Die Empörung - Wladyslaw Stanislaw Reymont - E-Book

Die Empörung E-Book

Wladyslaw Stanislaw Reymont

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Beschreibung

Der vom Hof gejagte Schäferhund Rex überzeugt die Tiere, sich der Ausbeutung und Unterdrückung durch die Menschen ein für alle Mal zu entziehen. Riesige Herden formieren sich und folgen Rex auf dem Weg nach Osten in das verheißene »gelobte Land« der Freiheit. Es kommt zu erbitterten Schlachten, aus denen die Tiere trotz hoher Verluste als Sieger hervorgehen. Aber auf dem Marsch in eine vermeintlich bessere Zukunft werden sie durch Naturgewalten und die Strapazen des Weges mehr und mehr dezimiert. Nur ein kleines Häufchen enttäuschter Vierbeiner überlebt. Desillusioniert lehnen sie sich gegen Rex und seine Gehilfen auf. Unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution geschrieben, wird Reymonts Buch oft mit Orwells »Farm der Tiere« verglichen, ist aber mehr als 20 Jahre früher erschienen. In seinem Entstehungsland Polen fiel der Roman nach dem Zweiten Weltkrieg der Zensur zum Opfer und geriet jahrzehntelang in Vergessenheit.

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INHALT

ERSTER TEIL

1. Im Wirtschaftshof

2. In Bruch und Moor

3. Im Urwald

4. Der Aufruhr

5. Der Auszug der Tiere

ZWEITER TEIL

6. Die Freiheit

7. Die Erfüllung

8. Die letzte Grenze

*

ERSTER TEIL

1.

IM WIRTSCHAFTSHOF

Jetzt wollen wir abrechnen, du Stinkhund!“ schrie das Weib triumphierend, nachdem sie Rex in die Küchenecke gejagt hatte, und begann auf das hingekauerte Tier mit dem Ofenhaken dreinzuschlagen, bei jedem Hieb ihm verbissen seine Gewissensrechnung vorzählend: „Da hast du für den Braten! Da, für die gestrige Wurst! Da für die Truthennen!“ — Der Hund wand sich unter den niedersausenden Schlägen und leckte unter flehendem Winseln die Füsse seiner Herrin. — „Und da hast du für die Dachshunde, du dreckiger Bauernköter, damit du dir merkst, dass du von den herrschaftlichen Hündchen abbleiben sollst, du Aas! Und da, dass dich endlich einmal der Teufel hole!“

Damit versetzte sie dem Hund einen solchen Schlag auf den Kopf, dass er aufheulte, das Weib mit gefletschten Zähnen ansprang, sie mitten in der Küche zu Boden riss und davonrannte. Sie stürzte ihm mit lautem Fluchgeschrei nach.

Aber Rex war schon im nahen Dickicht der Flieder-und Akazienbüsche verschwunden. Er versuchte, obgleich arg zerschunden, mit dem letzten Rest seiner Kräfte ein besseres Versteck kriechend zu erreichen, als von der Küche her abermals gellendes Geschrei ertönte.

Die Wirtschafterin hielt den Stummen an den Zotteln fest und hieb erbarmungslos auf ihn ein.

„Du niederträchtiger Wechselbalg! Du bist ja noch viel schlimmer als der räudige Hund. Deine Kaldaunen werd ich dir herausprügeln, du schlimmer Dieb! So was füttert man auf aus Gnade, und das will noch stehlen!“

Sie brüllte aus Leibeskräften, und da der Junge ebenfalls markerschütternd schrie und sich vergeblich der eisernen Umklammerung ihrer Krallen zu entreissen versuchte, geriet der ganze Wirtschaftshof des Herrenhauses in Aufruhr. Die Kettenhunde begannen an ihren Ketten zu zerren und zu winseln. Aus den Hühnervolieren wurde erschrockenes Gegacker vernehmbar. Die Perlhühner flüchteten mit ängstlichem Geschrei auf die anliegenden Dächer. Die Tauben flatterten davon, um sich in den Bäumen am Brunnen zu verstecken. Die erregten Truthähne blähten ihre korallenroten Warzen und Schwänze auf und trippelten unter drohendem Kollern erregt auf der Stelle umher. Die Pfauen flogen von der Veranda des Herrenhauses herbei, entfalteten die regenbogenfarbenen Reife ihrer Räder und brachen in ein verächtliches Kreischen aus. Selbst die Hausherrin eilte aus dem Schloss herbei, hinter ihr das Gutsbesitzerssöhnchen mit der Flinte, die jungen Fräulein mit ihren Puppen im Arm und die beiden Dachshunde, die sich mit schlangenartigen Bewegungen um ihre Herrschaft eifrig zu schaffen machten.

Da liess die Wirtschafterin den Stummen endlich los und gab ihren Tränen und Klagen freien Lauf.

Der Stumme sprang in die Büsche und sank wie ein Stück Holz neben Rex zu Boden.

Sie lagen beide da, ganz erschöpft und kaum mehr bei Sinnen — beide im gleichen Masse verprügelt und beide gleich unglücklich.

Die Sonne wärmte, und ein laues Lüftchen drang durch die Büsche; das Säuseln der Blätter und das Summen verschiedener Insekten klang so süss und einlullend, dass die beiden alsbald in Schlaf sanken. Und noch im Schlaf war es, als ob sie sich über das ihnen geschehene Unrecht beklagen wollten, denn ein leises Winseln und klägliches Schluchzen mischte sich in ihre Atemzüge. Plötzlich und lautlos erschien in ihrem Versteck ein grosser schwarzer Kater, ein Freund von Rex aus vergangenen Tagen, und schmiegte sich, nachdem er behutsam herumgeschnuppert hatte, mit mitleidsvollem Schnurren an den Hund an.

Dann liessen sich ein paar Krähen auf die niederhängenden Zweige der Akazienbäume herab und bohrten ihre diebischen Augen ins Dickicht; sie wetzten unaufhörlich ihre Schnäbel und versuchten, immer frecher werdend, sich noch tiefer herunterzulassen.

„Ich bin noch nicht verreckt!...“ knurrte Rex, sie mit gehässigem Blick anstarrend; er leckte das blutige und verweinte Gesicht des Stummen ab und zerrte mit einem festen Ruck an seinen Kleidern, bis der Junge aufwachte.

„Wir müssen weglaufen, sonst spüren sie uns noch auf...“ stotterte der Junge; sie verstanden einander vortrefflich.

„Ich warte, bis es Abend wird! Sie werden mich noch tot schlagen, und verteidigen kann ich mich nicht.“

„Die hat dich aber zugerichtet!“ klagte der Stumme, dem Freunde die Seiten und die vereiterten Augen mit einem Grasbüschel abwischend. Rex liess ab und zu ein dankbares Winseln vernehmen.

„Jag’ diese niederträchtigen Schnäbel fort“ — knurrte er dem Kater zu. „Diese Stinkluder, die sind noch viel schlimmer als die Menschen.“

„Ich bringe dich bis zum Kuhstall, da kenne ich ein gutes Plätzchen unter den Krippen,“ schlug der Stumme vor.

„Es ist doch gleich Mittagszeit, und diese Herumtreiber von Schäferhunden könnten mich noch ’rankriegen. Ich bin ganz ausser Kräften. Und Durst hab ich... einen Durst...!“

„Ich will mal nachsehen, ob da nicht einer am Brunnen ist,“ flüsterte der Kater besorgt. „Bleib ruhig liegen, ich werde schon für Wasser sorgen.“

Bald darauf brachte er Wasser in einem Tonscherben und hielt es dem Freunde hin.

„Aber die Täubchen hast du mir ausgeholt,“ warf er dem Kater hin.

„Dem Schmied sein Jendrek hat sie ausgeholt, das Mutterschwein hat es gesehen, sie kann es bezeugen. Ein Räuber ist der, er hat auch die jungen Spatzen unter dem Storchnest weggeholt; selbst den Elstern hat er die Kleinen weggefangen, wofür mich die Alte so angefallen hat, dass ich kaum mit heiler Haut davongekommen bin. Ein Dieb ist das, und jetzt sucht er nach den Nachtigallennestern. Die Lora hat ihn selbst schon deswegen angeschrien.“

„Und lass du nur den Papagei in Ruh!“ knurrte Rex drohend.

„Dem Schmied sein Jendrek! Na warte, du Hundsfott! Ich geh jetzt die Gänse vom Feld eintreiben und dann bring ich dir was vom Mittagessen. Bleib hier und warte auf mich!“ Er steckte die Finger in den Mund und stiess einen so durchdringenden Pfiff aus, dass die aufgescheuchten Krähen auf und davon flogen.

Auch der Kater schlich weg, behutsam und auf Umwegen die Richtung nach der Gesindeküche nehmend.

Gerade erklang die Mittagsglocke, und der Wirtschaftshof füllte sich mit einem wachsenden Lärm von Tier- und Menschenstimmen, mit dumpfem Wagenrollen und dem schweren Getrampel der zusammengetriebenen Herden. Das Knarren der Brunnenschwengel wurde laut. Aus den Schweineställen kam ungeduldiges Gegrunze. Die Schwalben zwitscherten lauter auf und wurden plötzlich still, und dann war es, als ob alle Stimmen in der Sonnenglut verbrannt wären und in der lähmenden Stille des heissen Sommermittags zerstäubten.

Rex leckte seine Wunden ab und wachte. Zuweilen spitzte er die Ohren, hob ab und zu den Kopf und schnüffelte in der Luft herum; dann wieder begann er einzuschlafen, leise vor sich hinwinselnd.

Die Sonne sang ihren Mittagshymnus: die glühende Luft erzitterte von der Musik der Strahlen, und alle Stimmen der Natur, in ihrer grossen Unendlichkeit, flossen zusammen zur goldenen Symphonie des Lichts. Alles wurde Klang, Farbe und gespenstiger Umriss zugleich. Die Mittagsgöttin mit dem Habicht auf dem Haupte schwebte über dem Lande, und was ihr goldener Kleidersaum berührte, verdorrte zu Staub; wohin ihr Blick fiel, der gelb war wie die Blume des Bilsenkrautes, da erntete der Tod reichen Ertrag: hier fiel ein Vogel tot vom Zweig, dort welkte eine Blume dahin, weiter starben Käfer, und selbst die glitzernden Bäche verschleierten sich ohnmächtig unter dem Hauch der Hitze. Auch Rex duckte sich, ängstlich bebend, und schmiegte seinen Kopf an den feuchten Boden, zwischen den kühlenden Gräsern. Die Mittagsgöttin schwebte lautlos vorüber, und hinter ihr schleppten sich die ängstlichen Rufe der Kreatur und die finsteren Furchen der Schatten, die sich in das Sonnenlicht eingruben.

Der Hund aber liess sich in seinem schmerzlichen Halbschlummer von allerhand Erinnerungen überwältigen. Und der ferne Glanz vergangener Zeiten machte ihn sein Elend vergessen. Der Glanz jener Zeiten, in denen ihn eine unzertrennliche Kameradschaft mit allen Insassen des Herrenhofs verband: damals, als er sich noch auf den Teppichen rekeln durfte, geliebt und gestreichelt wurde. Wenn es der Herr befahl, war er bereit, dem eigenen Bruder-Hund zu Leibe zu gehen oder gar einen Menschen in Stücke zu reissen. Er ging doch ganz allein auf die Wolfsjagd. Ganz allein jagte er die Wildeber aus ihren sumpfigen Schlupfwinkeln heraus. Wenn seine donnernde Stimme erklang, zitterte alles im Hof, im Park und auf den Feldern. Selbst die Stiere konnten seinen Zähnen nicht standhalten. Und wie war das nun gekommen? Wie konnte das geschehen, dass er jetzt ein herrenloser Bettler war? Dass er in Verachtung, Elend, Verlassenheit seine Tage dahinschleppen und schäbigen Abfall stehlen musste, um zu leben? Er konnte es nicht begreifen. Der Schmerz wühlte mit eisernen Krallen dermassen in seinen Eingeweiden, dass er sich jäh emporreckte und verzweifelt aufheulte. Er war von gewaltigem Wuchs, fahlgelb wie ein Löwe, und trotz der eingefallenen Seiten und des mit Wunden bedeckten Rückens sah er noch drohend und mächtig aus. Er liess seine blutunterlaufenen Augen rollen, fletschte die grossen scharfen Zähne, und ohne auf seinen Schmerz zu achten, schleppte er sich entschlossen zur hohen Säulenlaube des Herrenhauses, zu jedem Kampf bereit, um nur zu seinem Herrn zu gelangen und ihm sein Leid klagen zu dürfen. Alles war leer, und die Türen zur Vorhalle standen sperrangelweit offen. Er betrat kühn das Innere des Hauses, blieb einen Augenblick unentschlossen stehen, witterte in der Luft umher und schlich weiter durch die lange Zimmerflucht. Er durchlief ein Zimmer nach dem andern, blieb in jedem stehen, die Gegenstände beschnüffelnd und beäugend. Immer langsamer kam er vorwärts, wie von einer Last bedrückt. Viele längst vergangene Düfte erweckten in ihm die Erinnerung an jene vergangenen Tage. Ersterbende Laute, der Atem nicht mehr lebender Dinge, gespenstige Spiegelungen gewesener Menschen irrten durch die grossen düsteren Räume. Jeder Gegenstand erzählte ihm eine lange Geschichte, bis er mit einemmal wieder fühlte und wusste, was hier geschehen war. In einem Zimmer, in dem an den Wänden verschiedenes Jagdgerät glänzte, stellte er sich auf die Hinterpfoten, streckte sich bis zur Höhe der altgewohnten Dinge und entdeckte unter verwittertem Pulverdunst und dem scharfen Geruch der Waffen die Witterung seines Herrn. Die Erinnerung liess aus dunklen Höhlen immer lebendigere Bilder aufsteigen. Er streckte sich vor dem erloschenen Kamin auf dem flauschigen weissen Bärenfell aus. Es war ihm, als fühlte er die Wärme des Herdfeuers und die liebkosende Hand des Herrn auf seinem Rücken, sodass er vor Freude aufwinselte und seine Zunge herausstreckte, um ihn zu lecken — aber es war niemand da. Draussen hinter dem Fenster zwitscherten die Vögel, spielte das Sonnenlicht und flüsterten die Bäume. Er flüchtete in den Nebensaal, der einsam im Halbdunkel lag; Fliegen summten hinter den halbverschlossenen Fensterläden. Die riesigen Spiegel waren mit Flor verhangen. Die Luft war schwül und muffig und erinnerte an den Geruch, der aus geöffneten Kirchentüren strömt. In der Mitte des Saales duckte er sich ängstlich, denn es umfing ihn plötzlich etwas wie Leichenhauch. Er konnte nicht begreifen. Ein Zittern durchrieselte ihn, und unruhig liess er seine Augen über die Wände schweifen, von denen grosse Gestalten mit unbeweglichen Blicken auf ihn niederschauten. Er kuschte sich, denn sie schienen so streng auf ihn zu blicken, dass ihn die Angst befiel. Er wollte schon an den Wänden entlang davonschleichen, als er mit einemmal seinen Herrn erblickte — er sass zwischen den beiden Fenstern und hatte einen grossen Hundekopf auf seinen Knien. Rex liess ein eifersüchtiges Knurren hören, kroch dann aber leise winselnd näher, mit dem Schweif gegen den Fussboden klopfend. Der Herr rührte sich nicht, rief ihm nicht zu.

Rex sprang zurück wie in Furcht vor einem jähen Hieb, dann aber fiel er ihm wieder zu Füssen, und gestand ihm, die tränenden Augen auf ihn geheftet, mit abgerissenem Jaulen sein Elend und sein Unglück.

Ein grauer Schatten schien sich vom Bilde zu lösen — unbestimmt in seiner Formlosigkeit und wie verweht, schwebte er zuckend auf ihn zu. Rex wurde von plötzlicher Furcht gepackt. Sein Fell sträubte sich, und mit den Zähnen klappernd zog er sich zurück, Laute wilden Entsetzens von sich gebend. Lange noch konnte er im Nebenzimmer nicht zu Atem kommen und wagte nicht, sich zu rühren, wie erstarrt vor Furcht und vor unwiderstehlichem Verlangen, seinen Herrn noch einmal wiederzusehen. Aber er fand doch den Mut nicht mehr, den Saal abermals zu betreten, witterte noch einmal in der Luft herum, kniff den Schwanz ein und rannte in die kleinen Zimmer, die ganz in Sonne badeten. Auch da war kein Mensch zu sehen.

Durch die offenen Fenster drang die Musik des Gartens und die Freude des Lichts herein. Er stiess mit der Nase gegen verschiedene Spielsachen, die da herumlagen, beleckte einige liebkosend, und wandte sich, nachdem er sich an all den lieben Düften gesättigt hatte, der grossen Gartenterrasse zu, die von einem Zelt blühender Rosen und Winden überschattet war.

Ein erquickender Schatten, von Sonnenflecken durchsiebt, breitete sich dort aus, und in den Ecken, in alten Ledersesseln wartete süsse, beruhigende Kühle.

Eine Garbe lebendigen Wassers glitzerte und funkelte vor der Gartenterrasse.

„Rex! Rex!“ kreischte der Papagei in seinem goldenen Reif ihm freudig entgegen.

„Ich hab dich gesucht!“ knurrte er zurück und legte sich wie einst in einem der Sessel zurecht. Sie lebten seit langem in grosser Freundschaft. Lora flatterte auf die Lehne seines Sessels und begann ihm mit kreischender Stimme allerhand Neuigkeiten zu erzählen, dabei unaufhörlich mit den Flügeln schlagend. Er hatte noch nicht Zeit gehabt, der Freundin alles zu beichten, als mit lautem Gejaffel die Dachshunde auf die Gartenterrasse stürzten. Hinterdrein erschienen die Hausherrin, das junge Herrensöhnchen mit seiner Flinte und ein ganzer Haufen Menschen.

„Lauf! Lauf!“ schluchzte Lora auf.

Aber es war schon zu spät. Die Gutsherrin fiel, laut schreiend, über ihn her:

„Mach, dass du raus kommst! Raus von hier, du abscheuliches Tier! So ein widerwärtiger Hund! Raus!“

Und zugleich fühlte er die Zähne der Dachshunde in seinen Beinen und schmerzliche schwere Hiebe auf seinem Rücken.

Wütend über die Erniedrigung und den Schmerz, langte er sich mit einem mächtigen Griff die beiden elenden Dackel und begann sie erbarmungslos zu zausen, ohne auf das Geschrei der Menschen, das über ihn strömende Wasser und die dicht hintereinander niederhagelnden Stockhiebe zu achten.

„Lauf! Lauf! Rex! Rex!“ schluchzte der Papagei unaufhörlich.

Er schüttelte schliesslich die Angreifer von sich ab und gelangte mit einem kühnen Löwensprung auf die Rasenfläche vor der Terrasse. Doch bevor er das Gebüsch erreicht hatte, prasselte etwas wie eine Handvoll von beissenden Kieselsteinen gegen seine Rippen, und ein Knall erschütterte die Luft. Unter diesem furchtbaren Schlag vergrub er den Kopf ins Gras; aber noch einmal raffte er den Rest seiner Kräfte zusammen und warf sich unter das tief herabhängende Gezweig einiger in der Nähe wachsender Tannenbäume. Abermals erdröhnte ein Schuss, und kleine Tannenzweiglein rieselten auf ihn herab, wie eine Flut grüner Tränen. Ohne länger zu warten, kroch er durch das Gartengestrüpp zum Wirtschaftshof hinüber, in die Nähe der Kuhställe; dort verbarg er sich in einer Hundehütte und brach fast bewusstlos vor Schmerz zusammen. Der alte Kettenhund Krutschek trat ihm sofort sein Lager ab und heulte, wütend an seiner Kette zerrend, als wollte er um Hilfe rufen.

„O, diese tollen Wölfe! und das wollen Menschen sein!“ klagte der Stumme, der von den Elstern unterrichtet worden war und angelaufen kam, um dem Freund beizustehen. Er besprengte ihn mit Wasser und schob ihm etwas Milch zu.

„Trink, Bruder! Ich habe soeben für dich eine Kuh gemolken,“ sagte er und betastete vorsichtig seine Rippen.

„Im Herrenhaus haben sie mich geschlagen, im Herrenhaus!“ jammerte Rex kläglich und zitterte unter plötzlichen Kälteschauern und dem Gefühl jähen, stechenden Schmerzes.

Der Bursche hüllte ihn wie ein krankes Kind in Säcke ein, streichelte ihn zärtlich und wandte sich an Krutschek:

„Wenn du ihm etwas antust, dann werde ich dich wie einen Hund erschlagen!“ Darauf rannte er zu seinen Gänsen zurück.

Und es kamen schwere Tage, in denen Rex zwischen Leben und Tod schwebte — seine Wunden zehrten an ihm, die Sonne sengte erbarmungslos, die Fliegen quälten ihn; aber am schwersten zu ertragen war seine trübe Einsamkeit.

Nur die Nächte brachten Kühle und Linderung. Der Stumme trug ihm Wasser und Essen herbei, und lange Stunden beweinten sie zusammen ihr gemeinsames Los. Er hatte nämlich erfahren, dass man Rex suchte, um ihn totzuschlagen, und ihn selbst wollte man vom Hof jagen.

„Ich spring in den Teich, dann ist es zu Ende! Was soll ich noch!“ beschloss der Junge. „Aber du tust mir leid, du Aermster! Fortlaufen musst du in die weite Welt! Und was sollst du da beginnen?“ jammerte er.

„Wenn ich erst wieder gesund wäre!“ stöhnte Rex und leckte den Jungen voll Dankbarkeit.

„Wir geben ihn nicht heraus!“ knurrte Krutschek kampfbereit.

Er teilte mit Rex nicht nur sein Lager, sondern auch jede Schüssel Essen und alles, was er in den freien Nächten erjagte.

Und ausserdem hatte sich der ganze Hof verschworen, Rexens Versteck vor den Menschen geheim zu halten.

Der Stumme hatte nämlich wissen lassen, dass er jedem, und wenn es selbst ein Reithengst wäre, die Beine ausrenken würde, der es wagen sollte, Rex zu verraten. So heilte sich dieser denn in aller Stille langsam aus, vom allgemeinen Wohlwollen umgeben. Selbst die Schäferhunde trugen ihm die ehemaligen Kämpfe um die Hühnerhündin nicht nach und besuchten ihn insgeheim. Allmorgendlich begrüssten ihn mit ihrem Brüllen die auf die Weiden ausziehenden Herden. Zuweilen, zur Mittagszeit, wenn alles von der Tränke zurückkehrte, neigte sich ein gehörnter Kopf über die Hundehütte. Die Pferde wieherten leise auf und witterten in seiner Richtung. Die sorglosen Füllen, die die Peitsche noch nicht kannten, spielten mit ihm, nach seinen Ohren mit ihren weichen, warmen Lippen greifend. Die stets verängstigten Schafe blökten mitleidig über sein trauriges Los. Und die Mutterschweine suchten sich mit Vorliebe einen Platz in der Sonne neben dem Kuhstall aus, rekelten sich dort nachlässig herum, boten ihren Ferkeln die Zitzen, und unter den Stössen ihrer gierigen Köpfe aufstöhnend, betrachteten sie Rex mit ihren grauen, ausdruckslosen Aeuglein, ihm dabei allerhand Neuigkeiten zugrunzend. Oefters hörte er durch die Wand des Kuhstalls, wie die Ochsen, wiederkauend und mit den triefenden Mäulern schmatzend, über Arbeit, Schläge und Hunger klagten und dabei auch seiner gedachten. Am meisten Gefühl zeigte ihm aber der Esel, welcher auf Gnadenbrot lebte. Er war alt wie die Welt, räudig und schmutzig, stets mit Kot und Asche besudelt, von allen bekam er Schläge, alle verachteten ihn, machten sich über ihn lustig und jagten ihn von sich. Menschen und Tiere misshandelten ihn in gleichem Masse.

Die Bekanntschaft war alt, noch aus den Zeiten, als der Esel das Herrensöhnchen im Wagen spazieren fuhr und Rex die beiden bewachte. Zu dreien trieben sie sich auf den Feldern umher, wenn der Gutsherr es nicht merkte.

Der arme Esel kam alltäglich, ihm einen Besuch zu machen, blieb lange mit gesenktem Kopf und herabhängenden Ohren vor der Hundehütte stehen und klagte mit so herzzerreissender Stimme, dass Krutschek vor Entsetzen aufheulte, und der Stumme ihn mit dem Stock beruhigen und fortjagen musste. Trotz der Schläge und der Beleidigung kehrte der Esel jedoch hartnäckig zurück und hörte mit seinem endlosen Klagen nicht auf. Auch das Geflügel nahm regen Anteil an Rexens Schicksal; alltäglich wurden auf allen Zäunen seinetwegen lärmige Meetings abgehalten, voll Gegacker, Gekoller, Gepieps und Gekreisch. Und eine der Glucken, durch Krutscheks Verträglichkeit ermutigt, quartierte sich sogar mit ihrer ganzen jungen Brut bei Rex ein, ihm endlos über die Tugenden ihrer Kinder allerhand Gewichtiges vorglucksend. Nur die Pfauen hielten sich stolz abseits, wie immer, und trugen unveränderlich ihre Verachtung zur Schau. Und auch die Krähen spionierten in angemessenem Abstand von den Dächern aus, ihrer angeborenen Art gemäss, was in der Hundehütte geschah, und warteten geduldig auf alles, was kommen konnte.

Sie warteten jedoch vergeblich, denn Rex erholte sich, obwohl er mit jedem Tag düsterer und verschlossener aussah. Allerlei Gedanken, Gefühle und Einsichten schienen ihn zu drücken. Er hatte angefangen, die Welt aus der Tiefe seines Elends und seiner Verlassenheit zu betrachten. Früher hatte er sich nicht darum gekümmert, was ausserhalb des Herrenhofes geschah: er hatte wie sein Herr gefühlt und sein Verhältnis zur Welt war ein fast menschliches gewesen.

Die ganze Kreatur war dazu da, um abgewürgt, gejagt oder zum Spielzeug gebraucht zu werden. Je nachdem es der Herr befohlen hatte. Es hatte ihn von allen anderen ein unermesslicher Abgrund fast menschenähnlichen Seins getrennt. Nun hatte man ihn vom Herrenhof fortgejagt, ihn in die Tiefe des Elends hinabgestossen. Immer stärker empfand er das Unrecht, das man ihm angetan hatte. Das war eine Wunde, die nicht heilen wollte, und aus der das wilde Verlangen nach Vergeltung in sein Herz hinübersickerte. In solchen Augenblicken wäre er bereit gewesen, selbst die Kinder der Menschen, für welche er sonst so eingenommen war, zu zerfleischen, und hätte mit Genuss ihr heisses Blut geschlürft. In den langen Nächten seiner Krankheit und während der noch länger dünkenden schlaflosen Tage, sann er darüber nach, wie er sie mit seiner Rache erreichen könnte.

Er verbiss sich so in seinen Hass, dass schon allein der Dunst eines Menschen einen unaussprechlichen Ekel und ein immer stärkeres Grauen in ihm erweckte. In seinen Grübeleien wurde er sich der menschlichen Macht immer stärker bewusst. Sie wuchs vor ihm empor zu einem grenzenlosen Grauen. Wie kann man sich an einem Wirbelsturm rächen? Wie gegen ein Gewitter wahren? Kann man mit seinen Zähnen den Blitz packen? Hilflose Verzweiflung durchbohrte ihn, wie mit Messern. Dieser Zweifüssler war doch der unumschränkte Herrscher der Welt. Unter seiner grausamen Gewalt lebte alle Kreatur. Er war fähig, Tod und Leben auszuteilen. Alles war in seiner Macht! Er der Schöpfer und zugleich der Henker alles Lebendigen.

Jetzt erst hatte er diese furchtbare Wahrheit erkannt. Durch Krankheit an sein Lager gefesselt, entwickelte er sich zum Seher dessen, was ringsum geschah. Nicht ein Schrei, nicht eine Klage oder ein Unrecht entgingen seiner Aufmerksamkeit. Die Nächte vor allem waren vom unaufhörlichen Klagegeschrei aller Kreatur erfüllt: das unterdrückte Aufbrüllen der Ochsen gab ihm Kunde von tödlicher Fron, von zahllosen Stockhieben, wundgeschlagenen Flanken und Hungertagen. Die mit Peitschenhieben bedachten Pferde wieherten lange und schmerzlich. Die Sehnsucht der Kühe, denen man ihre Kälber entführt hatte, verriet sich in langem untröstlichem Gebrüll. Auch aus den Schaf- und Schweineställen und Hühnerhäusern stiegen dumpfe Klageschreie und Angstrufe auf. Die blutende Erde stöhnte, Wälder, von der Axt der Holzhauer verletzt, stiessen Flüche aus, das Wasser, das der Mensch in seinem Lauf vergewaltigte, rauschte empört. Von allen Seiten — von Feldern und Gehöften stiegen die uralten, nimmer gestillten Klagelaute der Leidenden, Vergewaltigten und Hingemordeten. Die ganze Erde und der ganze Luftkreis zeugten von der Grausamkeit des Menschen.

Auf einer Pyramide von Leichen errichtete er den Thron seines Herrschertums.

Man konnte ihn weder besiegen, noch ihm entkommen — wie man dem Tod nicht entkommen kann. In Rex grollte die Wut wie Meeresbrandung, die hilflos gegen die Granitfelsen anrennt. Eines Morgens hörte er das verzweifelte Gequiek einiger Masteber, die man auf einen Schlächterwagen auflud; schmerzlich berührt von ihren Hilferufen, knurrte er.

„Schon wieder wollen sie unsere Brüder umbringen.“

„Das Schwein ist mir kein Bruder — es ist doch nur Fleisch,“ bellte Krutschek. „Aber dass diese Diebe von Menschen sie allein aufessen!“

Rex zuckte zusammen, wie von einem Stein getroffen.

Und als etwas später der Handelsjude aus dem Kuhstall die trostlos blökenden Kälber hinaustrieb, winselte Krutschek traurig auf.

„In der Nacht habe ich mit dem Hinkefuss zusammen ein Kalb abgewürgt, aber dann haben es uns die Pferdehirten wieder weggenommen.“

„Einem solchen Räuber wie der Wolf schliessest du dich an!“

„Mein Bruder ist, wer mir hilft, mich satt zu fressen.“

„Würdest du also selbst den eigenen Bruder nicht schonen?“

„Der Hunger hat keine Wahl, alles ist ihm gut, was ihm zwischen die Zähne kommt.“

Mit entsetzlichem Geheul kam gerade der Esel angerannt und warf sich in die Jauche nieder.

„Das Herrschaftssöhnchen hat ihn so mit Wasser begossen, dass ihm die ganze Haut brennt.“

Der Esel wälzte sich in der Jauche mit kläglichem Geschrei. Da aber kam das Gutsbesitzerssöhnchen mit einer Schar von Kindern und fing erst recht an, den Esel zu quälen. Sie bewarfen ihn mit Steinen und hieben mit Peitschen auf ihn ein. Und sein Geschrei gellte solange durch den ganzen Hof, bis schliesslich der Verwalter selbst erschien, mit einem Knüppel die Jungen auseinandertrieb und den am Boden liegenden Esel mit Fusstritten zum Aufstehen brachte.

Rex trat, die eigene Gefahr vergessend, mit drohendem Knurren aus der Hundehütte heraus.

„Rex!“ schrie das Herrschaftssöhnchen. „Hat dich denn Mama doch nicht totgeschossen? Und meine Dachshündchen hat er totgebissen!“ Der Junge brach plötzlich in Schluchzen aus.

„Da bist du, Sauhund! Das werde ich dir im Namen des jungen Herrn schon heimzahlen!“ brüllte der Verwalter und ging mit erhobenem Knüppel auf Rex los. Dieser stöhnte auf unter der Wucht des herabsausenden Hiebes, warf sich dann voller Wut auf den Mann, bohrte seine Zähne in dessen Brust und riss so gewaltig an ihm, dass er mit einem Stück des Rockes und etwas Haut im Maul zu Boden fiel.

Der Verwalter sank bewusstlos in die Jauchegrube, das Herrschaftssöhnchen ergriff unter lautem Rufen die Flucht.

Rex floh in die dunkelste Ecke der Hundehütte zurück und vergrub sich im Stroh.

„Sie werden dich herausschleppen und totschlagen. Du musst fliehen,“ winselte Krutschek und zerrte wild an seiner Kette.

Es war kein anderer Rat möglich. Rex stürzte nach dem leeren Kuhstall davon und verschwand unter den Krippen, wo er ein Loch in der Wand kannte, durch welches man in den Obstgarten gelangen konnte. Er verkroch sich in den Himbeerbüschen, ohne zu begreifen, was mit ihm geschehen war. Vom Hof her hörte er die Menschen zusammeneilen, um dem Verwalter zu helfen, aber als er das Geheul des unschuldig verprügelten Krutschek vernahm, entschloss er sich, in die Felder zu flüchten. Doch der Obstgarten war von einer dichten Hecke und von Drahtgeflecht umzäunt, am einzigen Tor aber, das obendrein geschlossen war, sah er den Gärtnergehilfen stehen, mit welchem er noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Er kroch noch tiefer in die aufgeschossenen Himbeerstauden, die sich in langen Spalieren dahinzogen, um eine Gelegenheit zur Flucht ins Freie abzuwarten. Die Angst schüttelte ihn, er konnte kein Auge zumachen, die noch nicht geheilten Wunden brannten furchtbar, das Summen der Bienen und das zänkische Gezwitscher der Spatzen, die in Schwärmen über die süssen reifen Beeren herfielen, störten ihn...

„Diene dem Herrn in Treue, dann soll er dir zum Lohn dafür... was pfeifen!“ erklang plötzlich über ihm die Stimme des Gärtnergehilfen; Rex kroch winselnd an seine Füsse heran.

„Hab keine Angst! soweit bist du also gekommen! Sie jagen dich wie einen tollen Hund! Und mir hast du einmal die Hosen zerrissen. Ich wollte mir doch nur den Papagei ein bisschen ansehen!“

Er bückte sich zu ihm nieder und begann ihn zu streicheln. Rex legte den Kopf auf seine Knie und sah ihm vertrauensvoll in die Augen.

„Siehst du, Dummer, wie sie deine Dienste bezahlt haben? Kaum war der Hausherr weg, haben sie dir auch den Laufpass gegeben. Und immer hast du mich angeknurrt, wenn ich zum Herrenhaus wollte! Und wer war es, der dir die Taube damals geschenkt hat? Und wer hat dir die jungen Krähen bei den Tannenbäumen zugeworfen?“ Schliesslich öffnete er dem Hund das Gartentor. „Pass auf, dass dich die Gutsherrin nicht erwischt.“

Rex rannte querfeldein, um seinen Freund zu suchen. Der Stumme hütete die Gänse auf der Weide am Wald, er sass am Bach, die blossen Füsse ins Wasser getaucht, und spielte sich etwas auf der Flöte vor. Die Herde weisser, mit prächtigen Schöpfen geschmückter Gänse watete am Bachufer im Wasser, das von grauen Gründlingen und Rotfischen wimmelte. Die Weiden gaben angenehmen Schatten, der Wald raunte, die Vögel sangen und die Sonne brannte dermassen, dass eine süsse Mattigkeit die Glieder umfing.

Der Stumme wusste alles, denn die Elstern hatten es ihm schon erzählt.

„Und was soll nun werden? Wenn du mindestens gesund wärest!“ sorgte sich der Junge gutherzig.

„Ich bin noch stark! Habe ich nicht den Verwalter untergekriegt?“

„Der war bös gegen alle. Sie haben ihn nach Hause tragen müssen, er konnte nicht mehr auf den Beinen stehen.“

„Das ist erst der Erste...“ knurrte Rex voller Ingrimm.

„Ich kenne im Moor eine Hütte, wo früher der Gutsherr Birkhähne schoss, da könntest du dich verstecken! Der Verwalter kommt nie dahin, die Kolke sind tief und die Stege ganz durchfault.“

„Aber Fliegen gibt es da, nicht auszuhalten! Ich war ja selbst dort mit dem Gutsherrn auf der Entenjagd!“

„Und der Köhlerschuppen im Wald? Keiner kennt ihn ausser dem Hinkefuss, der sich oft mit den Seinen dort versteckt.“

„Der Hinkefuss! Ich habe ihm doch einmal das Schienbein durchgebissen, als er sich an meinen Herrn heranmachen wollte... Vor dem habe ich keine Angst. . . Mit der Wölfin und ihrer Brut ist es eine schwierigere Sache...“

„Dann versteck dich im Moor, du hast keine andere Wahl. Wassergeflügel gibt es da so viel, dass du dich leicht wirst ernähren können. Ich habe auch im Klee schon junge Häschen gesehen. ..“

„Und vielleicht könnte man sich irgendwo einen Dienst suchen?“ schlug Rex mit einemmal vor.

„In den Dörfern ist jetzt die schlechte Vorerntezeit, sie werfen dir nicht einmal eine faule Kartoffel hin, und obendrein könnten sie noch die Dorfhunde auf dich hetzen oder dich dem Schinder ausliefern! Die deutschen Kolonisten würden dich schon nehmen, die kennen sich in herrschaftlichen Hunden aus, aber sie werden dich später nach der Stadt verkaufen, und wenn du nicht zum Handel taugst, werden sie dich ausmästen und aufessen. Das Schlimmste aber ist, dass der Verwalter sich an dir rächen wird, und auch die Gutsherrin wird dir das nicht durchgehen lassen. Sie werden dir nachstellen. . .“

„Mögen sie...!“ knurrte Rex resigniert, machte sich am Bach ein Plätzchen zurecht und schlief ein.

Der Stumme zog sich ganz aus und stieg ins Wasser, um Krebse zu fangen.

„Wenn ich der Haushälterin ein paar Schock bringe, wird sie sich vielleicht zufrieden geben,“ überlegte er und tastete mit den Händen in die unterspülten Wurzeln der Erlen, in die tiefen Löcher am Ufer und unter die Steine des Baches. Er jagte mit grosser Geschicklichkeit, ohne die Krähen aus dem Auge zu lassen, die lautlos, von der Waldseite hergeflogen waren, sich am Bach niedergelassen hatten und sich stellten, als tränken sie Wasser; sie schoben sich dabei hinterlistig immer näher an die jungen Gänslein heran, die im flachen Wasser wateten.

„Sieh mal an, die haben hier Lust auf Leckerbissen bekommen.“ Schon sauste eine Wurzelknolle mit einem Klumpen Schlick auf sie nieder, sodass sie unverrichteter Dinge davonfliegen mussten, im niedrigen Flug das Getreidefeld nach Nestern absuchend. Als die Sonne sank und ein kühler Lufthauch aufkam, begann der Stumme seine Gänse zusammenzutreiben.

„Rex, unter der Weide habe ich meine Wohnung!“ Er wies mit der Hand auf einen alten breitverzweigten Baum am Bach, der aussah, als stände er auf mächtigen, verkrüppelten Fingern. Zwischen diesen war eine schwarze Höhle sichtbar, die mit Kalmusblättern ausgepolstert war. „Das ist ein sicheres Nachtlager,“ warf er hin, sich zum Abzug rüstend.

Der Hund blieb allein, ohne zu wissen, was er anfangen sollte. Die Gewohnheit aber siegte zuguterletzt, und er schlug den Feldweg ein, der zum Herrenhause führte. Wie zur Warnung kam gerade über den Weg die Herrschaftskalesche gefahren; sie war mit den beiden Schimmeln bespannt. Die Gutsbesitzerin sass mit ihren Töchtern auf dem Hintersitz, und das Herrschaftssöhnchen liess vom Bock herab die Peitsche knallen. Er warf ihnen gehässige Blicke nach, ab und zu mit den Zähnen klappernd, dann umkreiste er den Herrschaftspark, sich auf der Felderseite haltend, und gelangte in die Nähe des Wirtschaftshofes, bis an einen baufälligen Schuppen, wo er sich auf die Lauer legte. Wie vor der geschlossenen Pforte des Paradieses fühlte er sich. Sehnsucht überkam ihn, und er duckte sich mehrmals zum Sprung, um in den Hof zu gelangen, aber die Angst würgte ihn jedesmal wie mit einer Schlinge, sodass er mit sich selbst nicht einig werden konnte und ganz still auf seinem Platz liegen blieb.

Die Sonne ging unter. Die Welt badete in Purpur und Gold. Eine grosse Stille legte sich über die Erde. Von den Weideplätzen kehrten die Herden heim. Ueber der breiten Landstrasse schwebte ein Streifen goldenen Staubes, aus dem das sehnsüchtige Brüllen der Kühe, das dumpfe Murren der arbeitsmüden Ochsen, das Wiehern der Pferde, das Aufklatschen niedersausender Peitschenhiebe, das stumpfe Dreinschlagen von Knüppeln und derbe Flüche zum Abendhimmel emporstiegen. Grunzend drängte sich eine Herde Schweine vor, alles auf ihrem Wege frech beiseite stossend, der Boden erdröhnte unter den Hufen der dahinjagenden Füllen. Die Arbeitswagen schleppten sich langsam hinterdrein und ratterten laut auf, über die Pflastersteine holpernd. Dann kamen die blöde blökenden Schafe, von den Schäferhunden in gehöriger Zucht gehalten. Und endlich die Kälber in ausgelassenen Kapriolen, immerfort vom Wege abschweifend oder ins Getreide rennend, wofür sie der Hirt andauernd mit Stockschlägen traktierte.

All dieses Leben war vorübergezogen; die Dämmerung schüttete ihre Asche über die Welt aus. Auf dem Wirtschaftshof begann es stiller zu werden, die Menschen gingen auseinander, in den Hütten fingen die Lichter an aufzuleuchten, die von ihren Ketten losgelassenen Hunde tollten freudig herum. Rex, der sich nicht mehr halten konnte, schlich in diesem Augenblick in den Wirtschaftshof. Er umging den Kuhstall, aus dem der Duft frisch gemolkener Milch aufstieg, wich den Pferde- und Ochsenställen aus, umkreiste von weitem die Schweineställe und versteckte sich in einem Gebüsch gegenüber der Gesindeküche. Es stiegen von dort so leckere Düfte auf, dass sich seine Eingeweide vor Hunger verkrampften. Der Stumme sass auf der Schwelle mit einer grossen Satte zwischen den Knien, umgeben von einem Haufen Kettenhunde. Die Stimme der Wirtschafterin schrillte ab und zu durch die Luft. Die Tür stand halb offen.

Da plötzlich vernahm Rex das Knirschen des Kieswegs an der Vorfahrt und das Schnaufen der Pferde.

„Die Hofherrin! Nun ist es aus!“ Er sprang durch den bekannten Durchgang am Hühnerhaus in den Park und stiess auf den Fuchs, der sich behutsam zu den Hühnern hindurchzugraben versuchte. Der rothaarige Dieb rannte davon, mit einem kurzen Bellen die Nachträuber warnend. Gleich darauf sah Rex die weissen Bäuche der Iltisse aufblitzen, die auf die nahestehenden Bäume flüchteten; das Frettchen rannte gespenstartig über das Gesims des Holzschuppens davon, und der Marder, ein junges Küken im Maul, sauste in einem kühnen Sprung aufs Dach. Die Eulen liessen ihre warnenden Stimmen hören, und bald entstand ein so wildes Durcheinander, dass der schwarze Kater mit bitteren Vorwürfen zu Rex sprang.

„Du hast uns die Jagd gründlich verdorben, diese Nacht lässt sich nichts mehr fangen.“

Rex knurrte ihn drohend an, liess seine Augen rollen und kroch unter die herabhängenden Zweige der Tannenbäume, denn das Herrenhaus war hell erleuchtet, und durch die nach der Terrasse zu offen stehende Tür ergoss sich ein breiter Lichtstreifen, in dessen Schein eine Garbe silbrigen Wassers funkelnd emporstieg.