Die Elemente des Todes - Axel Petermann - E-Book

Die Elemente des Todes E-Book

Axel Petermann

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Beschreibung

Kein Mitleid, kein Gewissen, keine Beweise: ein packender True-Crime-Thriller über eine hinterhältige Mord-Serie und die Abgründe des Bösen von Profiler Axel Petermann und Autor Claus Cornelius Fischer Tod durch Erwürgen, Tod durch eine Kugel in den Nacken, Tod unter einer Hebebühne: Hauptkommissar Kiefer Larsen ahnt, wer für die Serie von außergewöhnlich brutalen Morden zwischen 1994 und 1996 in Norddeutschland verantwortlich ist. Doch nach welchem Muster gehen die Täter vor und warum? Zwar gibt es Hinweise auf die Verdächtigen, doch keine der Spuren ist eindeutig, kein Beweis stichhaltig. Larsen bleibt nur eines: tief in die Seelen zweier eiskalter, absolut gewissenloser Mörder einzudringen. Als er erkennt, dass sie einen vierten Mord planen, versteht Larsen die sadistischen Fantasien der Mörder. Nun beginnt ein atemloser Wettlauf mit der Zeit. Profiler Axel Petermann und Roman-Autor Claus Cornelius Fischer haben einen packenden Thriller geschaffen – schockierend authentisch und spannend bis zum Schluss. True Crime vom Feinsten! Für die Leser/innen von Michael Tsokos ("Zerschunden", "Zersetzt", "Zerbrochen") und Andreas Gößling ("Wolfswut")

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Claus Cornelius Fischer / Axel Petermann

Die Elemente des Todes

True-Crime-Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Kein Mitleid, kein Gewissen, keine Beweise: ein mitreißender True-Crime-Thriller über eine hinterhältige Mord-Serie und die Abgründe des Bösen

 

Es ist zum Verzweifeln für Hauptkommissar Kiefer Larsen: Er weiß genau, wer für eine Reihe von außergewöhnlich brutalen Morden zwischen 1995 und 2001 in Norddeutschland verantwortlich ist – aber er kann es nicht beweisen. Zwar gibt es Hinweise auf die Freunde Daniel Becker und Moritz Vogel – gut situiert, nach außen hin nette junge Familienväter –, doch keine der Spuren ist eindeutig, kein Beweis stichhaltig. Selbst als Daniel und Moritz schließlich verhaftet werden, kann man ihnen nichts nachweisen. Larsen bleibt nur eines: tief in die Seelen zweier eiskalter, absolut gewissenloser Mörder einzudringen …

 

Für die Leser/innen von Michael Tsokos (»Zerschunden«, »Zersetzt«, »Zerbrochen«)

Inhaltsübersicht

VorwortIch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel
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Nach einer wahren Begebenheit …

 

Zum Schutz der toten Opfer und der unschuldigen Lebenden wurden zeitliche Abläufe, sämtliche Namen und alle Orte geändert. Etwaige Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Außerdem sind alle Dialoge und Äußerungen nicht wortgetreu zitiert, sondern ihrem Sinn und Inhalt nach wiedergegeben. Nicht verändert wurden das Grauen der Morde und die eisige Kälte des Bösen.

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Ich

Ich bin kein Mörder. Ich kann Menschen verschwinden lassen, das ist alles. Ich kann dafür sorgen, dass sie in Rauch aufgehen oder im Wasser versinken. Ich betrete ihre Köpfe, und sie wollen nicht mehr leben. Aber ein Mörder bin ich nicht. Ich spüre es nur, wenn jemand sterben will.

So wie Chrom aus Pakistan. Oder Nickel in seiner Werkstatt. Und natürlich Cobalt. Sie konnten mit ihrem Leben nichts anfangen, sonst wären sie mir nie begegnet. Aber bei niemandem habe ich mir so viel Mühe gegeben wie bei Cobalt. Das Krematorium habe ich allein für sie bauen lassen.

Cobalt hieß eigentlich Nicole. Ich hätte sie lieber Phosphor genannt, bloß dass Phosphor die Nummer 15 hat, und Nicole war schon 27. Das chemische Element mit der Ordnungszahl 27 ist nun mal Cobalt, auch wenn Phosphor viel besser brennt, was man von Nicole nicht sagen kann.

Chroms richtiger Name war Radschiv. In dem Moment, in dem er starb, muss er ungefähr 24 gewesen sein. Und Motörhead hatte kurz vor seinem Tod Geburtstag gehabt, deswegen verwandelte er sich in Nickel; eine Woche vorher wäre er ebenfalls Cobalt gewesen. Interessanterweise war der Porsche, unter dem er lag, aus Eisen, Nummer 26.

Chemische Elemente haben mich schon immer interessiert – Argon, Beryll, Californ, Mangan –, genau wie Zahlen. Noch vor der zweiten Klasse der Grundschule konnte ich mit negativen Zahlen rechnen. Negative Zahlen sind genauso weit vom Punkt null entfernt wie ihr positives Gegenstück, nur mit dem umgekehrten Vorzeichen. Bei Menschen ist es genauso, es gibt positive und negative Menschen. Negative Menschen sind die Toten. Ihr Vorzeichen hat sich geändert. In dem Moment, in dem sie mir begegnet sind, wurden sie zu einem chemischen Baustein. Ich versuche dann, ihre Namen zu vergessen.

Vielleicht überlegen Sie gerade, welches Element Sie wären, falls Sie mir jemals unter anderen Umständen begegnen sollten – Cadmium, Silber, Titan? Es zählt das Alter, in dem ich Ihren Wunsch erkenne; in dem ich ihn erfüllen will.

Schlägt Ihr Herz schneller bei der Vorstellung? Was ist das für ein Gefühl? Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt. Ich spüre alles, aber ich fühle nichts. Ich weiß, dass ich ein Herz besitze. Ich habe es auf dem Röntgenschirm gesehen. Doch es schlägt immer gleichmäßig, nie schneller, nie langsamer, nicht einmal, wenn jemand danach verlangt, mir sein Leben anzuvertrauen. Wenn er zulässt, dass ich es bin, der entscheidet, ob es den Nullpunkt erreicht.

Ich bin sicher, ich würde Ihnen nicht auffallen, wenn Sie mir auf der Straße zufällig begegnen. Vielleicht würden Sie sich fragen, woher Sie mich kennen. Nicht jetzt natürlich – in ein paar Jahren, wenn ich wieder draußen bin. Sie würden vielleicht denken, ich wäre Filialleiter beim Edeka um die Ecke. Oder Kundenberater bei der Sparkasse. Vielleicht der Zahnarzt, bei dem Sie Ihren jährlichen Check für die Versicherung machen. Sie würden einen Computer bei mir kaufen, aber nie auf den Gedanken kommen, dass ich hier vor Ihnen gesessen habe.

Dass ich eine Frau in einem Käfig gehalten habe.

Sie war freiwillig da, in dem Käfig. Sie vertraute mir – dass ich ihr zu essen gebe, dass ich ihre Lust wecke; dass ich ihr wehtue. Ich habe sie geliebt, und sie liebte mich. Ich liebe sie noch. Ich möchte, dass sie mich bald hier besuchen kommt, in meinem Käfig.

Feuer? Natürlich liebe ich Feuer. Sie nicht? Wer über das Feuer gebietet, wird zu Gott!

 

Auszug aus der Selbstbeschreibung des D.B. (Name geschwärzt) im Gespräch mit Prof. Dr. Uwe Hellberg, Universitätsklinikum Hannover, 1996

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1

Sommer 1996

Am Dienstagmorgen um 8:47 Uhr rief Torsten Lenz auf dem Nokia an und sagte: »Unser einziger Zeuge ist tot.«

Larsen war schon im Präsidium, aber noch im Treppenhaus. »Wo?«, fragte er. »In der Werkstatt?«

»Ein Unfall«, sagte Lenz. »Offenbar ist er unter die Hebebühne geraten. Einer der anderen Mechaniker hat ihn entdeckt, als er zur Arbeit kam.«

»Wer von uns ist da?«

»Noch niemand. Der Mechaniker hat die Kollegen vor Ort informiert. Aber die Spurensicherung ist schon unterwegs.«

»Gut, ich fahre hin.« Larsen drehte auf dem Treppenabsatz um. »Ich brauche einen Wagen. Olaf und Mareike sollen nachkommen.« Er lief auf den Parkplatz und sah, dass Mareike schon da war. Sie stand neben einem der Einsatzfahrzeuge, in der Hand die unvermeidliche Thermoskanne mit Kaffee. »Wir können gleich los«, sagte sie, trank noch einen letzten Schluck aus dem Plastikbecher und schraubte die Kanne zu.

Sie fuhren, ohne zu reden. Sie hatten das Blaulicht aufs Dach geheftet, und wenn der Verkehr dichter wurde, schaltete Mareike die Sirene ein. Die Oberkommissarin war auch unter diesen Umständen eine gute Fahrerin, die niemandemunnötig die Vorfahrt nahm, andere Wagen nicht bedrängte und die Signale der Ampeln beachtete, wenn es notwendig war. Manchmal warf sie Larsen einen Seitenblick zu, behielt ihre Gedanken, Beobachtungen und Mutmaßungen aber für sich. Dafür war er dankbar.

Wir hätten ihn nicht auf freien Fuß setzen dürfen, dachte er. Oder ihn wenigstens rund um die Uhr überwachen müssen. Nein, nicht wir – ich. Ich habe versagt. Der Vorermittlungsrichter hat gehandelt, wie er handeln musste, das Gesetz ist eindeutig. Aber für mich gilt das nicht, für mich gibt es »eindeutig« nicht. Er zwang seine Hände, ruhig zu bleiben, seine Füße auch. Bei seinen Gedanken gelang ihm das nicht, sein Puls raste. Lothar Schmidt hatte Angst, aber wir haben das nicht ernst genommen. Nicht ernst genug.

Bis zu der Werkstatt im Gewerbegebiet von Mersfeld brauchten sie genau eine Dreiviertelstunde. Wir werden keine Spuren finden, dachte Larsen, keinen Hinweis auf eine Gewalttat, keine Zeugen. In einer Gegend wie dieser sind die Straßen von Feierabend bis in den Morgen verwaist. Niemand sieht oder hört irgendetwas; Wölfe könnten nachts im Licht der Peitschenlampen über den Asphalt streifen. Alles wird so aussehen, wie Torsten gesagt hat – ein Arbeitsunfall, tödlicher Leichtsinn.

Als sie auf den Hof von Böhlich & Söhne bogen, standen die Mechaniker ratlos zwischen den reparierten Kundenfahrzeugen und einem Streifenwagen der örtlichen Polizei, der noch immer blaue Blitze in den sonnigen Vormittag schickte. Die Jalousie der Werkstatt war hochgefahren. Ein uniformierter Streifenpolizist versperrte auf der Schwelle den Zutritt, während sein Teamkollege mit einem Mann in einem roten Overall sprach.

Larsen stieß den Schlag auf, zeigte seinen Ausweis und ging an den Streifenbeamten vorbei in die halbdunkle Halle. Er steuerte die Hebebühne an, wo der Zeuge auf dem Rücken unter einem nach hinten gekippten Porsche Carrera RS 2.7 lag. Es war eine Vier-Säulen-Hebebühne, deren befahrbare Rampen mit einem hydraulisch steuerbaren Seilzugsystem gehoben und gesenkt werden konnten. Eine der beiden Rampen hatte Schmidts Brustkorb eingedrückt und seinen Kopf zerquetscht. Das Gesicht bestand nur noch aus einer breiigen Masse, durchsetzt mit Knochensplittern, Hautfetzen und blutigem Fleisch. Auch das Hemd des Toten war blutgetränkt und immer noch feucht. Um den Kopf hatte Blut eine dunkelrote Lache gebildet, die an den Rändern bereits getrocknet war.

Der Beamte, der auf der Schwelle Wache gehalten hatte, trat neben Larsen. »Ich kann mir das nicht erklären«, sagte er. »Der Lothar war einer von den ganz Vorsichtigen. Die Hydraulik muss einen Kurzschluss gehabt haben.«

»Vielleicht war er betrunken.« Larsen beugte sich zu der Leiche. Aus der Nähe überlagerte der süßliche, leicht eisenhaltige Geruch des Blutes sogar den Ölgestank in der Halle. »Oder er stand unter Drogen. Er hatte ein paar harte Tage hinter sich. Er könnte ausgerutscht und gestürzt sein. Im Fallen ist er an einen Knopf oder Hebel der Bühne gekommen, und die Rampe hat sich abgesenkt, während er bewusstlos darunterlag.« Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht, dachte er; wahrscheinlich eher nicht. Kein Unfall, kein Selbstmord. »Ist die Rechtsmedizin informiert?«

»Ja.«

»Wer hat Sie gerufen?«, fragte Larsen.

»Der Italiener dahinten, Aldo. Böhlich, der Chef, ist noch nicht da. Der kommt immer etwas später. Der Italiener sagt, vor ein paar Tagen hätte jemand von euch den Toten zur Befragung mitgenommen, nach Bremen. Ich meine, als er noch nicht tot war. Er – Aldo – dachte wohl –«

»Das ist jetzt ein Tatort«, sagte Larsen, »wahrscheinlich war es Mord. Haben Sie hier irgendwas angefasst oder verändert?«

»Nein.«

»Gibt es Zeugen? Hat jemand etwas beobachtet?« Und selbst wenn?, dachte Larsen. Selbst wenn jemand einen silbernen Mercedes 500 SL, Listenpreis 220000 Mark, auf der Straße gesehen hätte, wäre damit nichts bewiesen. Ja, stimmt, ich musste noch mal ins Lager, würde der Täter sagen, auf die Werkstatt gegenüber habe ich da gar nicht geachtet.

Larsen dachte die Worte der Täter, denn er hatte keine Zweifel. Es war der dritte Mord, und der Täter plante einen vierten und vielleicht auch einen fünften oder sechsten. Sie kannten seinen Namen, sein Gesicht, seine Adresse. Aber bisher konnten sie ihm nicht einmal die ersten beiden Morde nachweisen, jetzt erst recht nicht, nachdem ihr einziger Zeuge tot war.

Warum war er so spät noch allein in der Werkstatt? Der Junge wollte Zeugenschutz, den wir ihm nicht geben konnten. Warum ist er nicht irgendwohin gegangen, wo er sicher war, wenigstens eine Zeit lang?

Larsen sah nach oben, zur Decke, in die Winkel über dem Rolltor. »Wissen Sie, ob es hier Videoüberwachung gibt?«, fragte er den Streifenbeamten. »Überprüfen Sie das mal. Und niemand soll hier irgendwas an- oder ausstellen, bevor wir nicht untersucht haben, ob tatsächlich ein Versagen der Hydraulik vorliegt.«

Der Wagen der Rechtsmedizin bog auf den Hof, gefolgt vom Team der Spurensicherung und einem schmutzigen gelben Mazda, in dem Oberkommissar Olaf Sundermann saß.

Die beiden Techniker stiegen aus und zogen ihre Overalls an. Als sie fertig waren und mit ihren Koffern in die Halle kamen, sagte Larsen: »Wir behandeln das wie einen Mord. Alles ist wichtig.«

Dann durchzuckte ihn ein Gedanke, ein weißes Flimmern bis in die Fingerspitzen, als hätte er einen elektrisch geladenen Weidezaun angefasst: Es gab vielleicht noch einen Zeugen! Grit Weichsel alias Nicole – das blonde Mädchen, das immer Glück im Spiel hatte, aber nur da. Das Mädchen, das 200000 Mark unter dem Bett und zu viele Männer darin hatte. Das Mädchen, das Robert Kosinski etwas von ihrem Glück abgeben wollte, bevor er von hinten erschossen wurde.

Freundin des Täters, Freundin des Opfers.

Hastig griff Larsen nach seinem Mobiltelefon und wählte die Nummer, die Grit ihm bei seinem Besuch vor einigen Wochen gegeben hatte. Am anderen Ende der Leitung ertönte das Freizeichen, einmal, zweimal, dreimal. Endlich wurde abgehoben, und eine belegte Frauenstimme meldete sich. »Ja?« Nur ein Wort, aber Larsen roch den Restalkohol in ihrem Atem sogar durchs Telefon. »Larsen, Kripo Bremen«, sagte er. »Ist Ihre Tochter schon nach Hause gekommen?«

Grits Mutter antwortete nicht sofort, als wäre sie nicht ganz sicher, ob sie überhaupt eine Tochter hatte, die nach Hause kommen konnte. Dann sagte sie: »Sie haben vielleicht Nerven, zu so einer Zeit hier anzurufen. Wenn meine Kleine Spätschicht hat, ist sie nie –«

»Ist Ihre Tochter nach Hause gekommen?!«

Ein Seufzen, dann wurde der Hörer hingelegt, und eine Minute verging, ehe die Stimme wieder da war. »In ihrem Zimmer ist sie nicht, aber wie ich gerade gesagt habe, wenn sie auf Spätschicht ist –«

Larsen unterbrach die Verbindung und winkte Mareike zu sich. »Hast du die Mobilnummer von Grit Weichsel dabei?«

»Von der kleinen Nutte? Ja.« Sie holte ein zerfleddertes Notizbuch aus der Jackentasche, schlug es auf und nannte ihm die Nummer, die er wählte, während sie noch redete. Nach drei Freizeichen ertönte Grits Stimme: »Hallo, lieber Anrufer, hier ist die Nicole. Ich bin gerade mit etwas Schönem beschäftigt und kann nicht ans Telefon kommen. Aber wenn du mir sagst, wer du bist, rufe ich dich ganz schnell zurück. Tschühüss!«

»Mailbox.« Larsen spürte, wie die Handykante in seine Finger schnitt. »Mareike, fahr sofort in die Helenenstraße und sieh nach, ob mit ihr alles in Ordnung ist. Ruf mich an, sobald du etwas weißt.«

Mareike nickte, sprang in den Einsatzwagen und raste mit quietschenden Reifen und eingeschalteter Sirene vom Hof. Larsen ging zurück in die Werkstatt, wo sich die Spurensicherung um die Leiche und ihr Streufeld kümmerte, jede Schraube, jeden Fußabdruck, jeden Blutspritzer fotografierte. Der Rechtsmediziner lehnte wartend an einem limettengrünen Thunderbird mit beigem Verdeck, der neben der Hebebühne stand. Schweigend sah er zu, wie die Zahl der Täfelchen mit den Ziffern auf dem ölschillernden Hallenboden wuchs, während er darauf wartete, das Opfer zu untersuchen.

»Wenn der jetzt von den Toten aufersteht und einfach hier rausmarschiert, war alles umsonst«, sagte einer der Techniker von der Spurensicherung.

»Wie oft haben Sie das schon erlebt?«, fragte Larsen.

Ich bin unfähig, dachte er wieder. Ich konnte ihn nicht beschützen. Er ist getötet worden, weil er mit uns geredet hat, und ich habe es nicht verhindert. Ich brauche zu lange, um die Beweise zu finden. Wenn ich schneller gewesen wäre, könnte der Junge hier noch leben. Ich versage immer wieder.

Dann dachte er: Ich muss das Mädchen finden. Sie ist bei den Ermittlungen aufgetaucht, gleich ein paarmal, und ich habe sie nicht unter Polizeischutz gestellt. Nur eine junge Prostituierte mit einem Foto ihrer kleinen Tochter und einer farbigen Ansichtskarte der Sagrada Família auf dem Nachttisch.

Ich muss sie finden, bevor er sie auch tötet. Ich muss, ich habe es Ellie versprochen.

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2

Frühling 1996 Einen Monat vorher

Der Tag, an dem Daniel Becker das Krematorium in Auftrag gab, war ein Mittwoch. An diesem Mittwoch – einem windstillen, fast heißen Frühsommertag mit bedecktem Himmel – steuerte Daniel seinen blaumetallic gespritzten 3er BMW um 14:37 Uhr auf das Gelände der neuen Baustelle seiner Frau an der Säckener Straße 34 und stellte den Wagen hinter dem Bretterzaun auf der unbefestigten Zufahrt ab. Gelblicher Staub hing über der quadratischen Baugrube, aus der das Brummen eines Generators aufstieg.

Die Bagger waren schon weg, außer dem Generator war nur das Mahlen eines Zementmischers zu hören. Stromkabel führten unter schmalen Hartgummiabdeckungen kreuz und quer über das Areal. Hinter dem kantigen Bürocontainer der Bauleitung ragte das Skelett eines dreistöckigen Hauses aus der Grube, graue Betonplatten und dürre Stahlträger, mit stumpfer Rostschutzfarbe gestrichen. Rechts und links des eingezäunten Grundstücks erhoben sich die schmucklosen Hallen des neuen Gewerbegebiets.

Daniel stieg aus und massierte die Bandscheibengegend seines schmerzenden Rückens. Er bewegte den Kopf hin und her, neigte ihn von einer Seite auf die andere. Ein leises Knacken war zu vernehmen. Ich bin ein Wirbeltier, dachte Daniel. Er zupfte an dem Stoff des dunkelgrünen Poloshirts, das er zu Lagerfeld-Jeans und Nike-Sneakers trug. Auf der linken Brustseite des Hemds trabte ein gestickter roter Polospieler über die Baumwolle.

Max Lobeck trat aus einem Dixiklo neben dem Containerbüro. Er wischte sich die Hände an seiner zerknitterten Cargohose ab, dann entdeckte er Daniel und nickte ihm zu. »Tag, Chef. Wusste nicht, dass Sie heute hier sein würden.« Trotz der Hitze trug er eine etwas zu weite Jacke aus braunem Nappaleder mit verfärbten Schweißrändern unter den Achseln. Er war auch ein Wirbeltier, gehörte aber zu einer rangniedrigeren Spezies, denn er arbeitete für Daniels Frau.

Daniel ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Das tat er gern, auf jemanden zugehen, ihm die Hand geben, mit einem festen Druck den Anschein erwecken, ein menschliches Wesen zu sein. »Tag, Max. Ganz schöne Hitze, was?«

Lobeck schaute nach oben, zu den tiefen, reglosen Wolken. »Etwas Regen könnte nicht schaden, aber wenn man der Vorhersage glauben darf, soll’s ja so bleiben.«

Daniel schaute auch nach oben, verlor sich einen Moment im diffusen Grau des Himmels. »Gut, dass ich dich treffe«, sagte er dann. »Viel zu tun gerade?«

»Kann nicht klagen.« Lobeck zuckte mit den Schultern. »Sieht ja alles ganz gut aus hier, voll im Zeitplan. Bin ich bei Ihnen und Ihrer Frau aber auch nicht anders gewöhnt. Wenn das so bleibt, kann ich in der 37. KW mit den Wasserleitungen beginnen, bis dahin gehts. Brauchen Sie denn was?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, alles paletti. Wollte nur mal nach dem Rechten sehen. Du kennst ja Susanne, muss immer sicher sein, dass das Tüpfelchen auch genau auf dem i sitzt.« Er lachte, schon im Gehen, und Lobeck lachte mit, ein Klempnerlachen, von Mann zu Mann. »Ich fahr dann mal wieder los«, sagte Daniel. »Falls es Abweichungen vom Kostenvoranschlag geben sollte –«

Lobeck nickte und schüttelte den Kopf, fast gleichzeitig, nur eine Sekunde lag dazwischen. »Nein, sieht nicht danach aus.«

»Ach, wo wir schon mal …« Daniel blieb stehen, bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. »Und wenn du gerade Zeit hast: Ich bräuchte einen Ofen. Einen Werkstattofen.«

Lobeck nickte wieder. »Kein Problem, Chef. Bau ich Ihnen. Aus Eisen?«

»Eisenblech, ST 37, Stärke 3,9 Millimeter.«

»Welche Maße?«

»Ein Meter neunzig mal sechzig«, erklärte Daniel. »Ich hab eine Skizze gemacht, liegt im Wagen.«

»Und welche Temperatur soll der Ofen ungefähr aushalten?«, wollte Lobeck wissen. »Ich frage wegen dem Brenner, wenn ich den besorge –«

»Den Brenner, das Ofenrohr und alles andere besorge ich. Du machst den Ofen und ein Abgasrohr, 180 Millimeter stark, für den Anschluss an einen Schornstein. Die Betriebstemperatur dürfte so bei ungefähr 1600 Grad liegen, das geht doch, oder?«

Lobeck überlegte kurz. »Dann brauchen Sie einen Brenner mit einem Durchmesser von gut 60 Zentimetern. Womit soll der Ofen denn betrieben werden?«

»Dieselöl. Wie schwer wird das Ganze, was meinst du?«

»Bestimmt 150 Kilo, mindestens.«

»Schaffst du das bis Ende des Monats?«

»Klar.« Lobeck runzelte die Stirn, schien wieder zu überlegen. »Ich weiß nur noch nicht, wo ich das Ding verschweißen und testen kann. Ich habe ja keine Werkstatt.«

»Wenn du das Material hast, kannst du ihn in unserer Garage zusammenbauen«, erklärte Daniel. »Um den Rest kümmere ich mich dann.« Er griff durch das offene Beifahrerfenster und holte die Skizze heraus, die in einer Klarsichtfolie auf dem salopp über den Beifahrersitz geworfenen Leinenjackett lag. »So soll das Ganze aussehen.«

Lobeck studierte die Bleistiftzeichnung. »Wofür brauchen Sie den denn?«

»Ich will nur was ausprobieren, Max. So ’ne Art Experiment.«

»Ich frag deshalb, weil … Eins muss ich Ihnen gleich sagen, Chef: Wird schwierig, den durch den TÜV zu kriegen. Mit der Temperatur nimmt Ihnen den kein Schornsteinfeger ab.«

Daniel lachte. »Scheiß auf den Schornsteinfeger. Der kriegt das Teil nie zu sehen.« Er hielt Lobeck noch einmal die Hand hin, wie um einen Pakt zu besiegeln. »Mach dir darüber keine Gedanken, Max. Da, wo der Ofen betrieben wird, benötigt man keine Abnahme. Ach, bevor ich es vergesse: Ich brauche auch noch eine Sprossenleiter aus Metall, ungefähr eins fünfzig lang und vierzig breit.«

Im Wagen schrillte Daniels Motorola, ein herrisches altmodisches Telefonklingeln wie am Anfang von Detektiv Rockford. Daniel langte durch das offene Seitenfenster, zog das Sakko vom Beifahrersitz heraus und suchte nach dem Handy. »Ja, Becker«, meldete er sich.

»Daniel, ich bin’s – Nicole.« An ihrer Stimme erkannte er sofort, dass es ihr wieder nicht gut ging, der weinerliche, nörgelige Ton. »Kannst du vorbeikommen?«, fragte sie.

»Ist gerade schlecht«, erklärte er. »Ich ruf dich nachher an, wenn ich wieder im Büro bin.«

»Ich brauch dich ganz dringend, Daniel. Ganz dringend. Mir geht’s gar nicht gut.«

Er schwieg, sah sie vor sich: noch jung, aber schon halb verfallen, das blonde Haar strähnig, der violette Lidschatten zu dunkel, die Wimperntusche etwas klumpig, das Lipgloss bröckelte. Eigentlich eine schöne junge Frau, sogar noch vor Kurzem. Die Männer kamen gern zu ihr, bis die Drogen angefangen hatten, sie bei lebendigem Leib zu verzehren. Verzehren war ein ranghöheres Wort als auffressen. »Hast du wieder was genommen?«, fragte er.

»Nein. Ehrlich nicht. Ich möchte nur, dass du zu mir kommst.«

»Es geht jetzt wirklich nicht, Kätzchen. Ich bin noch unterwegs, geschäftlich, klar? Wenn alles gut läuft, kann ich –«

»Es ist wegen Melanie«, unterbrach sie ihn.

Er spürte einen schwachen Stoß in der Brust, einen kurzen Druck. »Was ist mit ihr?«

»Das sage ich dir, wenn du hier bist.«

»Hast du denn heute keine Kunden mehr?«, fragte er. »Bist du schon fertig?«

»Ich mach das doch nicht mehr. Ich bin jetzt, ich bin doch kein Model mehr.«

»Darüber reden wir noch. Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Nicht, leg noch nicht auf. Es ist wirklich wichtig, Daniel. Ich liebe dich doch so, echt wahnsinnig, weißt du. Und ich wollte – ich wollte dich fragen, was ich einpacken soll. Für unsere Reise.«

»Es ist keine Reise«, sagte er. »Es ist ein Wochenendausflug, nur drei Tage.«

»Ich freu mich schon so darauf.« Jetzt klang ihre Stimme kurzatmig, aufgeregt, als verschluckte sie sich gerade. »Wann fahren wir denn? Freitagmorgen oder Donnerstag?«

»Ich bin gerade dabei, alle Vorbereitungen zu treffen, damit es richtig schön wird, Kätzchen.«

»Daniel, sag nicht Kätzchen zu mir, bitte. Ich mag keine Namen von Tieren haben, ich mag das nicht.«

Er spürte Lobecks Blick im Rücken und wartete darauf, dass sie auflegte, aber er hörte sie nur atmen. »Also dann, ich muss jetzt wieder an die Arbeit«, sagte er.

»Es ist wirklich was mit Mellie«, sagte sie. »Ich möchte sie wiederhaben. Es geht ihr nicht gut bei diesen Leuten. Sie ist doch meine Tochter, und sie wird ohne mich immer größer, ohne dass ich ihr dabei … Immer größer …«

»Das haben wir doch schon besprochen«, sagte er ruhig. »Nach unserem Ausflug kommt Mellie zurück, wenn wir wieder da sind, ja?« Er seufzte. Es geht Mellie gut, da wo sie ist, tausendmal besser als bei dir. »Also gut, meinetwegen, ich bin in einer halben Stunde bei dir.«

»Ach, Daniel, danke, ich freue mich. Danke!«

Daniel unterbrach die Verbindung und spürte auf einmal, dass Lobeck dicht hinter ihm stand, viel zu dicht für die Hitze, die ihn wie warmes Zellophan einwickelte. »Wenn nichts mehr ist, fahre ich dann mal, Chef«, sagte das andere Wirbeltier. »Ich rufe Sie an, wenn ich mit dem Ofen so weit bin. Und bitte grüßen Sie Ihre Frau von mir.«

»Mach ich. Danke.« Daniel sah zu, wie Lobeck in seinen KIA-Pregio mit der roten Beschriftung Fa. Lobeck Klempnerarbeiten und Trockenbau stieg und langsam von der Baustelle rollte, bevor er sich in seinen BMW setzte und das Leinensakko wieder auf den Beifahrersitz warf. Das Handy hielt er noch einen Moment in der Hand. Der Ofen und der Lattenrost, dachte er, was noch?

Er holte einen Notizblock aus dem Handschuhfach, nahm einen Kugelschreiber von der Ablage zwischen den Vordersitzen und schrieb: 2 Benzinkanister, 2 Baueimer, 1 Rolle Putzband, 1 Rolle Steinband, 6 Klinkerplatten, 8 Verblendplatten Ytong (5 cm), Spaltlederhandschuhe, 1 Rolle Decefix-Klebefolie, 1 Satz Messer (scharf), 1 Teerbesen, 2 Sets Bettwäsche.

Er legte Block und Kuli auf die Ablage und blickte einen Moment mit leeren Augen durch das offene Seitenfenster auf die Baustelle. Er dachte, dass er seine Frau anrufen sollte, damit die Kinder nicht auf das Essen warten mussten. Er griff nach seinem Handy. Doch statt Susannes Nummer wählte er die Nummer des Immobilienbüros, bei dem er die Ferienanlage gebucht hatte.

Nach dem dritten Klingeln meldete sich ein Anrufbeantworter: »Immobilien Lorenz. Zurzeit ist unser Büro nicht besetzt. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und den Grund Ihres Anrufs. Wir melden uns nach unserer Rückkehr zuverlässig bei Ihnen.«

Daniel sagte: »Hier Daniel Becker. Ich wollte nur noch einmal meine elektronische Buchung vom Freitag letzter Woche bestätigen. Ich hatte für das letzte Wochenende im Juni alle vier Häuser Ihrer Ferienanlage in Moosberg gemietet, also insgesamt achtzehn Betten. Wir möchten wirklich ungestört sein. Ihrer Objektbeschreibung zufolge sind keine weiteren Wohnungen buchbar. Die Anzahlung müsste bereits auf Ihrem Konto eingegangen sein. Sollte ich von Ihnen nichts mehr hören, gehe ich davon aus, dass alles in Ordnung ist. Ach ja, die Buchungsnummer war A 2374. Danke.«

Er unterbrach die Verbindung. Der Ofen kommt auf die Terrasse zwischen die beiden hinteren Häuser. Er sah es vor sich, ganz deutlich, die flachen Bungalows und dahinter die grünen Wiesen mit den Birken, und noch weiter draußen die Dünen und das Meer im Sonnenuntergang. Und dann der Rauch – fast wie bei einer Papstwahl, sonst nichts, kein Mensch mehr, nur das Feuer und der Rauch über dem flachen Land.

Auf dem Handydisplay scrollte er die Telefonliste herunter, bis zu Sandra, deren Mobilfunknummer er aufrief. Sie ging fast sofort an den Apparat. »Ich bin’s«, sagte er.

»Daniel! Wo bist du?«

»In Mersfeld, auf der Baustelle.«

»Ach, schade! Gerade dachte ich, wie schön es wäre, wenn du mal wieder nach Bonn kämst.«

Er sah ihr Foto auf dem Display: sie lachte, ihre Augen, die Lippen, alles schimmerte und strahlte, das schulterlange Haar glänzte in der Sonne. »Deswegen rufe ich an«, sagte er. »Ich hätte Lust, ein paar Tage mit dir zu verreisen, nur du und ich in einem kleinen Haus irgendwo weit weg. Wie findest du das, Sandy?«

»Das wäre super!« Sie klang aufgeregt, glücklich. »Wann?«

»Was hältst du vom letzten Wochenende im Juni? Ich habe einen Bungalow am Meer gemietet, da sind wir ganz unter uns. Wir treffen uns am Freitag in der Anlage und bleiben bis Sonntagabend oder Montag. Wie hört sich das an?«

»Daniel, das klingt, hey, ich kann gar nicht sagen, wie das klingt – echt, ein Haus am Meer! Wo denn?«

Er lachte, erst zu leise, aber dann überzeugend. Weltmännisch und etwas geheimnisvoll, wie James Bond. »Das ist eine Überraschung! Du erfährst es erst ein paar Tage vorher. Jeder kommt mit seinem eigenen Wagen, als würden wir uns zufällig begegnen.«

Sie lachte auch, fröhlich und gleichzeitig ein wenig geknickt. »Aber das sind ja noch fast sechs Wochen. Vorher sehen wir uns nicht? Du fehlst mir. Ich denke viel an dich.«

»Ich denke auch an dich, Sandy. Du wirst sehen, die Zeit vergeht wie im Flug.«

»Ja.« Sie seufzte. »Was sagst du denn deiner Frau?«

»Die hat genug mit dem Neugeborenen zu tun«, lenkte er ab. »Da stimmt was nicht mit dem linken Lungenflügel. Sie ist dauernd beim Kinderarzt.«

»Warum musst du bloß verheiratet sein?«

Meine Frau ist verheiratet, ich trage nur einen Ring. Er sah zwei Arbeiter aus der Baugrube kommen, die gelben Helme stumpf vor Staub. »Hör mal, ich muss Schluss machen. Ich ruf dich wieder an mit den genauen Einzelheiten. Bis dann, ciao.«

Er unterbrach die Verbindung, bevor ihre Stimmung sich ganz eintrübte, startete den Wagen und verließ das Areal mit schlingernden Rädern. Dann fuhr er die Säckener Straße bis zum Ende, bog auf die Hauptstraße und fuhr weiter, raus aus Mersfeld, nicht zu Nicole, sondern aufs Land.

Wo kamen bloß die ganzen Frauen her, dachte er. Erst Andrea, später Susanne und dann Sandy, dazwischen Grit, die sich jetzt Nicole nannte und in den Anzeigen manchmal Chantal oder Michelle. Aber in bestimmten Momenten liebte er Sandy am innigsten: wenn sie vor ihm kniete, nach der Fütterung; wenn sie ihn unter der Kapuze anflehte: Züchtige mich, Meister, bestraf mich!

Mit der linken Hand hielt er das Steuer, während er mit der rechten eine SMS schrieb: ich liebe dich, ich muss dich bald sehen, du warst ungehorsam und musst bestraft werden, die Kerzen brennen schon. Er setzte den Namen ein – Sandra – drückte auf Senden. Er wollte nicht, dass sie zu glücklich war.

Er war allein auf der Straße, kein Bus, keine Lastwagen, nicht mal ein Fahrradfahrer. Nur der in der Hitze glitzernde Asphalt, das Flimmern über den Äckern und Wiesen, und dann rechts und links der Wald. Die Sonne blitzte auf und erlosch, stach zwischen den Bäumen hervor und verbrannte ihm die Augen. Er stellte sich vor, dass er einfach weiterfuhr, immer weiter, raus aus seinem Leben, raus aus sich selbst, die Straße entlang und dann die nächste Straße und irgendwann keine Straße mehr, nichts mehr rechts und links und nur weit vorn die Dünen und das Meer, das ganze Blau.

Er schaltete das Radio ein, auf Hit FM sang Falco ›Junge Römer‹, genau wie damals, das war mehr als ein Zufall. Er stellte das Radio lauter. Er war jetzt schon fast an der Stelle, wo der Waldweg abging, und wie immer, wenn er in dieser Stimmung war, bog er in den Weg und fuhr auf dem überwachsenen Erdreich zu dem See. Es war ihm egal, ob ihn jemand sah. Er wollte nur in der Nähe der Stelle sein, wo er sich zum ersten Mal so rein gefühlt hatte wie Wasser, Feuer oder Luft.

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3

Winter 1994 Anderthalb Jahre früher

Sie saßen zu dritt im Dunkeln in dem Haribo-Auto und rauchten. Sie hatten das Radio an, da lief Falco mit ›Junge Römer‹, und als das Lied zu Ende war, fragte Lothar von hinten: »Und wenn er nicht kommt?«

»Er kommt«, sagte Moritz, ohne sich umzudrehen.

»Aber wenn er trotzdem nicht kommt? Wir frieren uns hier den Arsch ab, während der gemütlich im Asylantenheim sitzt und Tee trinkt. Oder Mate.«

»Ich habe erst vor drei Stunden mit ihm telefoniert«, sagte Moritz. »Er hat gesagt, dass er den Zug um 17:45 Uhr nimmt.«

Daniel sah durch das beschlagene Fenster zu der Glastür des Bahnhofs auf der anderen Straßenseite hinüber. Der Wartesaal dahinter war schwach erleuchtet, aber leer. Heute kam nur noch der Interregio, auf den außer ihnen niemand wartete.

»Vielleicht hat er ihn verpasst«, meinte Lothar. »Wer weiß, ob es überhaupt Fahrpläne gibt, da, wo der herkommt.«

»Er denkt doch, dass die Andrea ihn sehen will«, sagte Moritz. »So verknallt, wie der ist, hätte er längst angerufen, wenn er zu spät zum Zug gekommen wäre.«

Ein paar Leute gingen an dem unter einem Baum geparkten Wagen vorbei, schauten aber nicht hinein. Sie wechselten auf die andere Straßenseite und betraten den Pub neben dem Bahnhof. Über dem Eingang flackerte eine violette Leuchtschrift, Lucky Elefant. Die Tür war metallbeschlagen, mit einem kleinen Judasfenster in Augenhöhe, und wenn sie geöffnet wurde, drang Discomusik heraus. An den Mauern hingen Fetzen von ausgeblichenen Plakaten, die mit anderen Plakaten überklebt worden waren. Jemand hatte die Fenster mit roter Farbe zugepinselt, grobe, dicke Pinselstriche, in denen das Licht stecken blieb.

»Und wenn er da ist, was dann?« Lothar beugte sich vor, bis sein Kopf zwischen den Nackenstützen war. »Was habt ihr eigentlich mit ihm vor?«

»Wir wollen nur mit ihm reden«, sagte Daniel.

»Worüber?«

»Können wir dir nicht sagen.« Daniel sah weiter auf die erleuchtete Bahnhofstür. »Was Geschäftliches. Vielleicht müssen wir ihm etwas Angst machen. Du hältst dich aber im Hintergrund.«

»Wozu braucht ihr mich überhaupt?«

»Du musst ihn festhalten, falls er austickt.«

»Was hat er denn getan? Warum sollte er austicken? Ich dachte, das ist ein Asylant?«

»Stell nicht so viele Fragen«, sagte Moritz. »Je weniger du weißt, desto besser für dich. Der steckt mit ein paar üblen Typen unter einer Decke.«

»Er hat etwas genommen, das ihm nicht gehört«, ergänzte Daniel. »Wir wollen bloß wissen, was er damit gemacht hat.«

Lothar merkte auf einmal, wie kalt es in dem Wagen war. »Kann mal einer die Heizung anstellen? Warum sind wir nicht mit einem von euren Wagen gefahren? Wieso habt ihr dieses schrottreife Haribo-Auto genommen?«

Er bekam keine Antwort, deshalb gab er sie sich selbst: weil eine Angeberkarre wie die von Daniel oder Moritz in so einem Kaff sofort auffiel, während einen vier Jahre alten Ford Sierra niemand beachtete. Er wollte noch etwas sagen, er wollte immer noch etwas sagen, aber dann tat er es doch nicht. Er war nur Mechaniker in einer Autowerkstatt, die ihm noch nicht einmal gehörte; seine Kumpels hatten weiße Hemden mit Manschetten, sie kannten wichtige Leute in Hamburg.

Daniel sagte: »Jetzt stell ich dir auch mal eine Frage: Warum nennst du Roberts Wagen dauernd Haribo-Auto?«

»Guck es dir doch an, die Lackierung, lakritzschwarz, lila Streifen, und dann der grüne Kotflügel.« Lothar zündete sich eine Zigarette an, mit einem Streichholzbrief aus dem Saloon, und für einen Moment sah man nur das Innere des Wagens, nichts mehr von draußen. Als die Flamme erlosch, stand ein junger Mann vor der Glastür des Bahnhofs. Allein, nur er, niemand sonst.

Der Mann war klein und zart, und wie er da stand, mit den Händen in den Taschen einer roten Daunenjacke, wirkte er fremd und verloren. Und genau das war er auch, dachte Lothar, ein Fremder, der gerade verloren ging. Er wusste nicht, warum er das dachte. »Ich habe gar keinen Zug gesehen«, sagte er, kein Rattern, keine erleuchteten Fenster, keine quietschenden Bremsen. »Habt ihr den Zug gesehen?«

Daniel drehte das Radio leiser, bis die Musik nur noch ein leises Pochen in der Luft war. »Hol ihn mal her, Moritz«, sagte er.

Moritz stieg aus – er tat immer alles, was Daniel sagte – und ging über die Straße auf den Radscha zu. Das war der Spitzname, den sie dem Typen gegeben hatten, Radscha. Sogar Andrea nannte ihn so, obwohl sie in ihn verknallt war. Moritz winkte ihm, und selbst bei dem schlechten Licht konnte man sehen, wie erleichtert der Mann war. Sein dunkles Gesicht wurde noch jünger, als er lächelte. Er sagte etwas zu Moritz, und Moritz nickte und sagte auch etwas. Er stieß den Mann mit dem Ellbogen an, dann kamen sie auf den Wagen zu.

»Mach die Tür auf«, sagte Daniel.

Lothar öffnete die Hintertür auf der anderen Seite und stieß sie ein Stück weit auf. Aus der Nähe wirkte der Mann nicht mehr so klein, sondern mittelgroß und eher drahtig als zart. Er stieg hinten ein, quetschte sich neben Lothar, ohne etwas zu sagen. Er sah auch niemanden an, als wollte er keinen von ihnen wiedererkennen können. Sein Gesicht wirkte asiatisch: schmale Augen, kleine Nase, dünne Lippen, schwarzes Haar. Er roch merkwürdig, nach Hagebutten. Er saß ganz steif und etwas vorgebeugt, fast gebückt. Die Hände klemmte er zwischen die Oberschenkel. Dunkelblaue Jeans und Turnschuhe, Adidas, registrierte Lothar.

Moritz setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. Daniel startete den Wagen. Der Mann sagte noch immer nichts. Sie fuhren die Hauptstraße entlang, ein kurzes Stück nur, dann war die Straße plötzlich zu Ende und wurde erst zu einem Kreisverkehr, dann zur Landstraße. Die Beleuchtung hörte sogar schon auf, bevor sie an das Ortsschild kamen. Jetzt war nichts mehr zu sehen außer den Scheinwerferkegeln auf dem Asphalt und dem Blinken der Katzenaugen am rechten Fahrbahnrand.

»Where we drive?«, fragte der Mann neben Lothar plötzlich mit einer hellen, besorgten Stimme.

Moritz drehte sich um, nur eine schattenhafte Bewegung im schwachen Licht der Armaturen. »We bring you to the girl«, sagte er, ebenfalls auf Englisch. »I told you on the Telefon.«

»Don’t worry«, sagte Daniel, die Augen starr auf die Straße gerichtet.

»Ich dachte, du kannst kein Englisch«, sagte Moritz. »Ich dachte, deswegen soll ich ihn anrufen und mit ihm reden, oder?«

»Where she is?«, fragte der Mann, und dann, als könnte es irgendetwas ändern, fügte er zusammenhanglos hinzu: »I love her so much.« Er zog den Kopf ein, wollte sich kleiner machen, dabei war er schon so klein. Der Hagebuttengeruch wurde stärker, und jetzt merkte Lothar, dass es Angst war.

»Wo kommst du her?«, fragte Lothar.

Der Mann antwortete nicht, sah ihn immer noch nicht an.

»He wants to know where you come from«, übersetzte Moritz.

»Pakistan«, sagte der Mann mit seiner hellen, besorgten Stimme, die überhaupt nicht zu den Worten passte. »I from Pakistan.«

Lothar wusste nicht genau, wo Pakistan lag. Irgendwo in der Nähe von Indien jedenfalls. Noch so ein Radscha, dachte er; davon gab es jetzt schon einige in der Gegend. Sie fuhren noch ungefähr zehn Minuten durch die Dunkelheit, bis Daniel nach links in einen Feldweg bog. Der Wagen ruckelte über tiefe Furchen in der trockenen Erde. Die Scheinwerferkegel ruckelten auch, erfassten ein Stück Wiese, einen Stacheldrahtzaun, windschiefe Pfosten, neben denen Huflattich wuchs.

»Ja, sagt mal, wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte Lothar, gerade als Daniel auf die Bremse trat und anhielt. Daniel stellte den Motor ab, ließ die Scheinwerfer aber brennen. »Wir sind da«, sagte er in die plötzliche Stille hinein.

»Where she is?«, fragte der Pakistani noch einmal.

Moritz drehte sich wieder um und sah Lothar an. »Warte mal einen Moment draußen«, sagte er.

Lothar öffnete die Tür und stieg aus. Er war froh, seinen Dufflecoat angezogen zu haben. Im Wagen war ihm zu warm gewesen, aber hier draußen roch die Luft nach Frost. Er holte seine Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an, die vorletzte aus der Packung. Daniel stieg ebenfalls aus und setzte sich jetzt auf die Rückbank, neben den Paki. Lothar ging ein paar Schritte vom Wagen weg, nur ein paar Meter in Richtung Straße. Die Nacht war still, er hörte nichts, nicht einmal den Wind. Durch das Rückfenster konnte er sehen, dass Daniel auf den Typen einredete. Die Innenbeleuchtung des Sierra war aus, aber die Scheinwerfer brannten, und Lothar sah, dass Moritz sich umgedreht hatte und auch etwas sagte. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Wort drang heraus, nur dumpfes Gemurmel.

Der Radscha saß ganz still. Reglos blickte er nach vorn, als könnte er den Blick nicht von irgendetwas vor der Windschutzscheibe lösen. Plötzlich packte Daniel seinen Oberarm und schüttelte ihn wie ein nerviges Kind. Der Paki rief »No«, mehr nicht. »No, no!«

Die Tür auf der Beifahrerseite ging auf, und Moritz stieg aus. Fast im selben Moment öffnete sich die Hintertür auf der Fahrerseite, als Daniel ebenfalls ausstieg. Er ging hinten um den Wagen herum und öffnete die andere Hintertür, wie ein Chauffeur. Der Radscha streckte ein Bein heraus, dann einen Arm, dann den Kopf, dann das zweite Bein.

Plötzlich rannte er los. Er stieß Moritz beiseite und lief weg, rannte den Weg hinunter, tauchte unter dem Stacheldraht durch und rannte weiter, über die Wiese, und dabei schrie er »Mama«. Er rief tatsächlich »Mama, Mama!«, und seine rote Daunenjacke leuchtete wie Klatschmohn, wenn er ins Licht geriet.

»Scheiße, der haut ab!«, brüllte Daniel. »Los, wir müssen ihn schnappen!« Er rannte sofort los, Moritz auch, beide unter dem Stacheldraht durch und hinter dem Radscha her über die Wiese. Lothar warf seine Zigarette weg und trat sie aus, bevor auch er losrannte, dahin, wo er die drei Männer sehen konnte. Er lief nicht so schnell, weil er Angst hatte, im Dunkeln gegen irgendetwas zu rennen oder hinzufallen. Er hörte die anderen rufen und keuchen, und seine eigenen Atemstöße hörte er auch, ein Hecheln, das flach aus seinen Lungen drang, dazu seine Schritte im Gras, das Reißen der Halme.

»Ich hab ihn«, rief Moritz auf einmal. »Fass mal mit an«, dann: »Halt ihn fest!« Dann hörte Lothar einen Schrei und blieb kurz stehen. Seine Brust schmerzte. Sein Herz hämmerte, und er hatte einen komischen Geschmack im Mund, wie von Rost oder Kupfer.

Er ging jetzt langsamer, das letzte Stück nur mit tastenden Schritten, bis er die anderen erreicht hatte. Im Mondschein konnte er sehen, dass Moritz dem Radscha den rechten Arm auf den Rücken gedreht hatte, Daniel umklammerte den linken. Der Pakistani stand etwas vornübergebeugt, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er stöhnte leise. Als er sich aufzurichten versuchte, verdrehte Moritz den Arm weiter und drückte ihn nach oben, hinauf zu den Schulterblättern. »Schön stillhalten«, sagte er. »Don’t move!«

»Hast du ihn?«, fragte Daniel, nur leicht außer Atem.

»Ja. Holt mal den Wagen her, ich passe solange auf ihn auf.« Moritz versetzte dem Radscha einen Tritt in die Kniekehle. Der Typ stürzte nach vorn, aber Moritz hielt weiter seinen Arm, und als er lag, stemmte er ihm ein Knie auf den Rücken. Der Paki wehrte sich nicht. Er stöhnte nur, es klang fast wie ein Winseln.

Daniel sagte: »Komm«, und er und Lothar gingen zurück zu dem Sierra, der mit eingeschaltetem Abblendlicht und offenen Türen auf dem Feldweg stand. »Was geht hier eigentlich ab?«, fragte Lothar, noch immer mit dem komischen Geschmack im Mund. »Was hat der Typ denn verbrochen?«

»Erzähl ich dir später«, antwortete Daniel. Er wirkte irgendwie abwesend. »Jetzt holen wir erst mal das Auto.«

»Und dann? Was passiert dann? Ihr habt gesagt, ihr wollt bloß mit ihm reden.«

Daniel antwortete nicht. Er blickte sich auch nicht um.

»Wenn ich da in irgendwas mit drinhänge, will ich wissen, was das ist«, sagte Lothar.

»Er hat was genommen, das ihm nicht gehört.«

»Was?«

»Geld, das für jemand anderen bestimmt war. Er sollte etwas liefern, und das hat er nicht getan.«

»Was liefern? Für wen war das Geld?«

»Das brauchst du nicht zu wissen, glaub mir. In deinem eigenen Interesse.« Als sie beim Wagen ankamen, sagte Daniel: »Fahr du.« Der Schlüssel steckte. Lothar setzte sich hinters Steuer. Er wartete, bis Daniel saß und die Tür zugezogen hatte. Dann fuhr er den Feldweg entlang, bis sie an ein Tor im Zaun gelangten. Das Tor stand halb offen. Daniel sagte: »Was ist denn da los? Mach mal das Fernlicht an.«

Jetzt beleuchteten die Scheinwerfer das Tor und die ganze Wiese dahinter, und da stand Moritz mit den Händen in den Taschen seiner Jeansjacke, und zu seinen Füßen lag der Radscha auf dem Rücken, ohne sich zu bewegen. Daniel stieg aus. Langsam ging er durch das Tor und durch das Gras. Lothar schaltete in den Leerlauf und stieg auch aus. Er hörte, wie Daniel fragte: »Was ist los? Was ist passiert?«

»Wir können keine Zeugen gebrauchen«, sagte Moritz nur.

»Ist er tot?«

Moritz antwortete nicht, aber es war klar, dass der Radscha nicht mehr lebte, obwohl Lothar kein Blut sehen konnte. Es war einfach klar. Vielleicht lag es daran, dass er jetzt noch kleiner wirkte als vorher. »Bist du noch ganz dicht?!« Lothar hatte gar nicht schreien wollen. Er merkte zu spät, dass er keine Kontrolle mehr über sich hatte, auch nicht über das Zittern, das von innen kam und seine Zähne klappern ließ. »Was willst du denn jetzt machen?«

Moritz zuckte mit den Schultern. »Das lass mal mein Problem sein. Wir müssen ihn erst mal von hier wegschaffen. Wer von euch fasst mit an?«

Die Augen des Pakistani standen offen, glänzten leblos wie die eines Steiff-Tiers. Es gab keine sichtbare Verletzung. Daniel fasste den Toten bei den Füßen, Moritz packte den Oberkörper. Sie trugen ihn über die Wiese zu dem offenen Tor, Lothar trottete hinter ihnen her, und als sie beim Wagen waren, öffnete er den Kofferraum, ohne zu merken, was er tat. Der Radscha passte genau in den Kofferraum, sie mussten nicht einmal die Rückbank vorklappen, nur seine Beine gegen den Bauch drücken.

Dann stiegen sie in den Wagen, Daniel und Moritz setzten sich nach vorn, Lothar auf die Rückbank. »Und jetzt?«, fragte er. »Was machen wir jetzt? Wie geht’s weiter?«

»Jetzt bringen wir dich nach Hause«, antwortete Daniel. »Um den Rest kümmern wir uns, damit hast du nichts mehr zu tun.« Lothar fragte nicht noch einmal, warum Moritz den Typen getötet hatte. Er saß im Dunkeln auf der Rückbank, mit dem getöteten Paki hinter sich im Kofferraum, und wie man es auch drehte und wendete, da stimmte einfach etwas nicht.

Wenn man die Zeit rückwärtslaufen ließe, so wie man einen Film rückwärtslaufen lassen kann, bis zu der Stelle, wo alle das erste Mal aus dem Wagen gestiegen waren, erst Lothar, dann Moritz, Daniel und der Radscha, und wo der Paki dann plötzlich die Flucht ergriffen hatte, wäre dann nicht in Wahrheit alles etwas anders weitergegangen?

In Wahrheit – im richtigen Film – war es nämlich so, dass Moritz die beiden anderen nicht zurückgeschickt hatte, um den Wagen zu holen, damit er mit dem Pakistani allein bleiben konnte. In Wahrheit hatten sie den Radscha erst zu dritt festgehalten und dann auch zu dritt zurück zum Wagen gezerrt, über die Wiese und unter dem Stacheldraht durch und noch ein Stück auf dem Feldweg, bis zu dem mit Abblendlicht wartenden Haribo-Auto.

In Wahrheit hatte der Paki immer weiter »Mama!« gerufen. Er hatte sich gewehrt, gegen die Griffe gestemmt, aber natürlich waren sie stärker, sie waren ja zu dritt. Sie drückten ihn wieder auf die Rückbank des Wagens, hinter den Beifahrersitz, und Moritz ging hinten um den Wagen herum und setzte sich von der anderen Seite in den Wagen, auch auf die Rückbank, neben den Radscha.

Der Radscha wollte wieder raus aus dem Wagen, warf sich gegen die Tür. Aber Lothar und Daniel hielten sie von außen zu, lehnten sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen, während Moritz ihm auf der Rückbank den ersten Schlag versetzte. Es war ein harter Schlag mit der Faust gegen den Hals, man konnte es sogar draußen hören, das dumpfe Klatschen. Danach fragte er etwas und schüttelte den Radscha, als ihm die Antwort nicht gefiel. Er schlug und schüttelte ihn, und sein Gesicht war verzerrt vor Wut.

Lothar ließ die Tür los, denn der Paki versuchte nicht mehr abzuhauen. Er ging nach hinten, zum Heck des Ford, und zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt sag mir endlich, worum es hier eigentlich geht!«, sagte er. Er sah Daniel an, der auch nicht zu wissen schien, was er tun sollte. »Was hat das arme Schwein denn angestellt? Ist das wegen der Andrea?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Andrea? Die will doch gar nichts von dem.«

»Was denn dann?«

»Er hat jemand was geklaut, Motörhead. Ein halbes Kilo.«

Lothar hatte noch nie mitgekriegt, dass Daniel oder Moritz was mit Drogenhandel zu tun hatten, außer ganz normalem Gerede darüber, was für Gewinnspannen so in dem Geschäft steckten. Sie waren gerade erst dabei, eine Firma für Computerbauteile in Mersfeld aufzubauen. »Koks? Ist der Radscha ein Kurier?«

Daniel antwortete nicht, aber er nannte ihn nur Motörhead, wenn Lothar ihm auf den Senkel ging. Er warf einen Blick ins Wageninnere, wo Moritz wieder auf den Typen einschlug. Der Paki blutete jetzt aus der Nase und aus dem linken Auge. Lothar schaute angestrengt auf die Wiese hinaus, bloß dass er trotzdem noch hörte, was da auf der Rückbank passierte. Er hörte Moritz schreien, und er hörte die Schläge, fragte sich, wie lange das noch dauern würde, hier mitten in der Pampa, in der Nacht, in der Kälte. Seine Nase lief. Er zitterte so stark, dass ihm die Zigarette aus den Fingern fiel.

Auf einmal ging die Hintertür auf der Fahrerseite auf, und Moritz stieg aus. »Wir müssen den irgendwo loswerden«, sagte er.

Lothar blickte durch das Rückfenster und sah, dass der Radscha sich nicht mehr bewegte. Er war etwas vornübergesunken, der Kopf lehnte an der Seitenscheibe, als schliefe er. »Was ist denn mit dem?«, fragte Lothar. Sein Herz schien sich zusammenzuziehen. »Hast du den jetzt alle gemacht?«

»Ging nicht anders«, meinte Moritz und rieb sich mit einem Taschentuch Blut und noch irgendwas anderes von den Knöcheln der rechten Hand. »Der hätte uns alle hingehängt.«

Daniel sagte gar nichts. Er machte einfach den Kofferraum auf und nickte Moritz zu, als wollte er sagen, also los, packen wir’s an. Lothar trat einen Schritt zurück und schob die Hände in die Taschen des Dufflecoats. Das darf ich nie jemandem erzählen, dachte er, nichts von dem, was heute Nacht hier passiert ist. Niemand wird mir glauben, dass ich unschuldig bin, dass ich nichts damit zu tun hatte.

Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass er nicht unschuldig war. Dass er eine viel größere Rolle gespielt hatte, als er zugeben wollte, sogar sich selbst gegenüber. Der Feind der Wahrheit ist nicht die Lüge, sondern eine andere Wahrheit, das hatte er mal irgendwo gelesen. Er hatte überhaupt nicht begriffen, was damit gemeint sein sollte, bis jetzt. Jetzt kapierte er es. Und wenn man die Namen vertauschte, wenn man Moritz zu Daniel machte und sich noch einmal genau anschaute, wer in dieser Nacht was getan hatte, was und wie, dann kam diese andere Wahrheit zum Vorschein. Dann war das Opfer zwar immer noch das Opfer, es blieb tot – aber war nicht jemand ganz anderer der Mörder?

Ich muss die Wahrheit sagen, dachte Lothar, irgendwann muss ich die Wahrheit sagen. Nicht die Wahrheit, die Dany von mir verlangen wird. Ich kenne ihn; ich weiß, er will, dass ich den ersten Film erzähle, von Anfang bis Ende, bis hierher. So ist er nun mal. Ich kenne ihn. Wenn die Polizei kommt – ich weiß, dass sie irgendwann vor meiner Tür stehen wird –, muss ich den Film erzählen, den ich gerade angefangen habe, aber mit den richtigen Namen. Ich weiß, dass er mich dann auch töten wird. Aber habe ich eine Wahl? Habe ich eine Wahl, seit ich Dany kenne?

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4

In Wahrheit lief es so ab: Sie schleppten den Pakistani zu dritt über die Wiese und zurück zum Wagen, wo sie ihn auf die Rückbank drückten, aber es war Daniel, nicht Moritz, der sich zu ihm setzte. Moritz und Lothar stemmten sich gegen die Hintertür, als der Radscha sie aufzustoßen versuchte, damit er nicht noch einmal abhauen konnte. Dann versetzte Daniel ihm einen Schlag ins Gesicht und drückte seinen Kopf mit dem Unterarm nach hinten auf die Hutablage. Presste ihm den Ellbogen gegen die Kehle, bis er keine Luft mehr kriegte. Dann rief Daniel: »Halt den mal fest hier, Moritz!«

Moritz machte die Tür auf, beugte sich in den Wagen und packte den Radscha am Hals, während Daniel unter den Rücksitz griff und eine Rolle Paketklebeband hervorholte. Raaatsch, zog er einen halben Meter ab und riss das breite braune Band mit den Zähnen ein – wie ein wildes Tier, dachte Lothar –, riss es ab und wickelte es um die Handgelenke des Gefangenen. Dann wieder raaatsch!, und als nächstes fesselte er die Füße. »Kannst ihn jetzt loslassen.«

Moritz schlug die Tür wieder zu, ging ein paar Schritte zur Seite und sagte: »Langsam müsste es aber reichen.«

»Worum geht es hier eigentlich?«, fragte Lothar.

»Was Privates«, antwortete Moritz.

»Ich dachte, er hat was geklaut? Koks oder so was, das jemand anderem gehört.«

Moritz antwortete nicht, sondern ging wieder zum Wagen und klopfte gegen das Fenster. Lothar sah, dass Daniel jetzt auch den Mund von dem Paki zugeklebt hatte. Das glatte Paketband reflektierte das Licht der Scheinwerfer, wenn der Kopf des Pakistani sich bewegte. Moritz öffnete die Tür und fragte: »Dauert das noch lange?«

Daniel antwortete etwas, das Lothar nicht verstand. Moritz sagte: »Mach doch, was du willst, aber das finde ich nicht in Ordnung«, und drückte die Tür wieder zu. Lothar musste auf einmal an die drei Affen denken, von denen es sogar ein Poster gab: Der eine hielt sich den Mund zu, der zweite die Augen und der dritte die Ohren. Er hätte sich jetzt gern die Ohren zugehalten. Er holte die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche. Er hatte nur noch eine Zigarette übrig. Das Heftchen mit den Streichhölzern war auch fast leer. Er zündete sich die letzte Camel an. Er rauchte und starrte auf die nächtliche Landstraße, auf der die ganze Zeit nicht ein einziges Auto vorbeigefahren war.

Moritz trat neben ihn, schaute auch zur Straße rüber. Er bewegte die Schultern hin und her, als wäre ihm kalt. »Das ist echt nicht in Ordnung«, sagte er.

»Was macht er mit ihm?«, fragte Lothar.

Moritz sagte nichts. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, erst kurz nach elf. Aus dem Wagen drang kein Geräusch mehr, keine Frage, keine Schläge, kein Stöhnen.

Er bringt den Radscha um, dachte Lothar, das passiert da gerade. Der Rest der Zigarette verbrannte ihm die Finger. Er ließ sie fallen und trat sie aus. Ich kann doch nicht einfach hier stehen bleiben und nichts tun. Ich sag jetzt, dass ich da nicht mehr mitmache. Er ging zum Wagen und warf einen Blick in den Wagen.

Scheiße!

Daniel saß auf der Rückbank, ohne sich zu bewegen. Er starrte ins Leere. Sein Gesicht sah seltsam aus, verschwitzt und fast leuchtend, als hätte er gerade etwas ganz Besonderes erlebt, etwas Neues und Unerhörtes, eine Erscheinung, für die es keine Worte gab.

Der Pakistani saß neben ihm, sein Kopf war zur Seite gekippt, gegen den Fensterrahmen. Auch er bewegte sich nicht. Seine Augen standen offen, und auf seinen Lippen glitzerte etwas Speichel, dick wie frisch aus der Tube gedrückter Uhu. Er war noch immer mit den Paketstreifen gefesselt, nur der von seinem Mund hatte sich gelöst und hing halb herunter.

Plötzlich durchlief Daniel ein Schauer, und er blickte Lothar aus dem Halbdunkel direkt ins Gesicht. Für eine Sekunde sah es fast so aus, als lächelte er, ganz kurz nur und wahrscheinlich auch bloß so, als ob. Dann tauchte Moritz neben Lothar auf und schrie: »Hast du den jetzt echt totgeschlagen?«

»Nein.« Daniel schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn erwürgt.«

»Das ist doch scheiße!«

Daniel stieg aus. »Ist eben passiert.« Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Ich konnte nicht riskieren, dass er uns wegen Entführung anzeigt. Der wäre zu allem fähig gewesen.«

»Und was jetzt?«

Daniel machte den Kofferraum auf, öffnete die Tür neben dem Toten und packte seinen rechten Arm. »Wir müssen ihn verschwinden lassen. Hilf mir mal.«

Moritz fasste mit an, nahm eines der Beine von dem Paki. Sie zogen ihn raus und kippten ihn in den Kofferraum, erst den Oberkörper, dann die Beine, die sich leicht anwinkeln ließen. Er war so klein, dass es kein Problem gab, mit den Knien an der Brust. Lothar stand ein paar Meter weit weg und begriff immer noch nicht ganz, was passiert war. Nicht einmal, als Moritz ihm einen leichten Stoß versetzte. »Los, steig schon ein.«

Lothar sagte: »Ich will nach Hause.« Er stieg ein, setzte sich auf die Rückbank, aber nicht dahin, wo der Radscha gesessen hatte. »Was riecht denn hier so komisch?« Es roch nach Pipi, als hätte jemand in den Wagen gepinkelt. »Scheiße, der hat sich in die Hose gepisst!«

»So was passiert«, sagte Moritz. »Sieh zu, dass du den Geruch rauskriegst, bevor wir Robert die Karre zurückgeben.«

Daniel ließ sich hinter das Lenkrad fallen, als wäre er total ausgepumpt. Er legte den Rückwärtsgang ein und verdrehte den Kopf, um durch das Heckfenster zu schauen, während er den Sierra über den Feldweg zurücksetzte. Er sah Lothar nicht an. Er sagte nur: »Von der Sache hier darf niemand was erfahren, klar? Du hängst mit drin.«

»Ich hab doch nichts gemacht«, protestierte Lothar. »Das war von Anfang bis Ende eure Angelegenheit. Ich kannte den doch nicht mal bis eben erst.«

»Das wissen aber nur wir drei«, sagte Daniel. Da war er schon auf der Landstraße und schaltete von Abblendlicht auf Fernlicht um, während er richtig Gas gab. »Du warst dabei, und wenn du nicht die Klappe hältst, sagen wir, dass du den Radscha umgebracht hast, stimmt’s, Moritz?«

»Aber hallo«, sagte Moritz.

Lothar spürte, dass sein Nacken ganz steif und kalt war, es tat fast weh. Er sagte nichts, und die anderen sagten auch nichts mehr, eine Dreiviertelstunde lang, bis sie das Haus von Lothars Eltern am Rand von Mersfeld erreichten. Vor dem Haus stand ein dunkelgrüner VW-Transporter mit Doppelkabine und einem grauen Planenaufbau über der Ladefläche. Der Wagen diente Lothar als provisorisches Firmenfahrzeug seiner für nächstes Jahr geplanten eigenen Werkstatt, Schmidts Happy Tuning. Daniel hielt dahinter, ohne den Motor auszustellen. »Das ist doch deiner, oder?«, sagte er.

»Ja«, bestätigte Lothar.

»Okay, dann fahr uns mal nach.«

»Wieso?«

»Wir müssen den Radscha umladen.« Daniel betrachtete Lothar im Innenspiegel. »Robert will den Sierra hier morgen früh wiederhaben.«

»Aber ihr könnt den dahinten doch nicht in meinen Wagen«, fing Lothar an, »ihr könnt ihn doch nicht in –«

Moritz drehte sich zu ihm um. »Fahr uns einfach nach. Dann sehen wir weiter.«

Lothar stieg aus, immer noch wie benommen. Er ging zu dem VW und griff hinter die Heckstoßstange, wo innen der Zündschlüssel versteckt war. Am liebsten wäre er einfach ins Haus gegangen und hätte sich schlafen gelegt. Er stieg ins Fahrerhaus und wartete, bis der Sierra vorbei war, dann hängte er sich dran. Seine Scheinwerfer beleuchteten den Kofferraum des Ford, und die ganze Zeit sah er den toten Paki vor sich, wie er da drinlag, als wäre das Heck des Ford durchsichtig oder als hätte der Kofferraum keine Haube. Sie fuhren wieder Landstraße, diesmal Richtung Osnabrück, bis sie an einen anderen Feldweg kamen.

Daniel bog in den Feldweg. Lothar bremste, folgte ihm aber nicht sofort. Ein paar Sekunden lang dachte er, fahr einfach weiter, fahr immer weiter, irgendwohin, wo sie dich nicht finden. Doch dann schlug er das Lenkrad ein und fuhr dem Sierra nach, bis man sie von der Straße aus nicht mehr sehen konnte. Daniel hielt wieder. Lothar kriegte das zu spät mit und trat erst auf die Bremse, als er dem Sierra einen leichten Stoß versetzt hatte. Er legte den Rückwärtsgang ein, um ein Stück zurückzusetzen. Es knirschte etwas. Dann hielt er und stellte den Motor ab. Wie gelähmt blieb er hinter dem Steuer sitzen, als Daniel den Kofferraum des Sierra öffnete und sich zusammen mit Moritz über den toten Radscha beugte.

»Schlaf nicht ein!«

Lothar stieg aus, mechanisch, wie ein Roboter. Er öffnete das Staufach des Transporters und trat zur Seite. Der Tote war noch immer beweglich, schlaff, und hing in der Mitte durch, als Daniel und Moritz ihn aus dem Kofferraum hoben und zu dem VW-Bus trugen. Die Öffnung des Staufachs war ungefähr einen halben Meter mal einen halben Meter groß, sodass man den Leichnam ganz einfach der Länge nach hineinschieben konnte. Das Paketband knisterte etwas, aber man musste die Beine nicht anwinkeln, der Tote passte ganz hinein. Lothar sperrte das Staufach wieder ab. »Ich fahr dann mal. Ich bin wirklich müde.«

Die beiden anderen nickten, Moritz klopfte ihm auf die Schulter. »Stell den Bus wieder vor eurem Haus ab. Du kriegst noch Bescheid, wie’s weitergeht.«

»Sollen wir telefonieren? Ich weiß gar nicht, wie ich euch erreichen kann.«

»Ich rufe dich morgen an«, sagte Daniel. »Mach dir keinen Kopf. Ich habe alles unter Kontrolle.«

Lothar sah noch zu, wie sie sich wieder in den Sierra setzten, bevor er ebenfalls hinters Lenkrad kletterte und langsam zurücksetzte. Als er die Landstraße erreichte und das Ruckeln der Karosserie aufhörte, schaltete er krachend in den ersten Vorwärtsgang und fuhr zurück nach Mersfeld. Eine Zeit lang war der Sierra noch hinter ihm, aber dann verschwanden die Scheinwerfer, und er war allein auf der Straße.

Der ganze Abend kam ihm wieder vor wie ein Film, in dem er mitspielte. Es war gar nicht wirklich. Er hatte zugesehen, wie ein Mensch getötet wurde, und jetzt lag der Tote in seinem Wagen. Er fuhr mit der Leiche durch die Nacht zum Haus seiner Eltern, aber es war nicht wirklich. Er wusste, was wirklich war: In ein paar Tagen ist Heiligabend, das ist wirklich.

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5

Sommer 1996 Anderthalb Jahre später

Der Ofen war schwerer, als Daniel erwartet hatte; Lobeck und er brauchten ihre ganze Kraft, um ihn hinten in den Transporter zu wuchten. Allein kriege ich den da nie wieder raus, dachte er. 1,80 Meter lang, 60 Zentimeter breit und 50 hoch. Die Filzdecke auf der Ladefläche verrutschte, und es war klar, dass der Ofen fixiert werden musste, damit er während der Fahrt nicht dauernd hin und her schlug. Daniel wischte die Hände an der Jeans ab. »Bringt der auch wirklich die vollen 1600 Grad?«