Die Einladung – Mord nur für geladene Gäste - Kelly Mullen - E-Book

Die Einladung – Mord nur für geladene Gäste E-Book

Kelly Mullen

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Beschreibung

Mit ihren 76 Jahren hat Rosemary McLane sich nur noch gemütlich Kreuzworträtsel lösen sehen. Keine Eile mehr, keine Umarmungen, vor allem keine Partys. Doch dann erhält sie eine Einladung, ihre reiche Nachbarin Jane veranstaltet eine kleine Feier. Anbei eine Notiz: Sollte Rosemary nicht erscheinen, wird ihr dunkelstes Geheimnis ans Licht kommen. Sie weiß, absagen ist keine Option. Und es gibt nur eine Person, die sie begleiten kann – ihre Enkelin Addie, krisenerprobt und nervenstark. Mit Rosemary haben sieben weitere Menschen eine Einladung erhalten. Sie alle hüten brisante Geheimnisse, die nicht ans Licht kommen dürfen. Und während draußen ein Schneesturm aufzieht, treffen Rosemary und Addie in Janes Herrenhaus auf diesen illustren Kreis geladener Gäste. Da klingt ein Schrei durch die Mauern. Es hat einen Mord gegeben – und die Tote ist die Gastgeberin höchstselbst. Sofort sind Rosemary und Addie drei Dinge klar. Erstens: Nicht Jane ist die Strippenzieherin dieser Party. Zweitens: Der Mörder ist unter den Gästen. Und drittens: Um ihn zu stellen, müssen sie herausfinden, weshalb sie alle wirklich hier sind. Bevor ein zweiter Mord geschieht …

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Seitenzahl: 421

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Kelly Mullen

Die Einladung – Mord nur für geladene Gäste

Kriminalroman

 

 

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

 

Über dieses Buch

Eine tödliche Zusammenkunft ... 

 

Mit ihren 77 Jahren hat Mimi MacLaine sich gemütlich Kreuzworträtsel lösen sehen. Keine Nettigkeiten mehr, keine Umarmungen, vor allem keine Partys. Doch dann erhält sie eine Einladung, ihre reiche Nachbarin Jane veranstaltet eine kleine Feier im Stil der Zwanzigerjahre. Anbei eine Notiz: Sollte Mimi nicht erscheinen, wird ihr dunkelstes Geheimnis ans Licht kommen. Sie weiß, absagen ist keine Option. Und es gibt nur eine Person, die sie begleiten kann – ihre Enkelin Addie, scharfsinnig und nervenstark.

Mit Mimi haben sechs weitere Menschen eine Einladung erhalten. Jeder von ihnen hütet sein eigenes brisantes Geheimnis. Und während draußen ein Schneesturm aufzieht, treffen Mimi und Addie in Janes Herrenhaus auf diesen illustren Kreis geladener Gäste. Da klingt ein Schrei durch die Mauern. Es hat einen Mord gegeben – und die Tote ist die Gastgeberin höchstselbst.

Sofort sind Mimi und Addie drei Dinge klar. Erstens: Nicht Jane ist die Strippenzieherin dieser Party. Zweitens: Der Mörder ist unter den Gästen. Und drittens: Um ihn zu stellen, müssen sie herausfinden, weshalb sie alle wirklich hier sind. Bevor ein weiterer Mord geschieht …

Vita

Kelly Mullen ist Autorin, Produzentin und Marketingmanagerin. Ihre kreative Arbeit für Marken wurde mit über fünfzig Preisen ausgezeichnet, als leitende Produzentin hat sie unter anderem den für den Oscar nominierten Film Trumbo und den Dokumentarfilm Dads verantwortet. Kelly Mullen ist in Iowa geboren, heute lebt sie mit ihrem Mann und einigen geretteten Katzen in London.

 

Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel «This Is Not a Game» bei Century, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«This Is Not a Game» Copyright © 2025 by Kelly Mullen

Covergestaltung zero-media.net, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock AI

Coverabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-644-02218-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Für meine Großeltern,Leatrice, Edward, Reta und Harry

1Eine Einladung

Mimi ging strammen Schrittes in die Stadt und zog dabei ihren Einkaufstrolley hinter sich her. Sie musste sich beeilen und schnell noch bei Doud’s ein Sauerteigbrot kaufen, bevor sie schlossen. Es war ein kühler Herbstnachmittag, und auf Mackinac Island wimmelte es nur so von Radfahrern und Ausflüglern. Gehen war schon immer ihr Lieblings-Wachmacher gewesen. Selbst an Tagen, an denen sie kein bestimmtes Ziel hatte, fühlte sich nichts befreiender an, als eine erfrischende, ordentliche Runde um ihre kleine Heimat im Lake Huron zu drehen. Sie war froh, dass Mackinac schon sehr früh Autos von der Insel verbannt hatte (sie waren seit 1898 strikt verboten), sodass hier keine alten Knacker in Cadillacs herumfahren und über ihre Schlafapnoe und künstlichen Hüftgelenke jammern konnten.

«Rosemary, hey! Warte mal. Rosemary!»

Mimi beschleunigte ihre Schritte und ging am Eisenwarenladen vorbei. Menschen, die sie bei ihrem Vornamen riefen, kannten sie nicht gut. Und sie musste sich ohnehin nicht umdrehen, um zu wissen, wer sie da gerufen hatte: Es war Herb. Der Geruch nach Bohnerwachs und Lackverdünner kündigte ihn stets meilenweit im Voraus an.

«Bitte, Rosemary! Warte doch mal!»

Sie verdrehte die Augen, blieb stehen und drehte sich um. «Ich kann nicht, Herb. Keine Zeit heute.» Warum versuchten sich die Leute immer in ihre stille kleine Welt zu schwatzen? Deswegen mochte sie ihre Bridge-Gruppe so sehr. Sie respektierten ihre Privatsphäre. Bei ihnen gab es diesen neumodischen Herumsitzen-Wein-trinken-und-einander-dabei-die Herzen-ausschütten-Unsinn einfach nicht.

Herb holte sie ein, schnaufend und keuchend. Sein Chambray-Hemd, an dem ein Namensschild mit dem Aufdruck Hallo! Ich bin Herb! Wie kann ich helfen? befestigt war, war bereits mit kleinen dunklen Schweiß-Inseln befleckt.

«Ich wollte nur mit dir über deine Geranien sprechen. Bevor es zu spät für sie ist.»

Mimi seufzte. «Ich verstehe das Konzept des Ausbrechens verblühter Blütenstände durchaus, Herb.»

Herb lachte nervös und hielt abwehrend die Hände hoch. «Hey, du musst jetzt aber nicht gleich mich einen Kopf kürzer machen.» Er zwinkerte ihr zu. «Ich wollte dich nur daran erinnern, dass die Geranien noch blühen, weil der Herbst bisher recht mild war, daher wäre es gut, sie weiter auszubrechen, bevor wir strengen Frost bekommen.» Er schob sich die Brille die Nase hoch. «Und solltest du eine neue Gartenschere brauchen: Sie sind diese Woche um fünfzig Prozent heruntergesetzt, aber für Freunde mach ich sechzig draus.»

«Okay», nickte sie. «Ich komme morgen vorbei und kaufe eine. Mit fünfzig Prozent Rabatt.»

Mimi setzte ihren Weg die Main Street hinunter fort, wobei ihre Schuhe durch das Herbstkonfetti des bunten Laubes auf dem Bürgersteig raschelten. Der erdige Geruch erinnerte sie daran, dass die Tausenden Besucher, die zu den saisonalen Veranstaltungen wie dem Fudge Festival in Scharen nach Mackinac kamen, bald wieder fort sein würden. Nur ein paar Hundert Insulaner, die das ganze Jahr über hier wohnten, würden zurückbleiben, und der Preis für eine Tasse Kaffee würde sich wieder halbieren.

Als sie das vertraute Schild über Doud’s sah – Willkommen in Amerikas ältestem Lebensmittelladen –, ging sie direkt zur Bäckereiabteilung. Nur ein einziges übrig gebliebenes Sauerteigbrot wartete auf sie in der Verkaufsvitrine, neben einer Schachtel mit glasierten Donuts. Sie streckte in genau demselben Augenblick die Hand aus, als eine andere Frau dasselbe tat und gegen ihre stieß.

«Oh!», sagte die Besitzerin der anderen Hand.

Mimi musterte sie kurz. Eine junge Touristin mit Pferdeschwanz.

«Ich habe Sie gar nicht gesehen», fügte Pferdeschwanz hinzu und zuckte die Achseln.

Mimi schob sich vor sie, nahm das Brot und legte es entschlossen in ihren Einkaufstrolley. Sie lächelte die andere Frau strahlend an und machte sich auf in Richtung Aufschnitttheke. Pferdeschwanz würde schon zurechtkommen. Sie hatte noch Jahrzehnte frischen, warmen Sauerteigbrots vor sich.

Auf dem Heimweg warf sie einen Blick auf ihre Fitbit-Fitnessuhr: 10008 Schritte. Gut, aber morgen würde sie noch mehr machen. Sie bog nach links in ihre Sackgasse ein, und ihr Cottage im viktorianischen Stil kam in Sicht, so malerisch, dass man es auf Postkarten hätte drucken können. Die Sonne war jetzt eine orangefarbene Scheibe, die langsam hinter den Bäumen des Festlands von Michigan versank und warm glitzernde Funken über die Wasseroberfläche warf.

«’n Abend, Joan», sagte sie zu ihrem lavendelfarbenen Schneemobil, das sie nach Joan Rivers benannt hatte, der berühmten Entertainerin. Das Gefährt parkte unter dem Säulenvorbau an der Seite des Hauses. Mimi betrat den Vorraum und wischte sich die nassen Schuhe an der Fußmatte ab. Sie würde Joan noch einmal gründlich waschen und mit Wachs behandeln müssen, bevor sie sie im Winter zum ersten Mal ausfuhr.

Sie ging ins Wohnzimmer und schaltete ihren tragbaren Lautsprecher ein. Miles Davis’ samtige Trompetenklänge ertönten, und sie trat an den Art-déco-Barwagen am Kamin. Einen Gibson bei Sonnenuntergang, das war ein Ritual, das Peter und sie schon in den ersten Jahren ihrer Ehe begründet hatten. Mehr als fünf Jahrzehnte später war der würzig-süße Cousin eines Martini immer noch ihr Lieblingsgetränk.

«Eins, zwei, drei», sagte sie zu ihren Lieblingszwiebeln, den «beschwipsten», in französischen Wermut eingelegten, und reihte sie auf einen Metall-Cocktailspieß. Sie nahm einen Schluck aus dem geeisten Martiniglas. Die kalten Kräuteraromen des Gins umschmeichelten angenehm ihren Gaumen. In diesem Moment schmolzen alle Sorgen des Tages dahin.

Natürlich drängten sich dennoch hin und wieder unwillkommene Gedanken auf. Wie der an diese Verkäuferin am Make-up-Tresen, die ihr ungebeten Ratschläge gegeben hatte, wie sie ihre Zähne aufhellen konnte, obwohl sie nur Lippenstifte hatte ausprobieren wollen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Sie hatten tatsächlich ein wenig gelblich gewirkt im Vergrößerungsspiegel und im Licht der LED-Lampen. Vielleicht trank sie wirklich zu viel Kaffee, wie die Frau gesagt hatte. Aber wann waren sanitärweiße Gebisse eigentlich so modern geworden?

«Was meinst du, Big Phyllis? Sollte ich mir die Zähne bleichen lassen?», fragte Mimi die große Kentia-Palme hinter sich.

Big Phyllis wirkte ein wenig schlaff. Mimi stellte ihr Glas ab und trat an den Topf, um die Erde zu prüfen.

«Du bist ein bisschen trocken. Komm, wir trinken zusammen etwas.»

Sie holte Gießkanne und Sprühflasche aus dem Besenschrank, gab Big Phyllis einen ordentlichen Schluck und besprühte sie mit Wasser.

Sie spürte, wie der Gin ihre Nervenenden zum Kribbeln brachte. In der Küche schnitt sie den frischen Brotlaib an, sodass der würzige Duft davon aufstieg. Sie klemmte etwas Gruyère zwischen zwei Scheiben und legte sie sanft in eine Pfanne mit geschmolzener Butter. Als das gebratene Käsesandwich goldbraun war, wärmte sie etwas Tomatensuppe in einem Topf auf und goss sie in eine kleine Schüssel. Zufrieden mit dem Ergebnis, setzte sie sich an den Tisch und machte sich daran, das tägliche Kreuzworträtsel in der Zeitung zu lösen.

Ein strategischer Zug in einem Spiel oder einer Unterhaltung:

L-I-S-T.

Sie hörte etwas klappern. Es kam aus dem Wintergarten. Sie stand auf, um nachzusehen, und sah, dass die Tür aufgegangen war, die hinaus in den Garten führte. Ein wenig seltsam, aber eigentlich nicht besorgniserregend, wenn man bedachte, wie stark die Böen waren, die vom Lake Huron hier hinaufwehten. Die Tür schlug gegen den Rahmen und öffnete sich wieder weit im Wind.

Sie ging, um sie zu schließen, und sah etwas auf der Matte liegen. Einen knallblauen Umschlag. Merkwürdig, dass man nicht einfach ihren Briefkasten benutzt hatte. Sie nahm den Umschlag und trug ihn in ihre Küche. Er war an Rosemary Louise MacLaine adressiert und offenbar auf einer altmodischen Schreibmaschine getippt worden. Sie benutzte ihren silbernen Brieföffner und holte den Inhalt heraus. Obenauf lag eine Einladung.

UM IHRE ANWESENHEIT WIRD GEBETEN

 

Bei einer Auktion zugunsten der

NATIONAL ARTS FOUNDATION

Im Wohnsitz von Jane Ireland

 

Cocktails und Canapés

Kleidung im Stil der Zwanzigerjahre

Samstag, den 5. November

19 Uhr

Lilac House

1 Lilac Lane

Mackinac Island, Michigan

 

Bitte lesen Sie die beigefügten Dokumente genau durch und folgen Sie den Anweisungen.

Mimi runzelte die Stirn. Jane Ireland? Ihre reiche Nachbarin, die nur in der besten Gesellschaft verkehrte? Die Gerüchten zufolge mit ihrem eigenen Schwiegersohn ausging, der dreißig Jahre jünger war als sie?

Anders als die schicke quadratische Einladung waren die anderen Texte nüchtern auf DIN-A4-Blätter geschrieben worden. Sie entfaltete das erste, das ebenfalls auf einer Schreibmaschine getippt worden war:

Liebe Rosemary,

 

ich kenne Dein Geheimnis. Vielleicht überlegst Du gerade, diese Einladung auszuschlagen. Leider ist das nicht möglich. Kaufe Kimiko Mitsurugis Manga «Memento Mochi» auf der Auktion und bezahle den vollen Preis dafür. Weitere Einzelheiten einschließlich der Anweisungen für den Bezahlvorgang findest Du im zweiten Dokument.

 

Jane

Mimis Halskette fühlte sich plötzlich schwer und eng um ihren Hals an. Sie betastete den kleinen Smaragdanhänger mit Daumen und Zeigefinger, und das Brummen des Kühlschranks kam ihr plötzlich sehr laut vor. Sie hielt den Atem an und entfaltete das zweite Blatt. Alles stand da. Namen. Daten. Erstaunlich präzise Einzelheiten. Sie ließ die Papiere zu Boden fallen.

Woher konnte Jane nur wissen, was sie getan hatte?

Sie dachte an die Tabelle mit den verschiedenen Investmentkonten und Passwörtern, die Peter so gewissenhaft geführt hatte. Sie hatte seit zwanzig Jahren ein angenehmes Leben mit ihren Ersparnissen gehabt, aber das hier konnte alles ändern.

Mimi trat an den Schrank, in dem sie ein Päckchen Pall Malls aufbewahrte, einen Kristallaschenbecher und ihr Dunhill-Feuerzeug, ein Geschenk von Peter, das er ihr von einer Dienstreise nach London mitgebracht hatte. Der eingravierte Buchstabe R war inzwischen schon fast abgerieben. Sie hatte das Rauchen in ihren Dreißigern aufgegeben, aber an ihrem Geburtstag erlaubte sie sich jeweils eine einzige Zigarette. Heute hatte sie zwar nicht Geburtstag, aber diese Entwicklung hier erforderte eine Rauchpause. Sie setzte sich an den Küchentisch und zündete eine Zigarette an. Sie genoss es, wie der erste Zug an ihren Nasenlöchern brannte. Das Nikotin entfaltete in ihrem Hirn seine beruhigende Wirkung.

Wie alle anderen auf der Insel wusste sie, dass Janes verstorbener Ehemann geradezu obszön reich gewesen war. Warum also diese Erpressung? Vielleicht hatte er ihr nicht genug hinterlassen, als dass sie damit ihren dekadenten Ich-schlafe-mit-meinem-Schwiegersohn-Lifestyle hätte finanzieren können. Mimi atmete aus, und eine Rauchwolke kräuselte sich um sie herum.

Es sei denn, es ging hier gar nicht um Geld. Vielleicht hatte sie Janes Gefühle verletzt, indem sie über die Jahre hinweg immer wieder ihre Einladungen ausgeschlagen hatte? Sie hatte ihr ein Treffen zum Kaffee oder gemeinsame Kochkurse vorgeschlagen, und ganz schwach erinnerte sie sich daran, dass Jane sie auch einmal zum Mittagessen zu sich eingeladen hatte. Aber diese Frau war eine frivole Hohlbirne, die nicht alle Latten am Zaun hatte, daher hatte sie stets abgelehnt. Sie lebten nun einmal in unterschiedlichen Welten. Rächte sich Jane jetzt dafür, dass sie ihre Annäherungsversuche immer nur mit einem knappen«Nein danke» beschieden hatte? Nein, das konnte nicht sein. Was für einen sozialen Vorteil konnte Jane Ireland aus ihr ziehen? Sie war nur eine ganz normale siebenundsiebzig Jahre alte Frau.

Die alte Standuhr läutete und schreckte sie aus ihren Gedanken. Es war zweiundzwanzig Uhr. Wie in Trance absolvierte sie ihre Zu-Bett-Geh-Routine, schlüpfte zwischen die kühlen Laken und starrte zur Decke hinauf. Sanfter Regen prasselte auf das Dach, und in ihrer Brust breitete sich ein tiefer Schmerz aus. In den letzten dreiundzwanzig Jahren hatte sie sich ein Leben auf Mackinac aufgebaut und sich an einen angenehmen Tagesablauf gewöhnt. Und jetzt drohte all das zusammenzubrechen. Sie wohnte nur wenige Minuten entfernt von einer Erpresserin. Vielleicht würde sie sogar ihr geliebtes Zuhause verkaufen müssen.

Stundenlang lag sie wach und hing ihren Gedanken nach. Schließlich überwog der Ärger ihre Ängste, und sie fasste einen Entschluss. Sie würde zu Janes elender kleiner Party gehen und bei der Auktion mitbieten. Und dann würde sie ebenso vorgehen, wie sie es schon ihr ganzes Leben lang getan hatte, wenn sie jemand einzuschüchtern versucht hatte: Sie würde denjenigen zur Rede stellen. Hör mal, du vulgäre Kuh. Wer zum Teufel glaubst du zu sein? Ja, das klang gut. Gab es bei Amazon kugelsichere Westen zu kaufen?

Mimi rollte sich auf die Seite. Sie entspannte sich und schloss die Augen. Aber konnte sie das ganz alleine bewerkstelligen? Diese Glitterparty dieser Betrügerin zu besuchen, war eine lähmende Vorstellung. Ihre Augen öffneten sich flatternd.

Sollte sie Addie mitnehmen? Ihre Enkelin liebte es, knifflige Probleme zu lösen. Addies brillantes Hirn blühte bei derlei Dingen auf. Wenn sie nur letztes Thanksgiving nicht diesen schrecklichen Krach gehabt hätten. Obwohl sie sich deswegen schuldig fühlte, hatte sich Mimi nicht bemüht, die Sache zu bereinigen. Sie hatten seitdem nur ein paar sachliche Mails ausgetauscht.

Aber wem wollte sie da etwas vormachen? Sie würde Addie ohnehin irgendwann hiervon erzählen müssen. Sie war ihre einzige lebende Verwandte und Erbin. Denn was würde geschehen, wenn sie plötzlich starb? Oder wenn Jane sie erneut kontaktierte? Würde Addie dann eines Tages auftauchen, um ihren Haushalt aufzulösen, und einen Stapel ungeöffneter Erpresserbriefe finden? Keine eingestaubte alte Schachtel mit Liebesbriefen aus dem Krieg auf dem Dachboden, nur die Spuren einer erpresserischen Verschwörung gegen ihre Grandma? So wie sie Addie kannte, würde sie das sicher benutzen, um ihre Grabrede etwas aufzupeppen.

Sie würde sie am Morgen anrufen. Nein, einen Anruf konnte man zu leicht ignorieren. Was, wenn er direkt auf die Voicemail ging? Sie konnte keine Nachricht hinterlassen. Sie konnte ihrer Stimme nicht trauen. Eine E-Mail war besser.

Alleine würde sie das hier nicht schaffen.

2Nummer 30702

Sie war die Art Mensch, zu der man sich sofort hingezogen fühlte. Wissen Sie? Wenn sie einen Raum betrat, wurde es darin sofort heller. Sie zog alle Aufmerksamkeit auf sich.

Addie saß vor dem Fernseher, verdrehte die Augen und streichelte Edgars weiches schwarzes Fell. Warum mussten die Freunde von Mordopfern immer dasselbe sagen? Dass es so viele Menschen gab, die in der Lage waren, einen Raum zu erleuchten, war wirklich zu bezweifeln. Sie stand auf, um sich einen Becher Eis zu holen. Sie schloss die Tür des Gefrierschranks und sah, dass Edgar sie mit seinen gelbgrünen Augen flehend ansah. Er jaulte.

«Ah, entschuldige, mein Junge», sagte sie. «Ich habe dein Mittagessen vergessen, was?» Sie öffnete eine Tüte mit Katzenfutter und füllte seine Schüssel.

Dann setzte sie sich wieder aufs Sofa. Der Fernseher wurde kurz dunkel, bevor ein Werbespot begann, und Addie sah kurz ihr Spiegelbild im Bildschirm. Sie trug ein fleckiges Buffy-T-Shirt und saß inmitten ungeöffneter Umzugskartons. Dabei schaute sie Dateline, eine Krimisendung, die praktisch das Äquivalent zu leeren Kalorien war. Die ganze Situation war ein krasser Gegensatz zu der Zeit vor fünf Monaten, als sie in einem Sternerestaurant mit Brian auf ihre Verlobung angestoßen hatte. Wobei sie froh war, dass sie jetzt immerhin ihr Haar in seinem natürlichen Zustand lassen konnte: rot und lockig. In den letzten drei Jahren hatte sie es ständig glätten und kastanienbraun färben müssen, weil es Brian so lieber mochte.

Sie schaltete von Dateline zu Agatha Christie’s Poirot um. Von leeren Kalorien zu Futter für die Seele. David Suchet war genau das, was sie jetzt brauchte. Die unbestrittene Nummer eins; Branagh, Finney und Ustinov, sie alle verblassten im direkten Vergleich mit ihm. Sie klickte auf die Episode Der Tod wartet.

Eine Textnachricht ihrer Freundin Sarah ließ das Handy vibrieren:

Um wie viel Uhr triffst du Martin? Ich habe mir heute auch freigenommen.

Addie warf einen Blick auf die Uhr.

Herrje, ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon Mittag ist. In einer Stunde.

Wollen wir uns danach treffen, wo wir uns immer treffen?

Klar, bis dann.

Sie schaltete den Fernseher aus, zog sich an und machte sich auf den Weg in die Stadt.

Vor der Rechtsanwaltskanzlei von Martin Statler überprüfte sie noch einmal die Adresse. Sie hatte sich einen riesigen gläsernen Wolkenkratzer vorgestellt, aber das hier war ein schmales Chicagoer Stadthaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Anachronismus, eingequetscht zwischen zwei Hochhäusern. Es wirkte beinahe skurril.

Der Empfangsbereich war voller Pflanzen und gemütlich eingerichtet. Sonnenlicht fiel durch ein großes Erkerfenster herein. Ein hochgewachsener Mann in einem zerknitterten Anzug, der entfernt wie eine verwitterte Version von Martin Statlers LinkedIn-Foto aussah, tauchte im Korridor auf.

«Miss Paget?»

«Hallo, ja», sagte sie und stand auf, um ihm die Hand zu schütteln.

«Mein sechzehn Jahre alter Sohn wird ganz schön neidisch sein, dass ich die Erfinderin seines Lieblings-Games treffe.»

Addie senkte peinlich berührt den Blick. «Na ja, Mit-Erfinderin», erwiderte sie.

«Ah, ja. Und genau dieses Problem werden wir jetzt lösen», sagte er und führte sie in sein holzvertäfeltes Büro.

Sie setzten sich auf angenehm eingesessene lederne Clubsessel. Eine große Topfpflanze stand auf dem Tisch zwischen ihnen.

«Glücksfedern sind meine Lieblingspflanzen unter den Aronstab-Gewächsen», sagte Addie und spähte zwischen den glänzenden Blättern hindurch, um Martin anzusehen. War er zwielichtig oder eher väterlich? Sie wusste es nicht genau.

«Aha», sagte er herzlich. «Noch eine Pflanzenliebhaberin. Ich wusste doch, dass ich Sie mögen würde.»

Sofort überkam sie der Zynismus. Tat er nur so, als hätte er ebenfalls ein Faible für Pflanzen, um ihr anschließend ein exorbitant hohes Honorar aufzubrummen? War sein Sohn wirklich ein Murderscape-Fan? Hatte er überhaupt einen Sohn? Heutzutage war es schwierig, überhaupt noch jemandem zu vertrauen.

«Ich habe einen grünen Daumen», erwiderte sie sachlich. «Wobei ich den größten Teil meiner Pflanzen bei Brian gelassen habe.»

Brian. Allein bei diesem Namen schnürte es ihr die Kehle zusammen.

Martin runzelte die Stirn, als wollte er mit einer tiefsinnigen botanischen Metapher antworten, aber dann sprang er auf. «Aha! Bevor ich es vergesse …»

Er ging hinter seinen Schreibtisch und holte einen Murderscape-Hoodie aus einer durchsichtigen Plastiktüte hervor. Er stammte aus ihrer ersten Merch-Kollaboration mit Adidas. Das für das Spiel so charakteristische Stilett durchbohrte das Logo. Mit breitem Grinsen hielt er den Hoodie hoch und nahm einen Filzstift von seinem Schreibtisch.

«Würden Sie mir die Ehre erweisen? Er heißt Eric», sagte er und tippte mit dem Stift auf das gerahmte Foto eines Teenagers mit ziemlich großen Zähnen.

«Klar», sagte Addie, die sich plötzlich schämte, seine Ehrlichkeit angezweifelt zu haben. Martin gab ihr das Sweatshirt, und sie drehte es um. Das Logo von Brians Firma, Closed Casket, war auf den Rücken gedruckt.

«Sie können das gern durchstreichen», sagte Martin, deutete auf das Logo und zwinkerte.

«Nein, er verdient schon die Hälfte der Anerkennung», sagte sie, zog die Kappe vom Filzstift, malte ein großes & neben die beiden übereinander angeordneten C und unterschrieb dann mit ihrem Namen.

«Danke», sagte er, faltete das Sweatshirt vorsichtig zusammen und legte es zurück auf den Schreibtisch. Dann setzte er sich ihr wieder gegenüber und blickte nachdenklich. «Wissen Sie, Business-Beziehungen sind oft wie gescheiterte Ehen. Hochgradig emotionale Situationen. Ich möchte Sie nur darauf vorbereiten …»

Addie wurde es ganz eng um die Brust. Sie schaute sich um. «Es ist ein bisschen stickig hier drin, oder? Ich glaube, ich brauche etwas frische Luft.»

«Natürlich», sagte er, sprang erneut auf und öffnete das Fenster.

Der Lärm von der Straße drang herein, zusammen mit kühler Luft. Addie schloss die Augen und atmete tief durch, und die Geräusche von draußen verblassten langsam zu einem beruhigenden, gleichmäßigen Rauschen.

«Ich fange noch einmal von vorn an», sagte Martin. «Ich habe bemerkt, dass Sie dieses Treffen ein paar Mal verschoben haben. Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie noch nicht bereit dazu sind.»

Addie schüttelte den Kopf. «Bisher wusste ich nicht, was ich tun sollte, aber dann habe ich das hier gesehen», sagte sie und reichte Martin ihr Handy, auf dem sie einen Fast-Company-Artikel aufgerufen hatte.

Microsoft strebt Übernahme von Gamestudio an

Microsoft verkündete heute, den Indie-Spieleentwickler Closed Casket für eine noch unbekannte Summe erwerben zu wollen. Er wurde von Newcomer Brian Perry gegründet. Das Studio steht für das allgemein beliebte Multiplayer-Spiel Murderscape, das bereits über 85 Millionen aktive monatliche User hat.

Murderscape zeichnet sich durch «Crime travelling»-Detectives aus, die Kriminalfälle in unterschiedlichen Epochen lösen, im Paris der Belle Époque ebenso wie im San Francisco der Zwanzigerjahre oder im alten Ägypten zur Zeit der Pharaonen. Das Spiel vereint atemberaubende Action mit kniffligen Rätseln und nostalgischen Easter Eggs aus klassischen Kriminalromanen.

Die Übernahme wird allgemein als Teil der Strategie des Tech-Giganten gesehen, mehr exklusive Originale innerhalb des Konzerns zu entwickeln. «Brian ist ein Visionär, und die Welten, die er erfindet, ziehen Spieler aller Couleur an», sagte Microsoft in einer Stellungnahme.

«Ich bin zutiefst geehrt und begeistert, Teil der Microsoft-Familie zu werden», so Perry.

Martin gab ihr das Handy zurück. «Das tut mir leid.»

«Ich habe irgendwie das Gefühl, dass unter dieser noch unbekannten Summe ganze Geldberge zu verstehen sind.»

Er lächelte sie schwach an.

«Bevor ich das hier gesehen hatte, hatte ich noch die Hoffnung, dass er womöglich doch noch irgendwo meinen Namen mit eingeschlossen hätte. Dumm, ich weiß.»

«Das ist nicht dumm. Das bedeutet nur, dass Sie an das Gute im Menschen glauben.» Er neigte den Kopf leicht zur Seite. «Könnten Sie mir die Geschichte vielleicht noch einmal von Anfang an erzählen?»

Addie verbrachte die nächste Stunde damit, ihm die Einzelheiten ihrer Beziehung zu Brian zu erklären. Sie vollzog die Erfindung und den Start von Murderscape nach, und Martin hörte aufmerksam zu und stellte so viele kenntnisreiche Fragen, dass Addie sich immer wieder daran erinnern musste, dass er Prozessanwalt war, kein Psychotherapeut. Sie holte ihren Laptop aus der Tasche und stellte ihn so hin, dass er den Bildschirm sehen konnte.

«Ich habe meine Arbeit nicht so gut dokumentiert wie er seine. Aber sehen Sie diese E-Mails?», sagte sie und zeigte darauf. «Ich wollte, dass Murderscape die beste Story überhaupt hat, also habe ich die Drehbuchschreiber von The Last of Us und von Red Dead Redemption angefragt. Und ich habe dafür gesorgt, dass das Storytelling-Team mit allen anderen kooperiert, vom Grafik-Team bis zu den Spieleentwicklern, und zwar von Anfang an.» Sie klickte eine weitere Mail an. «Hier habe ich einen großen TV-Drehbuchschreiber hereingeholt, der früher für Poirot gearbeitet hatte. Man sieht hier, dass Brian etwas dagegen hatte.» Sie las Brians Mail laut vor: «Auf keinen Fall, dieser Typ ist doch schon über sechzig. Viel zu alt. Der versteht das nonlineare Schreiben doch gar nicht.»

Martin las mit und blinzelte konzentriert dabei.

«Jedenfalls habe ich auf diesen speziellen Autor bestanden, und dann haben wir für das narrative Design des Spiels einen BAFTA gewonnen. Es war immer ein Tauziehen zwischen uns. Er war besessen von der Mechanik des Spiels und ich von der Story.»

«Hatten Sie denn je einen Arbeitsvertrag mit ihm?»

«Nein. Und das ist es eben. Ich wollte keinen Vertrag. Ich wollte nicht mit oder für den Mann arbeiten, mit dem ich zusammen war. Damals war ich gerade zum Senior Art Director in der Werbeagentur befördert worden, für die ich arbeite. Ich wollte meinen Job nicht für einen Nebenjob aufgeben. Und außerdem … ich habe ihm vertraut.»

Martin nahm seine Brille ab und reinigte sie mit seinem Schlips. «Was den Ursprung dieser Idee angeht, wann ist sie entstanden?»

Addie fingerte an ihrer Armbanduhr herum. «Na ja, das ist irgendwie ein Klischee, das war in einer Bar.»

«Ein paar der besten Ideen auf der ganzen Welt sind in Bars ausgebrütet worden.»

Addie lächelte. «Brian und ich waren noch nicht lange zusammen. Ich arbeitete bereits am Konzept für Murderscape, und er hatte gerade Closed Casket gegründet. Unsere gemeinsame Leidenschaft fürs Gaming hat uns zusammengebracht. Wir haben ein paar Ideen in ein kleines Spiral-Notizbuch gekritzelt, das ich immer mit mir herumtrug. Es hatte diese abstrakte Zeichnung eines Raben auf dem Cover, und auf jedem einzelnen Blatt stand oben ‹Quoth the Raven›, das Edgar-Allan-Poe-Zitat. Ich hatte dieses Buch in einem Souvenirladen in Baltimore gefunden. Wir haben sogar zusammen ein Firmenlogo entwickelt, die zwei ineinander verschlungenen P. Wir wollten die Firma Paget & Perry nennen.»

Sie erinnerte sich daran, dass sie ein paar Monate später Brian bat, den Firmennamen zu ändern, wie sie es vorgehabt hatten. Und wie er ihre Bitte sofort abgewiesen hatte. Das ist doch egal, Addie. Das Closed-Casket-Logo ist schon fertig, und wir haben kein Budget für ein neues. Die Leute werden ohnehin nur den Dolch von Murderscape wiedererkennen.

Als das Spiel ein Erfolg wurde, schenkte er ihr eine große Murderscape-Torte zum Geburtstag. Das Logo von Closed Casket prangte in blauem Zuckerguss in der Mitte, mit einem Marzipan-Stilett, das die Schrift durchbohrte, und rotem Zuckerguss-Blut, das an den Seiten herabtropfte. Wenn es je ein Symbol für die Unwucht in ihrer Beziehung gegeben hatte, dann war es diese Torte.

Martin setzte sich auf seinem Sessel zurecht. «Haben Sie noch das Raben-Notizbuch?»

Addie schluckte und schüttelte den Kopf. «Nein. Darin waren seitenweise Ideen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es immer auf dem Schreibtisch liegen hatte. Als das Spiel erfolgreicher wurde, war es plötzlich verschwunden. Er muss es an sich genommen haben.»

«Na ja, Sie können sich denken, dass dieses Notizbuch ausgesprochen hilfreich gewesen wäre. Es ist der einzige Gegenstand, der Ihre Autorschaft beweist.»

Addie nickte. Ein weiterer Grund für all ihre Frustration und Selbstzweifel.

«Und wie ist es mit Textnachrichten?», fragte Martin.

«Ich habe einige. Aber ich habe sie noch einmal durchgelesen, und ich fürchte, sie sind so sehr aus dem Kontext gerissen, dass sie nicht wirklich widerspiegeln, was ich alles getan habe. Viele meiner Beiträge habe ich in Unterhaltungen mit Brian beigesteuert. Manchmal haben wir zu zweit noch bis spät in die Nacht gearbeitet. Wir haben geredet oder am Whiteboard gebrainstormt … ganz ohne Termine. Im Ernst, manchmal zweifle ich selbst an mir. Alles ist so verschwommen in der Erinnerung.»

«Und was ist mit den anderen Leuten?»

«Die stehen alle auf der Gehaltsliste von Closed Casket. Sie werden sicher meine Rolle kleinerreden, um ihn zu schützen. Was hätten sie auch davon, wenn sie meine Geschichte unterstützten? Wer weiß, vielleicht hat er ihnen auch Anteile übertragen, damit sie den Mund halten?»

«Meinen Sie, Sie könnten alles, was Sie haben, meinem Büro zur Verfügung stellen?»

«Okay.»

Martin stand aus seinem Sessel auf. «Also, ich fühle mich geehrt, mit Ihnen arbeiten zu dürfen, Addie. Ich weiß, dass es schwierig wird, aber ich werde alles tun, was in meinen Möglichkeiten steht, um das hier so schmerzlos wie möglich für Sie zu machen.»

Er begleitete sie zurück zum Empfang, half ihr in den Mantel und öffnete ihr die Tür. Als sie die Treppe hinunterging, drehte sie sich noch einmal um und sah, dass er noch immer in der Tür stand, freundlich lächelte und winkte. Als schickte er sie zur Schule. Ganz eindeutig väterlich.

 

Sie ging wie in Trance die State Street hinunter bis zur Roosevelt. Die Vorstellung, Brian nie wiederzusehen, war schlimm genug. Aber ihm in einem Gerichtssaal gegenübertreten zu müssen, war beängstigend. Seit ihrer Trennung vor drei Monaten hatten sie kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Es war alles so plötzlich und unerwartet gewesen. Na ja, vielleicht nicht ganz unerwartet, aber sie hatte den Warnsignalen keine Beachtung geschenkt. Es war alles ganz gut gelaufen, und dann, eines Abends, als sie zusammen in ihrer Küche Pizza machten, beendete er die Beziehung einfach so und ohne Erklärung. Ich glaube, wir wissen beide, dass das mit uns schon seit einer ganzen Weile nicht mehr läuft. Sein Ton war kalt gewesen. Es hatte sich eher so angefühlt, als hätte er sie entlassen statt sitzen gelassen. Seitdem hatte sie immer wieder an diesen Augenblick denken müssen, wie an eine Videosequenz, die sich ihr ins Hirn gebrannt hatte.

Als sie sich der eindrucksvollen Fassade des Field Museum näherte, entdeckte sie sofort Sarah, die vor dem Eingang auf sie wartete. Ihr langes, kastanienbraunes Haar flatterte im Wind.

«Geht es dir gut?», fragte sie, als Addie die Stufen zu ihr hinaufstieg.

«Ich weiß nicht», antwortete Addie. Sie traten an den Ticketschalter. «Ich glaube, ich stehe noch unter Schock – oder ich will es nicht wahrhaben. Oder so.»

«Mochtest du Martin? Mein Onkel sagt, er sei der beste Prozessanwalt der Stadt. Sehr unterschätzt.»

«Er ist toll. Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich die Sache durchziehen kann.»

Sarah legte Addie den Arm um die Schultern und drückte sie ein wenig an sich. Sie nahmen ihre Tickets in Empfang und traten in das weitläufige, lichtdurchflutete Atrium des Museums.

«Also. Pflanzen oder Mumien?»

Addie warf ihr einen Blick zu, der besagte: Fragst du das wirklich?

«Gut», nickte Sarah. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menge in Richtung der ägyptischen Sammlung. «Ich hätte wissen müssen, dass die Toten dich aufheitern.»

«Sie sind nicht tot. Sie sind nur vital herausgefordert.»

Addies Handy summte: eine Mail von Mimi. Sie blieb abrupt stehen.

«Was ist los?»

«Eine Mail von meiner Grandma.»

«Deiner Grandma von der Seite deiner Mom? Die so bissig ist?»

Addie nickte. «Und stinkig ist sie auch.»

«Hey, guck mal», sagte Sarah und zeigte auf eine ausgewickelte Mumie, die in einem reich geschmückten Sarkophag lag. «Ich glaube, die hier ist neu.»

Addie schaute stirnrunzelnd auf ihr Handydisplay. «Das ist seltsam. Sie klingt … irgendwie fröhlich.»

«Hattet ihr beide nicht Streit wegen Brian?»

«Ja, zu Thanksgiving letztes Jahr. Wir hatten immer wieder mal kleine Explosionen, aber das war ein Super-GAU.»

«So sehr hat sie ihn gehasst? Was steht denn in der Mail?»

Addie las sie laut vor:

Addie,

ich weiß, dass du viel zu tun hast, und dann ist da ja noch die Trennung, die gerade erst hinter dir liegt. Hör mal, ich muss meine einzige Enkelin unbedingt sehen. Würdest du mich bitte besuchen kommen? Unser letztes Treffen hat nicht gut geendet, das weiß ich. Aber ich habe eine Idee. Ich bin am ersten Novemberwochenende zu einer Party eingeladen, und ich dachte, du könntest vielleicht mitkommen. Die Insel ist dann schön ruhig, weil die Touristensaison vorbei ist, und ich verspreche dir, dass ich die «Ich hab’s dir doch gleich gesagt»-Sprüche auf ein Minimum beschränken werde.

 

Alles Liebe

Mimi

 

PS: Ich spendiere dir bei Ryba’s so viel Fudge, wie du essen kannst!

Sarah nickte. «Klingt, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Du solltest hinfahren.»

Addie dachte nach. Mimi wirkte in diesem Brief ganz untypisch bedürftig. Dieselbe Frau, die ihr einmal erklärt hatte: Wir sind keine Familie, die sich umarmt, bettelte nun um einen Besuch. Sie musste zugeben, dass es sich schön anfühlte, von ihrer Großmutter gebraucht zu werden. Andere Großmütter überschütteten ihre Enkel mit Liebe und hatten Fotos von ihnen in ihren Geldbörsen. Mimi dagegen war völlig unsentimental. Streitlustig.

Vielleicht war da noch etwas anderes im Busch.

Sarah las eine Tafel an der Wand: «Eine Computertomografie dieser weiblichen Mumie Nummer 30702 ergab, dass sie gelocktes Haar hatte und vermutlich an Tuberkulose starb.»

«Lockiges Haar. Ich mag sie.»

«Das Herz wurde während der Mumifizierung oft im Körper gelassen, aber bei dieser speziellen Mumie fehlt es. Sie wurde durch einen Schnitt an der linken Seite ihres Unterleibs vollständig ausgeweidet.»

Addie nickte. «Kommt mir irgendwie bekannt vor.»

3Stift vs. Bleistift

Als das von Pferden gezogene Insel-Taxi in die Main Street einbog, rief Addie dem Kutscher zu: «Sie können mich hier rauslassen.» Das vertraute Hufgeklapper verstummte. Sie sprang auf die Straße und bezahlte.

Ihr Handy summte; ein Foto von Sarah, auf dem sie neben Edgar saß und ein Glas Wein hochhielt:

Wir haben Netflix angemacht! Edgar will Die Reise ins Labyrinth schauen. Viel Spaß auf Mackinac. Du verdienst eine kleine Auszeit nach allem, was passiert ist.

Sie schaute sich um. Trotz der kalten Temperaturen war der Himmel strahlend blau. Es war ein Freitagnachmittag, aber niemand war auf der Straße. Überall sonst wäre ihr dieses Gefühl der Isolation gruselig vorgekommen, aber auf Mackinac waren die sechs Monate Einsamkeit außerhalb der Touristensaison einfach nur friedlich. Sie hängte sich ihre Tasche über die andere Schulter und bog in den Steinpfad ein, der hinauf zu Mimis Cottage führte, nicht ohne seinen Anblick vorher noch einmal zu genießen. Die Farbe der Fassade wirkte frisch, die Vorhänge waren geöffnet, und eine dünne Schicht Raureif bedeckte die Zweige der Bäume und Büsche davor. Es war ein Bild, das direkt aus einer Schneekugel hätte stammen können.

Eine Mischung aus Furcht und Zuneigung überkam sie. Vielleicht würden sie beide es ja diesmal schaffen, die Gesellschaft der anderen einfach zu genießen.

Sie hob die Hand, um zu klopfen, und die Eingangstür ging auf. Mimi stand in Overall und offenem Flanellhemd vor ihr. In den Händen hielt sie einen weichen Lappen und eine Flasche mit Wachspolitur. «Hallo, meine Liebe», sagte sie und lächelte.

«Hallo, Mimi», erwiderte Addie, trat ein und legte ihre Tasche ab. Es roch nach Zitronenbohnerwachs und Glasreiniger.

Mimi tätschelte ihre Schulter. «Wie schön, meinen roten Lockenkopf wiederzuhaben.»

Instinktiv berührte Addie ihren Scheitel. «Ja, ich wollte wieder meine natürlichen Haare haben. Gegen die Locken komme ich sowieso nicht an. Sie haben auf ein Comeback bestanden.»

«Ich habe Joan gerade ihre zweite Schicht Politur gegeben», sagte Mimi und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab. «Ich ziehe mich mal eben um.»

Sie verließ den Raum, und Addie zog sich den Mantel aus und hängte ihn über die Rückenlehne eines Stuhls. Sie schaute sich im Wohnzimmer um, das durch all die Bücher- und Zeitschriftenstapel, herumliegenden Fläschchen mit Kalziumtabletten und Mimis Sammlung alter Kameras und Ferngläser sehr gemütlich wirkte. «Unordnung mit System», so nannte sie diesen Stil. Das Einzige, was nicht recht hierherpasste, war der schwache Geruch nach Zigarettenrauch, den auch die Putzmittel nicht ganz verdrängen konnten.

Ihr Blick fiel auf ein altes, handkoloriertes Sepia-Foto von Mimi und Grandpa Peter. Mimi sah ausgesprochen glamourös darauf aus. Flammend rotes Haar in sanften Wellen, so wie bei Rita Hayworth – ein starker Kontrast zu dem akkuraten, glatten Bob in verblasstem Kupferrot, den sie jetzt trug. Und Grandpa sah auf dem Bild so gut aus, mit wasserblauen Augen wie Paul Newman. Er war gestorben, da war Addie zehn gewesen. Wie es wohl gewesen wäre, als Erwachsene Zeit mit ihm zu verbringen? War es möglich, dass man sich nach etwas zurücksehnte, was nie passiert war?

Neben dem Foto standen aufgereiht die alten The-Boxcar-Children-Bücher ihrer Mom. Sie lächelte und fuhr mit dem Finger über ihre Rücken, um dann einen ihrer Lieblingsbände herauszunehmen, Mystery in the Sand. Sie öffnete das Buch und inhalierte den vertrauten, etwas muffigen Geruch. Seine vergilbten Seiten versetzten sie sofort wieder in ihre Kindheit. Sie erinnerte sich an den Sommer, in dem ihre Eltern ein paar Pappkartons im Garten zusammengeklebt hatten, einen provisorischen Güterwaggon, in dem sie spielen und die Geheimnisse und Rätsel aus den Büchern lösen konnte. Wenn doch ihre Eltern nur noch da wären, um sie wieder zusammenzuflicken. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.

«Wollen wir einen Gibson zusammen trinken?»

Mimis Stimme holte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück. Sie blinzelte, klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. «Ich hatte eigentlich schon Wein im Flugzeug. Also lieber nicht.»

«Wie du willst. Ich nehme einen.» Mimi ging zum Barwagen.

Addie warf einen Blick auf die alte Standuhr. «Ist es um vier Uhr nachmittags nicht ein bisschen früh für einen Drink, der praktisch nur aus Gin besteht?»

Mimi drehte sich zu Addie um. «Weißt du, ein Drink zur Feier der Ankunft meiner Enkelin macht mich noch lange nicht zu einem Peter O’Toole.»

«Gut. Dann nehme ich wohl auch was. Wie wäre es mit Wermut und Tonic?»

Mimi zog die Brauen hoch.

«Was? Das ist erfrischend.»

«Klingt wie ein Drink, der irgendwie das Thema verfehlt hat.» Sie ging zum kleinen Kühlschrank in der Ecke und holte eine Flasche Moët daraus hervor. «Komm, wir köpfen eine Flasche Schampus.»

Addie setzte sich aufs Sofa und schnüffelte. «Hast du geraucht?»

Mimi wandte ihr den Rücken zu, ließ geschickt den Korken ploppen und füllte zwei Sektflöten. Sie drehte sich um und reichte ihr ein Glas. «Muss wohl noch vom letzten Mal sein, als die Bridge-Truppe hier war. Pam mag ihre Pall Malls.»

«Wusste gar nicht, dass Pam raucht. Wie geht es denn den anderen aus der Gruppe? Wie geht es Marie?»

«Marie ist tot.»

Addie hielt inne. «Moment. Was?»

«Jawohl», sagte Mimi und setzte sich neben sie. «Krebs. In meinem Alter kann man nicht mehr damit rechnen, dass die Leute bei einem bleiben.»

Addie starrte in ihren Champagner. «Das ist eine ziemlich düstere Aussage.»

«Nicht düster. Nur die Realität.»

«Na ja, es tut mir jedenfalls leid, das mit Marie zu hören.» Addie schaute zu Big Phyllis hinüber, deren Blätter bräunlich grün und kränklich wirkten. «Was ist denn mit Big Phyllis los? Das ist ja gärtnerischer Mord.»

«Ich habe wirklich alles versucht», versicherte Mimi. «Vielleicht ist ihre Zeit einfach gekommen.»

«Sag das nicht. Ich schaue sie mir später an und sehe, was ich tun kann.» Sie stellte ihre Sektflöte auf den Couchtisch. «Also, jetzt erzähl mir mal von dieser Party, auf die wir gehen.»

Mimi griff nach ihrem iPad und gab es ihr. «Das hier ist unsere illustre Gastgeberin.»

Addie begann den Artikel auf dem Bildschirm zu lesen:

Siebzigjährige Salonlöwin datet Schwiegersohn

Page Six kann exklusiv berichten, dass Jane Ireland, einst als «Bienenkönigin des Jetsets von Manhattan» bezeichnet, ihren eigenen Schwiegersohn Matthew Reed datet. Reed ist 44 Jahre alt und mit ihrer Tochter Alexandra verheiratet. Bereits Anfang des Jahres gab es Gerüchte, als Ireland und Reed gemeinsam beim Urlaub auf Mackinac Island beobachtet wurden, wo Ireland ein riesiges Anwesen besitzt.

Vor langer Zeit war Ireland mit dem Hedgefonds-Manager Nelson Ireland verheiratet, dessen Großvater Standard Oil leitete. Sie waren ein sogenanntes «It-Couple» bis zu Nelsons Tod im Jahr 1997. Ireland, die außerdem ein Fünf-Zimmer-Penthouse in San Remo ihr Eigen nennt, hatte eine Reihe von Beziehungen mit B- und C-Promis in den frühen Nullerjahren und trat sogar als sie selbst in einer Folge von Gossip Girl auf.

In einem knappen Statement für Page Six sagte Alexandra: «Matthew kann mit seinem Leben tun, was er will. Leider ist meine Mutter eine hochgradige Narzisstin, und ihr Verrat ist keine Überraschung für mich.»

Das wird bestimmt eine interessante Karte zum Muttertag geben …

Addie legte das iPad wieder hin und zog amüsiert eine Braue hoch. «Die scheint ja sehr lustig zu sein.»

«Ist sie nicht. Sie ist absolut lustigkeitsbefreit.»

«Und warum gehen wir dann auf ihre Party?»

«Ich habe ihr schon gesagt, dass ich komme», sagte Mimi und faltete die Hände. «Außerdem wollte ich dich wiedersehen nach unserem kleinen Zank. Ich dachte, wenn wir zusammen auf eine Party gingen, wäre das eine gute Art, wieder … eine Verbindung zu schaffen.»

«Du dachtest, wenn wir zusammen auf eine Party gehen, auf der nur Leute sind, die du weder kennst noch wichtig findest, vergesse ich, dass du meinen Verlobten nicht in unsere Familie aufnehmen wolltest?»

Mimi atmete tief durch die Nase ein. Sie griff nach der Zeitung und schlug sie auf der Seite mit dem Kreuzworträtsel auf. «Willst du mal kurz?»

Addie lächelte. «Natürlich. Hast du einen Bleistift?»

«Du benutzt doch nicht immer noch Bleistifte, oder?»

«Ich möchte gern verstehen, was hier los ist, bevor ich darauf antworte.»

Mimi gab ihr einen Kugelschreiber mit der Aufschrift The Chicago Gazette. «Hier, versuch’s mal damit.»

«Gut», sagte Addie und klickte etwas widerwillig den Kugelschreiber an. Sie arbeitete sich durch die ersten paar Stichwörter. «Hatte die Chicago Gazette auch ein Kreuzworträtsel?»

«Nein. Das hätte uns zu viel Platz gekostet, den wir auch als Werbung hätten verkaufen können.»

Addie runzelte die Stirn, weil sie über eine Lösung nachdenken musste. «Vermisst du die Arbeit manchmal?»

«Eigentlich nicht. Man musste unentwegt gegen irgendwelche Deadlines anarbeiten. Es herrschte ständiger Druck.»

«Ich vergesse das immer – du warst Korrektorin?»

«Ich war Textchefin», korrigierte sie Mimi. «Es war jetzt kein beinharter Journalismus. Meistens waren es Geschichten aus dem Rathaus oder aus der Schulbehörde. Aber es war interessant. Und ich musste auf Zack bleiben. Es war ein bisschen so, als äße man jeden Tag Rasierklingen zum Mittagessen.»

Addie schwieg. Dann sagte sie: «Okay, was ist mit diesem hier: 11 waagerecht: ‹italienische Oper von 1892›.»

«Hmmm», machte Mimi. «RIGOLETTO.»

«Prima», sagte Addie und schrieb die Buchstaben in die Kästchen. Dann stockte sie. «Das funktioniert irgendwie nicht, weil der letzte Buchstabe ein I ist.»

«Na ja, dann PAGLIACCI», sagte Mimi.

«Uh. Siehst du? Deswegen schreibe ich lieber mit Bleistift», grummelte Addie und versuchte, ihr «R» und ihr «I» in ein «P» und ein «A» zu verwandeln.

«Komm, noch eins.»

«Ich glaube, ich versuche es erst einmal ein bisschen allein. Ich muss mich konzentrieren.»

«Kreuzworträtsel löst man eigentlich immer gemeinsam, weißt du.»

Addie schob ihr die Zeitung und den Kugelschreiber über den Tisch. «Dann bist du jetzt dran.»

Mimi setzte sich die Lesebrille auf und studierte das Rätsel. «Hier ist ein gutes Beispiel für dich. 29 senkrecht: ‹BETRUEGEN›.»

«Na toll», sagte Addie. «Wie viele Buchstaben?»

«Neun. Der zweite Buchstabe ist ein ‹E›.»

«REINLEGEN … wobei … es könnte natürlich auch BEHUMPSEN sein. Ich würde warten, bevor du die Kästchen ausfüllst.»

«Ich schreibe dann mal BEHUMPSEN rein.»

«Das ist vielleicht ein Fehler. Nimm dir lieber einen Bleistift.»

Mimi setzte ihre Lesebrille ab und schaute zu ihr hoch. «Bleistift bedeutet Angst, Addie. Weißt du, es gibt zwei Sorten Menschen auf der Welt. Diejenigen, die alles zu Tode überdenken, und die, die einfach machen.»

«Willst du mir ernsthaft weismachen, dass ich zu viel nachdenke, nur weil ich Radiergummis gut finde?»

«Ich sage nur, dass du ein bisschen taffer werden musst. Wenn du Brian im Gerichtssaal gegenüberstehst, musst du entschlossen wirken.»

Addie stellte ihr Glas so heftig ab, dass der Champagner auf den Tisch schwappte. «Wenn du es unbedingt wissen willst, habe ich noch nicht entschieden, wie ich weiter vorgehe.» Sie betupfte die Pfütze mit ihrer Cocktail-Serviette. «Ich habe mir einen Anwalt gesucht, aber wir haben noch keine Klage eingereicht.»

Mimi schaute zur Decke hinauf. «Ich kann nicht glauben, dass du überhaupt zögerst.»

«Hast du dir je klargemacht, wie hart das für mich ist, Mimi? Ich habe immer noch Gefühle für ihn. Ich kann nicht einfach über die Menschen hinwegwalzen wie du.»

Mimi schluckte hart. «Er war ein arroganter Drecksack, Addie. Und er hatte ein fliehendes Kinn.»

«Ja, ich erinnere mich an deine Meinung über sein Kinn.»

«Es verschmolz praktisch mit seinem Hals. Jemandem mit so einem Kinn kann man nicht vertrauen.»

«Du sagst das, als wäre das eine allgemein gültige Wahrheit. Weißt du, ich brauche jemanden in meinem Leben. Ich bin einsam.»

«Einsam? Du hast doch ein schönes Leben.»

«Als Waise aufzuwachsen, nachdem die Eltern bei einem Autounfall umgekommen sind, ist jetzt nicht wirklich ein ‹schönes Leben›.»

«Du warst keine Waise. Mit über zwanzig ist man keine Waise mehr.»

Addie warf ihr einen scharfen Blick zu. «Waisen müssen ja nicht minderjährig sein.»

Mimi schloss die Augen und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken. Im Hintergrund hörte man den Wetterbericht im Fernsehen.

Die Temperaturen fallen weiter. Wir sehen hier ein Tiefdruckgebiet, das aus nordwestlicher Richtung kommt …

Addie setzte sich auf dem Sofa zurecht. So viel dazu, die Gesellschaft der jeweils anderen genießen zu wollen. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. «Hast du von diesem Schneesturm gehört, der kommen soll?»

«Ja, sie reden schon den ganzen Morgen davon. Aber wir haben ja Joan Rivers. Sie bringt uns überallhin, wohin wir wollen.» Mimi stellte ihre Champagnerflöte auf den Couchtisch und sah Addie so direkt und aufmerksam an, als wollte sie ein Interview mit ihr machen. «Ich wollte dich nicht aufregen, meine Liebe. Können wir noch einmal von vorn anfangen?»

Addie nickte.

«Wie geht es eigentlich Edgar?»

Addie lächelte. «Dem geht es gut. Er wird alt.»

«Tun wir das nicht alle», sagte Mimi und rieb sich die Knie. «Hör mal, morgen vor der Party könnte ich deine Lieblings-Elvis-Waffeln machen, und wir könnten dieses The Godfather Reunion Special schauen, das sie überall bewerben. Pacino muss doch inzwischen schon in einer Eisernen Lunge liegen.» Sie tätschelte Addies Bein. «Und am Samstag lade ich dich zu Fudge im Ryba’s ein. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden möchte.»

Addie spürte die Anspannung in Mimis Tonfall. «Ist denn alles okay?»

Mimis Blick wich ihrem aus. «Natürlich.» Sie nahm die Moët-Flasche und schenkte ihnen nach. «Ich bin froh, dass du mich besuchen gekommen bist, meine Liebe.»

Sie stießen an. Addie nahm einen Schluck von ihrem Champagner, ohne ihre Großmutter aus den Augen zu lassen. Oberflächlich betrachtet, wirkte alles ganz normal. Aber wie sie so schweigend dasaßen, überkam Addie ein Gefühl der Unruhe.

4Wo ist Jane?

Mimi nahm sich einen Augenblick, um die natürliche Schönheit ihrer Enkelin zu begutachten. Sie besaß die gleichen weit auseinanderliegenden grünen Augen wie sie selbst. Ihr champagnerfarbenes Seidenkleid mit den Glasperlen passte perfekt zum Partymotto «Zwanzigerjahre», ohne übertrieben zu wirken. Sie sah aus wie ein Stummfilmstar. Addie hatte alles. Talent, Hirn, Schönheit. Wo war ihr typischer Mumm hin? Warum hatte sie es zugelassen, dass dieser dominante Gamer-Typ ihr Leben umkrempelte?

Sie erinnerte sich an jenen traurigen Tag, als Addies Eltern starben. Mimi hatte ihnen damals in Gedanken geschworen, dass sie den Rest ihrer Zeit auf Erden darauf verwenden würde, ihre einzige Enkelin zu einem erfolgreichen, produktiven – vielleicht sogar bemerkenswerten – Leben hinzuführen. Und dieser Brian hatte so gar nicht in diesen Plan gepasst. Vom ersten Moment des Kennenlernens an hatten bei ihr die Alarmglocken geschrillt, denn er hatte ihr als Addies Großmutter kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Sie kannte diese Sorte Mann. Ab einem bestimmten Alter waren Frauen für solche Typen unsichtbar, weil sie keinen unmittelbaren Nutzen aus Gesprächen mit ihnen ziehen konnten. Seine Selbstgefälligkeit und Aufgeblasenheit erfüllten sie sofort mit Abscheu. Und seitdem hatte sie sich unablässig Sorgen gemacht. Was, wenn sie ihr Versprechen gegenüber Addies Eltern nicht halten konnte?

Mimi deutete auf Joan Rivers. «Eure Kutsche steht bereit, edle Dame.»

Addie lächelte und trat auf sie zu. «Ich finde dein Kleid toll, Mimi. Sehr Helen Mirren.» Ihr Blick fiel auf die ausgebeulte Ledertasche, die Mimi sich über die Schulter gehängt hatte. Sie zog enttäuscht die Braue hoch. «Dieser Riesenbeutel, im Ernst?»

«Was? Die ist praktisch. In so eine winzige Clutch passt nun mal nicht alles, was ich brauche.» Mimi zog sich ihre ausgetretenen Uggs an und steckte die Satinpumps in die Riesentasche. «Willst du mein anderes Uggs-Paar haben?»

«Nein danke», sagte Addie und knöpfte ihren Mantel zu. «In Uggs sehe ich aus wie ein Brauereipferd.»

Mimi hob den Saum ihres Abendkleids an und setzte sich rittlings auf Joan. Sie klopfte einladend auf den Sitz hinter sich. Addie stieg nervös auf.

«Keine Sorge, sie ist straßentauglich», sagte Mimi und ließ den Motor an. «Bereit?»

Addie hielt sich an Mimis Taille fest. «Ich glaube schon …»

Mimi trat aufs Gas, und das Schneemobil raste los. Es war eine stille Winternacht, und die Schneeflocken glitzerten unter den Straßenlaternen. Mimi manövrierte die röhrende Maschine fachmännisch durch die Straßen. Die Fahrt zu Janes Villa würde nur fünf Minuten dauern. Mackinac Island war nur knapp zehn Quadratkilometer groß, und das bedeutete, dass im Grunde alle Inselbewohner Nachbarn waren.

Ein ganzer Wirbelwind aus Sorgen tobte in Mimis Hirn. Warum hatte sie Addie nichts von der Erpressung erzählt, als sie gestern angekommen war? Sie seufzte, und ein schmerzhafter Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie wusste, warum sie das vor sich herschob, denn sie konnte ihrer Enkelin einfach nicht ihr dunkles Geheimnis verraten. Wenn Addie es nicht verstand und für immer aus ihrem Leben verschwand, dann würde das … Egal. Sie musste jetzt erst einmal zu dieser Auktion gehen und Jane zur Rede stellen. Dieser Angriff auf ihren Seelenfrieden musste ein Ende haben. Alles andere musste bis zum Sonntag bei Ryba’s warten.

Als sie einen steilen, tannengesäumten, gewundenen Pfad hinter sich gelassen hatten, fuhren sie auf die lange Auffahrt des Lilac House. Die beeindruckenden schmiedeeisernen Tore öffneten sich, und eine stattliche Villa im Tudor-Stil ragte in der Ferne auf. Sie stand ganz oben auf einem Hügel, schien im blassen Licht des winterlichen Mondscheins zu glühen, der durch die Wolken drang, und warf unheimliche Lichtflecken auf die verschneite, in Dunkelheit gehüllte Landschaft. Das Gebäude war von Hecken und kunstvoll gestutzten Büschen umgeben, aber zu seiner Linken stand es direkt an einer Klippe, die steil zum glitzernden Lake Huron abfiel.

«Wow und noch einmal wow», sagte Addie. «Das ist ja gar kein Haus, das ist ein Anwesen.»

Jetzt schalteten sich Flutlichter ein, die sie in grelles Licht tauchten. Ein Sicherheitsmann winkte sie durch, und sie näherten sich einer schneebedeckten Zugbrücke, die sich über einen breiten Graben spannte. Mimi drosselte den Motor, als sie sie überquerten. Das Wasser im Graben, schwarz und unergründlich, schien sie verschlucken zu wollen.