniformen etwas deplaziert und machten den Eindruck, erst hinein wachsen zu wollen. Während Jean blass und zerbrechlich schien, sprühte Mouche förmlich vor Vitalität, eine Tatsache, die seine dunkelbraune Tolle ständig zu unterstreichen gedachte, indem sie ihm trotz des Hutes widerspenstig ins Gesicht sprang. Aber so unterschiedlich die beiden jungen Kerle auch sein mochten, sie waren sehr gute Freunde und versahen ihren Dienst in der gleichen Einheit unter dem Kommando von Capitaine Fauchette.

Ihr Auftrag war es, den Aufrührer Robert de Valdor festzunehmen.

Man hatte ihnen von verschwörerischen Treffen gegen den König, seine Majestät Ludwig XVI. erzählt, und es war ihr erster Einsatz. Kein Wunder also, dass Jeans Waffenhand zitterte, aber Mouche legte seine beruhigend darauf und lächelte ihm aufmunternd zu. Jean dankte es ihm, indem er sich fest vornahm, sich nur auf seine Aufgabe zu konzentrieren, seine Nervosität aber dennoch nicht verbergen konnte.

Dann stieß Mouche die halb geöffnete Pforte vollends auf, und Jean beobachtete sich dabei, es ihm gleichzutun. Mit der zwingenden Autorität des Königs, die sie durch ihre Uniformen optisch repräsentierten - so hofften sie wenigstens - betraten sie die Kirche.

Die Waffen schussbereit und stolz darauf, bis jetzt allen Mut zusammengenommen zu haben, beleuchteten sie die spärlich erhellte Kirche und schreckten in einer Mischung aus Verblüffung und Entsetzen zurück, als sie plötzlich die heillose Verwüstung entdeckten.

„Heilige Mutter Gottes!“, hauchte Jean entsetzt, und Mouche schluckte:

„Wie kann man so was machen?“

Beide gaben ein Bild der Ratlosigkeit, und dann begann die Kirchenglocke zu läuten, als wollte sie dieser gotteslästerlichen Tat durch ihren dünnen, disharmonischen Klang mehr Wirkung verleihen. Während sich in Jeans Gehirn erwachende Alarmbereitschaft träge gegen das lähmende Entsetzen durchzusetzen begann, hörte es von draußen auch schon Capitaine Fauchettes Bellen.

„Alle Mann in die Kirche! Sofort!“

Wenige Augenblicke später bemerkte es den Hauptmann und die anderen vier Kameraden achtlos über die gemeuchelten Heiligtümer hinweg zum Glockenturm stürmen. Es erkannte, dass Mouche nach einigem Zögern folgte, und es befahl ihm schließlich, das Gleiche zu tun.

Währenddessen bestiegen der Mann mit dem grauen Bart draußen in der Gasse das falbfarbene Pferd und der Blonde den kräftigen Schimmel und stahlen sich heimlich davon.

Capitaine Fauchette und seine Mannen hingegen erreichten den Glockenturm und mochten sich über das höchst erstaunliche Bild wundern, das sich ihnen bot. Ein junger Mann mit schwarzen Locken, dessen Füße an das Glockenseil gefesselt waren, hing kopfüber an selbigem herunter und pendelte durch sein Gewicht die letzten Glockentöne aus. Sonst befand sich nichts und niemand hier.

In der sicheren Erkenntnis, dass man ihn ausgetrickst hatte, warf Capitaine Fauchette seinen Offiziersdreispitz wütend zu Boden und fluchte.

Die beiden ungleichen Männer ließen das Dorf zügig hinter sich, wobei Leblanc einen prüfenden Blick über die Schulter warf, um sich zu vergewissern, nicht verfolgt zu werden. Mit der Erkenntnis zufrieden, dass sein Ablenkungsmanöver offenbar geglückt war, wandte er sich an seinen Begleiter und fragte selbstverständlich rein hypothetisch:

„Wohin soll es gehen?“

Doch der Graubart sah besorgt zum Himmel empor und erwiderte:

„Grundsätzlich nach Osten. Mein Ziel ist Liège. Aber ich fürchte, wir werden heute nicht mehr weit kommen.“

Leblanc folgte seinem Blick und erkannte die mächtige Gewitterfront, welche rasch aufzog und das schwindende Tageslicht schlagartig auslöschte. Mit einem Mal kam starker Wind auf.

„Hier entlang!“, rief Valdor und lenkte das geliehene Pferd zum Gestüt, an welchem Leblanc vor kurzem vorüber geritten war. Doch er konnte es nur sehr schemenhaft erahnen und beschloss, der Ortskenntnis seiner Beute zu vertrauen. Der Graubart führte ihn just in dem Moment zu einer Scheune, als es plötzlich blitzte und krachte und wahre Sturzfluten regnete. Er sprang aus dem Sattel, öffnete das Tor, und beide gelangten schließlich mit den Pferden ins Trockene.

Während Valdor das Tor wieder schloss, stieg Leblanc der Geruch von Heu in die Nase.

„Obdach und Futterkrippe in einem, wie praktisch.“, bemerkte er.

„Wem gehört dieses Anwesen?“

„Einem Freund.“, antwortete Valdor. „Dem Baron de Gilette.“

„Er hat doch nichts dagegen, dass wir einfach so hereinplatzen.“, gab Leblanc zu bedenken, was dem alternden Mann ein Lächeln entlockte.

„Ich weiß nicht, woher Ihr kommt, junger Freund, aber hier im Le Perche hilft man einander.“

Na, hoffentlich nicht zu sehr, dachte Leblanc grimmig, sagte jedoch:

„Wie zuvorkommend. Dann sollten wir seine Gastfreundschaft annehmen und hier übernachten. Es ist unwahrscheinlich, dass die Soldaten ihre Suche während des Unwetters fortsetzen. Morgen früh brechen wir auf.“

„Das klingt vernünftig.“, nickte Valdor.

Daraufhin holte der Kopfgeldjäger eine kleine, abblendbare Laterne aus einer der Packtaschen und entzündete ihren Docht. Der Lichtschein hob einen Teil der Scheune aus der Dunkelheit und offenbarte, dass es reichlich Pferdefutter gab und das eine oder andere gemütliche Plätzchen, um sich niederzulegen. Sie begannen, die Pferde abzusatteln und zu füttern, um es sich schließlich im Heu bequem zu machen.

Nun saßen sie sich gegenüber und lauschten eine Weile schweigend dem Gewitter, bis der Graubart irgendwann nicht ohne Bitterkeit sagte:

„Es war nicht recht, was Ihr in der Kirche getan habt.“

Leblanc verstand natürlich sofort, worauf sein Gegenüber anspielte und überhörte den Vorwurf nicht, aber er hielt es keineswegs für notwendig, sich zu rechtfertigen. Stattdessen erwiderte er gelassen:

„Bei der Wahl Eures Retters schien seine Schuld keine sehr große Rolle zu spielen.“

Der Graubart lächelte ein wenig verloren.

„Ihr habt recht. Ich bin nicht ermächtigt, Euch zu richten, das wird Gott eines Tages tun.“

Über die Andeutung einer Bußpredigt ein wenig amüsiert, schmunzelte Leblanc und bemerkte spöttisch:

„Dann wird er sich dafür sehr viel Zeit nehmen müssen.“

Aber nun beschloss er, das Thema zu wechseln.

„Robert de Valdor, so nannte man Euch doch, nicht wahr?“

„Ja, das ist mein Name.“

„Weshalb will man Euch verhaften?“

Valdor erlaubte sich ein feines Lächeln.

„Vielleicht glaubt der König ebenfalls an den Schatz?“

„Ich kann es ihm nicht verdenken.“, sagte Leblanc, „Der neue König tritt ein schweres Erbe an, die Staatskassen sind leer. Doch was ist mit Euch?“, fuhr er lauernd fort. „Glaubt Ihr an den Schatz?“

„Das ist nicht entscheidend“, setzte der Graubart dagegen, „entscheidend ist nur, dass Ihr glaubt, ich wüsste, wo er zu finden sei.

Und deshalb werde ich bei Euch sehr sicher sein, denn Ihr werdet mich mit all Euren teuflischen Klingen wohl zu beschützen wissen, auch wenn ich Eure Bereitschaft zur Gewalt keinesfalls gutheißen kann.“

Leblanc betrachtete sein Gegenüber eine Weile mit ehrlicher Anerkennung. Dieser Mann war klug, und das gefiel ihm. Noch besser gefiel ihm allerdings die Tatsache, dass seine Beute den Köder geschluckt hatte und ihn tatsächlich für einen Schatzjäger hielt.

„Ihr seid schlau.“, sagte er.

„Ihr seid auch nicht dumm, wie es scheint.“, erwiderte Valdor. „Wie ist Euer Name?“

Selbstverständlich konnte Leblanc sich nicht mit einem munteren:

Gestatten, verehrte Beute, mein Name ist Renard Leblanc, der berühmtberüchtigte Kopfgeldjäger, vorstellen, stattdessen sagte er nicht ohne Ironie:

„Schatzsucher, Sünder, Kirchenschänder. Was gefällt Euch am besten?“

„Ihr verspottet mich.“, behauptete der Graubart ein wenig tadelnd, doch Leblanc erwiderte gewandt:

„Das liegt mir fern. Aber, im Ernst, was ist der Name eines Mannes wert, den Ihr bereits verurteilt habt?“

„Gebt mir Gelegenheit, Euch mit anderen Augen zu sehen.“

„In Ordnung.“, willigte Leblanc ein. „Ich schlage Euch einen Handel vor. Ich bringe Euch sicher in die nächste Stadt, und Ihr helft mir ein wenig bei der Schatzsuche.“

Valdor überlegte nicht lange und stimmte zu.

„Einverstanden.“

Leblanc lächelte siegessicher.

„So ist doch jedem geholfen.“

Dann gähnte er ausgiebig, streckte sich und ließ sich mit zufriedenem Seufzen ins Heu fallen. Auch Valdor versuchte, sich zu entspannen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen, denn es beschäftigten ihn einige offene Fragen. Er fand das Verhalten des jungen Mannes merkwürdig, seinen Namen zu verheimlichen, und woher wusste er von dem Geheimfach des Altars?

Es war wohl den Schritten und Stimmen zu verdanken, dass sein Bewusstsein allmählich wieder an die Oberfläche schwamm, und er bemerkte irritiert, einen Unterkiefer zu besitzen, weil dieser nämlich derart schmerzte, als sei er Ziel eines Pferdetritts gewesen.

Andererseits schienen ihm seine Arme abhanden gekommen zu sein, denn er spürte sie nicht, aber er fühlte, auf hartem, kaltem Boden zu liegen und dass es ihm gar nicht gut ging. Dennoch hielt er es für dringend erforderlich, die Augen zu öffnen, um das Ausmaß seines Elends zu erforschen, das er äußerst schrecklich wähnte. Als er die dreckigen Stiefel vor sich sah und die hämische Stimme hörte, wusste er, er hatte sich geirrt. Seine Lage war nicht schrecklich, sie war katastrophal.

„Sieh mal an, Eugène Sagace.“

Sein Blick sprang erstaunt und alarmiert zugleich hoch und heftete sich entsetzt an den Mann, von dem er hoffte, er möge lediglich eine Erscheinung sein, ein Phantom vergangener Zeit, die glücklicherweise vorbei war.

„Ein Albtraum!“, hörte sich Sagace krächzen.

Capitaine Fauchette grinste breit.

„Treffender hättest du deine Lage nicht beschreiben können.“

Fauchette, der ein großer, breitschultriger Mann war und schon deshalb beängstigend wirkte, ragte wie ein riesiges Ungeheuer vor ihm auf, und Sagace war klar, dass die schlimmste seiner Befürchtungen eingetroffen war. Er lag diesem Monster hilflos zu Füßen, bar jeglicher Handhabe dagegen, denn seine Arme, die keinesfalls fehlten, wie er nun erkannte, sondern lediglich taub waren, hatte man auf seinen Rücken gefesselt.

Fauchettes Miene ließ keinen Zweifel darüber zu, dass er diese Situation genoss. Seine Arme hinter dem Rücken verborgen, das wusste Sagace, spielte er mit seiner Reitgerte wie eine Katze mit dem Schwanz, um irgendwann völlig überraschend zuzuschlagen.

Sie befanden sich in einer kleinen Kirche, die das fahle Morgenlicht allmählich erhellte, und mit dieser Feststellung kehrte Eugène Sagaces Erinnerung zurück, zumindest was den Graubart betraf, den nicht vorhandenen Schatz und vor allem den blonden Hurensohn, der ihm diese Misere eingebrockt hatte.

„Ich sag’s ja immer“, schnurrte Capitaine Fauchette, „es gibt doch eine Gerechtigkeit auf dieser Welt. Einst bist du mir davongelaufen und hast den Sold gestohlen. Nun liegst du mir zu Füßen mit nichts als deinem erbärmlichen Leben, das allerdings auch nichts mehr wert ist, denn auf Deserteure wartet der Galgen.“

„Fahr zur Hölle, Fauchette.“, murmelte Sagace und begann, sich in die Senkrechte zu kämpfen.

„In der Hölle“, lächelte Fauchette hinterhältig und ließ ihn gewähren, „bist du bereits angekommen.“

Der Mann mit dem Ohrring war kaum auf wacklige Beine gelangt, als der Hauptmann plötzlich mit der Reitgerte zuschlug, seinem wehrlosen Opfer eine blutige Strieme im Gesicht verpasste und es dadurch wieder auf die Knie schickte.

„Es ist ein Ort, wo Diebe, Deserteure und Mörder hingehören“, fuhr Fauchette mit dem gleichen Lächeln fort, „ein Ort ohne die geringste Gnade.“

Dann schlug er blindwütig auf Sagace ein und brachte ihm mehrere messerscharfe Peitschenhiebe bei. Die Schreie seines Opfers schienen Fauchettes Sadismus noch zu steigern, doch ehe die Misshandlung eskalieren konnte, erhielt Sagace überraschend Rettung.

„Der Totengräber ist eingetroffen...“

Jean stierte verstört auf den am Boden kauernden, blutenden Mann, während Fauchette herumfuhr und von seinem Opfer abließ.

„...Capitaine.“

„Bereit machen zum Abmarsch!“, befahl der Hauptmann Jean, und einen geringschätzigen Blick auf Sagace werfend, fügte er hinzu:

„Und schaff diesen Abschaum nach draußen. Er ist verhaftet.“

Während Fauchette die Kirche verließ, sah Jean ihm schockiert nach und hörte sich leise sagen: „Jawohl, Capitaine.“

Noch nie hatte er eine derartige Grausamkeit erlebt und war in seinen Vorstellungen von ehrbarem, königlichem Soldatentum zutiefst erschüttert. Schließlich wandte er sich ab und ging vor Eugène Sagace in die Hocke, um zu sehen, wie es um ihn bestellt war.

„Wird es gehen, Monsieur?“, fragte der junge Soldat höflich. Sagace nickte schwach. Dann sah er ihm ins Gesicht und entdeckte das aufrechte Mitgefühl in seinen Augen, was Sagace ein warmherziges Lächeln entlockte. Jean erwiderte es ein wenig scheu, erinnerte sich jedoch an seinen Befehl und sagte:

„Kommt.“

Er half ihm auf die Beine und führte ihn hinaus zu den Pferden.

Der Platz war aufgeweicht vom nächtlichen Regen, doch im Osten erhob sich die Sonne und versprach einen warmen Tag. Fauchettes Männer sattelten die Pferde, zwei Männer in schlichter Kleidung luden die Leiche, die man zugedeckt und vor die Kirche gelegt hatte, auf einen Eselskarren, und Capitaine Fauchette wachte darüber, dass alles nach seinen Befehlen ablief.

Eugène Sagace betrachtete den Toten und erinnerte sich an die Ereignisse der letzten Nacht, die ganz und gar nicht zu seiner Zufriedenheit verlaufen war, aber vielleicht noch weniger zu der des Blonden. Er fand ihn aber nicht, ebenso wenig den Graubart, und das brachte Sagace auf den Gedanken, dass die beiden miteinander geflohen sein könnten.

„Dafür wirst du hängen, Sagace.“, versicherte Fauchette zuckersüß.

„Ich habe ihn nicht umgebracht.“, log Sagace. „Es war dieser verdammte Hurensohn, der mich niedergeschlagen hat.“

„Willst du mir allen Ernstes auftischen, Valdor hätte ihn umgebracht?“, schnaubte Fauchette.

„Er hat sich mir nicht vorgestellt.“, brummte Sagace, während er von Jean zu einem der Pferde geführt wurde.

Fauchette nahm seine Bemerkung zum Anlass, sich in den Weg zu stellen und sich, wieder mit der Gerte spielend, vor seinem Gefangenen aufzubauen.

„Du besitzt die Frechheit, mir erzählen zu wollen, dass ein alter Mann das getan hat?“

„Alt war er keineswegs, nur sein Gegner hat ziemlich alt ausgesehen.

Der betagte Graubart war lediglich ans Kreuz gefesselt.“, erwiderte Sagace.

Er drängte sich an Fauchette vorbei, wobei er ihn verächtlich anrempelte. Dann ließ er seine Blicke schweifen. Während der Hauptmann murmelte: „Valdor war also wirklich hier.“, rief Sagace:

„Wo ist mein Pferd, der Falbe?“

„Wir haben keinen Falben gesehen, Monsieur.“, antwortete Jean.

„Aber Ihr könnt dieses Pferd nehmen. Es war für den Mann gedacht, den wir verhaften sollten.“

Eugène Sagace begann, allmählich zu begreifen.

„Valdor?“, fragte er, und Jean nickte.

Plötzlich stahl sich ein breites Grinsen in Sagaces Gesicht. Er wandte sich dem grübelnden Hauptmann zu und behauptete kühn:

„Ich glaube nicht, dass du mich aufhängen wirst, Fauchette.“

Dieser sah auf und lächelte geringschätzig.

„Ach, und wieso nicht, du armer Irrer?“

„Weil ich dich zu Valdor führen kann und vielleicht auch zu dem Mörder dieses Mannes.“

Fauchette blickte Sagace zunächst wie versteinert an, dann begann er plötzlich lauthals zu lachen, was ihm seine Männer mit Ausnahme von Jean und Mouche gleichtaten. Der ebenso plötzliche Abbruch seines Gelächters gelang den Soldaten allerdings nicht mit derselben Präzision, und so hob er gebieterisch die Hand, um sie augenblicklich zum Schweigen zu bringen.

„Wenn du weiterhin versuchst, mich zum Narren zu halten, baumelst du an Ort und Stelle. Auf dem Leichenwagen ist durchaus noch Platz.“, knurrte Fauchette. „Valdor ist längst über alle Berge.“

„Nein, ist er vermutlich nicht.“, erwiderte Sagace ruhig. „Denn er hat sehr wahrscheinlich mein Pferd geklaut.“

„Na und? Hat die Geschichte auch eine Pointe?“

„Hat sie. Mein Pferd hat gestern ein Hufeisen verloren, der Boden ist nass und ich bin der beste Fährtensucher, den du kennst. Jetzt darfst du lachen.“

Capitaine Fauchette lachte nicht, aber er war in der Tat sprachlos, allerdings nur kurzzeitig, denn schon bellte er: „Worauf wartet ihr?

Aufsitzen!“ Und an Sagace gewandt, knurrte er:

„Betrachte es lediglich als Galgenfrist.“

Eugène Sagace saß unbeeindruckt auf, wobei ihm Jean half. Dieser alte Messdiener war ihm völlig gleichgültig, für ihn zählte nur, die Spur des Blonden wiederzufinden und das Bündel aus dem Altar, aber vor allem, es diesem Hurensohn heimzuzahlen. Dies gab ihm trotz seiner momentanen Schwäche enorme Kraft.

Renard Leblanc und Robert de Valdor hatten die Scheune bereits bei Tagesanbruch verlassen und waren weitergeritten. Leblanc hatte aus Sicherheitsgründen beschlossen, sich von der Straße fernzuhalten, so bewegten sie sich nun zwischen Wiesen und Feldern Richtung Osten. Vor ihnen befand sich ein kleines Dorf, und eigentlich sah alles sehr friedlich aus.

Aber natürlich wusste Leblanc, dass es sehr schnell ungemütlich werden konnte, denn die Konkurrenz in Gestalt der königlichen Soldaten würde nichts unversucht lassen, ihm die Beute zu entreißen.

Nun lag mindestens ein Tagesritt Wachsamkeit bis zur Stadt Dreux im Osten vor ihm, dem Ort der Übergabe. Folglich prüfte er ihre Umgebung höchst konzentriert nach verdächtigen Anzeichen, ohne seinen Fang aus den Augen zu lassen.

Dieser wirkte ein wenig verloren auf weiter Flur und schien sich in der Rolle des Flüchtigen nicht besonders wohl zu fühlen. Zudem ritt er schweigsam neben ihm her und machte den Eindruck, als ob ihn das eine oder andere beschäftigte. Der Kopfgeldjäger nahm sich jedenfalls vor, auf der Hut zu sein, denn er spürte, dieser Mann war zu klug, um sich ein X für ein U vormachen zu lassen.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Leblanc scheinbar ohne Hintergedanken.

„Monsieur, darf ich Euch eine Frage stellen?“, erwiderte sein Begleiter, was den Blonden hellhörig machte, trotzdem gab sich Leblanc offen.

„Aber natürlich.“

„Woher wusstet Ihr von dem Geheimfach im Altar?“

Leblanc, von dieser Frage wenig überrascht, lächelte geheimnisvoll.

„Göttliche Eingebung.“

Dann begann er, amüsiert zu lachen. „Nun, alleine diese war es nicht.

Ich bin ein Schatzjäger, Verehrtester.“

„Für einen Schatzjäger seid Ihr nicht sehr neugierig.“, behauptete Valdor.

Hoppla, nun war Vorsicht geboten!, dachte Leblanc, denn er ahnte, dass der Graubart an seiner Tarnung als Schatzsucher erhebliche Zweifel hegte. Wie dicht war er seiner wahren Profession auf den Fersen? Er musste es herausfinden.

„Ach, nein?“, erwiderte er deshalb in gespielter Überraschung.

„Nein. Ihr habt das Bündel noch nicht untersucht.“

Leblanc wusste, nun hatte er seine ganze Überzeugungskraft aufzubieten, um Valdors Argwohn im Keim zu ersticken. Dabei kam ihm seine Gabe, sich nicht in die Karten schauen zu lassen, sehr zugute. Er blickte seinem Begleiter also unverwandt ins Gesicht und lächelte.

„Was macht Euch da so sicher? Die Nacht war lang.“

Robert de Valdor sah ihn prüfend an, doch als Leblanc seinem Blick gelassen standhielt und keinerlei Regung zeigte, dämmerte dem Graubart, dass er das Bündel tatsächlich in der Nacht erforscht haben konnte.

„Dann könnt Ihr mir bestimmt sagen, was sich darin befindet.“, setzte Valdor nach.

„Das könnte ich.“, erwiderte Leblanc. „Aber weshalb sollte ich einen Mann mit Details langweilen, die er bereits kennt?“

Eine kluge Antwort, dachte der alternde Mann und schmunzelte anerkennend, aber er gab noch nicht auf.

„Habt Ihr denn jemals einen Schatz gefunden?“

„Gewiss.“, nickte Leblanc.

„Ah, ich verstehe“, lächelte Valdor, „ein Mädchen.“

„Kein Mädchen.“, versicherte Leblanc. „Wissen.“

„Das ist wahrlich ein großer Schatz.“, bemerkte Valdor beifällig.

„Und sehr hilfreich, um Rätsel zu lösen.“, ergänzte Leblanc in der Hoffnung, den Test bestanden zu haben. Schließlich murmelte der Graubart ein wenig unwillig:

„Verzeiht, dass ich Euch behelligt habe.“

„Ihr könnt es wiedergutmachen. Ich habe jederzeit ein offenes Ohr.“, feixte Leblanc.

„Das werde ich.“, versprach Valdor, deutete jedoch Richtung Dorf.

„Aber zunächst muss ich eine traurige Nachricht überbringen.“