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E-Book basiert auf: 01. Auflage 2024 MIT ENDE 40 bricht Geertje Marquardt aus ihrem Familienalltag als zweifache Mutter auf, um einen Lebenstraum zu verwirklichen: eine 550 Kilometer lange Überquerung des grönländischen Inlandeises auf Skiern. Sie erzählt von schwierigen Vorbereitungen, körperlichen Herausforderungen und persönlichen Zerreißproben. Von der Angst vor Eisbären, von tosenden Stürmen und dem Kampf mit den inneren Dämonen. Vor allem aber von ihrer tiefen Liebe zu Schnee und Eis und der fast schmerzhaft schönen Sehnsucht nach der klaren Weite des arktischen Horizonts. Mit nach Hause brachte sie Wunden, die irgendwann heilen, und tiefe Erkenntnisse, die für immer bleiben werden. Eine zweifache Mutter auf Grönlandexpedition Vom Mut, in der Lebensmitte aufzubrechen und seinem Traum zu folgen Ein Buch über die tiefe Liebe zu Eis und Schnee
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Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2024
1. Auflage 2024
© DuMont Reiseverlag Ostfildern
Alle Rechte vorbehalten
Text: Geertje Marquardt, Kathrin Nord
Lektorat: Britta Fietzke
Gestaltung Umschlag und Bildstrecke: Birgit Kohlhaas
Satz: typopoint GbR
Coverfoto oben: A. Wälti, Coverfoto unten: Geertje Marquardt
Fotos Umschlag: Geertje Marquardt Autorinnenfoto: A. Laura Jacobi
Fotos Bildstrecke: Geertje Marquardt, mit Ausnahme von S. 2 o., S. 3 u.: Jan Marquardt; S. 3 o.: Daniel Ruppert; S. 6 o., S. 7 o., S. 8, S. 9, S. 10 o., S. 11 u. S. 14 u., S. 15 M., S. 16 o.: A. Wälti; Vorlage Notizbuch: shutterstock/Daboost
Karte S. 6: Geertje Marquardt
Die Buchtitelformulierung nimmt Bezug auf den gleichnamigen Artikel von Manuela Heim, erschienen am 13.9.2023 in der taz.
Printed in Poland
ISBN 978-3-616-03315-0
ISBN 978-3-616-03431-7
www.dumontreise.de
Auf den folgenden Seiten beschreibe ich das größte Abenteuer meines bisherigen Lebens: Mehr als 34 Tage lang querte ich auf Skiern das grönländische Inlandeis. Es gibt immer unterschiedliche Perspektiven auf die Dinge, hell und dunkel, warm und kalt, es gibt das Whiteout und den klaren Horizont.
Weit entfernt von einem klassischen Expeditionsbericht, erzähle ich auf den folgenden Seiten von meinen ganz persönlichen Erfahrungen und Eindrücken. Sicherlich werde ich dabei die ein oder andere Situation anders erzählen, als die anderen beiden in meinem Team es würden, einfach, weil das hier meine Erfahrungen widerspiegelt.
Ich bin allen Beteiligten unendlich dankbar, dass ich diese Erfahrungen machen durfte.
Ich widme dieses Buch meiner Familie, die mich auf meinem Weg immer unterstützt.
Danke, Matilda, Johan und Jan!
Besonders möchte ich den Frauen und Mädchen auf dieser Welt zurufen:
Folgt euren innersten Wünschen und lebt EUER Leben, geht mutig die neuen Pfade, die erst im Gehen entstehen!
Die Namen der Beteiligten wurden in diesem Buch geändert.
Inhalt
Cover
Titelei
Impressum
Die Route
Prolog
Vorabend der Expedition
Vorzeichen
Tag 1: Endlich auf dem Eis
Tag 2: Langsame P(l)ackerei
Tag 3 & 4: The Beauty of the Wind
Tag 5: Whiteout
Tag 6: Ruferin in der Eiswüste
Tag 7: Geburtstagsgrüße aus dem Sturm
Tag 8: Eat, Sleep, Ski, Repeat
Tag 9: Navigieren lernen. Und: Der Hunger hält Einzug
Tag 10: Wie auf Wolken
Tag 11: Schmerz
Tag 12: Die Kälte & die Heizweste
Tag 14–18: Kälte, Kriegsbemalung und keine Salami mehr
Tag 19: Überraschungsgast
Tag 22: Perfect Halo
Tag 23: Übern Berg
Bildstrecke
Tag 24: Schönheit & Einöde
Tag 25: Grönland sehen und sterben?
Tag 26: Hardshells
Tag 27: Das Zeichen
Jans Kapitel
Tag 29: Der Erfolg einer Tour
Tag 30–33: Mittagsschlaf
Tag 34 & 35: Auf Messers Schneide – die letzten 24 Stunden
Zurück in der Zivilisation
Wieder im Familienalltag
Was von der Klarheit bleibt
Glossar
Packliste mit Gewichten (in kg)
Danksagung
Prolog
Der Wind zerrt und rüttelt an unserem Zelt. Er beugt den Gestängebogen tief, lässt den Zeltstoff dicht über meiner Nase wie wild auf- und abflattern. Der Stoff peitscht ohrenbetäubend laut, als wolle der Wind ihn zerreißen. Eingehüllt in meinen gigantisch aufgeplusterten Daunenschlafsack spüre ich die wohlige Wärme an meinen Füßen, mein geschundener Körper könnte eine Mütze Schlaf gebrauchen. Doch in meiner Fantasie entspringt jeder Laut einem Albtraum: Schlägt da ein Eisbär mit seiner Pranke gegen die Zeltwand? Ich drehe fast durch. Ich wende den Kopf zur Seite, vergewissere mich, dass das großkalibrige Gewehr griffbereit zwischen uns dreien liegt, dann suche ich den Blick meiner Freundin Aenne. Sie aber hat sich Kopfhörer in die Ohren gestopft und starrt an die Zeltdecke – geschafft, verträumt oder verängstigt, ich weiß es nicht genau.
Sturmtage wie diese sollten wir eigentlich wie Geschenke des Himmels genießen. Wir sollten uns erholen, stattdessen verschwende ich meine Kraft damit, mir eine Katastrophe nach der anderen auszumalen: Das Zelt geht kaputt, Ausrüstungspannen oder gesundheitliche Probleme ereilen uns auf der Tour, wir müssen sie abbrechen.
Eine dünne Schnur ist als Eisbärenzaun um unser Zelt gespannt und wird Alarm schlagen, wenn ein großes Tier sie einreißt. Jemand von uns würde sich dann schnell das Gewehr schnappen, hinausrennen und einen Warnschuss über den Kopf des Eisbären abgeben. Greift er an, ihn erschießen. Bisher habe ich nur auf Pappwildschweine geschossen, vor einem Monat in Potsdam war das.
Zwischen Traum und Wirklichkeit, Angst und Bangen drehe ich mich auf die andere Seite. Eine filmreife Szene, denke ich. Und doch bin ich genau da, wohin ich mich gesehnt hatte. Ich verwirkliche meinen Lebenstraum, den ich über Jahre gegen alle Widrigkeiten verfolgt habe – eine Grönlanddurchquerung auf Skiern. Dabei ist es wahrscheinlicher, auf dem Inlandeis Grönlands einem Eisbären zu begegnen als einer Frau wie mir: fast 50, nicht reich und nicht übermäßig sportlich, bin ich aus meinem Familienalltag ausgebrochen.
Mads, Aenne und ich sind schon fast eine Woche auf dem Inlandeis unterwegs und haben eine Routine entwickelt, die für unsere Expedition lebenswichtig ist: „Ski, Eat, Sleep, Repeat.“ Die Sturmböen peitschen heute mit Windgeschwindigkeiten von fast 100 Kilometern pro Stunde über die karge Eiswüste und unterbrechen unseren immer gleichen Tagesablauf. Weiterzuziehen wäre zu mühsam und auch gefährlich. So wie der Sturm draußen tobt, wäre es ein riesiges Unterfangen, die Zelte abzubauen und die gesamte Ausrüstung sicher in den Pulka-Schlitten zu verstauen. Zu groß die Gefahr, dass ein wichtiger Ausrüstungsgegenstand vom Sturm mitgerissen, eine Zeltwand beim Abbau reißen würde. Das wäre es dann. Das größte Vorhaben meines bisherigen Lebens, auf das ich mich zwei Jahre lang mental und physisch vorbereitet habe, wäre abrupt zu Ende. Hier im Zelt, in meinem Schlafsack hoffe und bange ich, dass wir den nächsten Tag erleben, dass wir morgen wie selbstverständlich wieder auf die Bretter steigen und die nächsten Kilometer in Angriff nehmen werden. Endlich fallen mir die Augen zu, trotz des Lärms und des flatternden Stoffs im Gesicht nimmt sich mein Körper die dringend benötigte Erholung.
In meinen Träumen schaukle ich in der Hängematte unter den heimischen Apfelbäumen und die Kinder toben durch den Garten. Die Temperaturen sind frühlingshaft mild und ein Latte Macchiato steht in Reichweite. Stadtidylle in einer Seitenstraße in Potsdam-Babelsberg.
Ein hoher, schriller Ton lässt mich aufschrecken. Mein Herz schlägt bis zum Hals, von draußen schrillt es unaufhörlich und unerträglich laut. Ich sitze aufrecht im Schlafsack und sehe erwartungsvoll unseren Expeditionsleiter Mads an. Ein Eisbärangriff? Der tosende Wind wirbelt Schnee und Eis auf, aber auch alle Gegenstände, die wir nicht fest genug verstaut haben. Das schrille Alarmsignal mischt sich mit dem Sturmchaos. Nur ein Fehlalarm?
Mads hat seine Stiefel angezogen und eine Jacke übergeworfen. Das großkalibrige Gewehr und die dazugehörigen Patronen hält er in der einen Hand. Mit der anderen öffnet er vorsichtig den Reißverschluss des Zelteingangs. Er schaut sich draußen um. Aenne und ich lauschen. Mein Puls pocht. Windgetöse. Das Schrillen verstummt. Mehr nehme ich nicht wahr. Nach einer gefühlten Ewigkeit erscheint Mads mit knirschenden Schritten und verkündet die erleichternde Nachricht: Eine Schneewehe hat den Eisbärenzaun eingerissen und den Alarm ausgelöst. Keine Bärenspuren in der Nähe unseres Zeltes.
Alle drei haben wir jetzt eine gute Portion Adrenalin im Blut und sind hellwach. Wir plappern aufgeregt drauflos und packen unsere Eisbärengeschichten aus, die wir bei anderen Expeditionen aufgeschnappt haben. Eine spektakulärer als die andere. Mein Freund Wilfried erlebte während einer Expeditionskreuzfahrt, wie ein Eisbär einen Kollegen beim Landgang angriff, ihn an der Kapuze schnappte und den Strand von Spitzbergen entlangzerrte. Der Mann überlebte wie durch ein Wunder. Arved Fuchs erzählte mir seine Geschichte aus dem Norden Kanadas, als eine Eisbärenpranke sein dünnwandiges Zelt durchschlug. Arved gab einen Warnschuss ab, der Eisbär floh in die Nacht, beobachtete die kleine Expeditionstruppe jedoch noch tagelang vom Horizont aus.
Die Anekdoten erschöpfen sich irgendwann. Mein Puls normalisiert sich und ich entspanne mich. Augen zu und die Träume kommen lassen. Mein müder Geist nimmt das laute Tosen des Windes auf, das Flattern der Zeltwände und formt daraus Bilder und seltsame, fantastische Geschichten. Im Halbschlaf taucht ein weiteres Geräusch auf, ein Fauchen und Zischen, ein wütender feuerspeiender Drache stürzt vom Himmel auf uns herab. Erschrocken reiße ich die Augen auf. Aenne hat im Vorzelt den laut rauschenden, zischenden Benzinkocher für die Schneeschmelze angeworfen und lächelt mich an. Erleichtert atme ich auf.
Bald durchströmt Kaffeeduft unsere kleine Behausung. Aenne ruft lauter als sonst nötig, denn der Wind übertönt sie: „Jetzt gönnen wir uns erst mal ein Käffchen, oadrrrr?“ Es klingt, als müsse sie das gurrende R ihres Schweizer Dialekts noch tiefer aus ihrer Kehle hervorholen.
Ich nehme meine große Metalltasse mit der selbstgebastelten Isolierung zwischen die klammen Hände, atme den Kaffeeduft tief durch die Nase ein und nehme einen Schluck des schwarzen Goldes – in diesem Moment der größte Luxus in dieser Eiswüste. Ein wahrer Genuss!
Vorabend der Expedition
„Ihr müsst morgen aufbrechen – das Wetter da oben ist gut.“ Mit geübtem Blick in die Ferne schätzt Grönlandlegende Robert Peroni die Wettersituation auf dem Inlandeis ein. Es drohe weder starker Schneefall noch ein Sturm wie der gefürchtete Piteraq.
Endlich stehe ich hier, auf der Terrasse des Red House in Tasiilaq, der Ausgangsbasis unserer Expedition – es ist der Ort, von dem mir der Grönlandforscher und Expeditionsfreund Wilfried Korth so viel erzählt hatte. Es ist ein besonderer Moment, nach so vielen Jahren der Planung und der tagelangen holprigen Anreise hier zu sein, Peroni zu begegnen und zu wissen: Morgen gehen wir los. Im Westen geht die Sonne im strahlenden Orange-Kitsch langsam unter.
Polarvirus
Fast zehn Jahre sind vergangen, seit ich mich mit dem Polarvirus infiziert habe. Mit meinem Fahrrad war ich durch die idyllische Schiffbauergasse des Potsdamer Theaterquartiers gefahren, neben mir der Tiefe See. Am Straßenrand parkte ein violetter Opel Corsa, im Vorbeifahren sah ich den großen Aufkleber auf der Heckklappe: www.groenlanddurchquerung.de. All das zusammen – ein kleines lila Stadtauto, Potsdam, Grönland – löste eine angenehme Sinnesverwirrung bei mir aus. Wieder zu Hause, mit meinem schlafenden dreijährigen Sohn Johan auf dem Schoß und der mit Lego spielenden Matilda zu meinen Füßen, rief ich die Website auf. Ich las von den Projekten des Potsdamer Geodäten Wilfried Korth. Zusammen mit seinem Dresdner Kollegen Wieland Adler vermaß er seit 2002 die Schneehöhen des Inlandeises auf einer historischen, heute kaum noch begangenen Route. Korth und Adler hatten mehrmals das Inlandeis zu Fuß durchquert, mit großer Leidenschaft für ihre Wissenschaft, immer mit dem Ziel, ihre Messreihe fortzusetzen und den Klimawandel zu erforschen. Ich hatte eigentlich nur kurz nachschauen wollen, was sich hinter der Web-Adresse verbarg, doch als mir Matilda mit einem euphorischen „Mama, Mama, schau mal!“ ihre Legowelt zeigte, war schon eine Stunde vergangen. Die Grönlandabenteuer blieben mir über den Tag weiter im Kopf, während ich mit Matilda malte, das Essen für Mann und Kinder kochte und einige berufliche Projekte verfolgte. Während der Tag voll mit Erledigungen und Familienpflichten war, grätschte dieses Abenteuer immer in meine Gedanken. Über Tage begleiteten mich die Bilder der kleinen Truppe in meinem Alltag. Mit einfacher Expeditionsausrüstung, Kuppelzelten, alten Skiern und geflickten Schuhen zogen sie 40 bis 45 Tage lang auf ihren Expeditionen gewaltige Gerätschaften und Schlitten im Namen der Wissenschaft über das Eis.
Abend für Abend, wenn die Kinder im Bett lagen und mein Mann Jan sich seinem Hobby, der Musik, widmete, formulierte ich am Computer E-Mail um E-Mail und verwarf sie dann doch wieder. Der lilafarbene Opel-Corsa mit seinem Aufkleber passte genauso wenig nach Potsdam wie ich auf eine körperlich zehrende Expedition nach Grönland. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, diese Faszination, dieser Drang. Die Liebe zu Schnee und Eis, die konnte ich erklären, denn sie begleitete mich schon seit meiner Jugend. Mit meiner Grundschulfreundin hatte ich in der damaligen Tschechoslowakei das Skifahren gelernt – auf den uralten Brettern ihres Vaters, der sie extra für mich neu lackiert hatte.
Während eines Praktikums bei einem Architektur- und Designbüro in Stockholm im Jahre 2000 hatte ich den Norden auf eigene Faust entdeckt. In den dunklen und kalten Wochen meines Wintersemesters war ich so verrückt danach, in die Kälte einzutauchen, dass ich sogar Spikes auf meine Fahrradreifen zog, um der Natur möglichst nah zu sein, während ich von einem Außenbezirk Stockholms zur Arbeitsstätte in Södermalm fuhr. Meine Ferien verbrachte ich, wann immer möglich, auf Skiern, Schlitten, Snowboard. Das weiße Element um mich herum, es zog mich an, so wie später das Icehotel in Schweden. Schon als ich das erste Mal seine geschmolzenen Ruinen gesehen hatte, durch sie hindurchgelaufen war, wusste ich: Ich befand mich an einem magischen Ort, von dem ich nicht mehr weg-, zu dem ich immer zurückwollte. Später, ab 2012, gehörte ich zum Künstler:innen-Team des Icehotels, das Jahr für Jahr mit vielen Werkzeugen, von Kettensägen bis hin zu feinsten Eismeißeln, ganze Schnee- und Eisblöcke bearbeitete und in wenigen Wochen ein Hotel aus Schnee und Eis errichtete. In den Räumen können Winterliebhaber:innen übernachten, in einer Eiskirche heiraten – wie mein Mann und ich 2013, mit einer selbsterschaffenen Artsuite für die Hochzeitsnacht. Er teilt meine Liebe zum Norden und dem Icehotel. Immer wenn ich für einige Wochen in Schweden bin, kommt er mit den Kindern zur Eröffnung des Hotels nach und wir verbringen unseren Familienweihnachtsurlaub in Lappland.
Grönland, das war ein mir unendlich erscheinender Raum aus Schnee und Eis. So wie ich alljährlich die Elemente zu fantasievollen Skulpturen und Räumen formte, so stellte ich mir vor, formten die Elemente auf Grönland die Menschen. Man schritt hinein und wusste nicht, was einen erwartete – die Landschaft veränderte sich ständig.
Ich schickte meine E-Mail ab, erwähnte meine Leidenschaft für Schnee und Eis. Wenige Zeit später traf ich Wilfried und aus unserer gemeinsamen Liebe zu den kalten Elementen entstand eine besondere, inspirierende Freundschaft. Aus unserem Interesse für die Wissenschaft und das Klima erwuchs 2016 der Verein Iceploration mit dem Ziel, Menschen durch Kunst, Vorträge und Öffentlichkeitsarbeit zu erreichen und zu berühren. Wilfried und ich machten gemeinsam Wintertouren, zum Beispiel durch Norwegen. Im Jahr 2019 hätte ich mit ihm auf eine Grönlandexpedition kommen sollen, ein paar Tage wenigstens, um herauszufinden, ob ich mir eines Tages eine ganze Querung vorstellen konnte. Doch ein schrecklicher Unfall machte unsere Pläne zunichte. Ich stürzte in eine dunkle Zeit, in der ich meine Liebe zu Schnee und Eis verlor. Den Traum, das Eis zu queren, verschloss ich ganz tief in mir.
Jetzt schaue ich mit Mads und Aenne statt mit Wilfried auf die untergehende Sonne Tasiilaqs, weil das Leben seltsame Bögen schlägt – oder uns der Facebook-Algorithmus erschreckend gut kennt. Denn vor zwei Jahren hatte er mir eine Anzeige eingespielt: Ein Mann suche geeignete Personen für eine Grönlanddurchquerung. Es traf mich wie ein Schlag. Beim Lesen spürte ich wieder eine Lebendigkeit in mir, diese ungestillte Sehnsucht. Und wieder durchzog dieser Traum meinen Mutteralltag, während ich die Wäsche faltete, die Kinder zur Schule brachte, mit ihnen Hausaufgaben machte, Einkäufe erledigte, das hundertste Mal Monopoly spielte und eine Serie im Hintergrund lief. Immerzu dachte ich an diesen riesigen Raum aus Schnee und Eis, als riefe er nach mir. Ich formulierte in meinem Kopf E-Mail um E-Mail und warf sie Klick um Klick wieder in den Mülleimer. Schließlich schickte ich meine „Bewerbung“ ab. Ich erwähnte meine Wintertour-Erfahrung mit Wilfried Korth, meine Liebe zu Schnee und Eis. Meine Outdoor-Vita fiel jedoch kurz aus, als Flachlandtirolerin hatte ich nicht viele Berge bestiegen.
Mads war neugierig, wir trafen uns erst virtuell. Kurz darauf, als Zwischenstopp einer Familienreise, besuchte ich ihn am Bodensee. Wir bestiegen gemeinsam einen Berg – und während er, gut zehn Jahre älter als ich, wie ein junger Gott hinaufhüpfte, schleppte ich mich mühsam Meter um Meter voran. Er bemerkte, dass ich körperlich nicht so fit war, wie er es sich gewünscht hätte, aber eben auch, dass ich mich nicht beklagte, dass ich die gute Laune behielt und durchzog. Außerdem könne ich ja noch trainieren. So lud er mich ein, im Sommer mit ihm und Freunden zwei Gletscherzungen in Island zu überqueren. „Dann bekommst du schon mal eine Ahnung, wie das in Grönland sein könnte, falls du wirklich Teil der Expedition sein möchtest.“ Mir blieb der Mund offen stehen. Allein die Vorstellung einer Expedition mit einem solchen Outdoorprofi schüchterte mich ein: Wildnistouren in Ost- und Westgrönland unternommen, Dutzende Wanderungen durch den weglosen Teil des isländischen Hochlandes, Solotouren, geführte Gruppen durch die Wildnis, bestiegene Alpenberge. Gegen den drahtigen fast sechzig Jahre alten Wanderer war ich ein Outdoorküken mit wenigen Kenntnissen und noch weniger Erfahrung. Nach längerem Überlegen sagte ich schließlich doch zu.
Über eine Woche lang wanderten wir über die beeindruckenden Gletscher, navigierten durch die Wildnis Islands und mir wurde klar, dass ich genau das in meinem Leben wollte: die Natur zu Fuß erleben. Voll und ganz in sie eintauchen, ihr so pur begegnen, wie es dem modernen westlichen Menschen möglich ist. Und ich wollte mich den physischen Herausforderungen stellen. Mit jedem Tag auf Island staunte ich mehr darüber, was mein Körper und Geist zu leisten vermochten. Stundenlang sprang ich mit schwerem Rucksack auf dem Rücken über Gletscherspalten, täglich bauten wir die Zelte auf und wieder ab. Schlafen, essen, gehen – hier eine liebgewonnene Routine und körperliche Herausforderung für mich.
Ein halbes Jahr später stieß die damals 36-jährige Aenne zum geplanten Grönlandabenteuer dazu. Sie ist zehn Jahre jünger als ich und wie Mads ein absoluter Outdoorprofi. Sie hat beachtliche Klettertouren bestritten und unzählige Winter in Skandinavien mit Outdooraktivitäten verbracht. Wie Mads lebte sie allein, die Berge in der Schweiz direkt vor der Haustür. Auch Aenne ist viele Touren allein gegangen und hat Gruppentouren geleitet.
Unser Expeditionsteam stand.
„Bis Mitte dreißig kann man sich noch in so eine Tour hineintrainieren. Aber ab vierzig geht es dann nicht mehr. Da muss man von Anfang an fit sein.“ Wie ein Mantra trug ich die Worte Wilfrieds während meiner Vorbereitungen mit mir herum – beim Wandern, beim Schwimmen, beim Crossfit. Und auch, während ich in den brandenburgischen Wäldern alte Autoreifen hinter mir her zog. Sie simulierten das Gewicht der Schlitten, in denen wir unser Gepäck transportieren würden.
Wir legten das Datum für unseren Expeditionsstart fest: Im April 2023 wollten wir im Osten Grönlands losgehen. Es folgten Monate, in denen wir uns durch den Bürokratiedschungel schlagen mussten, um die Permits zu organisieren, Versicherungen und eine Bürgschaft abzuschließen, aber auch das nötige Geld für die Expedition musste ich verdienen, zusammensparen und teilweise mit einem Kredit finanzieren. Die Kosten liegen im fünfstelligen Bereich, das war für mich eine unvorstellbar hohe Summe, die ich noch nie in meinem Leben auf meinem Konto gesehen hatte. Wer diesen Vorbereitungsstress als Team durchsteht, dachte ich, der schafft es auch gemeinsam über das Inlandeis.
Anreise mit Hindernissen
Am Ostermontag brach ich in Potsdam bei schönstem Sonnenschein auf, mit Freude und Zweifel im Herzen ging es über Berlin nach Kopenhagen, von dort nach Westgrönland, nach Kangerlussuaq und Nuuk. Ab dort wollten wir weiter über das Eis in den Osten nach Kulusuk, schließlich nach Tasiilaq und von dort mit dem Heli aufs Eis.
Zwischenstopps, Verzögerungen und ungeplante Wartezeiten forderten meine Geduld heraus. Doch endlich saßen wir in der winzigen Air-Greenland-Propellermaschine, die in Nuuk abhebt. Eng gedrängt wie Sardinen in einer Konservenbüchse … einer sehr lauten Konservenbüchse. Ich blickte aus dem winzigen Bullauge hinunter auf die riesige weiße Schneefläche. Wie eine kleine Kolonne auf einer Ameisenstraße würden wir drei in ein paar Tagen dort unten von oben aussehen, während wir uns mit unseren Schlittengespannen im Schneckentempo vorwärtsbewegten. Ob man uns von hier oben erkennen wird, während wir da unten über das Eis laufen?
Manchmal blitzte das südseeblaue Gletschereis aus dem Weiß hervor. Dieses Blau, das mich an Unterwasseraufnahmen erinnerte. Dann tauchte die Küste auf, die Gletschermassen wurden kleiner und schmiegten sich an die Berge an der Ostküste. Von oben betrachtet wirkten diese Formen wie die großen Hautfalten eines weisen alten Menschen, der schon alles gesehen hat. Am oberen Rand des Bullauges erschien das graublaue Nordmeer. Ich zückte meine Kamera, um das abstrakte Bild kurz festzuhalten, doch schon schob sich eine Nebelbank dazwischen.
Eine Lautsprecherstimme riss mich aus meinen Gedanken, erst auf Grönländisch, dann Dänisch, schließlich Englisch: Aufgrund schlechter Sicht können wir nicht wie geplant in Kulusuk landen, wir müssen daher leider umkehren und zurück nach Nuuk fliegen.
Ruckartig drehte ich mich zu Aenne um, die zwei Reihen hinter mir saß. Hatte ich das gerade richtig verstanden: Wir würden zurückfliegen? Der junge Grönländer neben mir lächelte sanft. Man müsse sich hier den Gegebenheiten der Natur anpassen, sagte er laut auf Englisch mit nordischem Akzent. Er müsse zur Arbeit an die Ostküste und seinen Einsatz eben um ein, zwei Tage verschieben. Er zuckte die Achseln. Es gibt keinen Grund, sich über die Launen der Natur aufzuregen – man kann sie ja doch nicht ändern.
Ich versuchte mich dem hinzugeben, was war, versuchte zu akzeptieren – und stand nach zweieinhalb Stunden Flug dennoch komplett gestresst am Flughafen in Nuuk. Das Personal der Fluglinie empfing uns freundlich, drückte uns mit nordischer Gelassenheit Gutscheine für Hotel, Restaurant und Taxi in die Hand.
Am nächsten Tag brachte uns der Flieger über das Inlandeis nach Kulusuk an der Ostküste. Sie ist viel weniger besiedelt als die Westküste mit Nuuk und der Diskobucht. Früher war Kulusuk das größte Dorf, heute wohnen dort etwas mehr als 100 Menschen. Der kleine Flugplatz abseits der Siedlung ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Auf dem kargen Flugfeld ist wenig von der Bedeutsamkeit des Ortes zu erkennen. Ich lief durch tauenden Schnee und ahnte nur etwas von der rauen wilden Natur des weiten Landes. Im Hintergrund landeten kleine Flugzeuge und Hubschrauber starteten. Im Flughafengebäude servierte uns eine Grönländerin Würstchen und belegte Brote, weder Kaffeehauskette noch Fastfood in Sichtweite.
Wir stiegen in einen Helikopter, der wie ein Linienbus verkehrt, und flogen nach Tasiilaq. Im Sommer, wenn das Meer eisfrei ist, hätten wir auch ein Boot nehmen können, das uns die kurze Strecke von 21 Kilometern über den Fjord bringen würde.
Jede Helikopterminute kostet irre viel Geld. Logistik und Abfertigung sind auf dem Landeplatz deshalb äußerst effizient organisiert. Die neun Plätze in der roten Maschine füllten sich schnell. Die grönländischen Passagiere waren entspannt und stiegen wie in einen Bus ein, der sie zur Arbeit bringt. Während ich noch draußen stand und mich wunderte, in welchen Klappen und Luken des Helis unser Gepäck verstaut wurde, wirbelte mir schon die kalte Luft um die Ohren, der Windzug zeigte an, dass es gleich losgehen sollte, und die große Hand des Piloten schob mich in die Maschine.
Aenne saß neben mir und hatte den Gehörschutz aufgesetzt, der uns alle wie Micky Maus aussehen ließ. Die große Schiebetür schloss sich mit einem lauten Knall, dann setzte ein unvorstellbares Getöse ein und die Rotorblätter bewegten sich schneller. Der Hubschrauber hob vom Boden ab, drehte eine Viertelrunde und flog dann wie eine behäbige Hummel Richtung Südosten. Ich sah auf das Inlandeis, wie es sich von der Küste nach Westen ausdehnt. Mit meiner Kamera fing ich Luftaufnahmen vom treibenden Meereis ein. Gletscherspalten, blau, weiß und grau – abstrakte Kunst und raue Natur zugleich.
Dann ging der Helikopter schon wieder in den Sinkflug über. Neben einem Fjord liegt der Heliport von Tasiilaq. In der siebtgrößten Siedlung Grönlands leben heute 2000 Menschen und die bunten Holzhäuser, die sich zwischen den Felsen verteilen, sind leicht zu überschauen.
Vorzeichen
Danger! Ice/Polar Bears!
Please do not leave town without talking to staff!
Seit einigen Tagen sichten Einheimische und Touristen immer wieder einen Eisbären, der sich durch die Straßen Tasiilaqs bewegt. Auf dem Esstisch des Red House liegen dicke Platzpatronen einsatzbereit, gleich neben der Waffenkammer. An der Eingangstür des Red House hängt das Schild mit den warnenden Worten. Die Eisbärengefahr ist an der Ostküste Grönlands am größten. Mads, Aenne und ich werden daher auf der Querung abwechselnd ein Gewehr über der Schulter tragen.
Insgesamt zwölf große Kisten hatten wir drei Monate zuvor in Deutschland aufgegeben und nach Grönland versendet. Wir schleppen sie jetzt auf die Terrasse des Red House und inspizieren sie. Alle Seiten sind noch sorgfältig zugeklebt und der Inhalt, ein Großteil unserer Expeditionsausrüstung und Verpflegung, ist unversehrt. Noch einmal fasse ich jeden Gegenstand an, jedes Essenspaket und überlege, ob es genug Kalorien hat und ob ich das sechste Paar Handschuhe wirklich benötige oder es doch nur überflüssiger Ballast ist.
Robert Peroni schaut uns beim Packen über die Schulter und lädt uns zu einem Abendessen mit italienischem Schinken und grönländischem Fisch in die kleine Hütte ein. Er gibt uns wichtige Hinweise zur Route. Mit der Ruhe eines sehr erfahrenen Polargängers erklärt er uns, dass wir bis auf 1.200 Metern in nordwestliche Richtung aufsteigen und uns dann erst Richtung Westen wenden sollten. Das sei wichtig, da wir sonst in „übles“ Gelände geraten würden. Ich male mir ein Labyrinth aus Gletscherspalten aus. Neben Eisbären und Stürmen sind sie eine der größten Gefahren auf unserer Tour, denn sie lauern unter dem Schnee. Oft ist die Schneebrücke darüber dick genug, um unser Gewicht und das der Schlitten zu tragen. Manchmal aber liegt nur eine dünne Schneedecke über der unsichtbaren Spalte. Selbst erfahrene Abenteurer sind so schon in den Tod gestürzt.
Ein älterer Herr, der sich als Ernst Klinger vorstellt, gesellt sich zu unserer Packstation. Er nickt bedächtig. In seinen Augen liegen Polargeschichten verborgen. Er sei in den 1990er-Jahren 40 Tage lang auf derselben Route unterwegs gewesen, die wir nun planten, sagt er. Er erzählt vom tagelangen Ausharren im Sturm, gleich zu Beginn der Tour, bis sie endlich die fast 600 Kilometer auf sich nehmen konnten. Jetzt möchte er seiner Enkelin Grönland zeigen.
Dann legt er mir eine Hand auf den Rücken und zeigt in die Ferne. Über den Dächern der bunten Holzhäuser Tasiilaqs tanzt ein grellgrüner Wirbel, er steuert auf die Bucht zu. Das Wasser im Fjord ist gefroren und am anderen Ufer ragen spitze Bergketten gen Himmel, um die sich weitere Nordlichter schlängeln. Es sind zaghafte Lichtstreifen am Horizont, doch sie werden intensiver und tanzen immer wilder. Ich zeige Mads und Aenne die bunten Lichter, wir halten inne und staunen.
Ob das ein gutes Zeichen ist?, frage ich mich. Ich erinnere mich an die verschiedenen Momente, in denen ich Lady Aurora schon tanzen sah: in Nordschweden, Norwegen, Kanada, an meine ersten Nordlichter auf Island. Sie lösen in mir eine innere Unruhe und Ehrfurcht vor der Kraft der Natur aus. Jeder und jede deutet sie anders und doch kann sich niemand ihrer Faszination entziehen. Eine Samin in Norwegen erzählte mir mal, dass manche Menschen ihrer Kultur lieber im Haus blieben, wenn nachts Polarlichter am Himmel erschienen.
Zahlreiche Mythen ranken sich um das Farbspiel am Himmel. Einer nordischen Legende zufolge sind die Polarlichter der Atem gefallener Soldaten. In anderen Erzählungen ist das grüne Lichtspiel die Asenbrücke, ein schwingender Bogen, über den die verstorbenen Wikingerkrieger nach Walhalla gelangen. Wiederum einer finnischen Sage nach löst ein Feuerfuchs das Farbspiel am Himmel aus: Er rennt so schnell, dass er mit seinem Schweif Schneeflocken aufwirbelt, in denen sich das Mondlicht spiegelt.
Manche Grönländer:innen sehen in dem grünen Licht ihre verstorbenen Kinder tanzen, während die grönländischen Inuit glauben, dass die Verstorbenen im Himmel mit einem Walrossschädel Fußball spielen. Man solle aufpassen, dass man den Schädel nicht an den Kopf bekomme, wenn man die Nordlichter bestaune. Hier in Tasiilaq auf der Terrasse unter freiem Himmel würde mich ein solcher Schädel wie ein Schlag treffen und ich könnte die Expedition nicht antreten.
Die stärkste Verbindung habe ich dank meiner vielen Reisen nach Lappland zu den samischen Ureinwohner:innen Nordskandinaviens. Im Gegensatz zum Wikingervolk respektieren und fürchten sie die Nordlichter, weil sie sie für die Seelen der Verstorbenen halten – wie die Grönländer:innen. Ich sollte also besser nicht pfeifen, winken oder die Lichter auf mich aufmerksam machen! Sie könnten nach mir greifen und mich in den Himmel entführen.
Plötzlich beugt sich der alte Mann zu mir, reißt mich aus meinen Gedanken und sagt gedankenverloren: „Das Eis macht etwas mit einem.“ Dann dreht er sich um und verschwindet ins Red House, wo seine Enkelin spielt. Mir fährt ein kalter Schauer über den Rücken. Seine Worte hallen in mir wider und ich lege die letzten Gegenstände in eine der grünen Pulkataschen … grün wie die Nordlichter.
Am Abend male ich die Wettergöttin Asiaq ganz vorn in mein Tourtagebuch. Sie bläst einen kräftigen Wind, der die Welt verwirbelt und verzaubert.
Vergessen sind nun all die Mühen der Vorbereitungsphase, die anstrengenden Trainingswochen und schließlich der schwere Abschied von meiner Familie. Der Polarvirus, der mich 2015 im Potsdamer Theaterviertel erfasst hatte, überfällt mich wieder mit voller Kraft.
Das Inlandeis liegt wie ein riesiger weißer Raum, wie ein unbeschriebenes Blatt vor uns. Dort werde ich dem Schnee und Eis, meinen Elementen, in der ihnen größtmöglichen Unmittelbarkeit und Dimension begegnen. Rund einen Monat haben wir für die Durchquerung eingeplant. In dem großen Nichts gelten die Regeln der Natur – wir können uns nur anpassen und hoffen, dass sie gnädig mit uns ist, die Eisbären weit genug von uns fernhält, die Stürme an unseren Zelten zwar zerren, aber sie nicht davonwehen werden, die Eiskanten unsere Schlitten und Skier nicht brechen und die Gletscherspalten uns nicht verschlucken werden. Wenn der weiße Raum uns am anderen Ende wieder in die von Menschen beherrschte Welt entlässt, wer werden wir dann sein? Diese Erfahrung wird uns für immer verändern, auch deshalb bin ich hier.
Aus Matildas Kalender:
„Let’s get this party started!“
Tag 1: Endlich auf dem Eis
Freitag, 14.04.2023
Tageskilometer: 4,1 km
Dauer: 2 h
Vor uns liegende Strecke: 544,1 km
Temperatur: 4 °C
Breitengrad: 65.609675, Längengrad: -38.856520
Der Helikopter hebt mit einem lauten Rattern der Rotoren vom Boden ab, verwirbelt den Schnee, dreht sich in der Luft scheinbar schwerelos und fliegt über diese wunderschöne weiße Landschaft hinweg zurück Richtung Isortoq. Mit ihm fliegen rund 5.500 Euro davon, so viel hat uns der Flug gekostet – keine leichte Entscheidung.
Ich atme tief und lange ein und langsam wieder aus. Jetzt ist es real, ich mache das wirklich. Eine Grönlandüberquerung mit zwei Menschen, die ich über Facebook kennengelernt habe. Seit meinem ersten Mausklick auf Mads Anzeige sind gerade einmal zwei Jahre vergangen. Jetzt stehen wir zu dritt auf Grönlands Inlandeis, mit dicken Stiefeln an den Füßen, eingehüllt in Schichten von Kleidung gegen Kälte und Wind, die Augen vor dem gleißenden Weiß geschützt durch Sonnenbrillen. 550 Kilometer wollen wir zusammen bestreiten, rund einen Monat lang werde ich Aenne und Mads mein Leben anvertrauen und sie mir ihres. Neben uns leuchten unsere orangefarbenen Pulkas wie kleine Boote auf dem Schnee. Gut sortiert haben wir alles Nötige auf sie geladen, vom Eisbärenzaun über Kocher, Brennstoff und Nahrung, über Satellitentelefon bis hin zu Garn und Nähnadeln zum Stopfen der Kleidung. Der Helikopter hat uns sechs Kilometer nördlich von Isortoq abgesetzt, einer winzigen Siedlung mit gerade einmal 63 Seelen. Sechs Kilometer entfernt vom Ende der Welt. Ein Katzensprung, denken die nichtsahnenden Mitteleuropäer:innen. Aber die Maßstäbe sind in Grönland anders, denn für den vermeintlichen Katzensprung hätten wir zwei Tage gebraucht. Zwei Tage, in denen wir unsere Pulkas und das Gepäck über das Geröll hätten hieven und schleppen müssen. Unsere Expedition hätte mit einem enormen Kraftakt begonnen, bevor wir überhaupt auf dem Eis gewesen wären. Der Flug ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Von mir aus hätten wir uns auch noch ein paar Kilometer weiter aufs Eis fliegen lassen können, wenn wir schon diesen Exklusivflug buchen. Doch auch die Polargänger:innen und Extremsportler:innen haben ihre eigenen Maßstäbe: Nur wer Grönland von Eisrand zu Eisrand überquert, darf von einer tatsächlichen Überquerung sprechen, erklärte mir Mads.
Über seiner Schulter hängt jetzt das Gewehr, das wir uns bei einem Expeditionsausrüster in Tasiilaq am Vormittag vor dem Abflug geliehen haben. Die vor uns liegende, scheinbar endlos ansteigende Schneefläche reflektiert die Mittagssonne – ein grelles Weiß, das die Augen nur mit Sonnenbrille ertragen. Einige Meter weiter, von ein paar Felsen umgeben, steht eine halbverfallene Holzhütte mit heruntergekrachtem Dach. Das muss „die Grillhütte“ sein, von der ich in Berichten und Büchern anderer Grönlandreisender gelesen habe. Viele Expeditionen haben sie schon zum Start- oder Endpunkt ihrer Reise gewählt. Für mich ist das ein surrealer Moment. Es gibt nur wenige markante Punkte bei einer Grönlanddurchquerung, denn die Gletscher wandern und die Naturkräfte formen neue Verwehungen, spalten das Eis, türmen neue Schneeberge auf. Die Landschaft verändert sich unaufhörlich. Das hier ist einer der wenigen Orte, von denen ich sicher weiß: Hier waren meine Vorbilder, hier waren Birgit Lutz, Ernst Klinger, den ich im Red House traf, und andere vor mir. Sie begannen ihre Abenteuer hier oder ließen sich abholen, wenn sie von Westen kamen. Sie haben den Blick auf das strahlend weiße Meereis genauso genossen wie ich jetzt, auf den weißen, weißen Schnee, auf das weit entfernte Meer und in die verzweigten Fjorde mit ihren blau schimmernden Eisschollen, von denen manche aufgekräuselte Ränder haben wie frisch gebackene Pfannkuchen – das daher so passend genannte Pfannkucheneis. Als ich auf die Hütte zugehen will, ruft Mads mir zu: „Gewehr nicht vergessen!“
Mit dem Großkaliber um die Schultern und der Eisbärengefahr wieder im Bewusstsein stapfe ich jetzt vorsichtig durch den Schnee, hin zu diesem geschichtsträchtigen Ort, versuche aufzuschnappen, was von meinen Helden noch in der Luft hängen könnte. Dann bewegt sich in der Ferne plötzlich etwas. Zwischen dem Schnee und den Felsbrocken. Ich bleibe stehen, schaue konzentriert in die Richtung und sehe eine Silhouette. Mein Herz pocht schneller. Zügig gehe ich zu Aenne und Mads zurück und versuche, dabei möglichst gelassen zu wirken. Aus der Pulka greife ich mir schnell das Fernglas. Ich stelle es scharf und ein weißgelbliches Fell hebt sich im deutlichen Kontrast zu Schnee und Eis ab. Ein Eisbär. Er bewegt sich. Wie weit können Eisbären sehen? Riechen können sie extrem gut, besser als Hunde, so nimmt man in der Forschung an, besser als jedes andere Säugetier. Wenn ich ihn schon sehen kann, wird er uns bereits gerochen haben. Bewegt er sich auf uns zu oder von uns weg? Wie merkwürdig, ich kann das nicht erkennen. Wie nachts in Potsdam. Wenn auf dem nur schwach beleuchteten Gehweg einige Meter vor mir jemand läuft – und im ersten Moment nicht zu erkennen ist, ob die Person sich auf mich zu oder von mir weg bewegt. Es dauert ein bisschen, bis das Auge sich auf Bewegung in der Dunkelheit eingestellt hat und sie einschätzen kann. Das grelle Licht hier scheint einen ähnlichen Effekt zu haben. Aber auch nach ein paar Sekunden kann ich nicht erkennen, in welche Richtung der Eisbär geht. Ich reiche Aenne das Fernglas: „Schau mal … Ist das da drüben ein Eisbär?“ Auch Mads späht jetzt in Richtung Nordwesten. „Da ist was“, kommentiert er. Abwechselnd schauen wir durch das Glas und beratschlagen uns. Was sollen wir tun? Direkt auf einen Eisbären zulaufen, wie es unsere Route uns vorgibt? Keine gute Idee. Abwarten, bis wir wissen, was der Eisbär vorhat