Die Einhornchroniken 4 - Die Erfüllung der Prophezeiung - Bruce Coville - E-Book

Die Einhornchroniken 4 - Die Erfüllung der Prophezeiung E-Book

Bruce Coville

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Beschreibung

Während die Jäger unter dem Kommando der grausamen Beloved das fabelhafte Land Kirin unsicher machen, suchen Cara und ihre Freunde verzweifelt nach einem Ausweg – wie können sie die Ausrottung der Einhörner und die Zerstörung ihrer geliebten Heimat verhindern? Und selbst wenn es ihnen mit vereinten Kräften gelingen sollte – solange der im Sterben liegende Weltenbaum nicht geheilt werden kann, sind Kirin und all seine Bewohner dem Untergang geweiht! Die ganze Hoffnung ruht nun auf dem Schöpfer Kirins selbst. Ein erbitterter Kampf ums Überleben beginnt ... "Die Erfüllung der Prophezeiung" ist der vierte Band der Einhornchroniken. Die Fantasy-Reihe von Bruce Coville entführt Leserinnen ab 10 Jahren in eine märchenhafte Welt voller Magie und zauberhafter Fabelwesen.

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Tag vier des Einmarschs

Die Veränderung kommt, ob wir es wünschen oder nicht. Sie zu bekämpfen wäre, wie den Sonnenaufgang zu bekämpfen. Besser, man sagt: »Ah, willkommen, alter Freund. Da bist du ja wieder.«

Edgecomb, der Verschrobene

Zweiter Hüter der Chroniken von Kirin

Siebte Schriftrolle

Der Dumbeltum

Cara und der Skijum liefen durch den frühen Morgennebel des Waldes, der Caras Hufe silberfarben umhüllte. So langsam gewöhnte sie sich an ihren neuen Körper. Ihre neue Stärke und schärferen Sinne – besonders ihre Sehkraft – machten das Reisen bei Nacht sehr viel einfacher. Doch die nächtliche Wanderung, zu der sie aufgebrochen waren, nachdem ein zweites Erdbeben sie aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte nicht sehr lang gedauert. Schon bald war der Morgen angebrochen.

Nass und schmutzig, wie beide nach der unfreiwilligen Dusche am Wasserfall gewesen waren, war die erste Stunde ihrer Reise ziemlich unangenehm verlaufen. Aber dann waren sie an einen Bach gekommen und hatten sich erst einmal gewaschen.

Kurz bevor das erste Licht des Tages am Himmel zu sehen war, hüpfte der Skijum davon, um sich sein Frühstück zu suchen. Cara beschloss, es ihm gleichzutun – allerdings ohne zu hüpfen –, und erkannte bestürzt, dass sie keine Ahnung hatte, was Einhörner alles aßen.

Hätte ich doch besser aufgepasst, was Lightfoot und die anderen gegessen haben, dachte sie und spuckte einige besonders widerliche Blätter aus. Nach mehreren unglücklichen Experimenten fand sie endlich ein paar Wurzeln, die recht gut schmeckten. Sie knabberte an ihnen und hoffte, davon nicht krank zu werden. Gerade fragte sich Cara, ob zu dieser Jahreszeit wohl noch einige der leckeren Sonnenbeeren wuchsen, als sie plötzlich ein leises Stöhnen hörte.

Sie blickte sich um, sah aber nichts. Dann wurde ihr bewusst, dass ihre neuen scharfen Sinne sie getäuscht hatten: Das Geräusch kam von weiter weg, als sie gedacht hatte.

Cara lauschte.

Jetzt war sie sicher, zu wissen, woher das Geräusch kam, und lief vorsichtig einen Abhang hinunter und auf zwei große Bäume zu. Was sie dort sah, als sie hinter den Bäumen hervortrat, schockierte sie zutiefst.

Es war der Dumbeltum. Er lag auf dem Boden und hatte sich zwischen den dicken Wurzeln eines Kilpumbaumes zusammengerollt.

Cara starrte ihn erschrocken an. Er war in einem furchtbaren Zustand! Ihr Freund – denn das war er, egal wie Furcht einflößend er durch seine Größe und Gestalt auch wirken mochte – musste in einen schrecklichen Kampf verwickelt worden sein. Seine Augen waren geschlossen, der Kopf hing schlaff nach hinten und der dichte Pelz war über und über mit Blut besudelt. Zuerst hoffte Cara noch, dass es sich dabei vielleicht um das Blut eines anderen handelte. Doch dann sah sie die Wunden: Der Dumbeltum hatte mehr Verletzungen, als sie auf den ersten Blick zählen konnte.

Er war ruhig geworden. Und für einen grauenhaften Augenblick fürchtete Cara, dass er tot sei. Doch da bewegte er sich leicht und sie fühlte wieder Hoffnung in sich aufsteigen. Sie trat näher und stolperte dabei wegen der Tränen in ihren Augen, die ihre Sicht trübten.

Sie wünschte sich, dass der Skijum von seiner Jagd zurückkehren würde, damit sie sich in diesem schrecklichen Moment nicht so alleine fühlte.

Cara bewegte sich so leise, dass ihr Freund sie erst bemerkte, als sie ihn ansprach: »Dumbeltum, was ist mit dir passiert?«

Der Dumbeltum zuckte zusammen und öffnete langsam die Augen. »Einhorn«, murmelte er mit seiner tiefen grummeligen Stimme, die Cara so sehr liebte. »Dem Dumbeltum tut es leid, Einhorn.«

»Dumbeltum«, sagte sie sanft. »Ich bin es, Cara!«

Die Augen des Dumbeltum weiteten sich erstaunt. Dann nickte er, zu mehr war er im Moment nicht fähig. Sein Kopf rollte wieder zur Seite und Cara fragte sich, ob er sie auch wirklich verstanden hatte.

»Was ist mit dir passiert?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Der Dumbeltum hat gegen die Jäger gekämpft«, brummte er langsam. »Der Dumbeltum hat die Jäger zermalmt. Die Jäger haben den Dumbeltum verletzt.«

»Und was hast du überhaupt auf dem Dunklen Berg zu suchen gehabt?«

Er stöhnte und murmelte dann: »Nach Cara gesucht.«

»Ich bin Cara«, wiederholte sie leise.

Der Dumbeltum nickte. »Ja, das hast du dem Dumbeltum schon gesagt.«

Erst jetzt fiel Cara etwas ein: Ob auch sie nun die Fähigkeit besaß, zu heilen? War sie Einhorn genug, um das tun zu können? Oder benötigte man dazu ein bestimmtes Training? Sie wusste es nicht, wusste nur, dass sie es versuchen musste.

Sie hielt inne und erinnerte sich daran, wie solch eine Heilung Lightfoot immer geschwächt hatte. Waren noch Jäger in der Nähe? Wenn ja, dann wäre es sehr gefährlich – vielleicht sogar tödlich –, wenn sie das Bewusstsein verlor. Sie schüttelte den Kopf. Der Dumbeltum hatte ihr mehrfach das Leben gerettet! Wie konnte sie jetzt zögern?

»Hör zu, Dumbeltum. Ich werde versuchen, dich zu heilen.«

Da riss er plötzlich die Augen auf. »Nein«, knurrte er. »Nein! Tu das nicht!«

»Aber du bist schwer verletzt!«

»Cara darf das nicht tun.«

»Warum? Ich will dir helfen!«

Zu ihrem Erstaunen rappelte er sich hoch und knurrte: »Rühr den Dumbeltum nicht an!«

Sie wich zurück, weil sie plötzlich Angst vor ihm bekam, was ein schreckliches Gefühl war.

Mit einem verzweifelten Aufschrei stolperte der Dumbeltum davon und ließ das Einhornmädchen verwundert und mit gebrochenem Herzen zurück.

Ein Riss in der Straße

Ian und sein neuer Gefährte waren ungefähr eine Stunde an der Steinstraße entlanggelaufen, als Ian eine Frage stellte: »Wie lange wird es dauern, bis wir in Delfharken ankommen?«

»Nicht mehr lang«, erwiderte der Delfer mit seiner schnarrenden Stimme. »Noch bevor die verflixte Sonne der Dunkelheit Platz gemacht hat.«

Ian verstand erst im nächsten Moment, dass der Delfer die Abenddämmerung meinte. Es bedeutete ganz klar, dass sie innerhalb einer Stunde ihr Ziel erreichen würden. Sie waren viel näher, als Ian gehofft hatte!

Schweigend liefen sie weiter. Von Zeit zu Zeit blickte Ian zu dem Delfer und versuchte zu verstehen, wie seine Tochter sich mit solch einer grässlichen Kreatur hatte anfreunden können. Schließlich fragte er: »Wie heißt du?«

»Ich habe keinen Namen.«

Ian starrte ihn ungläubig an.

»Das ist die Wahrheit. Der König hat mir zur Bestrafung für meinen Widerstand meinen Namen genommen. Aber ich habe einen Spitznamen! Cara hat ihn mir gegeben. Das war ein großes Geschenk, weil ich nicht wusste, dass es Spitznamen gibt, bis sie es mir erklärt hat.« Er schaute zu Ian auf. »Ist es wahr, dass du sie ›Krümel‹ genannt hast?«

Ian kicherte, doch dann überwältigte ihn die Trauer, als er daran dachte, wie viele Jahre von Caras Kindheit er verpasst hatte. »Das stimmt«, gab er mit einem Kloß im Hals zu.

»Das ist ein interessanter Spitzname. Ich dachte zuerst, dass sie mich vielleicht Krümel nennen würde. Aber sie beschloss, mir den Namen Rocky zu geben. Ich mag diesen Spitznamen. Er macht mich stolz.« Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: »Wie soll ich dich nennen?«

»Ian.«

»Also gut … Ian.«

Sie liefen in überraschend angenehmer, kameradschaftlicher Stille weiter. Der Delfer hielt trotz seiner kurzen Beine ohne Probleme mit Ian Schritt. Als sie an einem großen Felsen vorbeikamen, sagte Rocky: »Das ist eine Markierung. Jetzt ist es nicht mehr weit.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als ein Beben – das bisher stärkste – den Felsen erzittern ließ. Mit einem scheußlichen knirschenden Geräusch zerriss der Stein und ein Spalt öffnete sich, der über die ganze Breite der Steinstraße verlief.

»Rocky, pass auf!«, rief Ian. Er konnte gerade noch über das Loch springen, aber für den Delfer kam seine Warnung zu spät. Rocky stolperte hinein.

Ian ließ sich auf seinen Bauch fallen und spähte in die Felsspalte. Der Riss ging unheimlich tief. Und was noch schlimmer war: Er konnte seinen Delfergefährten nirgendwo entdecken.

»Rocky!«, rief er. »Rocky, bist du okay?«

Nach einigen Augenblicken nervenzerreißenden Schweigens antwortete eine zittrige Stimme: »Ich bin hier. Ich hab mich verletzt, aber ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist.«

»Kannst du hochklettern?«

»Ich glaube nicht. Die Wände sind glatt und abschüssig. Ich sitze auf einem Vorsprung und habe Angst, wieder abzurutschen. Und … Ian, ich kann keinen Boden sehen!«

Ian verdrehte die Augen, doch dann überlegte er. »Hast du noch dein Seil?«

»Ja! Ja, das habe ich!«

»Kannst du es zu mir heraufwerfen?«

»Aber ich sehe dich nicht! Ich weiß nicht, wie weit du weg bist!«

»Versuch es einfach!«

»Also gut. Warte!«

Kurz darauf hörte Ian den Delfer schreien: »Hier kommt das Seil!«

Ian starrte in die Spalte und machte sich bereit, das Seil aufzufangen. Aber es war nichts zu sehen.

Kurz darauf hörte er, wie der Delfer fluchte.

»Versuch es noch mal!«

Leider hatte Rocky beim zweiten Mal genauso wenig Erfolg. Er versuchte es wieder und wieder und wieder. Nach einiger Zeit, in der ihm schien, als seien Stunden vergangen, rief er Ian zu: »Mein Arm wird müde.«

»Du wirst noch viel müder werden, wenn wir dich nicht da rausbekommen«, antwortete Ian. »Probier es weiter!«

Der Delfer fuhr mit seinen Bemühungen fort. Einige Male konnte Ian ein Stück des Seiles sehen. Mehr als einmal konnte er es schon beinahe fassen – es war ganz nah, aber eben nicht nah genug.

»Ich hatte es fast! Wirf es noch einmal!«

Mit einem verzweifelten Aufschrei schwang Rocky das Seil erneut nach oben. Ian lehnte sich gefährlich weit über den Abgrund und fing es endlich auf. »Hab es!«, rief er und begann sofort, daran zu ziehen.

»Stopp!«, rief Rocky. »Nicht ziehen! Lass mich hochklettern.«

Ian begab sich in eine stabilere Position. Zum Glück war der Delfer nicht allzu schwer. Ian wickelte sich das Seil zweimal um den Unterarm und rief: »Ich bin bereit!« Dann starrte er in die Spalte und wartete.

Der Delfer war schon beinahe oben, als Ian hinter sich auf einmal ein Geräusch hörte. Er blickte über die Schulter, konnte aber nichts erkennen.

»Schneller!«, zischte er zu Rocky hinunter. »Irgendetwas kommt auf uns zu und es hört sich nicht gut an.«

»Ich mach, so schnell ich kann!«, keuchte Rocky.

Ian blickte sich ein weiteres Mal um und um ein Haar blieb ihm das Herz stehen. Eine Horde Delfer stürzte auf ihn zu.

»Rocky!«, rief er. »Rocky, Delfer! Eine ganze Meute!«

»Wenn sie mich erwischen, bin ich tot!«, brüllte der Delfer.

Jetzt konnte Ian schon die Augen seines Gefährten sehen. Noch einmal warf er einen Blick über die Schulter. Die Delfer waren schneller, als er erwartet hätte, und waren bereits ganz nah. Ihren Schreien nach zu urteilen waren sie nicht gerade in Plauderstimmung.

Ian war sich relativ sicher, dass sie sie gefangen nehmen würden. Und dann wäre es Rocky nicht mehr möglich, den Delfer zu suchen, der möglicherweise wusste, wie man Kirin retten konnte.

Ian musste jetzt schnell eine Entscheidung fällen.

»Schaffst du es von dort, wo du bist, alleine und ohne Seil herauszukommen?«, rief er hinab.

»Ja, ich denke schon.«

»Dann schnapp dir einen Steinvorsprung und halte dich daran fest! Warte, bis die Horde vorbeigezogen ist. Dann klettere hoch und bring deine Mission zu Ende!«

Ian ließ das Seil los und drehte sich um, um den Delfern entgegenzutreten.

Immer noch gejagt

Cara stand reglos da und ging in Gedanken wieder und wieder den Moment durch, als der Dumbeltum vor ihr geflohen war.

Warum wollte er sich nicht heilen lassen?

Sie war so aufgewühlt, dass sie nicht einschätzen konnte, wie lange sie schon so dastand und ihm nachblickte, obwohl er schon lange verschwunden war. Erst der Skijum riss sie aus ihrer Starre.

»Leckerschmecker!«, quietschte der Skijum glücklich und sprang von einem Ast auf Caras weiße Schulter. »Gute Käfer! Guter Skijum!«

Auch wenn sie froh über seine Rückkehr war, klang ihre Stimme nicht sehr freudig. »Hallo, Skijum.«

»Einhornmädchen traurig?«, fragte er und klang sofort ebenso traurig wie sie. Wie schnell er immer ihre Stimmung auffing!

»Ja, ich bin traurig.«

»Warum?«

»Der Dumbeltum war hier. Er war verletzt und ich wollte ihn heilen, aber er hat abgelehnt und ist davongelaufen. Warum hat er das getan, Skijum? Warum hat er sich nicht helfen lassen?«

»Dumbeltum verrückt!«, antwortete der Skijum und zog an ihrer Mähne. »Dumbeltum schon immer verrückt.«

»Danke, das erklärt natürlich alles.«

»Skijum guter Erklärer«, erwiderte er zufrieden.

Sie blieben noch eine Weile unter dem Baum und Cara teilte dem Skijum mit, dass sie sich ausruhen musste. Auch wenn sie tatsächlich müde war, hoffte sie insgeheim, der Dumbeltum würde zurückkehren. Schließlich verabschiedete sie sich widerwillig von dieser Hoffnung und sie setzten ihre Reise fort.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als Cara anhielt. Sie spürte, dass die Einhörner, auf die sie zuhielt, ihre Richtung änderten. Sie waren nun ostwärts unterwegs.

Cara war verunsichert. Bedeutete das, dass ihre Großmutter die Einhörner aus Autumngrove wegführte? Warum? War irgendein Unglück passiert? Flohen sie vor den Jägern?

Was auch geschehen sein mochte, Cara musste so schnell wie möglich zu ihnen. Ihr Platz war bei den Einhörnern. Also schlug auch sie die neue Richtung ein und trabte los.

Es war bereits Mittag, als Cara Männerstimmen hörte. Sie blieb stocksteif stehen und hoffte inständig, dass sie keine Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Warum ist dieses Mädchen eigentlich so ungemein wichtig?«, fragte gerade einer der Jäger. Seine Stimme klang erschreckend nah.

»Beloved hat es uns nicht gesagt«, erwiderte ein anderer. »Wenn man bedenkt, dass dieses Kind einfach so vom Erdboden verschwunden ist, dann muss sie irgendwelche magischen Fähigkeiten besitzen. Wo kann sie nur hin sein?«

»Ich weiß jedenfalls, wo ich gerne hin würde«, mischte sich eine dritte Stimme ein. »Ich bin nicht hergekommen, um nach Ians Balg zu suchen. Ich bin hergekommen, um Einhörner zu töten!«

»Wir jagen, was Beloved uns aufträgt!«, schnappte der erste.

»Also ich kann nicht versprechen, dass wir die Kleine noch finden werden«, antwortete die dritte Stimme ziemlich überzeugt. »Diese Blutpäckchen, die uns zu ihr führen sollten, waren ja am Anfang ziemlich nützlich, aber ich glaube, diese blöden Dinger sind inzwischen kaputt.«

Cara dankte Elihu im Stillen dafür, dass er sie verwandelt hatte, während die Jäger lautlos an ihr vorbeizogen. Diese Behutsamkeit machte Cara Angst, denn sie konnte die Jäger selbst mit ihren scharfen Einhornohren kaum hören.

Schlimmer jedoch fand sie das Gespräch, das bestätigte, dass die Jäger tatsächlich nach ihr suchten. Elihu hatte recht gehabt: Als Einhorn war sie vor ihnen sicherer. Cara fragte sich, wo er wohl gerade steckte. Hatten ihn die Jäger gefangen genommen? Oder sogar getötet?

Sie fröstelte bei dem Gedanken und machte sich wieder auf den Weg den Berghang hinunter.

Cara wusste nicht, wie viele Meilen sie schon zurückgelegt hatte, als ihr ein scharfer Schmerz in die Brust fuhr: Ein weiteres Einhorn war getötet worden. Mit Tränen in den Augen ging sie weiter.

Der Skijum, der auf ihrem Rücken ritt, streichelte ihr den Nacken, als ob er wieder einmal ihr Leid spüren könnte.

Die Delferhorde

Ians Gedanken rasten, während er beobachtete, wie die Delferhorde näher kam. Sein erster Impuls war zu fliehen, aber trotz ihrer kurzen Beine war er sich nicht sicher, ob er den kleinen Wesen entkommen konnte. Außerdem würden sie über kurz oder lang auf Martha und die anderen stoßen, wenn sie ihren Weg auf der Steinstraße fortsetzten. Und er musste sie von Rocky ablenken, der noch immer in der Spalte festsaß.

Also beschloss Ian, den Delfern entgegenzulaufen. Sein ursprünglicher Plan war es gewesen, nach Delfharken zu gehen und mit dem König zu sprechen. Aber vielleicht konnte er ja stattdessen auch hier etwas erreichen.

Der Trupp kam einige Fuß vor ihm zum Stehen. Sie standen so eng beieinander, dass es durch ihre haarlosen Häupter so aussah, als ob die Straße mit Kopfsteinen gepflastert wäre. Die abscheulichen Gesichter derer, die ihm am nächsten standen, ließen Ian beinahe an seiner Entscheidung zweifeln. Aber nun war es zu spät, um seine Meinung noch zu ändern.

Nach einigem Gemurmel traten fünf von ihnen vor. Beinahe sofort erkannte Ian in dem größten Delfer in der Mitte der Gruppe den König. Er ergriff die Initiative, hob die Hand zum Gruß und sagte auf Delferisch: »Ich grüße Euch, geehrter Gnurflax. Es ist schön, Euch wiederzusehen.«

Der König runzelte die Stirn, dann schrie er: »Du! Was machst du hier, Hunter?«

»Ich wollte nach Delfharken zurück, so wie ich es nach meinem ersten Besuch versprochen hatte.«

Der König schaute ihn noch finsterer an. »Dieses Versprechen hätte schon viel früher eingelöst werden sollen!«

»Ich wäre früher gekommen, aber einer eurer Delfer hat mich in die falsche Richtung geschickt, als ich nach dem Mädchen und dem Amulett gesucht habe. Dieser Irrweg hat mich sehr viel Zeit gekostet.«

»Dieser namenlose Skwarmint, der das getan hat, wurde bereits dafür bestraft!«, schrie Gnurflax und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Doch dann holte er tief Luft und nickte. Er starrte Ian prüfend an und fragte: »Hast du das Amulett dabei?«

Ian hob die Hände. »Die Verzögerung hatte ihren Preis. Ich habe die Fährte verloren.«

Ian merkte augenblicklich, dass das die falsche Antwort gewesen war, und ihm wurde flau im Magen, als der König kreischte: »Dann bist du mir nicht länger von Nutzen!« Gnurflax wandte sich an die Delfer an seiner Seite und befahl: »Ergreift den Menschen!«

Ian wusste, dass ein Kampf aussichtslos war. Es waren Hunderte von ihnen. Und sein Hauptziel war momentan, am Leben zu bleiben, um hoffentlich später fliehen, Cara finden und danach wieder zu Martha und den anderen zurückkehren zu können.

Also blieb er einfach, wo er war, und ließ sich von der Delferhorde gefangen nehmen.

Ruhig abzuhalten kostete ihn alle Selbstbeherrschung, als sie ihn auf den Boden warfen und fesselten. Nachdem sie ihm die Hände und Füße zusammengebunden hatten, schoben sie ihn auf eine waagrechte Stange und hoben ihn hoch, als wäre er ein erlegter Hirsch.

Als Ian auf diese Weise außer Gefecht gesetzt worden war, stellte sich der König grinsend neben seinen Kopf. Gnurflax blickte mit seinen großen Augen zu Ian herab, rieb sich das Kinn und sagte: »Vielleicht eignest du dich ja zum Tauschhandel.« Dann spuckte er auf den Boden und wandte sich ab.

Kurze Zeit später begann die Horde weiterzumarschieren. Das Geräusch ihrer nackten Füße auf dem Stein klang wie Applaus für Ians Gefangennahme.

Nach nur zwei oder drei Yards erreichten sie die Spalte, in der Rocky sich versteckte. Die vier Delfer, die Ian trugen – zwei vorne, zwei hinten – sprangen einfach darüber hinweg.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber als Ian den Kopf in den Nacken legte, sah er, wie Rocky ihn voller Schrecken anstarrte. Dann waren seine Träger auch schon auf der anderen Seite und liefen weiter.

Allerdings konnte Ian nicht sagen, ob auch die Delfer hinter ihnen den kleinen Rebellen übersahen oder ob die letzte Hoffnung auf Rettung zerstört wurde.

Die Rückkehr eines Freundes

Der Wald am Fuß des Berges war dicht und beinahe undurchdringlich. Cara wurde bewusst, dass sie sich sicherlich darin verirrt hätte, wenn ihr Herz ihr nicht unentwegt die Richtung zu den Einhörnern gewiesen hätte. Hier in Kirin gab es keine Straßen, über die man irgendwann stolperte, keine Stadt, nicht einmal ein kleines Dorf. Die riesige Wildnis, die einen Großteil dieser Welt ausmachte, machte Cara auf einmal sogar ein wenig Angst.

Zur Mittagsstunde hatten Cara und der Skijum den Berg hinter sich gelassen. Endlich waren sie weit genug von den Wolken entfernt, um wieder die Sonne zu fühlen. Sie gelangten in ein Tal mit einer weiten Wiese, durch die ein rauschender Bach floss.

Der Skijum war gerade unterwegs, um ein paar Käfer zu jagen, als ein geflügelter Schatten Caras Aufmerksamkeit erregte. Sie blickte auf und freute sich, Medafil zu sehen, der direkt auf sie zugeflogen kam. Trotz ihrer Erleichterung spürte Cara seltsamerweise den starken Drang, zu fliehen.

Warum will ich vor ihm wegrennen?, überlegte sie und zwang sich, ruhig stehen zu bleiben. Medafil ist ein Freund. Ob das an meinen Einhorninstinkten liegt?

Als Medafil zur Landung ansetzte, schlug er ein letztes Mal so gewaltig mit den Flügeln, dass das Gras um Cara herum niedergedrückt wurde.

»Einhorn!«, rief er. »Weißt du nicht, in welcher Gefahr du hier schwebst? Jäger sind in der Nähe!« Dann seufzte er und murmelte: »Oh, verdratzt! Dieses fidelinge Wesen versteht wahrscheinlich kein Wort von dem, was ich sage.«

Cara wurde klar, dass der Greif sie nicht erkannte. »Ich weiß von den Jägern«, erwiderte sie in seiner Sprache. »Ich gehe ihnen schon den ganzen Tag aus dem Weg.«

Medafil starrte sie an. »Woher kennst du meine Sprache?«

Zögerlich sagte sie: »Ein Freund hat sie mir beigebracht.«

Medafil nickte. »Hast du denn vielleicht ein Menschenmädchen gesehen? Sie war in meiner Obhut, aber gestern hab ich sie verloren. Seitdem suche ich nach ihr, aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

Cara zögerte. Sollte sie sich ihm zu erkennen geben? Medafil war ein Freund, dem man vertrauen konnte. Der Grund für ihr Zögern war also nicht etwa Furcht. Und es wäre schön, sich jemandem anvertrauen zu können, wo sie sich so verloren und unsicher fühlte. Doch etwas hielt sie zurück. Scham? Nein, das war es nicht. Angst, sie könnte sein Missfallen wecken? – Zu ihrer Überraschung war das die Wahrheit. Aber es war nicht Grund genug, ihm zu verheimlichen, wer sie war.

Sie holte tief Luft, hob den Kopf und sagte leise: »Ich bin diejenige, die du suchst, Medafil.«

»Gaah! Für wie figgeldiggeldumm hältst du mich denn?!«

»Du und ich, wir haben uns das erste Mal an einem Felsen im Mondlicht getroffen, als ich dich aus einer Delferfalle befreit habe«, erklärte sie. »Du bist mit mir zu Ebillans Höhle gekommen und später sind wir durch die Delfergänge gewandert, um zum Tal der Zentauren zu kommen.«

Der Greif blinzelte überrascht, dann fragte er misstrauisch: »Wie wurde ich auf dieser Reise verletzt?«

»Wir flohen vor dem Skwartz und gerade noch im letzten Moment hast du dich durch eine Öffnung gequetscht, die so schmal war, dass du dir dabei den Flügel angerissen hast. Wir dachten, dass du nie mehr fliegen könntest, aber Belle hat dich geheilt.«

»Gaah! Du bist es wirklich! Aber was um alles in der frimdibbelten, datsplatternden, frackpackenden Welt hast du dir da nur angetan? Selbst deine Stimme hat sich verändert!«

Mit Medafil an ihrer Seite fühlte Cara sich sicher und deshalb nahm sie sich Zeit, um ihm alles ausführlich zu erklären. Als sie fertig war, zuckte der Greif mit den Flügeln, als sei ihm plötzlich kalt, und sagte: »Cara, merkwürdige Sachen passieren, wenn du mit von der Partie bist. Wer ist Elihu? Was für eine Rolle spielt er?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, was ich als Nächstes tun soll, außer zu versuchen, zu den Einhörnern zu kommen.«

»Bei ihnen bist du nicht sicher.«

»Es gibt nirgendwo mehr einen sicheren Platz für mich! Aber zumindest wäre ich am richtigen Ort. Ich gehöre zu den Einhörnern, Medafil. Wenn ihnen Gefahr droht, muss ich an ihrer Seite sein.«

Der Greif schaute sie ernst an. Schließlich sagte er in einem freundlicheren Ton als sonst: »Grimbobbel noch eins, du siehst vielleicht aus wie ein Einhorn, aber du bist immer noch ein Kind! Du musst dich dieser Gefahr nicht stellen, Cara. Ich kenne einige Plätze, an denen du dich verstecken kannst, bis alles vorbei ist.«

»Und was, wenn die Jäger gewinnen? Mein Volk wäre abgeschlachtet und ich wäre als Einzige übrig. Und selbst dann würde Beloved mich noch jagen. Ich kann mich schließlich nicht ewig verkriechen!«

Sie holte tief Luft und sprach aus, was ihr schon so lange auf dem Herzen lag. »Medafil, ich habe große Angst. Aber nur weil ich jung bin, kann ich mich nicht aus allem raushalten. Mein Alter ist keine Entschuldigung, nicht den Platz einzunehmen, der für mich gedacht ist.« Sie hielt inne und fügte traurig hinzu: »Das Schlimme ist, dass ich nicht weiß, welche Rolle ich wirklich spiele. Ich weiß nur, dass ich in alles irgendwie verwickelt bin.«

Der Greif seufzte. »Es ist eine schwere Bürde, ein Schicksalskind zu sein, Cara. Also, was wirst du jetzt tun?«

»Außer mich zu verstecken?«, fragte sie lachend. »Ich muss zurück zu den Einhörnern. Aber auch das ist kompliziert geworden, weil ich eigentlich dachte, dass sie in Autumngrove wären. Doch ich spüre, dass sie woanders hinziehen.«

Medafil blickte finster drein. »Ich hoffe, sie sind nicht in Panik geflohen.«

»Das glaube ich nicht. Meine Großmutter ist niemand, der schnell in Panik gerät. Und auch Moonheart nicht.«

»Ein plötzlicher Tod verändert vieles. Du weißt, ich liebe deine Großmutter, Cara, aber verfribbelt noch mal, sie ist nicht auf so etwas vorbereitet! Und auch die Einhörner sind das nicht. Sie haben schon so lange in dieser Welt wie im Paradies gelebt, dass sie völlig verweichlicht sind. Ich fürchte um jedes einzelne von ihnen.«

Die ungewöhnliche Ernsthaftigkeit des Greifen machte Cara nervös.

»Du meinst, du kannst die anderen spüren«, fuhr Medafil fort. »In welcher Richtung sind sie unterwegs?«

Cara wies ihm die Richtung mit ihrem Horn.

»Wenn ich dich nicht verloren hätte«, meinte er, »wäre ich nach Autumngrove zurückgeflogen. Aber ich habe mich nicht getraut, Amalia Flickerfoot ohne ihre Enkelin unter die Augen zu treten. Deshalb habe ich die ganze Zeit nach dir gesucht. Aber jetzt will ich zu ihr fliegen und sehen, was ich herausfinden kann. Wartest du hier, bis ich zurück bin?«

»Wirst du ihr sagen, was mit mir passiert ist?«

»Willst du denn, dass ich es verheimliche? Selbst wenn ich dazu bereit wäre, wie soll ich erklären, dass ich dich nicht mitgenommen habe?«

Cara dachte darüber nach. Sie hatte einen Hang zur Geheimniskrämerei, was daran lag, wie sie mit ihrer Großmutter über Jahre hinweg gelebt hatte. Aber eigentlich gab es keinen Grund, ihre Verwandlung vor Amalia geheim zu halten.

»Nein, du kannst es ihr erzählen«, gab sie schließlich ihr Einverständnis, auch wenn sie sich nicht ganz wohl dabei fühlte. »Und was das Warten angeht: Mir wäre es lieber, wenn ich dir entgegenlaufen könnte. Außerdem brauche ich mit diesem neuen Körper noch ein wenig mehr Übung. Ich möchte den anderen nicht als Tölpel gegenübertreten.«

»Werd nur nicht eitel!«, sagte Medafil und Cara hoffte, dass er sie nur aufziehen wollte.

»Versprochen«, antwortete sie.

Medafil streckte den Kopf vor und Cara sehnte sich danach, wie früher seinen gefiederten Nacken zu streicheln. Doch sie hatte schließlich keine Hände mehr. Eindringlich sagte er: »Hör zu, Einhornmädchen. Überall lauert Gefahr und es ist mir gar nicht recht, dich zurückzulassen. Trotzdem denke ich, so ist es momentan das Beste. Denn tragen kann ich dich nun mal nicht mehr. Also, hier ist mein Rat: Du besitzt die Gabe der vielen Zungen. Wenn die Jäger dich erwischen, dann sag ihnen sofort, wer du bist! Ansonsten werden sie dich auf der Stelle töten.«

»Aber wenn ich das mache, dann werden sie mich zu Beloved bringen. Um das zu vermeiden, bin ich doch erst zum Einhorn geworden!«

»Bibbelfibbel noch eins, wenn sie dich lebend gefangen nehmen und zu Beloved bringen, dann besteht noch Hoffnung. Wenn sie dich abschlachten, ist alles vorbei!«

Cara erinnerte sich daran, wie ihre Großmutter immer gesagt hatte, dass man eine Chance hatte, solange man noch am Leben war. Sie schluckte schwer und erwiderte: »Ja, ich verstehe.«

»Gut.« Der Greif drehte sich um, nahm Anlauf, sprang ab und breitete die Flügel aus. Innerhalb weniger Minuten war er bereits außer Sichtweite.

Während Cara ihm nachblickte, hörte sie ein Rascheln im Gras. Sie schaute hinunter und rief: »Skijum! Wie schön, dass du wieder da bist!«

»Guter Skijum kommt immer zurück«, summte er und umarmte seinen flauschigen Schwanz.

»Ja«, stimmte Cara ihm zu. »Guter Skijum kommt immer zurück.«

»Weitergehen jetzt?«, fragte er und sprang auf ihre Schulter.

»Ja, wir machen uns wieder auf den Weg«, bestätigte sie, als er sich an seiner Lieblingsstelle auf ihrem Rücken niederließ.

Sie trottete über die Wiese und in die gleiche Richtung, in die auch Medafil geflogen war: zu ihrer Großmutter, zu den Einhörnern und zu dem Ort, an dem die Jagd endgültig ein Ende finden würde, egal wie dieses Ende auch aussehen würde.

Gespräch zwischen Himmelsgeschwistern

Medafil war schon über eine Stunde unterwegs, als er plötzlich etwas auf sich zufliegen sah. »Pratfackelspack!«, murmelte er in sich hinein. »Nicht mal am Himmel hat man seine Ruhe!«

Der Greif bereitete sich auf ein Ausweichmanöver vor, blieb aber erst mal weiter auf Kurs.

Es dauerte nicht lange, bis seine scharfen Augen erkannten, dass es sich bei dem heranfliegenden Wesen um einen Drachen handelte. Nach ein paar weiteren Minuten sah er auch, dass es – so wie er insgeheim gehofft hatte – Graumag war.

»Den pootdoddel Kräften sei Dank, es ist nicht Ebillan!«, murmelte er.

Die beiden flogen weiter aufeinander zu. Als sie sich in Rufweite befanden, sprach Graumag den Greifen an: »Ich grüße dich, Bruder der Luft!«

»Und ich grüße dich, Schwester der Luft!«, antwortete Medafil. »Es ist schön, dich wiederzusehen.« Und das meinte er tatsächlich ernst, jedenfalls ziemlich.

»Und es ist auch schön, dich wiederzusehen. Aber ich wäre noch viel glücklicher, wenn die junge Cara bei dir wäre. Ich wurde von ihr getrennt und konnte sie nicht wiederfinden.«

»Ich habe sie gefunden«, erwiderte Medafil stolz. »Ich bin gerade auf dem Weg, um ihrer Großmutter zu berichten, dass es ihr gut geht.«

Der Greif überlegte kurz, ob er dem Drachen von Caras Verwandlung erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen, denn Cara hatte ihm lediglich gestattet, es ihrer Großmutter zu verraten.

»Ich komme gerade von der Königin«, meinte Graumag. »Die Einhörner haben Autumngrove verlassen.«

»Ich weiß bereits davon«, antwortete Medafil.

Sie waren sich inzwischen so nahe gekommen, dass der Drache und der Greif begannen, umeinander zu kreisen, da keiner von ihnen lange auf einem Fleck schweben konnte.

»Wer hat dir das erzählt?«, wollte Graumag wissen.

Der Greif verfluchte sein loses Schnabelwerk. Schließlich sagte er unbestimmt: »Ich habe ein Einhorn getroffen.«

Er musste heftig mit den Flügeln schlagen, um mit Graumag mithalten zu können.

»Und hat dieses Einhorn auch gesagt, wohin sie gehen?«, fragte Graumag.

»Nein, das nicht.«

»Sie wandern zu Axis Mundi. Ich bin gerade unterwegs, um Beloved die Botschaft zu überbringen, dass die Einhörner sie zu einer letzten Schlacht treffen wollen.«

Das überraschte Medafil so sehr, dass er vergaß, seine Flügel zu bewegen. »Gaah!«, krächzte er und fiel ein paar Yards ab. »Das kannst du nicht ernst meinen!«

»Ich meine es todernst«, antwortete Graumag. »Und mit Sicherheit wird der Tod kommen, aber wie viele und wen er holen wird, ist noch ungewiss.«

Eine Zeit lang flog Medafil schweigend um den Drachen herum. Zuletzt sagte er: »Ich glaube, ich sollte Cara berichten, in welche Richtung die Einhörner ziehen. Ich weiß, dass sie zu ihnen will.«

»Ich denke, das wäre eine große Dummheit von ihr, aber ich nehme an, sie lässt es sich nicht ausreden«, erwiderte die Drachendame.

»Viel Glück bei deiner Mission, Schwester der Luft.«

»Bestell Cara viele Grüße von mir, Bruder der Luft.«

»Das werde ich«, versprach der Greif.

Und damit trennten sich die beiden Himmelsgeschwister. Graumag flog weiter, um Beloved die Botschaft zu überbringen, und Medafil korrigierte seinen Kurs, um zu Cara zurückzukehren.

Der Hüter der Chroniken

Abgesehen von den schrecklichen Beben, die in der Nacht des Blutmonds begonnen hatten und seitdem stetig stärker wurden, hatte Grimwald eine recht unspektakuläre Reise gehabt. Endlich war er nach dem Besuch im Tal der Zentauren in sein unterirdisches Quartier in der großen Bibliothek zurückgekehrt, in der die Einhornchroniken aufbewahrt wurden. Er strich mit den Fingern über die holzverkleideten Wände und genoss das Gefühl, wieder zu Hause zu sein.

Doch er ruhte sich nicht lange aus. Nach wenigen Stunden ging er in den Raum der Geschichten, wo er Papier, Tinte und Feder bereitlegte. Er musste die Erlebnisse der Reise niederschreiben. »Verflixtes Tintenfass!«, murmelte er sein Lieblingsschimpfwort vor sich hin. »Ich hasse es, wenn ich selbst Teil der Geschichte bin.« Er zog es vor, lieber in seiner Höhle darauf zu warten, dass die Einhörner zu ihm kamen, um ihm ihre Abenteuer zu erzählen.

Stunden um Stunden schrieb er. Am zweiten Tag – er war gerade äußerst vertieft in die Geschichte, die der Chiron über die Geburt des Flüsterers erzählt hatte – klingelte plötzlich ein Glöckchen und informierte ihn darüber, dass die Königin ihn zu sprechen wünschte.

»Verflixt!«, brummte er. »Kann man denn nie in Ruhe seine Arbeit tun?«

Aber ein Ruf der Königin war nichts, was man ignorieren durfte, besonders nicht als Hüter der Chroniken und treuer Untertan, der gut von ihr entlohnt wurde. Also ließ er seine Arbeit liegen und machte sich auf den Weg zu dem Höhlenkomplex, in dem sich der Teich der Vorsehung befand, der ihm die Nachricht der Königin überbringen würde.

Diese Kammer war nicht wie seine Wohnhöhlen umgestaltet, sondern in ihrer natürlichen Form gelassen worden. Drei kleine Kessel standen auf jeweils einem Dreifuß und tauchten die Kammer in ein sanftes orangefarbenes Licht. In der Mitte der drei Schemel war ein Steinbecken. Normalerweise war das Wasser darin dunkel und kalt, aber jetzt, da eine Nachricht aufzutauchen begann, leuchtete es ebenso in einem sanften Orange.

Nach all den Überraschungen und Schrecken, die er während seiner letzten Reise erlebt hatte, dachte Grimwald, dass ihn nichts mehr aus der Fassung bringen könnte. Doch als er an den Rand des Seherbeckens trat und darin keinen Boten, sondern Amalia Flickerfoot höchstpersönlich sah, machte er sich große Sorgen.

Natürlich war er einfach auch ein wenig verblüfft, Amalia in ihrer wahren Gestalt zu sehen, denn so lange hatte er sie nur als Ivy Morris gekannt. Sie war herzzerbrechend schön. Zwar waren das alle Einhörner, auch wenn Grimwald das nie zugeben würde, aber Amalia besaß eine ganz besondere Schönheit. Als Ergebnis ihres außergewöhnlichen Lebens war sie greifbarer und solider.

»Ich grüße dich, mein alter Freund!«

»Und ich grüße dich, Königin.«

»Ich muss mich kurz fassen. In zwei Tagen werden alle Einhörner Beloved in einer letzten Schlacht auf dem Feld nordöstlich von Axis Mundi entgegentreten. Da du der Hüter der Einhornchroniken bist, solltest du dabei sein, um alles zu beobachten. Egal, ob es nun unser Untergang wird oder der Beginn wahrer Freiheit.« Sie drehte den Kopf und – bildete er sich das nur ein? – zwinkerte ihm zu: »Übrigens kannst du gerne auch ein paar Freunde mitbringen.«

Verdutzt starrte er sie an. Noch bevor er sich eine passende Antwort überlegen konnte, sagte sie: »Das ist alles.« Das Wasser im Becken kräuselte sich und ihr Bild verschwand.