Die eiserne Hand - Peter W. Klein - E-Book

Die eiserne Hand E-Book

Peter W. Klein

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Beschreibung

Ein Rentner wird erwürgt in seiner Wohnung aufgefunden. Ein Mordmotiv ist nicht erkennbar und die Polizei steht vor einem Rätsel, denn das Opfer weist die Würgemale von nur einer Hand auf - und die hat sechs Finger.Normal wären die Abdrücke von zwei Händen oder einer Hand mit fünf Fingern. Zwei Journalisten wollen dieses Rätsel lösen, ohne zu ahnen auf welche wechselhafte Sache sie sich da eingelassen haben. Trotz allerlei irrwitziger und kurioser Situationen und Begegnungen mit seltsamen Menschen geben sie nicht auf - bis ein zweiter Mord geschieht...

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Peter W. Klein

Die eiserne Hand

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

Impressum neobooks

Inhalt

KAPITEL 1

Ich bevorzuge ja eigentlich farbige Wohnungen. Weiße Wände erinnern mich immer an Krankenhauszimmer und an meine Exfrau, die alles blass und fade wollte. Aber jetzt, am Morgen nach dem Aufstehen, war mir meine Single-Wohnung doch zu bunt. Die roten Blutspuren waren rein optisch gesehen zu viel des Guten.

Da habe ich mühevoll nach meiner Ehescheidung das Wohnzimmer mit den Farben `Lachs´und `Terracotta´ gestrichen, fein abgestimmt auf `Physalis´ im Flur. Und jetzt war der untere Bereich der Wände blutverschmiert, von den Möbeln ganz abgesehen.

Auf dem Deckel der alten bemalten Bauerntruhe hatte sich die künstlerisch gestaltete Sonnenblume unter einem Blutklecks versteckt, als Blume kaum noch erkennbar. Im Bücherregal war der Titel von einem Luis Trenker Antiquariat blutbesudelt – statt `Bergferien im Sommer´ stand da jetzt `...rien...omm´. Und meine handgeschnitzte und mühsam aus Indien mitgeschleppte Buddha Figur hatte ebenfalls den roten Lebenssaft im hölzernen Antlitz – das sah aus als hätte sie Nasenbluten.

Der Flokati am Boden bestätigte mir durch die Blutflecken einmal mehr, dass Rot und Weiß eine hübsche Farbkombination ist, aber diesen altgedienten Faserteppich wollte ich ohnehin schon seit langem entsorgen, er war einfach nicht mehr zeitgemäß.

Ein befreiender Seufzer blähte meine Backen auf, als ich den Blick auf die Couchgarnitur richtete. Die blutige Schleifspur darauf bestätigte, dass die kaffeebraune Sitzgruppe `Kuba´ im Lederlook doch kein Fehlkauf war. Das wasserfeste Kunstleder lies sich später bestens abwischen.

Doch zu meiner blitzschnellen ästhetischen Bestandsaufnahme gesellte sich ebenso rasant ein Schock, verbunden mit der allumfassenden Frage: Woher, verdammt noch mal, stammt das viele Blut? Etwas verwirrt fuhr ich mir mit den Fingern durch meine zwar noch vollen aber leicht grau melierten Haare.

Sofort fiel mir `X-Man´ein.

`X-Man´ war mein Kater.

Den Namen bekam er, weil die Natur ihm etwas x-förmige Hinterläufe mitgegeben hatte. Ansonsten war er ein schönes Tier mit seiner schwarz-weiß Färbung.

Am Abend zuvor kam `X-Man´ angeschlichen, holte sich seine Streicheleinheiten, wobei mir auffiel, dass sein Schwanz am Ansatz einen leichten Knick mit einer eher harmlosen leicht blutenden Wunde hatte. Da mein Kater immer wieder mal mit einer kleineren Verletzung nach Hause kam, machte ich mir keine große Gedanken darüber. Ich nahm an, dass er in eine Rauferei mit einem Hund geraten war oder einen Schlag mit einem Knüppel einstecken musste. Vielleicht hatte ihn auch ein Auto angefahren

„X-Man“ rief ich und raste zum Katzenbett in der hinteren Ecke des Wohnzimmers. Da lag friedlich mein Kater - und hatte keinen Schwanz mehr!

Nur noch ein blutiger Stummel leuchtete mir entgegen.

Ich brauchte eine Weile um zu verstehen was da passiert war. Durch die kleine Verletzung, die doch wohl etwas größer war als ich anfangs dachte, wurden wohl auch einige Nervenstränge beschädigt und dadurch empfand mein Stubentiger kein Gefühl mehr in seinem Schwanz und hat diesen nun vermeintlichen Fremdkörper über Nacht einfach aufgefressen. Frisches Fleisch

und Blut – für das Tier ein Leckerbissen.

Fassungslos stand ich da und blickte mich um.

Den eigenen Schwanz gefressen!

Nichts war übrig geblieben, keine Haare, kein Knorpel – nichts! Außer dem Blut natürlich.

Verstört fragte ich mich, was ich zuerst tun sollte. Blut weg putzen? Kaffee aufsetzen? Mit `X-Man´ zum Tierarzt fahren?

Ich entschied mich für den Kaffee, da der Kater sich offensichtlich nicht quälte und es für den Veterinär ohnehin zu früh war. Der machte erst in zwei Stunden seine Praxis auf.

Also legte ich ein Kaffeepad in meinen Senseo Automat, füllte Wasser auf und verfolgte dann die Blutspur im Wohnzimmer. So konnte ich erstmals sehen welche Wanderung der Kater in den Nachtstunden vollzog. Das war erstaunlich.

Jetzt lag er friedlich da und knabberte an seinem Schwanzstummel als wäre es ein Leckerli.

Da ich meinen Lebensunterhalt als freier Autor und Journalist verdiene, unter anderem auch für ein kleines aber gut verkauftes Magazin mit dem schlichten Namen `Der Kriminalist` schreibe, hatte ich spontan den Einfall, aus der Katzengeschichte eine kleine Story zu machen.

Nach kurzer Überlegung verwarf ich aber diese Idee – wer will schon das Drama einer schwanzlosen Katze lesen, auch wenn eindeutig Kannibalismus an sich selbst der Aufmacher wäre. In Fachkreisen nennt man das auch `Autophagie`.

Nebenher schreibe ich noch (unter Pseudonym) sogenannte Groschenheftchen. Das beschert mir einen netten Nebenverdienst und man muss dabei nicht sonderlich auf Stil und literarische Finesse achten. Aber auch da wusste ich im Moment nicht, wo der Katzenhorror unterzubringen wäre.`Undercoveragent sucht Miezenschwanz´ oder `Dem Dachhasen auf der Spur´ –

Nein! Da macht mein schriftstellerisches Ego nicht mehr mit.

Das Kaffeewasser war heiß. Ich musterte die Tassen in der Vitrine und wollte heute bewusst nicht die sonst übliche Rote nehmen, sondern griff nach einer Blauen mit der Aufschrift `Internationales Guggenmusigg Treffen´.

Die war einmal eine Glühweintasse beim Faschingsumzug.

Der Kaffeeautomat wurde ausgeschaltet und dann fing die Putzaktion an.

`X-Man´ schaute interessiert zu, als wäre nichts geschehen. Um das Ganze etwas lockerer zu gestalten legte ich die CD `Beatles Nr.1 Hits´ ein und schaute noch einmal ob die Kaffeemaschine wirklich ausgeschaltet war.

Die Musik von `Cats´ wäre wohl passender gewesen, aber die hatte ich nicht. `Katzeklo´ von Helge Schneider fehlte auch in meiner Sammlung.

In der Küche lies ich Wasser in den Putzeimer laufen (der übrigens grün war), tat einen Schuss Allzweckreiniger hinzu und fing bei der alten Truhe an zu wischen, nachdem ein erneuter Blick auf die Kaffeemaschine mir bestätigte, dass sie ausgeschaltet war. Gleichzeitig wurde mir wieder einmal bewusst, dass mich meine Kontrollsucht wieder im Griff hatte und ich endlich etwas dagegen tun sollte.

Nicht ständig, aber immer wieder hatte ich den inneren Drang etwas mehrfach zu kontrollieren. Herdplatten, Aschenbecher, abgeschlossene Türen – und eben auch den Kaffeeautomaten.

Das war ein psychische Störung, im Medizinischen `Obsessive Compulsive Disorder´ genannt, oder kurz gesagt `OCD´.

Erfreulich war, dass bei mir diese Zwangsstörung nur gering ausgeprägt auftrat. Andere waschen sich hundert Mal am Tag die Hände bis sich die Haut löst. Ich schaue nur dreimal nach ob der Backofen auf Null steht oder die Haustüre abgeschlossen ist. Das ist nicht so schlimm. Und auch nicht immer. Trotzdem litt ich unter diesem Zwang.

Nun denn, nach einer etwa zweistündigen Putzorgie war mein Wohnzimmer bis auf wenige kleine Fleckchen wieder blutfrei. Ein paar mal dachte ich daran, dass mein Leben als Single auch Nachteile hat, speziell im Putzbereich, aber eine feste Beziehung reizte mich im Moment überhaupt nicht.

Die Fahrt zum Tierarzt war das Nächste und `X-Man´ bekam dort einen Plastikkragen verpasst, damit er nicht mehr mit dem Maul an seinem Schwanzstummel ran kam.

Mehr könnte er nicht tun, meinte der Veterinär und verabreichte dem armen Tier noch eine Antibiotika-Spritze.

Der Verband am Hintern der Katze sah recht witzig aus und ich konnte mir trotz Mitleid mit dem Tier ein Grinsen nicht verkneifen.

Auf der Heimfahrt vom Tierarzt regnete es heftig .An Tagen die so anfangen regnet es immer.

Wieder zu Hause angekommen klingelte das Telefon. Kurt war dran.

Kurt war etwa 30 Jahre alt und ebenfalls freier Journalist. Er bevorzugte aber die Bezeichnung `Reporter´.

Wir tauschten oft und gerne Informationen aus und da ich ja mit seinen Lokalzeitungen nichts zu tun hatte, war ich auch kein Konkurrent für ihn.

Kurt war immer über alles bestens unterrichtet. Woher er aber sein Wissen bezog, hat er mir nie gesagt. „Geheimquellen“ nannte er das.Wir verstanden uns gut, waren aber nicht unbedingt dicke Freunde.

„Hallo Oldie, ich hab ne Leiche für dein Blättchen“ legte Kurt los um gleich danach eine Kunstpause einzulegen, damit diese Neuigkeit auf mich wirken konnte.

Er wusste genau, dass ich es nicht mochte wenn er mich „Oldie“ nannte, sei es weil ich auf das Rentenalter zuging, sei es weil ich Beatles und Elvis Fan war. Ebenso ärgerte es mich, wenn er mein mehr oder weniger seriöses Kriminalmagazin herablassend als „Blättchen“ bezeichnete.

Aber unter `Leiche´ verstanden wir einen Mord – also schwieg ich und war gespannt.

„Ein alter Mann. In einem etwas abgelegenen Häuschen in de Nähe des `Studentenwäldle` – Kurt räusperte sich, „Vermutlich Mord, mehr weiß ich im Moment auch nicht. Aber schau mal vorbei, die Kripo ist noch da“.

„Bist du auch dort?“ fragte ich interessiert.

„Klar doch, was denkst du!“

„OK – bis gleich“.

Ich schaltete das kabellose Telefon aus und dachte gleichzeitig an das Sauwetter, in das ich jetzt schon wieder hinaus musste. Aber Job ist Job. Und wenn Kurt anrief, dann hatte das schon seinen guten Grund.

Auch war der Tatort hier in Schwäbisch Gmünd, meiner Heimatstadt. Auf der anderen Seite zwar, im Westen, aber doch nicht so weit weg von meiner Wohnung im Zentrum. Warum das `Studentenwäldle`so hieß habe ich nie herausbekommen. Aber dieser inzwischen zugebaute kleine Hain lag in der Nähe meines Elternhauses am Hans-Scherr-Weg. Kindheitserinnerungen tauchten auf. Von da aus ging es der Goethestraße entlang in die Schule. Erst die Klösterle-Schule, dann das Parlergymnasium. Ich verdrängte die nostalgischen Gedanken – Kurt wartete auf mich. Also nichts wie hin.

Als ich ankam ließ der Regen etwas nach, aber es war immer noch nass, trist und unwirtlich.

Auf Anhieb fand ich den Ort des Verbrechens ohne lang suchen zu müssen. Das Polizeiaufgebot war ja nicht zu übersehen. Es war ein kleines Einfamilienhäuschen, in langweiligen Grau gestrichen, was aber durch einen sehr gepflegten Vorgarten ausgeglichen wurde. Besonders die vielfarbigen Gladiolen waren eine Zierde.

Kurt stand da, Schreibblock und Kugelschreiber in den Händen und einer alten Hasselblad-Kamera um den Hals gehängt.

Er tat sich gerne wichtig, indem er ständig jemanden interviewte, ob das jetzt der Nachbar war oder ein zufällig vorbei laufender Passant.

Mein Kollege hob die Hand mit dem Kugelschreiber und winkte mir zu.

Seine cremefarbige Outdoorweste stand im krassen Gegensatz zu der knallroten Kappe die goldfarben mit `Firestone´ bestickt war. Die hatte er einmal in einer Autowerkstatt beim Reifenwechsel geschenkt bekommen. Vielleicht störte es mich nur, weil ich für heute keinen Bedarf an roter Farbe mehr hatte.

„Hast du schon mit Freddy geredet?“ wollte ich von Kurt wissen. Freddy war der Kripochef und hieß eigentlich Fred Österle. Aber wir nannten ihn nur Freddy, auch weil er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem früheren Schlagersänger Freddy Quinn hatte.

Kurt sah mich verwundert und etwas entrüstet an.

„Natürlich hab ich schon mit Freddy geredet, was glaubst du denn – aber viel Infos gab es noch nicht“.

Er blätterte in seinem Notizblock.

„Der Name des Toten ist Jan Ackermann, gebürtiger Hamburger, gelernter Segelmacher, Rentner, Witwer, allein lebend. Er hat eine Hand amputiert, das war wohl eine Verwundung aus dem 2.Weltkrieg.

Ich hob die Augenbrauen. „Kriegsverletzung?. 2.Weltkrieg?“

„Ja“ murmelte Kurt vor sich hin, „der arme Mann ist, oder besser war 87 Jahre alt“.

Ich war schockiert.

„Wer bringt einen 87 Jahre alten Rentner um und weswegen?“

Kurt zuckte nur mit den Schultern und fügte noch hinzu, dass der Tote von der Tochter gefunden wurde, die ihn besuchen wollte – was sie wohl zwei- bis dreimal pro Woche tat.

„Einbruch?“ Meine Frage kam spontan.

„Nein – anscheinend fehlt nichts“.

Wir beide sahen uns an und grübelten, wurden aber durch den Ruf „bitte Platz machen, aus dem Weg“ in unserer sinnigen Minute unterbrochen. Kurt und ich standen ja noch vor der Haustüre, da man uns den Zutritt zur Wohnung verständlicher Weise verweigerte.

Sie brachten Herrn Ackermann.

In einem schlichten Metallsarg.

Von vier Männern in weißen Vollplastik-Overalls getragen.

In Richtung Leichenwagen, der inzwischen vor dem Eingang stand.

Nun war ja vor dem Haus alles noch von dem Regen feucht und es nieselte weiterhin. Und wie es der Teufel will entglitt einem der Träger der nasse Sarg und der Kollege an seiner Seite konnte ihn auch nicht mehr halten.So fiel eine Schmalseite des Sarges auf den Boden, relativ langsam, beinahe sanft.

„Kleiner Betriebsunfall“ flüsterte ich Kurt ins Ohr, während der Sargdeckel beiseite rutschte und den Blick auf Herrn Ackermann frei gab. Eine Glatze war zu sehen, Marmor weiß, mit einer tiefen Platzwunde über der Schädelmitte, die erstaunlich wenig Blut aufwies.

Als ich den Kopf und das Gesicht des Toten sah, fuhr mir ein Schauer über den Rücken und ich blickte geschockt nach Kurt.

„Ich kenne diesen Mann“ rief ich lauter als gewollt, „ich kenne diesen Mann – das ist Kupferdächle!“

Im Schwäbischen Dialekt wird ein kleines Dach als `Dächle` bezeichnet.

Kurt sah mich entgeistert an und hielt mich wohl für völlig übergeschnappt.

KAPITEL 2

Es war nur ein paar Jahre nach dem so schrecklichen

2.Weltkrieg.

In der Schule (die damals noch Volksschule hieß) bekamen wir Kinder täglich einen Löffel Lebertran verabreicht, um einer Mangel- und Unterernährung vorzubeugen. Es gab ja noch nicht viel Lebensmittel, schon gar nicht viel Verschiedenes. Etwas Abwechslung auf dem Speiseplan zu Hause hatten wir eher dem Einfallsreichtum der Mutter zu verdanken, als dem Angebot im sogenannten `Tante Emma Laden´.

Der Lebertran bereicherte auch unseren noch geringen Wortschatz. Ausdrücke wie „Kotzsuppe“ oder „Schweinepisse“ gingen uns flott über die Lippen.

Zum schlucken von diesem aus Fischleber erzeugten ekelhaften gelblich-braunen Öl wurden wir gezwungen. Eine andere Scheußlichkeit nahmen wir als rauchige Substanz freiwillig ein: Holunderäste, die wir auf die Länge einer Zigarette schnitten, trockneten und dank ihrer feinen Röhrchenstruktur

auch als solche benützten.

Heutzutage wäre das eine echte Alternative zu den gehobenen Tabakpreisen – gesünder wäre es allerdings nicht.

Sowenig wir uns um die Gesundheit scherten, sowenig machten wir uns Gedanken darüber, das man die Holunderäste `Judenstrick´ nannte. Keiner wusste woher dieser Ausdruck kam, keiner störte sich an diesem Wort.

Mittwochs war immer vor dem Unterrichtsbeginn ein Schülergottesdienst in der Johanniskirche. Da bekamen wir von zuhause regelmäßig 50 Pfennige mit – für den Klingelbeutel – worin dieser Obolus aber extrem selten landete.

Genauer gesagt: nie!

Pädagogisch völlig unklug war auch die Tatsache, dass zweimal im Jahr auf dem Platz vor der Johanniskirche Kirmes war. Zuckerwatte gegen Klingelbeutel – da brauche ich wohl nicht zu erwähnen wer siegte.

Zum Jahresende wurde das Spendengeld in kleine Silvesterknaller umgesetzt, die allgemein `Judenfürze` genannt wurden.

Jeder bezeichnete sie so, Erwachsene wie auch Kinder. Schon wieder so ein schlimmes Wort, aber niemand klärte uns auf, wer oder was die Juden waren und was ihnen noch vor ein paar Jahren angetan wurde.

Da wir in der Nähe eines kleinen Waldes wohnten, verbrachten wir Jungs viel Zeit in selbigen – auf `Schatzsuche´.

Zum Kriegsende haben viele deutsche Soldaten und auch Zivilisten ihre Nazi- und Kriegsutensilien einfach in den Wald geworfen. Das war eine wahre Fundgrube für uns.

Verrostete Stahlhelme, Bajonette, Teile von Gewehren und Pistolen fanden wir. Modrige Gasmasken, Uniformteile und Hitlerbilder, die uns aber wenig interessierten.

Nachdem ein Junge aus dem nicht weit entfernten Flüchtlingslager durch eine gefundene und explodierte Handgranate schwer verletzt wurde, rührten wir Munition prinzipiell nicht mehr an.

Erwin, ein Klassenkamerad, fand ein Fahrtenmesser der Hitlerjugend. Mit Hakenkreuz drauf und ohne Rost. Das war nicht mehr zu toppen! Höchstens noch mit Orden. Das `Eiserne Kreuz´ zum Beispiel. Aber das hatte keiner von uns.

Noch eine Nachkriegserinnerung blieb: grüne Kerzen.

Alle Familien die Jemanden hatten der noch in Kriegsgefangenschaft war (oder vermisst) stellten an einem bestimmten Tag eine brennende grüne Gedenkkerze ans Fenster. Wir auch. Bei uns war es der Opa der fehlte.

Ich wartete immer darauf, dass unsere Gardinen Feuer fingen, aber das passierte nie. Vater hatte eine geschickte Hand bei der Kerzenpositionierung.

Man sah auch einige Wachslichter in den Fenstern der Nachbarschaft leuchten, nicht viel, aber nicht zu übersehen. Das sah hübsch aus, erklärte jedoch keineswegs warum Opa im Lager war.

Oma murmelte immer was von den „bösen Russen“, das war es dann schon. Wenn sie redselig war, fügte sie noch was von „Vergewaltigern“ oder „bolschewistischen Uhren-Dieben“ hinzu – aber an allem waren stets die Russen schuld, sagte die Oma. „Uri – Uri“ hätten die russischen Soldaten laut gerufen und den Deutschen die Armbanduhren abgenommen.

Das war mir eigentlich egal, ich wusste ohnehin nicht, was ein Vergewaltiger oder Bolschewist war. Ebenso wenig erkannte ich den Zusammenhang von Uhren-Dieben und Kriegsgefangenen.

1956 kamen dann die großen Entlassungen der letzten deutschen Soldaten aus den Lagern in Sibirien. Die Anzahl der Kerzen in der Nachbarschaft wurden immer weniger. Tausende von Heimkehrern machten sie nicht mehr notwendig. Unser grünes Lichtlein der Hoffnung brannte noch als Letztes – Opa kam nicht mehr zurück.

Zu dieser Zeit hatten wir Kinder aus unserem Viertel einen Schulweg von etwa einem Kilometer.

Diese Strecke legten wir lässig zurück, auf dem Rücken den klassischen Schulranzen. Wir wollten lieber eine Aktentasche mit Handgriff, aber die Eltern verweigerten dies vehement – Haltungsschaden wurde vorausgesagt, ein böses Rückgrat nebst hässlichem Buckel und schiefer Hüfte.

Der morgendliche Hinweg zur Schule war eher langweilig. Wogegen der Heimweg immer wieder mit einem besonderen Abenteuer gewürzt war: wir begegneten ungefähr zweimal die Woche `Kupferdächle´.

Das war ein Mann in einem schwer schätzbaren Alter, groß und kräftig, von insgesamt beeindruckender Statur. Für uns Kinder zumindest.

Nun hatte dieser Mann auch eine komplette Glatze, zu der sich ein ausgeprägter Bluthochdruck gesellte. Diese Kombination bedingte, dass `Kupferdächle´ einen knallroten Kopf plus feuerfarbener Schädeldecke zur Schau trug. Wir hegten den Verdacht, dass dieser auffällige Kahlkopf täglich poliert wurde. Es bedarf wohl keiner allzu großen Vorstellungskraft, um zu wissen woher der Rotkopf seinen Spottnamen hatte.

Eigentlich wäre das alles ja nicht unbedingt erwähnenswert, wenn nicht dieser Mann vollkommen unwillig auf den oben genannten Namen reagiert hätte.

Riefen wir Kinder übermütig einzeln oder im Chor „Kupferdächle, Kupferdächle“, rannte uns der Hüne mit einem unglaublichen Tempo nach, wobei sich seine Glatze in Richtung Purpur verfärbte..

Und wehe er erwischte einen von uns! Ein paar Schläge waren dem gewiss – mindestens! Das tat weh, denn `Kupferdächle´ hatte rechts eine künstliche Hand. Die sah irgendwie komisch aus, wie ein verformter schwarzer Lederhandschuh. Aber damit schlug er zu. Und in einer solchen Situation war es nicht empfehlenswert der Betroffene zu sein.

Natürlich ärgerten wir diesen für uns gefährlichen Choleriker meistens nur von der anderen Straßenseite aus, Distanz war geboten. Der Fluchtweg musste frei sein!

Und so entstand die `Mutprobe´.

Wer sich von hinten an den glatzköpfigen Mann heran schlich, so nah wie möglich, und dann das provokante Wort rief, musste ein guter Sprinter sein. Aber auch eine nicht zu kleine Portion Mut gehörte dazu.

Es war ein regelrechter Wettkampf geworden und wenn in der Schule geflüstert wurde: „ Der Karl will heute die Dreimetergrenze knacken“, dann war ein aufregender Heimweg gesichert.

Meine Einzelversuche lagen bei etwa fünf Metern Abstand (Schätzwert), wobei ich meine persönliche Bestmarke jedoch nur hin und wieder zu steigern versuchte. Trotz ausgeklügelter Strategie war mir der Risikofaktor dann doch zu hoch. Vor allem nachdem es den Schulfreund Lukas erwischt hatte. Der bekam mächtig Hiebe ab, deswegen stand er auch auf der internen Heldenliste auf Platz eins.

Als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, merkte ich sofort, dass irgendwas nicht stimmte. Meine Mutter sah mich streng an und dies geschah selten. Die in Falten gezogene Stirn, das trommeln mit den Fingern auf der Tischplatte und ein lang gezogenes Durchatmen verhießen nichts Gutes. Dann begann von ihr betont langsam der verbale Angriff.

„Ich habe erfahren, dass du zu der Clique gehörst, die dauernd den Herrn Ackermann provoziert!“

Ich verstand nichts.

„Wer zum Teufel ist Herr Ackermann?“ entgegnete ich schulterzuckend.

„Sag nicht: wer zum Teufel!“.

„Wer ist Herr Ackermann?“

„Das ist der Mann, dem ihr Kupferdächle nachruft!“

„Ach so“ – ich atmete befreit auf, es ging bloß um den Glatzkop.f . Mutter schaute mich immer noch eindringlich an: „Setz dich, ich erzähle dir was“.

Ich setzte mich und war gespannt.

Und so erfuhr ich, dass Herr Ackermann alias Kupferdächle eigentlich aus Hamburg kam und nun bei uns im Süden landete, weil er in seiner Heimatstadt während des Krieges ausgebombt wurde. Im Klartext hieß das: eine fünfhundert Kilo Bombe vernichtete sein Haus und alles Hab und Gut. Er hat in einer Nacht in einem Feuersturm alles verloren.

Nicht nur das!

Er wurde mit einem Dutzend ebenfalls Schutz suchenden Leuten im Luftschutzbunker verschüttet. Eigentlich war es nur ein kleiner ausgebauter Keller, kein richtiger Bunker.

Den Verschüttenden und sich selber rettete er das Leben, weil er mit bloßen Händen einen Weg aus den Trümmern grub. Somit bewahrte er eine Menge Menschen vor einem qualvollen Erstickungstod. Dabei verlor er durch einen großen herabfallenden

Zementbrocken eine Hand, die zerquetscht wurde .Auch eine größere Kopfverletzung zog er sich zu, was ihn nicht hinderte mit üblen Schmerzen und nur einer Hand weiter zu graben.

Ich war höchst erstaunt! Mindestens 12 Menschen das Leben gerettet!

Woher Mutter das wusste sagte sie nicht.

Zaghaft fragte ich „Dann ist ja das Kupferdächle...“

„Sag nicht Kupferdächle!“ fuhr sie wütend dazwischen.

„...dann ist ja der Herr Ackermann ein richtiger Held?“

Mutter nickte bedächtig: „Ja, das ist er und deswegen ist es nicht sehr anständig von euch, wenn ihr diesen tapferen Mann immer so ärgert“.

Jetzt war ich ganz durcheinander. Kupferdächle ein Held! Wer hätte das gedacht!.

Helden sahen für mich anders aus. Jagdflieger oder U-Boot Kapitäne – das waren Helden, so meinte ich. Aber ein Glatzkopf mit Bluthochdruck?

Ich erzählte diese Geschichte auch den anderen Jungs, die ebenfalls nicht schlecht staunten. Langsam aber sicher wuchs der Respekt vor Herrn Ackermann. Wir hatten gelernt, dass die wirklichen Helden nicht unbedingt aussahen wie John Wayne oder Errol Flynn im Kino. Schon gar nicht wie Tarzan.

Irgendwann rief keiner mehr das Wort `Kupferdächle´.

Im Gegenteil.

Wir liefen an Herrn Ackermann vorbei und nickten ihm ein höfliches „Grüß Gott!“ zu. Und unser ehemaliger Feind antwortete freundlich: „Hallo Jungs – schöner Tag heute“. Das sagte er auch wenn es regnete. Etwas seltsam war der Herr Ackermann schon, aber als Lebensretter durfte er das auch sein.

Und wir waren stolz, dass wir einen echten Kriegshelden persönlich kannten.

.

KAPITEL 2

„Was soll das heißen, du kennst diesen Mann?“ Kurt runzelte die Stirn, nahm seine Mütze ab und kratzte sich mit dem Kugelschreiber am Kopf.

„Und die Bedeutung von dem komischen Namen `Kupferdächle` bleibt mir auch verschlossen“. Kurt hatte manchmal eine seltsame Ausdrucksweise.

„Der Name kommt von dem roten Kopf“, ich versuchte eine plausible Erklärung abzugeben, aber Kurt unterbrach mich – wie immer wenn ich etwas mehr wusste wie er.

„Roter Kopf? Welcher rote Kopf? Wie wir eben gesehen haben war der Kopf des alten Mannes totenbleich – im wahrsten Sinne des Wortes!“.

Kurt verdrehte die Augen nach oben.

„Erkläre mir das bitte einmal“.

„Ich gab ein lang gezogenes „Jaaa“ von mir.

„Aber lass uns dazu nen Kaffee trinken, ok?“

Kurt nickte zustimmend, „hier haben wir im Moment ohnehin nichts mehr zu tun“.

Nach kurzer Überlegung schlug ich ein Café am Marktplatz vor, mit dem Auto nur etwa zehn Minuten entfernt.

„Das hat doch erst vor ein paar Tagen aufgemacht – ich war da noch nicht“ meinte Kurt, drehte das Schild seiner roten Kappe völlig unpassend nach hinten.

„Ich auch noch nicht“ war meine Antwort, mehr gebrummt als gesprochen.

„Also bis gleich“.

Wir beide gingen zu unseren Autos, wobei ich mich zum wiederholten mal fragte, wozu Kurt einen Geländewagen brauchte, mit dem er immer angeberisch durch die Stadt fuhr.

Das neue Café in der Fußgängerzone war hübsch eingerichtet, auch die Plätze im Freien sahen einladend aus, jedoch der andauernde Nieselregen ließ uns im Inneren Platz nehmen.

Wir bestellten zwei Kaffee, ich schwarz, Kurt mit Milch.

Ein kurzer Blick in meine Geldbörse beruhigte mich, ich hatte genug Geld bei mir.

Kurt sah mich stirnrunzelnd an :“Zum dritten mal!“

Ich verstand nicht: „Was zum dritten mal?“

„Einmal vor Ackermanns Haus, einmal als wir zum Auto gingen und einmal jetzt – du hast in der letzten halben Stunde drei mal in dein Portemonnaie geschaut ob du genug Geld mit hast“.

Kurts Äußerung machte mich verlegen, denn bislang konnte ich meine Kontrollsucht geheim halten - dachte ich wenigstens. Und in die Geldbörse mehrmals schauen war mir neu, das hatte ich noch nie getan. Ob das eine beginnende Verschlimmerung meiner Manie anzeigte?

Ich war verunsichert. Sollte ich Kurt jetzt sagen, dass ihn das einen Dreck angeht – oder sollte ich ihm meine Kontrollsucht beichten?

Die Entscheidung fiel auf Letzteres.

Also erzählte ich meinem Journalistenkollegen von meiner Zwangsstörung und wie sehr meine Psyche darunter manchmal litt.

Kurt hörte mir sehr aufmerksam zu und bestellte sich noch einen Kaffee indem er unhöflich mit den Fingern schnippte und auf die leere Tasse zeigte.

Dann beugte er sich weit zu mir vor, unsere Nasen berührten sich fast und flüsterte geheimnisvoll: „Reinkarnation!“

Trotz dezentem Knoblauchgeruch mit einem Hauch von Kaffee wich ich nicht zurück, sondern atmete Kurt ebenso ins Gesicht: „Haben wir jetzt Rätselstunde, Herr Schlau Schlau?“

Mein Gesprächspartner lehnte sich wieder zurück.

„Viele unserer Marotten, Eigenheiten oder eben auch psychischen Störungen resultieren auf Erlebnissen und Erfahrungen in einem früheren Leben!“

Kurt sah mich abwartend an, Wahrscheinlich wartete er darauf, dass ich jetzt Beifall klatschen würde ob dieser Erkenntnis.

Ich aber nickte nur, sah ihn provozierend an: „Wenn man daran glaubt!“

Mein Kollege setzte ein viel wissendes Lächeln auf.

„Nö, nö, ein früheres Leben ist nachweisbar, mit nur daran ´glauben` ist es alleine nicht getan“.

„Dann weise mir doch mal nach, was oder wer ich in meinem früheren Leben war!“

Meine Antwort fiel ein wenig arrogant aus, aber Kurts leichte Überheblichkeit nervte mich. Ebenso seine Unart den Kaffee zu schlürfen.

„Ich gebe dir nen guten Rat“, Kurt versuchte jetzt die väterliche Tour, „schau mal im Internet nach Seminaren für Reinkarnationstherapie und mach so was mit. Das wird dich eventuell überzeugen und wenn du dann die Ursache deiner Manie erkennst,die vermutlich in einem früheren Leben liegt, wirst du vielleicht deine Kontrollsucht los – das wäre ja nur ein Versuch! – wenn es nicht klappt hast du auch nichts verloren“.

Ich merkte, dass Kurt jetzt dieses Thema beenden wollte und das war mir auch recht.

Wie bestellt klingelte im richtigen Moment mein Handy. Der Chefredakteur von meinem Kriminalmagazin war dran.

„Schon von dem Rentnermord beim Studentenwäldchen gehört?“ fragte er mich mit seiner heiseren Stimme, ohne Begrüßung und ohne einen Hauch von Freundlichkeit.

Betont gefällig trat ich seiner Unhöflichkeit entgegen: „Guten Tag Herr Redakteur, wie geht’s denn so? Gattin und Kinder gesund und wohlauf?“

„Sparen sie sich ihren Zynismus, der ist jetzt fehl am Platze!“ kam es leicht wütend aus dem Handy.

Ich wurde wieder sachlich: „Natürlich bin ich schon an dem Fall dran, aber ich brauche noch ein paar Informationen von der Polizei bevor ich einen Bericht schreiben kann und – ich kannte den Toten, da sind wir der Konkurrenz um einiges voraus“.

„Gut so, weitermachen!“

Ehe ich noch etwas sagen konnte, legte der Herr Chefredakteur auf und sowenig er mich begrüßt hatte, so wenig verabschiedete er sich. Aber das war mir eigentlich egal. So war er eben.

Kurt blickte zur Bedienung und schnippte wieder mit den Fingern.

„Zum dritten Mal“ sagte ich, „du bestellst jetzt zum dritten mal einen Kaffee hast du das aus deinem vorherigen Leben?“.–

Mein eigener Witz brachte mich zum Kichern, obwohl er ja gar nicht so umwerfend war.

Mein Kollege zog die Augenbrauen hoch, aber seine ausgeprägten Stirnfalten konnte man nur wenig erkennen, da er immer noch diese dämliche rote Kappe aufhatte. Verkehrt herum.

„Jetzt leg mal los“ Kurt wurde merklich ungeduldig, „was hat es mit diesem `Kupferdächle`auf sich?“

„Nun ja“, ich begann zögernd zu erzählen, „das ist oder besser gesagt war so eine Sache aus meiner Kindheit.

Mein Blick prüfte Kurts Aufmerksamkeit und ich unterdrückte den Wunsch ihn mit `Rotkäppchen` anzureden. Und so erzählte ich von Herrn Ackermann, seiner Glatze, dem Bluthochdruck,