Die Entführung der Delia Wright - Lyndsay Faye - E-Book

Die Entführung der Delia Wright E-Book

Lyndsay Faye

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Beschreibung

Jetzt im Taschenbuch Ein neuer Fall für Timothy Wilde, den ersten Polizisten von New York: Dieses Mal geht es um die schöne Blumenverkäuferin Lucy Adams, deren Familie entführt wird, um politische Intrigen und um einen florierenden Sklaven- Schwarzhandel mitten im liberalen New York. Und um eine Leiche im Bett von Tims Bruder Valentine, seines Zeichens Polizei-Captain, Feuerwehrmann, korrupter Politiker, Frauenheld und noch einiges mehr. Um Valentine aus diesem Schlamassel herauszuziehen, begibt sich Tim auf eine riskante Gratwanderung zwischen Recht und Gesetz. Vom ›Wall Street Journal‹ zu einem der »zehn besten Kriminalromane des Jahres« gekürt.

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Lyndsay Faye

Die Entführung der Delia Wright

Roman

Deutsch von Peter Knecht

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

 

Für Gabriel, der immer sicher ist, dass ich es kann.

Wiegenlied einer farbigen Mutter in Neuengland

 

 

In deinen Augen funkelt Licht,

Dein Herz pocht froh, mein Kind,

Von Not und Kummer weißt du nicht,

Die dir beschieden sind.

 

 

Jetzt lächle noch, die Zukunft hält

Nur Qual und Angst und Leid

Dein Leben lang auf dieser Welt

Für dich, mein Schatz, bereit.

 

 

Dass deine Haut im Ton der Nacht

Nicht der des Weißen gleicht,

Wird dir zum finstern Fluch und macht,

Dass Freude Tränen weicht.

 

 

Ach, allzu jäh zerrinnt das Glück,

Das du als Kind geschaut,

Elend und Not sind dein Geschick,

Denn schwarz ist deine Haut.

 

 

Lied aus der Sklavenbefreiungsbewegung

Prolog

An dem Tag, an dem ihr das Schlimmste zustieß – und damit meine ich eine Tragödie, die man um jeden Preis verhindern würde, wenn man es könnte, lieber würde man sterben, lieber würde man jemanden töten –, an jenem Tag also band Lucy Adams in einem Blumenladen Sträuße aus Treibhausrosen, deren Orange- und Rottöne einen Sonnenuntergang im Hochsommer beschämen konnten.

Ich erfuhr so wenig über sie an jenem Tag, als ich ihr zum ersten Mal begegnete, so elend wenig. Kaum irgendwelche Einzelheiten. Die kamen erst viel später, nachdem ich, Timothy Wilde, Träger des Kupfersterns mit der Nummer 107 und Beschützer aller Notleidenden, die mir über den Weg liefen, ihr versichert hatte, dass ich alles wieder in Ordnung bringen würde. Dass ich alles tun würde, um ihr zu helfen, und deshalb sollte sie mir alles erzählen.

Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist, und ich werde mich darum kümmern.

Mein Gott, welche Selbstüberschätzung nach gerade mal sechs Monaten Berufspraxis!

In einem Beruf, der Unmögliches verlangt oder doch jedenfalls Anforderungen stellt, denen meinesgleichen nicht gewachsen war. Ich würde gern sagen, mein älterer Bruder Valentine – Captain des Achten Bezirks – mache seine Sache bei der noch jungen New Yorker Polizei bedeutend besser als ich, aber er trug in diesem besonderen Fall einiges dazu bei, die ganze unselige Angelegenheit noch komplizierter zu machen, als sie ohnehin schon war.

Ja, man muss leider feststellen, dass beide Brüder Wilde in dieser Sache bemerkenswert wenige vernünftige Entscheidungen trafen.

Warum ich die Geschichte von Lucy Adams aufschreibe? Ich könnte behaupten, ich täte es für die Nachwelt. Oder es sei eine Sache der Gerechtigkeit. Aber das wäre Unsinn. Rauch, der ein Schlachtfeld verhüllt. Der wirkliche Grund ist, dass mir diese schwarze Leidensgeschichte nicht aus dem Kopf geht. Darum habe ich sie aufgeschrieben.

 

Am 14. Februar 1846 um sechs Uhr abends stand Mrs. Adams an einem Arbeitstisch hinter der Theke des Blumenladens und brach Dornen von Rosenstängeln. Der Morgen des Valentinstags war schön, wenn auch kalt gewesen, aber inzwischen heulte der Wind durch Manhattan, und auf der Chambers Street vor dem überfrorenen Schaufenster wirbelten Schneeflocken. Das Geschäft hätte eigentlich schon vor einer Stunde schließen sollen, aber immer noch kamen Scharen von Herren in Schwalbenschwänzen und verlangten aufwändige Sträuße. Schals flatterten und Uhrketten klimperten, wenn sie wieder hinaustraten ins Schneetreiben, im Arm prachtvolle Arrangements aus Blüten, die im künstlichen Sommer der Gewächshäuser herangezüchtet worden waren.

Mrs. Adams summte bei der Arbeit leise vor sich hin, eine namenlose alte Melodie, die wie von selbst aus ihr aufstieg. Sie freute sich auf das Essen, das sie zu Hause erwartete: Die Köchin hatte der Familie Entenbraten versprochen, und in ihrer Phantasie meinte Mrs. Adams bereits köstliche Düfte von Orangenschale und Minze zu schnuppern.

Minuten vergingen und noch ein paar Minuten, und schließlich machte sie sich daran, den Strauß mit einem blutroten Band zusammenzubinden. Sie schlang die geschmeidige Seide mit geübten Fingern um die Stängel, als verfertigte sie einen Zauber. Es war der letzte Strauß, den sie jemals binden sollte. Die Schleife gelang ihr perfekt, ein sanfter, eleganter Abschluss.

Mr. Timpson, der Ladenbesitzer, der aus Manchester stammte, hatte eben drei Herren in braunen Wintermänteln und elfenbeinfarbenen Hosen verabschiedet. Er war ein Mann mit freundlichen Augen und einem etwas schwammigen grauen Gesicht, aus dem eine rote Nase hervorstach. Sein Blick fiel auf die Uhr über dem Eimer mit gelben Lilien, und er schüttelte bestürzt den Kopf. Der Laden war jetzt leer, nachdem es den ganzen Tag über so hektisch zugegangen war wie an der Börse.

»Ich kehre heute selbst zusammen«, sagte er zu Mrs. Adams, seiner einzigen Angestellten. »Das Wetter wird immer scheußlicher. Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen, bevor es ganz schlimm wird.«

Mrs. Adams wandte ein, sie müsse noch eine Bestellung für den nächsten Tag fertig machen, und es sei ja nur ein bisschen Schnee, und überhaupt habe sie es nicht weit nach Hause, es war doch nur um die Ecke und dann ein Stückchen den West Broadway entlang. Aber Mr. Timpson bestand darauf. Und es war wirklich schon spät, viel später als gewöhnlich, sie hatte den ganzen Tag über alle Hände voll zu tun gehabt und sehnte sich nach Hause.

Und so ging sie.

Die Schaufenster, an denen sie vorbeihastete, ohne sie weiter zu beachten, waren dieselben wie jeden Tag, in ihrer vertrauten Abfolge beruhigend wie das Ticken eines Weckers im Schlafzimmer oder wie der eigene Puls, den man nicht bewusst wahrnimmt und dessen steter Rhythmus doch ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. M. Freeman’s Federbetten. Herstellung von Nähnadeln und Angelhaken. Museum Hotel. Der Schnee wirbelte über das Pflaster, und sie zog ihren Pelzumhang enger zusammen. Sie kam an einem mit Säcken beladenen Karren vorbei. Der Mann auf dem Kutschbock schrie: »Sand! Weißer Sand!« Aus der Tür eines Geschäfts kam ein backenbärtiger Ladenbesitzer gelaufen, in solcher Eile, dass er Mrs. Adams beinahe umgerannt hätte. Er entschuldigte sich bei ihr, bevor er zu dem Karren trat und dem Sandverkäufer ein paar Münzen in die Hand zählte, um mit dem Sand aus Rockaway den Gehsteig vor seinem Haus ein wenig sicherer zu machen.

Mrs. Adams ging weiter.

Als sie die Tür zu ihrem schmalen, aus dunklem Backstein gebauten Haus am West Broadway öffnete, empfing sie ungewöhnliche Stille. Fröstelnd legte sie ihren Umhang ab und warf ihn über die Lehne eines seidenbezogenen Sessels im Flur, dann ging sie ins Wohnzimmer. Der Raum war leer. Sie zog ihre Handschuhe aus und wärmte ihre Finger über dem schwach flackernden Kaminfeuer, dann nahm sie ihren Hut ab. Ihr Blick schweifte über die gerahmten gepressten Blumen auf dem Kaminsims, das Paar winziger Porzellanpferdchen daneben, den Stechpalmenzweig in einer Vase aus Rauchglas. Sie rief, um sich bemerkbar zu machen.

Niemand antwortete.

Immer noch ganz gelassen ging sie ins Esszimmer. Nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Sie kehrte um, stieg die Treppe hinauf, dabei rief sie noch einmal.

Nichts als Schweigen um sie herum. Totenstille.

Fünf Minuten später stürzte Mrs. Adams aus der Tür ihres Hauses auf die Straße, die Röcke gerafft, den Mund weit aufgerissen in einem schrillen Schrei, und hastete durch den Schneesturm zum Hauptquartier der Polizei, The Tombs genannt.

Und an dieser Stelle komme ich ins Spiel. Ich arbeite dort.

Ich saß in dem fensterlosen Kabuff, das man mir einen Monat zuvor als Dienstzimmer zugewiesen hatte, ein Glas mit Genever in der Hand, ein schiefes Lächeln im kaputten Gesicht, und stieß mit meinem Freund und Kollegen Jakob Piest an. Wir hatten gerade ein einigermaßen heikles Problem gelöst und waren nicht wenig stolz auf uns. Er hob seine runzlige Hand mit der Blechtasse, sein typisches manisches Grinsen im Gesicht, als plötzlich Mrs. Lucy Adams gegen meine halb offen stehende Tür stolperte.

Kann ich korrekt beschreiben, wie sie damals, bevor ich hinter ihre Geheimnisse kam, aussah? Wahrscheinlich nicht. Wenn Geheimnisse so etwas sind wie Juwelen, die man in dunklen Kästchen und Truhen verbirgt, so habe ich wie ein Straßenräuber bei einem Kutschenüberfall Lucy Adams’ Schmuckschatulle erbeutet. Es schmerzt, wenn man entdeckt, dass man ein Dieb ist, dass man einem Menschen seine Geschichte gestohlen hat. So einer will ich nicht sein, ich verabscheue solche Leute. Alle möglichen Menschen erzählen mir aus eigenem Antrieb alle möglichen persönlichen Dinge. Das war immer schon so und erst recht, als ich als Barmann arbeitete. Aber ich will keine Geheimnisse wissen, wenn ich nicht dazu eingeladen werde.

Wie also sah sie aus, dieses wandelnde Rätsel, bevor ich die alten Geschichten freilegte, die ihr schon eingeschrieben waren, ehe ich sie kennenlernte?

Lucy Adams war schlicht gekleidet, aber man sah sofort, dass jedes Stück, das sie trug, von guter Qualität war. Die Stiefelspitze, die unter einem blauen Samtkleid hervorschaute, war nass vom Schnee. Sie war aus dem Haus gelaufen, ohne sich die Zeit zu nehmen, Überschuhe aus Gummi darüberzuziehen. Der Umhang aus Hermelin war mit einer auffallend schiefen roten Schleife zugebunden, und ich bemerkte an jenem Abend noch einige andere Dinge an ihr, die wie Hilfeschreie wirkten. Weiße Lederhandschuhe mit nicht geschlossenen Perlenknöpfen. Kein Hut, nicht einmal ein den Anstand wahrendes Häubchen, nur Unmengen hochgesteckter schokoladenbrauner Korkenzieherlöckchen, in denen weiße Schneeflocken schmolzen.

Etwas Furchtbares war ihr zugestoßen – um das zu sehen, brauchte man durchaus nicht die Menschenkenntnis eines Barmanns. Ihre Augen hatten die Farbe von Flechten, die auf Mauern wachsen, moosgrüne Sprenkel auf grauem Hintergrund, und sie waren weit aufgerissen wie die eines Menschen, den gerade jemand vom Deck einer Fähre in den Hudson gestoßen hat. Mr. Piest und ich starrten sie schockiert an. Ihre Lippen waren voll und üppig, und sie öffnete sie mühsam, als bereite ihr die Bewegung schreckliche Schmerzen.

Sie war sehr schön. Das ist Teil der Geschichte und darf nicht unterschlagen werden. Es spielt eine wichtige Rolle, leider. Sie war eine der schönsten Frauen, die ich in meinem Leben gesehen habe.

»Sind Sie verletzt, Ma’am?« Ich hatte endlich die Sprache wiedergefunden und sprang auf.

»Ich brauche einen Polizisten«, sagte sie.

»Dann sind Sie hier richtig. Bitte, setzen Sie sich.« Ich wies auf einen Stuhl, während Piest hastig ein Glas holte und Wasser für sie einschenkte. Sie schien den Stuhl gar nicht zu sehen, und als ich sie bei der Hand nahm und hinführte, ging sie wie eine Marionette, die ein ungeübter Puppenspieler bewegt. »Wir können Ihnen helfen.«

»Das hoffe ich inständig.«

Ihre Stimme klang gequält und tiefer, als ihre schmale Gestalt vermuten ließ. Mir lief ein Schauder über den Rücken – es war, als könnte diese Stimme Schiffe gegen Klippen locken. Und in dieser stürmischen Nacht gingen, weiß Gott, eine Menge Schiffe verloren, vollbesetzt mit New Yorkern, die nie mehr nach Hause kamen. Das war nicht ihre Schuld, das weiß ich natürlich. Die meisten würden sagen, es war eben ein Unglück oder das Schicksal oder sogar Gott selber habe es so gefügt. Aber auf diese Art muss ich an ihre Stimme denken: Sie zog einen an, sie besaß die Macht, einen Dampfer vom Kurs abzubringen, so dass er auf Grund lief.

»Sie können sich darauf verlassen, dass wir alles versuchen werden«, sagte ich. »Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist, und ich werde die Sache in Ordnung bringen.«

Sie sah mich an. Ihre Augen waren jetzt schiefergrau.

»Es war ein Raubüberfall.«

»Und was ist geraubt worden?«, fragte ich.

»Meine Familie«, antwortete sie.

1

Das Übel, das wir beklagen, wird immer schlimmer. Europa überschwemmt das Land mit Emigranten: Großbritannien hat fünfundzwanzig Millionen Pfund bereitgestellt, um eine Million besitzlose Iren in dieses Land zu schaffen, die mit den amerikanischen Arbeitskräften konkurrieren und sie ins Elend stürzen werden.

Mr. Levin von der »Native American Party«,zitiert imNew York Herald,1846

 

 

Ich kenne mittlerweile meine Stadt zu gut.

Das ist nicht angenehm. Vielleicht wäre es anderswo nicht weiter schlimm, etwa, wenn ich in der halb verfallenen Pracht einer der alten Städte an der Küste Spaniens leben würde, wo man am Vormittag Sardinen fängt und dann bis spät in die Nacht hinein den Klängen von Gitarren lauscht. Oder wenn ich Schankwirt in einer melancholischen englischen Kleinstadt wäre, tagsüber Bier für die ortsansässigen Witwer zapfen und abends Gedichte lesen würde. Ich weiß es nicht, ich bin ja nie aus New York herausgekommen. Alles, was ich von fremden Orten weiß, habe ich aus Büchern. Es ist vielleicht möglich, eine Stadt gut zu kennen und sie trotzdem zu mögen. Ich kann es nur hoffen.

Nein, mein Problem ist hauptsächlich, dass ich Polizist im Sechsten Bezirk in Manhattan bin, und zwar, soviel ich weiß, der einzige, der nicht auf Streife geht, sondern ausschließlich dafür da ist, begangene Untaten im Nachhinein aufzuklären, und dass mir diese Untaten sehr zuwider sind. Wirklich sehr.

Am Morgen des Valentinstags war ich beispielsweise mit dem unschönen Gedanken aufgewacht, dass zweifellos irgendjemand in dieser Stadt mit einer halben Million Einwohnern gerade eben das Gesetz gebrochen hatte und dass ich noch nicht dahintergekommen war, wer diese Person war. Am Tag zuvor hatte der Polizeichef George Washington Matsell, die unangefochtene Autorität an unserer Spitze, der Mann, der mich zum Rätsellöser bestimmt hatte, mich in meinem Dienstzimmer heimgesucht, wie immer einem schnaubenden Rhinozeros nicht unähnlich.

G.W. Matsell beeindruckt allein schon wegen seiner Körpermasse: Er ist über sechs Fuß groß und wiegt mindestens drei Zentner. Aber seine Persönlichkeit und seine Willenskraft sind nicht weniger eindrucksvoll – er gleicht einer Lokomotive, die unter Volldampf dahinrast. Bevor er Polizeichef wurde, war er ein prominenter Richter und bereits berühmt. Weil unsere Truppe ein ziemlich bunt zusammengewürfelter Haufen von zweifelhaftem Ruf ist, um es vorsichtig auszudrücken, ist er jetzt mindestens so berüchtigt wie berühmt. Aber das scheint ihm nicht viel auszumachen.

Ich hörte ein Geräusch und blickte auf. Normalerweise wirkt der Eingang zu meinem Zimmer leidlich groß und jedenfalls groß genug für alle normalen Leute. Aber nun, da Chief Matsell im Türrahmen stand, schien er plötzlich zu einem Mauseloch geschrumpft zu sein. Matsell blickte wohlgefällig auf mich nieder, die fleischigen Wangen gefurcht, die blassen Augen funkelnd. Früher war ich wie meine Kollegen Streife gegangen, hatte nach dem Rechten gesehen und nur allzu oft Unrechtes entdeckt. Nach der Sache mit den grässlichen Kindermorden im letzten August entschied der Chief, dass mein bisschen Grips dauerhaft zu seiner Verfügung stehen sollte. Seitdem sitze ich in den Tombs, und das Verbrechen kommt zu mir: Matsell weist mir meine Fälle zu, entweder schriftlich oder in eigener Person – ich weiß nicht, was von beiden mich mehr aus der Fassung bringt.

»Ein kostbares Miniaturgemälde ist unter ungewöhnlichen Umständen aus einer Privatwohnung gestohlen worden«, sagte er. »Die Adresse ist Fifth Avenue 102.«

Ein winzig kleiner, aber sehr harter Knoten bildete sich in meiner Magengegend.

»Sie werden es wiederbeschaffen. Mr. und Mrs. Millington erwarten Sie um neun Uhr.«

»Gut.« Ich atmete aus.

»Und wenn Sie schon mal dabei sind, finden Sie auch den Dieb, Mr. Wilde«, fügte er im Hinausgehen hinzu.

Oh, wenn’s weiter nichts ist.

Ich war einer der Ersten gewesen, die sich den Stern aus Kupferblech ans Revers steckten, nachdem vorigen Sommer endlich eine offizielle Polizeitruppe in der Stadt gegründet worden war. Und ich hatte den Ehrgeiz, der beste aller New Yorker Polizisten zu sein. Aber irgendwie kam mir die Arbeit immer noch wie ein Anzug vor, der hier zwickte und da lose flatterte, jedenfalls nicht so richtig saß; bei jedem neuen Problem begannen meine Gedanken wild um immer dieselbe Frage zu kreisen: Wie, um Himmels willen, sollst du jetzt diese Sache am besten anpacken?

Merkwürdigerweise ging es in den Träumen, die ich zu dieser Zeit hatte, meist um meinen alten Beruf als Barmann. Ich träumte, dass mir der Rum ausgegangen war, und der Raum vor meiner Theke war eine einzige Schlangengrube voller Wall-Street-Spekulanten, verknäuelt zu einer zischenden Masse sich ringelnder Leiber. Ich träumte nicht von Einbrechern, die ich nicht fassen, oder von prügelnden Rowdys, die ich nicht zur Räson bringen, nicht von Mordfällen, die ich nicht lösen konnte. Und in aller Regel war mein Gesicht in diesen Träumen noch unversehrt, nicht entstellt von den Spuren des Feuers, das seinerzeit die halbe Stadt sowie mein Zuhause, mein Vermögen und mein Glück vernichtet hatte, und ich hatte keine schlimmeren Sorgen als die, irgendwelche Börsianer, die schon ziemlich beduselt waren, mit Champagner abzufüllen.

Aber manchmal, alle vier Wochen oder so, träume ich auch von meiner Arbeit im Polizeidienst, und vom vorigen Sommer natürlich. Und diese Träume machen mir sehr zu schaffen.

Wie auch immer – als Matsell mir den Auftrag gab, das Gemälde wiederzubeschaffen, war mir klar, dass ich jetzt alles, was ich an Geistesgaben hatte, zusammenkratzen musste. Denn seit ich vom Streifendienst befreit und zum Sonderermittler befördert worden war, der für Chief Matsell die kniffligeren Fälle lösen sollte, hatte ich es noch nie mit einem Verbrechen zu tun gehabt, das in der Sphäre der oberen Zehntausend der Stadt verübt worden war. Und Fifth Avenue 102, nur einen Katzensprung entfernt vom eleganten Union Place Park gelegen, war eine überaus gute Adresse.

Eigentlich keine Gegend für Leute wie mich – ich besitze gerade mal fünf Möbelstücke und wohne zur Miete über einer Bäckerei –, aber was Matsell sagt, wird gemacht, und so fuhr ich hin.

Als ich am Morgen des 13. Februar am Union Place aus der Droschke ausstieg, ertappte ich mich dabei, wie ich ungläubig den Kopf schüttelte angesichts des Wunders, das sich meinen Augen bot. Normalerweise verwandeln sich die Parks unserer Stadt innerhalb von zehn Jahren in Hühnerhöfe oder Schweinepferche. Nicht so der am Union Place: Büsche und Sträucher sind dort stets adrett gestutzt, die Kieswege ordentlich geharkt. Die Blumenbeete scheinen den Besuchern zuzuflüstern: Willkommen, fühlt euch wie zu Hause – sofern ihr hierhergehört! Zwischen winterlich kahlen Bäumchen spazierten junge Mädchen, die spitzenbesetzte Kleider unter ihren Pelzmänteln trugen. Sie lachten und scherzten unbeschwert, Diamanten in ihren Haaren blitzten im klaren Morgenlicht.

Wenn ich in der angemessen romantischen Stimmung gewesen wäre, hätte mir ihr Anblick vielleicht nicht in den Augen wehgetan, aber so ging ich einfach weiter auf der Sechzehnten Straße und tat so, als gäbe es keine Frau jenseits des Atlantiks, die so lange Zeit neunzig Prozent meiner Gedanken beschäftigt hatte.

Sturköpfige, verbohrte Blödheit, so nannte mein Bruder Val meine Leidenschaft, aber ich konnte nun einmal nichts dagegen tun. Ich wollte Neuland für sie betreten, Städte für sie erobern. Wäre ihr Geist eine Landkarte gewesen, hätte ich gern mit goldenen Nadeln und einem elfenbeinfarbenen Bändchen den Weg ihrer Gedanken markiert, aber da dies schwer zu machen war, hätte ich mich auch mit der Rolle des Burschen zufriedengegeben, der jeden Abend ihre Haustür verriegelt, denn sie ist furchtlos, aber nicht immer vernünftig. Ich hätte überprüft, dass die Fenster geschlossen waren, und mit meiner Wachsamkeit die Zerbrechlichkeit aller Schlösser aufgewogen.

Doch Mercy Underhill war weit weg in London, und ich in New York in der Fifth Avenue. Ich klopfte an der Tür mit der Nummer 102.

Das dreistöckige Haus war offensichtlich erst wenige Jahre alt. Die Vordertreppe schwang sich zwischen zwei verdrossen dreinblickenden Greifen, die auf Marmorsockeln hockten, wie in einem höhnischen Grinsen empor. Eine mit Schnitzereien verzierte Tür aus Teakholz, vergoldete Pinienzapfen an den Fensterstöcken, jedes verfügbare Plätzchen an der Fassade mit aus Stein gemeißelten Zierelementen zugepflastert. Sogar die Dachplatten wirkten neureich. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen fanden die beiden Greifen das ganze Ensemble reichlich abgeschmackt, und mir ging es genauso.

Ich probierte es mit der Glocke – sie klang wie ein Gong, der einen Kaiser zum Mahl ruft. Die Tür ging auf, und ein Butler erschien. Bei meinem Anblick verzog er das Gesicht, als sähe er einen Hundehaufen vor sich.

Sicher, mein Mantel war aus mausgrauer Wolle und aus zweiter Hand, und der rechte obere Teil meines Gesichts sieht ein bisschen bizarr aus, wie eine Ansammlung erstarrter Wachstropfen von einer Kerze. Aber er kannte ja die Vorgeschichte meines Mantels überhaupt nicht und die meines Gesichts ebensowenig. Also sollte er sich nicht so anstellen, fand ich.

Ich wartete, dass er etwas sagte.

Er stand einfach nur da, groß und schweigend, den Backenbart imposant aufgeplustert.

Ich tippte mit dem Finger auf den Kupferstern an meinem Mantelkragen.

»Ah«, sagte er in einem Ton, als würde ihm gerade klar, wo der üble Geruch herkam, den er in der Nase hatte. »Man hat Sie herbestellt, um zu klären, was aus diesem Gemälde geworden ist. Ein … Polizist.«

Wider Willen musste ich grinsen. Ich war an den abfälligen Ton, in dem die Leute über die neue Polizeitruppe redeten, gewöhnt, wenn auch nicht an den Ausdruck »herbestellt« in diesem Zusammenhang, aber beides ließ mich ziemlich kalt. Als ich Barmann war, hatte ich mit Tausenden von Leuten aus Hunderten von Städten zu tun, und ich hatte mit der Zeit gelernt, aus der Art, wie einer sprach, zu erkennen, wo er herkam. Es war ein amüsanter Zeitvertreib. Und oft recht nützlich. Dieser Mann hier, der sich nach Kräften bemühte, hochnäsig vornehm mit Londoner Akzent zu sprechen, stammte in Wirklichkeit aus Bristol, und die Millingtons, die auf seine Masche hereingefallen waren, hatten einen gewöhnlichen Seemann als herrschaftlichen Butler engagiert. Meine Heiterkeit verstärkte sich, als ich nun auch das kaum sichtbare winzige Loch in einem seiner Ohrläppchen entdeckte.

»Na«, sagte ich, »was macht die Seefahrt im alten England?«

Es ist wirklich ein großartiges Schauspiel, wenn so ein als Butler kostümierter Seebär plötzlich puterrot anläuft und dann weiß wird wie eine Wand. Sogar sein Backenbart nahm plötzlich Habt-Acht-Stellung an.

»Bitte, hier entlang, Sir … und bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein kann.«

Wir betraten das Foyer, in dem Ölbilder von ungesund aussehenden Damen mit ihren Schoßhündchen und ihren Kindern und ihrem Stickzeug hingen. Ein quecksilbriger Herr von etwa fünfundfünfzig Jahren, offenbar Mr. Millington, kam durch eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite hereingesaust, in der Hand seine goldene Taschenuhr.

»Der Polizist ist da, Sir«, verkündete der Butler.

»Ah, sehr gut. Wie heißt er, Turley?«

Der Butler bewegte stumm den Mund wie ein Karpfen. Ich beschloss, unsere noch junge Freundschaft zu festigen, indem ich ihn aus seiner Pein erlöste.

»Ich bin Timothy Wilde. Ich werde mein Bestes tun, damit Sie Ihr Eigentum wieder zurückbekommen.«

»Hm.« Mr. Millington schüttelte mir die Hand. Er runzelte die Stirn. »Nicht ganz das, was ich erwartet hatte, wenn ich mich an Chief Matsell persönlich wende, aber, nun, er wird schon wissen, was er tut.«

Ich wusste nicht recht, welche Haltung ich dazu einnehmen sollte, darum hielt ich den Mund.

»Ich bin in Eile, ich muss zur Börse«, fuhr er fort. »Es muss genügen, wenn ich Sie auf dem Weg zum Musikzimmer auf den neuesten Stand bringe. Das ist nämlich der Schauplatz des Verbrechens, nennt man das nicht so bei der Polizei?«

»Ich könnte es nicht sagen.«

»Aha«, sagte er erstaunt.

Mr. Millington teilte mir mit, dass das Hausmädchen Amy am Tag zuvor, als sie um sechs Uhr morgens das Musikzimmer betrat, die schockierende Entdeckung gemacht hatte. Die Millingtons waren Kunstliebhaber – die Zimmer, durch die wir kamen, quollen über vor Porzellanvasen und japanischen Ofenschirmen und Bildern von pausbäckigen Engelchen, und die kostbaren Stücke wurden jeden Morgen abgestaubt. Auf Vollzähligkeit überprüft ergänzte ich im Geist. Und bei der Gelegenheit bemerkte Amy die Lücke zwischen den Miniaturen, die an der Wand des Musikzimmers hingen. Nachdem man vergeblich überall nach dem fehlenden Bild gesucht hatte, verständigte man Matsell, und so kam ich zu der ehrenvollen Aufgabe, mich als Kunstspürhund zu versuchen.

Nicht gerade meine stärkste Seite, das war mir wohlbewusst.

»Diese schreckliche Angelegenheit hat meine Frau äußerst erschüttert.« Mr. Millington zückte wieder seine Uhr. »Ich erzähle Ihnen wohl am besten etwas über Jean-Baptiste Jacques Augustin.«

Ich habe als Jugendlicher viel Zeit in der umfangreichen Bibliothek eines gelehrten protestantischen Geistlichen verbracht. »Sie sprechen von dem Miniaturenmaler? Später der Hofmaler des Königs von Frankreich?«

»Oh. Äh … ja.«

»Wie sieht das Bild aus?«

Es war das Bild einer Schäferin, die einen Strohhut mit einem rosa Band trug, erfuhr ich, und da betraten wir auch schon einen Raum, der ohne größere Kombinationsgabe als Musikzimmer erkennbar war. Zwei Konzertflügel standen einander gegenüber wie zum Duell, es gab ein Cello, etliche sehr dekorative Lauten und eine Harfe von der Größe eines Besenschranks.

»Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte Mr. Millington. »Turley, sorgen Sie dafür, dass dieser Polizist alle nötigen Informationen bekommt. Sie wissen selbst am besten, was zu tun ist, Mr. Wilde.«

Ganz und gar nicht, aber bevor ich dazu kam, ihm das zu sagen, war er schon weg.

Während die Schritte seines Herrn in der Ferne verhallten, zwirbelte Turley sichtlich verlegen seinen Backenbart. »Das vorhin, Sir, also, das tut mir wirklich leid –«

»Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen, von mir aus können Sie auch aus Timbuktu oder sonstwoher kommen. Und ich weiß ja, dass man diese Nummer von dem feinen Butler, der auf alle fremden Leute erst mal runterschaut, als wären sie der letzte Dreck, von Ihnen erwartet. Nur weil Sie mich nicht beschuppen können, heißt das noch lange nicht, dass Sie nicht gute Arbeit leisten, wenn Sie alle anderen beschuppen. Helfen Sie mir bei meinem Fall, und wir vergessen die Sache.«

Er lächelte so breit, dass man seine schiefen Zähne sah, auf die, seit er in diesem Haus angeheuert hatte, bestimmt noch nie das Tageslicht geschienen hatte. »Das ist sehr anständig von Ihnen, Mr. Wilde. Ich nehme an, Sie möchten zuerst einmal das Zimmer hier genauer untersuchen.«

Eine prima Idee, fand ich und schaute mich um. Was ich sah, waren Musikinstrumente, Erkerfenster, rosa Vorhänge, und zwei tückisch glotzende Drachen, die den Kamin bewachten. Ich unterdrückte einen Seufzer.

Nichts Ungewöhnliches, ein Zimmer eben.

Ein Bild fehlte, das sah man auf den ersten Blick. Elf Miniaturen hingen, in zwei Reihen angeordnet, an der Wand. Es waren lauter Porträts, die Mehrzahl nichtssagende rosige Standespersonen, der Rest nichtssagendes rosiges Landvolk. Aber eigentlich hätten es zwölf Bilder sein müssen: In der unteren Reihe an der dritten Stelle von rechts klaffte eine Lücke. Die Tapete war dort etwas schmutzig, offensichtlich, weil die Zimmermädchen hinter dem Bild nie staubgewischt hatten. Ich beugte mich vor und nahm die Stelle genauer in Augenschein: Drei längliche Spuren von rußigem Staub waren auf dem Teerosenmuster zu erkennen, das war alles.

Nichts Ungewöhnliches, eine Lücke eben, wo ein Bild gehangen hatte.

Ich ging zu der einen, dann zu der anderen Tür des Zimmers und sah mir die Schlösser an. Keinerlei Spuren. Mittlerweile tat mir vom andauernden Stirnrunzeln die Narbe neben meiner Augenbraue weh. Ich wandte mich an Turley. »Mein Chef hat etwas von ungewöhnlichen Umständen erwähnt.«

»Ja, Sir, es ist wirklich recht eigenartig. Dieses Zimmer wurde um Mitternacht, als ich meine Runde durchs Haus machte, zugesperrt. Schlüssel für die Türen haben außer Mr. Millington nur die Haushälterin Mrs. Thornton und ich. Keiner fehlt. Und wie Mr. Millington schon sagte, sind wir alle und unsere Sachen gestern gründlich durchsucht worden. Als ob es einem von uns auch nur im Traum einfallen würde, was von diesem Plunder zu klauen!« Sein würdiger Butler-Ton war plötzlich verschwunden, die Londoner Vokale davongespült. Er wurde mir fast sympathisch.

»Na ja«, sagte ich, »manche von den Sachen hier sind ein Vermögen wert. Die verschwundene Miniatur jedenfalls ist ziemlich wertvoll. Bis jetzt ist noch nie etwas weggekommen?«

»Niemals, Sir. Es ist ja auch nicht so, dass einer von uns dringend Geld brauchen würde. Wir haben hier gut und reichlich zu essen, kriegen drei Krankheitstage pro Jahr bezahlt, und an Weihnachten gibt’s eine Prämie. Und wir haben alle Verwandte drüben in Europa, die wir unterstützen müssen. Und jeden Tag kommen zehntausend neue Iren in die Stadt, die Arbeit suchen. Da müsste man schon ein kompletter Idiot sein, das Risiko einzugehen, ohne ein Zeugnis rausgeschmissen zu werden.«

Tatsächlich strömten Unmengen von Iren nach New York, als ob in jedem Regentropfen, der niederging, ein Donelly oder McKale steckte. Niemand hatte viel für sie übrig – ausgenommen Demokraten vom Schlag meines Bruders Valentine, die aber vor allem ihre Wählerstimmen mochten –, und ganz bestimmt waren sie nicht sehr beliebt bei Hausangestellten britischer Herkunft, die nur allzu genau wussten, dass sie jederzeit auf die Straße gesetzt werden konnten, sollte ihre Herrschaft zu der Ansicht gelangen, jetzt müsse sparsamer gewirtschaftet werden. Ich hatte durchaus ein gewisses Verständnis für Turley – sein Groll gegen die Iren hatte rein praktische Ursachen und entsprang nicht jener scheußlichen Sorte Fanatismus, die überall und ständig eine katholische Weltverschwörung witterte.

Aber seit dem letzten Sommer, als in Irland die Kartoffeln auf den Feldern verfaulten, hungerten die Menschen dort. Und jetzt war Winter, und die Not war so groß, dass es einen erbarmen musste. Ich hatte irische Freunde und irische Kollegen, und ich habe am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn man nichts zu essen hat. Val und ich haben uns einmal eine Mahlzeit aus den Küchenabfällen eines Restaurants zubereitet: ausgekochtes Suppengemüse und Maiskörner, die noch an nicht vollständig abgenagten Maiskolben hingen, dazu drei Esskastanien, die wir auf der Straße gefunden hatten. Mein Bruder richtete die Pampe auf zwei Tellern an, streute ein bisschen Salz und Pfeffer darüber, garnierte meine Portion mit zwei Kastanien und seine mit einer und nannte das Ganze »Salat«. Es ließ ein klein wenig zu wünschen übrig.

»Als Sie um Mitternacht abschlossen, ist Ihnen da irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Nein, tut mir leid, ich hab nichts bemerkt. Soweit ich weiß, war die letzte Person, die sich in dem Zimmer aufgehalten hat, Mrs. Millington, nach dem Frühstück.«

»Es gibt keine andere Möglichkeit reinzukommen als durch diese zwei Türen und durch die Fenster?« Ich öffnete ein Fenster. »Es sei denn, jemand hat einen Nachschlüssel angefertigt.«

»Ja. Aber Sie von der Polizei können sicher irgendwie feststellen, ob ein nachgemachter Schlüssel benutzt wurde?«

Ich seufzte innerlich. Die Augen brannten mir von der Kälte, als ich den Kopf zum Fenster hinausstreckte. Wir befanden uns im ersten Stock. Die Wand außen war aus Backstein, ein einzelner Efeuzweig wuchs daran empor. Das andere Fenster ging auf die hektisch belebte Fifth Avenue hinaus. Sehr unwahrscheinlich, dass jemand unbemerkt zu einem der Fenster hinaufklettern konnte, und außerdem waren beide ja verriegelt gewesen.

Ich schloss das Fenster und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem zu, wovon ich wirklich was verstehe: den Menschen und dem, was sie zu erzählen haben.

»Haben die Millingtons Kinder?«, fragte ich.

»Die doch nicht. Die haben Porzellan und Silberbesteck für zweihundert Personen, ein Dutzend Orientteppiche –«

»Hat der Hausherr irgendwelche unsoliden Gewohnheiten? Glücksspiel, Frauengeschichten?«

Turley schnaubte. »Der kennt keine anderen Vergnügungen als Geldscheffeln. Darin ist er richtig gut, wie Sie sehen.«

»Und Mrs. Millington? Vielleicht hat sie Schulden, von denen niemand erfahren soll?«

»Glaub ich nicht. Die kriegt genügend Nadelgeld. Hundert pro Monat und im Dezember zweihundert.«

Wie schön für sie, dachte ich, und sehr praktisch, falls sie mal Lust kriegt, sich noch eine silberne Vase in Schwanenform zuzulegen, damit das Dutzend voll wird. Elf Stück dieser bedauernswerten Geschöpfe standen bereits mit weit aufgerissenen Schnäbeln auf dem Kaminsims, sündteure Fuchsienblüten in die Kehlen gerammt.

Doch dann fiel mein Blick auf den Spiegel über dem Kamin, und was ich da sah, irritierte mich noch mehr.

Es ist nicht so, dass mein Gesicht vor der Brandkatastrophe so ausgesehen hätte, dass man es in Marmor hätte meißeln wollen, aber Gesichter sind nun mal was sehr Persönliches, und ich hätte mir schon gewünscht, dass meines heil geblieben wäre. Im Spiegel sah ich mein dunkelblondes Haar mit dem spitzen Ansatz, das etwas vorspringende Kinn, die schmalen, aber geschwungenen Lippen, die gerade Nase, die tiefliegenden grünen Augen. Aber ich sah auch die Spuren des Feuersturms, der über mich hinweggegangen war, Narben, die sich von der Schläfe her über die eine Seite meines Gesichts ausbreiteten wie Wellen in einem Teich, in den jemand einen Penny geworfen hat.

Ich wandte den Blick ab. »Und die Hausangestellten?«, fragte ich. »Wer ist das im Einzelnen?«

»Na, abgesehen von mir selbst – zu Ihren Diensten, Sir –«, sagte er und zählte an den Fingern ab, »sind das die Haushälterin Mrs. Thornton, die Köchin Agatha, die Hausmädchen Amy, Grace, Ellen, Mary und Rose, die beiden Hausdiener Stephen und Jack, und schließlich Lily, die Küchenhilfe. Außerdem gibt es noch den Kutscher und die Stallburschen, aber die wohnen nicht hier im Haus.«

»Gibt es von denen irgendetwas Besonderes zu erzählen? Etwas … das von Interesse sein könnte?«

Turley überlegte angestrengt. Ein Funke Hoffnung glomm in mir auf.

»Agatha spürt es in ihrem Knie, wenn das Wetter umschlägt«, sagte er. »Das ist jedes Mal interessant. Seit heute Morgen spürt sie es besonders heftig, wir können uns also auf einiges gefasst machen.«

 

Nachdem ich sämtliche Hausangestellte befragt und dabei tatsächlich allerlei interessante Dinge erfahren hatte, war ich doch, als ich am Nachmittag das Haus verließ, kaum klüger als zuvor.

Alle waren sofort in Panik verfallen und hatten, um sich selbst vor jedem Verdacht zu schützen, andere beschuldigt. Ellen etwa, die aus London stammte und reinstes Cockney-Englisch sprach, ließ keinen Zweifel daran, dass Grace die Miniatur gestohlen hatte. Denn – na, schauen Sie die doch bloß an! Grace ihrerseits, ein zierliches schwarzes Mädchen, das sehr gerade stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, gab mir zu verstehen, dass Ellen die Täterin war, denn Ellen redete so komisch, und Iren reden auch komisch, und Jeder weiß ja, was die Iren für welche sind. Dann hatte Ellen Grace ein schamloses Frauenzimmer genannt, das sich von jedem hergelaufenen farbigen Tagedieb abschleppen ließ, während Grace von Ellen sagte, diese sei eine vertrocknete alte Jungfer, die sich nur allzu gerne von dem nächstbesten Kerl flachlegen ließe, sogar »für umsonst«, wenn sich nur endlich einer fände, der sie wollte.

Als ich ging, starrten sie einander mit Tränen in den Augen entsetzt über den Küchentisch hinweg an und hatten beide eine Freundin verloren.

Als Nächstes ging ich zu dem Quartier des Kutschers und seiner zwei dunkelhäutigen Untergebenen in der Fünfzehnten Straße. Einer der beiden Stallburschen namens Jeb war ein Verehrer von Grace und besuchte sie jeden Nachmittag. Er wollte sie heiraten, sobald er genügend Geld gespart hatte, um sich in Kanada ein Stück Farmland kaufen zu können. Der weiße Kutscher machte mich, als er mich zur Tür begleitete, darauf aufmerksam, dass der Bursche durchaus ein Motiv hatte.

Sehr vorhersehbar.

Es vergehen hier keine zehn Sekunden, ohne dass irgendwer behauptet, Schwarze würden stehlen. Es passiert beinahe so oft, wie die Iren der Hexerei beschuldigt werden. Ich für meinen Teil habe lange genug Seite an Seite mit freien Schwarzen auf der Werft und in Bars gearbeitet, um solchem bösartigem Geschwätz gründlich zu misstrauen. Diese Farbigen besitzen dieselbe Art von unbedingtem Willen, es zu etwas zu bringen, die jüdische Schneider antreibt, jeden Tag sechzehn Stunden lang zu nähen. Natürlich hat meine Haltung in dieser Frage auch damit zu tun, dass ich in jungen Jahren im Haus der Underhills ein und aus ging, denn die Mitglieder dieser Pfarrersfamilie waren allesamt überzeugte Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei.

Ich kann allerdings nicht behaupten, dass das Verhalten der Dienstboten mich in irgendeiner Weise überrascht hätte. Diese Stadt veranstaltet mit ihren Einwohnern eine Art von »Reise nach Jerusalem«, ein grausames Spiel, bei dem es ums nackte Leben geht. Es reicht hier einfach nicht für alle: Es gibt nicht genug Arbeit, nicht genug Nahrung, nicht genug Wohnraum. Man müsste den halben Atlantik mit Erde auffüllen, damit alle Platz finden. Zehntausende drängen sich im Salon dieser Stadt um viel zu wenige Stühle. Und die meisten dieser Stühle stehen vielen Teilnehmern gar nicht zur Verfügung: Nur einer von einem Dutzend trägt die Aufschrift FÜRFARBIGE, und derselbe Stuhl trägt die Aufschrift FÜRIREN.

Kein Wunder, dass es bei diesem Spiel nur noch darum geht, wer wen zu Boden schubst.

Ich zog den Schluss, dass meine Vernehmungen mir keinerlei Nutzen gebracht hatten, und ging in einer Kneipe, die am Weg lag, Hering mit Kartoffeln essen. Danach kehrte ich in das Haus an der Fifth Avenue zurück und durchsuchte nun selbst jeden Winkel. Ich schlich mich sogar in Mrs. Millingtons Zimmer und durchwühlte mit klopfendem Herzen ihren zierlichen Schreibtisch, während sie ausgegangen war.

Nirgends eine Spur von dem Bild.

Da ging ich nach Haus und trank drei Gläser Rum. Es schien das Beste, was man nach so einem Tag tun konnte.

Und am nächsten Morgen, als unter einem seidig grauen Himmel der 14. Februar heraufdämmerte, ein Tag mit fast übernatürlich klarer Luft, wachte ich mit einem Gefühl auf, als stünde mir heute ein Besuch beim Barbier bevor, der mir einen kaputten Zahn ziehen sollte.

Ich stand auf. Meine Wohnung befindet sich direkt über »Mrs. Boehm’s feine Backwaren«, und darum ist es bei mir dank der Öfen in der Backstube meiner Vermieterin im Winter so warm wie im Juni. Die Möbel, die ich besitze, sind schnell aufgezählt: ein Himmelbett aus zweiter Hand unter dem Fenster, ein Tisch mit Klauenfüßen, den mein Bruder mal aus einem abgebrannten Haus hat mitgehen lassen, ein Teppich von Mrs. Boehms Dachboden, ein Stuhl, den ich in einem Straßengraben gefunden hatte, und schließlich eine Kommode, die ich kaufte, nachdem ich wiederholt feststellen musste, dass sich in meinen ordentlich in der Ecke gestapelten Klamotten allerlei Krabbeltiere eingenistet hatten. Obwohl das Zimmer sparsam möbliert ist, wirkt es nicht leer. Das liegt vielleicht daran, dass an den Wänden lauter Kohlezeichnungen hängen. Immer, wenn ich Sorgen oder Ärger habe, zeichne ich.

Ich zeichne ziemlich viel.

Das kleine Kabuff, das eigentlich als Schlafkammer vorgesehen ist, hat keine Fenster. Ich habe mit Mrs. Boehms Erlaubnis an den Wänden dort Regale angebracht. Bis jetzt stehen fünf Bücher darin, aber ich hoffe, es werden bald mehr werden. Ich bin eine größere Bibliothek gewöhnt.

Auf einem der Regalbretter liegt auch ein dicker Stapel Blätter, auf denen ich festgehalten habe, was letzten Sommer passiert ist. Ich musste es irgendwie loswerden, und es aufzuschreiben kam mir irgendwie vernünftiger vor als es laut in der Öffentlichkeit herauszuschreien.

Letztes Jahr im August stieß auf der Straße ein kleines Mädchen namens Bird Daly mit mir zusammen. Sie war voller Blut und sehr verängstigt und sehr tapfer, und ich war so hilflos, als hätte ich einen verletzten Spatzen vor mir – ich wusste überhaupt nicht, was ich mit ihr machen sollte. Ich war ja selbst am Boden zerstört, das Feuer hatte meine ganze Welt vernichtet. Darum redete ich mit Bird so, als wäre sie nicht eine Kinderhure, und sie redete mit mir, als hätte ich kein entstelltes Gesicht, und irgendwie verstanden wir einander. Sie rannte um ihr Leben, auf der Flucht vor einer Bordellbesitzerin namens Silkie Marsh, die ein hübsches Gesicht und goldenes Haar hat, aber nach meiner Einschätzung nichts, was man ein Herz nennen könnte.

Ich schrieb alles auf, restlos alles, auch die Sache mit dem unaussprechlichen Massengrab im Wald, zu dem Bird mich führte. Es war ganz anders, als wenn ich Polizeiberichte schreibe (eine Arbeit, die ich aus ganzer Seele verabscheue) – es war, als ob mit jedem Wort, das aus meiner Feder floss, der Druck in meinem Kopf allmählich nachließe. Ich habe keine Ahnung, was ich mit dem Manuskript anfangen soll oder warum ich es nicht gleich, nachdem ich den Schlusspunkt gesetzt hatte, verbrannt habe. Aber die Menschen tun ja andauernd unerklärliche Dinge. Und so liegen diese Blätter eben immer noch in meinem Regal.

Gedanken an Bird flitzen immer wieder durch meinen Kopf wie Glühwürmchen im dämmrigen Licht, und ich bin froh darüber. Nicht selten sehe ich Bird auch leibhaftig und darüber freue ich mich noch mehr. Sie ist noch so jung und doch weitaus vernünftiger als ich. Aber manchmal muss ich auch an Silkie Marsh denken, und an das Lächeln, mit dem sie mich ansah. Es war nicht boshaft, vielmehr vollkommen gleichgültig, so als hätte sie eine Zahlenreihe vor sich, deren Summe sie berechnen wollte, oder einen toten Fisch, der ausgenommen werden sollte. Mir ist dann jedes Mal, als wäre ihr Blick irgendwie in dem Manuskript, das von ihr handelt, gegenwärtig, und ich schließe die Tür zu meiner »Bibliothek«, damit sie mich nicht länger beobachten kann.

Auch am Morgen des 14. Februar hatte ich dieses Gefühl und zog die Tür mit einem leisen Knall zu.

Ich kleidete mich an und ging hinunter in die Backstube, wo Mrs. Boehm mit sichtlicher Befriedigung einen Teigklumpen bearbeitete, der vor ihr auf einem Backbrett lag. Der Teig sah wunderschön luftig aus und verströmte einen süßen Hefeduft.

»Guten Morgen«, sagte sie, ohne aufzublicken.

Die Art, wie meine Vermieterin meine Anwesenheit zur Kenntnis nimmt, ohne mich anzusehen, hat etwas Angenehmes. Es ist, als würde sie jederzeit mit mir rechnen – es ist gewissermaßen selbstverständlich, dass ich da bin, ich gehöre hierher. Mrs. Boehms Augen sind übergroß, sie haben das sanfte Blau eines schon sehr oft gewaschenen Kleidungsstücks, und sie haben mich früher interessiert überallhin verfolgt. Jetzt könnte ich an der Spitze einer Blaskapelle durch die Tür marschiert kommen, und sie würde ganz ruhig weiter Mehl sieben. Ihr Haar sieht im schummrigen Gaslicht farblos aus, aber es ist strohblond und fein wie die Härchen von Weidenkätzchen.

»Guten Morgen. Was wird das, was Sie da machen?«, sagte ich zu ihrem Scheitel.

»Ein Hefekranz«, sagte sie vergnügt. »Die Deutschen von nebenan haben ihn bestellt für eine Geburtstagsfeier. Da ist Zucker drin, Butter, Eier. Von allem reichlich. Der Teig wird wie ein Zopf geflochten, und dann kommt er in den Ofen. Den mache ich sehr gerne. Haben Sie wieder irgendwelche Bösewichter gefasst?«

Meine Vermieterin hat eine Vorliebe für spektakuläre Kriminalfälle und Sensationsromane. Und darum auch für meinen Beruf.

Ich nahm mir ein Brötchen vom vorigen Tag. »Ich bringe es nicht einmal fertig, ein gestohlenes Bild aufzuspüren«, sagte ich im Hinausgehen.

»Das schaffen Sie schon, nur Geduld«, rief sie mir nach, ein kindliches Lächeln auf den Lippen.

Erst mit ein paar Sekunden Verzögerung wurde mir bewusst, wie wohl mir dieses aufmunternde Lächeln tat. Ich hatte es kaum wahrgenommen, und doch war es Gold wert.

Dann blieb ich unvermittelt stehen, als mir klar wurde, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo ich hinwollte.

Ich setzte mich wieder in Bewegung, drehte ein paar Runden durch die trostlose Gegend am Rand der malariaverseuchten Five Points und brütete dabei über dem Gedanken, dass es vollkommen sinnlos war, jemals wieder zum Haus der Millingtons zu gehen. Und dann hatte ich plötzlich eine Eingebung. Ich kannte jemanden, dessen ganze Leidenschaft und Berufung es war, Dinge zu finden. Einen Mann, der mit geradezu religiösem Eifer verlorenen Objekten nachspürte, der die Geschäftsbücher von Pfandleihern studierte wie ein Schriftgelehrter die Bibel.

Dinge zu finden ist Jakob Piests Lebenszweck.

Und so eilte ich nun zielbewusst und zutiefst erleichtert durch die Elizabeth Street, um Mr. Piest in seinem Revier aufzusuchen. Ich hatte nicht die geringste Vorahnung, dass wir beide bald die faszinierendste Person kennenlernen sollten, der wir jemals begegnet waren.

2

Seiner Natur nach ist der Neger fröhlich, anpassungsfähig und träge. Allerdings zeigt sich bei den zahlreichen Nationen, die zu dieser Rasse gehören, eine enorme Verschiedenheit der intellektuellen Fähigkeiten. Das unterste Ende dieser Skala bezeichnet zugleich die niedrigste Stufe menschlichen Wesens überhaupt.

Dr. Samuel George Morton: Crania Americana,1839.

 

 

Ich gehöre zu einem Menschenschlag, der in New York extrem selten zu finden ist, nämlich zu denen, die für Politik ungefähr so viel übrig haben wie die meisten Leute für den Schweinemist, der an ihren Stiefeln klebt. Meine Antipathie rührt daher, dass ich die meiste Zeit meines Lebens meinen Bruder, der ein wichtiges Rädchen im Getriebe der Demokratischen Partei ist, für einen durch und durch abscheulichen Halunken gehalten habe. Damit habe ich ihm unrecht getan – in Wirklichkeit ist Val nur zu drei Vierteln ein abscheulicher Halunke. Aber als er mir die Arbeit bei der Polizei besorgte, konnte er seinen hochgradig unpolitischen Bruder nur im Sechsten Bezirk unterbringen.

Das bedeutete nach den geltenden Dienstvorschriften, dass ich auch im Sechsten Bezirk wohnen musste, was mir gar nicht behagt hatte, denn bis dahin hatte ich wie jeder einigermaßen vernünftige Mensch diese Gegend nach Möglichkeit gemieden. Jetzt, wo ich ein nettes Zimmer habe, dessen Vermieterin mir nach Feierabend manchmal ungefragt ein kleines Bier spendiert, habe ich gar nicht mehr das Bedürfnis, mir etwas anderes zu suchen. Es ist auch nicht weit von den Tombs, aber davon wird die Umgebung natürlich nicht reizvoller.

Auf dem Weg zu Mr. Piests Revier fielen mir in der Bayard Street zwei rothaarige kleine Mädchen unverkennbar irischer Herkunft auf. Die kleinere der beiden stand barfuß, die Zehen perlweiß vor Kälte, auf dem mit Matsch und Eisklumpen bedeckten Gehsteig, ihre Schwester hielt sich mit der einen Hand an ihrer Schulter fest, während sie mit der anderen ihre löchrigen Mokassins abstreifte und dem anderen Mädchen reichte. Ganz offensichtlich besaßen die Schwestern gemeinsam ein einziges Paar Schuhe, das sie abwechselnd trugen.

Wenn die Zehen rot werden, ist das ein Alarmzeichen, dass eine Erfrierung droht. Weiße Zehen bedeuten noch Schlimmeres. Für Kinder wie diese hatte Mercy mit Zähnen und Klauen gekämpft, sie hatte ihre eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt, um solchen skelettdürren Wesen mit riesigen Augen zu helfen. Ich fragte mich, wie die Kinder von Manhattan überhaupt überleben konnten ohne sie. Mit einem Kloß im Hals ging ich vorbei. Ganze Scharen von weiteren Iren in blauen Jacken mit Messingknöpfen waren unterwegs auf der Suche nach Arbeit. Wie Sargträger schlurften sie mit gesenkten Köpfen dahin, die meisten ohne Handschuhe und Mantel, schlotternd im klaren Licht des Wintermorgens.

Mit Stoffballen beladene Karren zockelten vorbei, als ich die Chatham Street erreichte – auch »Jerusalem« genannt –, wo die jüdisch-holländischen Pfandleiher ihre Läden hatten, erkennbar an den drei goldenen Kugeln, die über den Eingangstüren aufgemalt waren. Ein Angestellter der Stadtverwaltung, der ein Schild mit der Aufschrift VORSICHT! KAUFENSIEKEINEHEHLERWARE! trug, rutschte auf dem Kadaver einer überfahrenen Ratte aus, deren herausquellende Eingeweide noch dampften, und wäre beinahe hingefallen. Bevor unsere Polizeitruppe gegründet wurde, war Jakob Piest Wachmann und verdiente nebenbei Geld mit der Suche nach verlorengegangenem Eigentum. Chief Matsell beschloss daher, ihn in dieser Gegend, die der Hauptumschlagplatz für Diebesgut aller Art in Manhattan ist, auf Streife zu schicken. Die meisten der Händler, die hier ihre Läden haben, sind durchaus respektable Leute. Sie verkaufen Kerzen, Gewürze, gebrauchte Jagdgewehre, Schmuck, sowohl geschmackvollen als auch Talmi, und vieles andere. Aber es gibt auch ein paar, die sich auf Dinge spezialisiert haben, die ihren ursprünglichen Besitzern in einem unbewachten Moment abhandengekommen sind.

Und Mr. Piest kennt diese Spezialisten alle.

Es dauerte nicht lang, bis ich ihn an der Ecke zur Pearl Street entdeckte. Was mir zuerst ins Auge sprang, war dieser unverwechselbare Gang, der ihn auszeichnet: Er bewegt sich sonderbar seitwärts wie ein Krebs, was umso auffälliger ist, als er dabei ungewöhnlich klobige holländische Stiefel trägt. Ich erkannte daher seine Beine, noch bevor ich den in einen fadenscheinigen Mantel gehüllten mageren Oberkörper, das kinnlose Gesicht und die struppigen grauen Haare, die unter dem speckigen Zylinder hervorschauten, richtig wahrnahm. Der Kupferstern an seinem Revers war mit einem Fleck Bratensoße verziert, was nicht untypisch war.

»Mr. Piest!«, rief ich. »Hätten Sie vielleicht ein wenig Zeit für mich? Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«

Ein erfreutes Grinsen erschien in seinem Gesicht. Er eilte seitwärts an einem Bauchladenhändler vorbei, der Schnürsenkel und Almanache feilbot, und schüttelte mir die Hand.

»Jederzeit, jederzeit, Mr. Wilde. Mit dem größten Vergnügen.«

»In einem Haus an der Fifth Avenue hat jemand ein Bild geklemmt. Eine Miniatur mit einer Schäferin drauf von Jean-Baptiste Jacques Augustin. Klein, aber fein. Sie kennen doch die Passer alle. Würden Sie mich bei denen rumführen?«

»Hehler? Ein gestohlenes Bild? Aber ich bitte Sie, Mr. Wilde!«, rief der gute Mr. Piest aus. »Das ist doch kein Gefallen, das ist meine ganz gewöhnliche Arbeit.«

Er hatte mich ohne weiteres verstanden, trotzdem entschuldigte ich mich. »Verzeihen Sie, ich bin ins Flash verfallen. Die ganze letzte Woche habe ich mich mit den Halsabschneidern von der Orange Street herumgeschlagen, und das hat auf mein ordentliches Amerikanisch abgefärbt.«

»Flash«, die Gaunersprache, benutzte ich immer dann, wenn ich im Sechsten Bezirk Verbrechen aufklärte. Oder wenn ich mit dem einzigen überlebenden Mitglied meiner Familie redete – von dem ich es überhaupt erst gelernt hatte. Es ist ein Gemisch aus allen möglichen Rotwelschausdrücken, das sich ständig verändert und immer mehr ins gewöhnliche Englisch herüberschwappt. Irgendwann kommt es wahrscheinlich so weit, dass man im ganzen Land »Kohldampf« sagt, wenn man hungrig ist, oder »Bammel«, wenn man Angst hat. Dass ich es so ganz ohne es zu merken verwendet hatte, gefiel mir aber überhaupt nicht, das war nämlich eine typische Gewohnheit meines Bruders, der Flash und normale Ausdrucksweise gar nicht mehr auseinanderhalten konnte. Demnächst würde ich noch wie er mit einer geblümten Weste und einer dicken Zigarre im Mund daherstolziert kommen.

Wir zogen los. Neben den üblichen Artikeln hatten die meisten Läden heute natürlich auch Grußkarten zum Valentinstag im Angebot. Ein Reklameplakat von unübertroffener Hässlichkeit bei Turner & Fisher empfahl dem geneigten Publikum einen kränklich blassen jungen Dichter von der Universität, der im Schaufenster saß und gegen Bezahlung maßgeschneiderte Valentinsgrüße ausspuckte, je nach Wunsch INVERSENODERINPROSA, GEISTREICH, SATIRISCH, ROMANTISCH, LUSTIGODERGEHEIMNISVOLL. Der Blitz soll mich erschlagen, wenn ich jemals einen schlechtrasierten Kümmerling für irgendwelche Reimereien bezahle, um sie dann mit meiner Unterschrift an Mercy zu schicken, dachte ich, als wir an dem Schaufenster vorbeigingen. Und Valentine habe ich sowieso mehr als genug in meinem Leben.

In den verschiedenen Gebrauchtwarenläden, in die Mr. Piest mich führte, roch es ein bisschen muffig nach alten Kleidern und Grünspan. Ich war auf Anhieb fasziniert. Überall Regale vom Boden bis zur Decke, und davor saß jeweils ein Inhaber, dessen Haut wie altes Pergament aussah, das zu Staub zerfallen würde, wenn man es dem Tageslicht aussetzte. Schildpattkämme lagen zwischen Rasiermessern mit Perlmuttgriffen und merkwürdig gekrümmten orientalischen Dolchen. Und in jedem Winkel stapelten sich Bücher. Verstaubte, stockfleckige Bände lehnten an Kochtöpfen, Lampen und Kaminuhren, in einem besonders spektakulären Fall sogar an der Hintertatze eines ausgestopften Grizzlybären, der eine recht elegante Perlenkette um den Hals trug.

»Mir sind sehr beunruhigende Gerüchte über Ihre Konkurrenz zu Ohren gekommen, Mr. De Groot«, raunte Mr. Piest in einer dieser Höhlen dem Mann hinter der Ladentheke zu. »Mr. Duitscher – wir wissen ja beide, dass der Mann keine Skrupel hat und eine Schande für Ihren ganzen Berufsstand ist – soll vor kurzem in den Besitz eines Gemäldes gekommen sein. Es ist ein sehr kleines Bild von Jean-Baptiste Jacques Augustin, das eine Schäferin zeigt. Halten Sie es für möglich, dass er versucht, ein Stück, das derart leicht wiederzuerkennen ist, zu verkaufen? Auf die Gefahr hin, die ganze Straße in Verruf zu bringen?«

»Dem Duitscher ist alles zuzutrauen«, erklärte De Groot, »aber ich habe davon nichts gehört.«

»Dürfte ich vielleicht – aus rein privatem Interesse, ich suche nämlich ein passendes Geburtstagsgeschenk für meine Mutter –«, fuhr mein mit allen Wassern gewaschener Kollege fort, »einen Blick auf die Sachen in Ihrem Tresor werfen?«

»Natuurlijk.« De Groot lächelte verbindlich.

»Ik dank u vriendelijk«, antwortete mein Freund.

Und so ging es weiter: De Groot, Duitscher, Smith, Emerik, Kiek, Johnson – keiner hatte etwas von der Miniatur gehört. In einem Geschäft entdeckten wir ein verdächtiges silbernes Teeservice mit Monogramm, aber es stellte sich schnell heraus, dass es aus dem Nachlass eines glücklosen Börsenspekulanten stammte, der ein schnelles Ende im Hudson River einem langsamen in Hunger und Armut vorgezogen hatte.

Von dem Bild fanden wir nirgends eine Spur.

Als wir die Tour durch die Chatham Street beendet hatten, standen wir am Rand des City Hall Park, dieser Pestbeule auf dem Angesicht Manhattans, ich entmutigt, Piest tief in Gedanken. Rechts von uns ragten Rathaus und Stadtarchiv auf, darunter herrschte winterlich triste, kahle Ödnis. Die Sonne stand mittlerweile schon ziemlich hoch am Himmel. Hie und da kamen Straßenkinder und erwachsene Obdachlose aller Art aus ihren Schlupfwinkeln zwischen nackten Bäumen und Sträuchern hervor, wo sie die Nacht verbracht hatten, gewärmt allenfalls von einem dürftigen Feuerchen aus dürrem Gras. Der Springbrunnen, der in der brütenden Sommerhitze trockengelegen und keinerlei Kühlung gespendet hatte, das steinerne Becken übersät mit Krötenleichen und Unrat, spie jetzt eisiges Wasser und spritzte tückisch unvorsichtige Passanten nass. Die Molleys, die sich oft hier versammelten – Männer, die mit anderen Männern mehr teilen wollten als einen Krug Rum –, waren gut beraten, sich einen anderen Treffpunkt zu suchen.

Ich schlug fröstelnd den Mantelkragen hoch und zog meinen Schal enger. »Tja«, sagte ich, »das hat nicht so geklappt, wie ich mir das gedacht habe. Trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Das stimmt leider. Wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen. In der Williams Street kenne ich ein Lokal, wo man recht anständiges Corned Beef mit Grünzeug bekommt. Da essen wir etwas und reden über die Sache.«

»Ich kann Sie doch nicht länger von Ihrem Dienst fernhalten«, wandte ich ein.

»Aber nicht doch.« Piest setzte sich mit wehenden Haaren in Bewegung. »Ich habe diese Woche Nachtschicht. Die dauert immer von sechs Uhr abends bis zehn Uhr vormittags. Mein Dienst ist längst vorbei – wir haben also alle Zeit der Welt.«

 

Calverey’s American Dining Saloon bestand aus etwas erhöhten Sitznischen, die durch braune Plüschvorhänge voneinander abgetrennt waren. Es roch ein bisschen muffig in dem Raum, aber das Corned Beef mit Wintergemüse schmeckte wirklich gar nicht übel. Zwei Kerzen auf dem Tisch spendeten schummriges Licht. Als wir mit Essen fertig waren, zog Mr. Piest den Vorhang, an dem ein paar Spinnweben hingen, halb zu.

»Warum kann es nicht doch jemand vom Personal gewesen sein?«, fragte er und schob einen Zahnstocher zwischen seine schiefen Zähne. Ich wusste zwar nicht, was für Kostbarkeiten er dort zu finden hoffte, wünschte ihm jedoch im Stillen viel Erfolg bei seinem Unternehmen.

»Möglich ist es schon. Bloß … ich hatte den Eindruck, dass keiner von denen das Risiko eingehen würde, seine Stellung zu verlieren. Natürlich bin ich nicht davor gefeit, beschuppt zu werden, wie jeder andere auch.«

»Nun, meiner Erfahrung nach sind Sie weitaus weniger leicht zu täuschen als die meisten Menschen.«

»Wie auch immer, das Bild ist weg.« Ich zog einen Bleistiftstummel aus der Tasche und begann, auf einen herumliegenden Zettel das Musikzimmer zu zeichnen. Vor lauter Frustration, nehme ich an. Zeichnen beruhigt meine Nerven. »Ich habe sämtliche Dienstbotenkammern durchsucht. Wenn es jemand vom Personal war, dann hat der- oder diejenige das Ding bereits aus dem Haus geschafft. Wie vertrauenswürdig sind all diese Händler, mit denen wir gesprochen haben?«

»Mein Verhältnis zu ihnen und ihres untereinander ist eine komplizierte Sache, da spielen tausend verschiedene Dinge mit.« Piest rieb sich die kalten Hände. »Aber die meisten kenne ich schon seit fünfzehn Jahren. Und ich spreche ihre Sprache; ich kann nicht nur Holländisch, sondern auch Jiddisch – wissen Sie, mein Vater war Jude. Ich fürchte, das Bild ist nicht über einen der üblichen Kanäle verhökert worden.«

Ich stellte, im Geist, ein paar Berechnungen an.

»Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte ich, ohne nachzudenken.

»Siebenunddreißig. Warum?«

Mir fiel der Unterkiefer herunter, so verblüfft war ich. Im nächsten Moment bemühte ich mich hastig, meine entgleisten Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen, was nur unvollkommen gelang – wahrscheinlich schnitt ich eine Grimasse, als hätte ich einen Krampf im Bein. Offenbar altert man im Polizeidienst verdammt schnell, dachte ich und schauderte bei der Vorstellung, was mich mit meinen achtundzwanzig Jahren noch alles erwarten mochte. Ich überlegte fieberhaft, wie ich meine peinliche Reaktion erklären sollte, doch dann merkte ich zu meiner Erleichterung, dass Piest mit meiner Zeichnung beschäftigt gewesen war und gar nicht auf mich geachtet hatte.

»Das ist ja großartig, Mr. Wilde«, rief er aus. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so ein künstlerisches Talent haben.« Er runzelte die Stirn. »Was ist mit den Millingtons? Kommen die in Frage?«

»Mr. Millington hat den Fall immerhin direkt dem Polizeichef gemeldet. Ich glaube, er war enttäuscht, als er mich sah. Und Mrs. Millington … nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Nein. Die Dame ist einfach nur dekorativ und sonst nichts.«

»Dann muss irgendein unsichtbares Wesen das Bild gestohlen haben.« Piest grinste. »Ein Gespenst, das Kunstwerke sammelt.«

Ich lächelte. Und dann – ich war gerade dabei, das Innere des Kamins zu schraffieren – hielt ich inne. Eine Idee stieg in mir auf. Na ja, es war mehr eine noch ziemlich verschwommene Ahnung.

»Mr. Wilde?«, fragte Piest beunruhigt.

Ich schloss die Augen und strich mir über die Lider. Ein unsichtbares Wesen, hatte Piest gesagt. Und es gab tatsächlich eine Menge solcher unsichtbaren Wesen in New York. Sie sind stumm wie die Pflastersteine unter unseren Füßen, so körperlos wie der üble Geruch, der hier oft in der Luft hängt, oder wie die Schatten der hohen Gebäude. Niemand beobachtet sie, niemand sieht sie. Und ein Vertreter einer ganz bestimmten Kategorie dieser Unsichtbaren musste sich in dem Zimmer aufgehalten haben. Sogar relativ häufig. Das Gesetz verlangte es so.

»Was bin ich für ein Gimpel!«, rief ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es war kein Dreck. Natürlich stauben die Mädchen die Tapete auch hinter den Bildern ab. Die wissen genau, was ihnen blüht, wenn sie ihre Arbeit schlampig machen.«

Mr. Piest starrte mich verständnislos an, die Augen aufgerissen wie die einer frischgefangenen Krabbe. »Die Wand war also sauber?«, sagte er. »Aha.«

»Wir sind in der Mitte des Monats.«

»Mr. Wilde, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Grace. Grace ist für das Obergeschoss zuständig. Natürlich. Wenn es stimmt, was ich denke, dann –«

»Aber Sie glauben doch, dass es niemand vom Personal war?«

»Es war keiner von denen.« Ich legte einen Shilling auf den Tisch, Piest tat es mir nach. »Mr. Piest, ich habe eine Theorie. Wahrscheinlich ist es bloß ein Hirngespinst, und Sie werden es hinterher bereuen, wenn Sie Ihre Zeit damit vergeudet haben, statt sich auszuschlafen, aber wenn Sie trotzdem mitkommen wollen, bitte schön.«

Ich hatte die schwache Hoffnung, er würde sich wie jeder vernünftige Mensch, der eine sechzehnstündige Nachtschicht hinter und vor sich hat, dafür entscheiden, sich ein wenig aufs Ohr zu legen.

Aber nein, dieser Mann ist ein Verrückter. Und ich bin immer wieder froh und dankbar, dass er so und nicht anders ist.

»Ich bin für ein schönes Hirngespinst immer zu haben, das wissen Sie doch, Mr. Wilde. Also dann, gehen wir.« Die wurmstichigen Bodendielen erzitterten unter seinen entschlossen voranschreitenden Holländerstiefeln. »Sollen die Toten schlafen, die haben nichts Besseres zu tun. Aber die Träger des Kupfersterns sind dazu da, Verbrechen aufzuklären.«

 

Es war kurz nach zwei, als wir vor dem Haus der Millingtons aus der Droschke stiegen. Der Himmel hatte bereits ein unheilverkündendes Grau angenommen, und man brauchte keine Köchin mit prophetisch begabtem Knie, um voraussagen zu können, dass es bald schneien würde. Wir ignorierten das Hauptportal und die mürrischen Greife und steuerten den Hintereingang an, denn ich wollte nicht mit der Herrschaft, sondern mit meinem neuen Busenfreund, dem Butler aus Bristol, sprechen.

Ich läutete, und Ellen, das Dienstmädchen, erschien in der Tür. Ihre Augen blickten stumpf – offensichtlich war sie nicht eben heiterster Stimmung.

»Holen Sie mir Turley her, Ellen. Ganz unauffällig, ja? Ich hoffe, diese Sache wird bald vorbei sein.«

»Wirklich, Mr. Wilde?«

»Ja.«

Sie schoss davon wie ein flüchtendes Kaninchen. Es dauerte nicht einmal zwei Minuten, bis Turley auftauchte, den Backenbart gesträubt.

»Mr. Wilde. Wir hatten gar nicht mit Ihrem Besuch gerechnet.« Der hochnäsige Butlerton war wieder da; in der Nähe der anderen Dienstboten wollte er offenbar lieber nicht so reden, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

»Turley«, sagte ich leise, »kümmern Sie sich nicht weiter um die Fragen, die ich Ihnen jetzt stelle, kapiert? Ich frage, Sie antworten, und dann vergessen Sie das Ganze.«

»Sie können sich auf meine Diskretion verlassen, Sir.«

»Verbindlichsten Dank. Also dann: Dieser Jeb, der Verehrer von Grace, kommt sie jeden Tag besuchen?«

Turleys Augen verengten sich. »Ja, das stimmt. Er bringt ihr manchmal Gedichte mit. Vor einer Stunde war er da mit einem Valentinsgruß. Es ist nichts Heimliches oder Unanständiges dabei, die Haushälterin und ich wissen davon, es ist alles ganz ehrenwert.«

»Natürlich, das bezweifle ich nicht. Und Grace und Amy sind für die Räume im Obergeschoss zuständig, also auch für das Musikzimmer?«

»Moment mal«, sagte Turley scharf, »da sind Sie aber auf einem ganz falschen –«

Ich ließ ihn nicht ausreden. »Wann wurde der Kamin im Musikzimmer zum letzten Mal gekehrt?«

Er stutzte.

Die New Yorker leben in ständiger Furcht vor Feuer, erst recht seit dem verheerenden Brand im Juli vorigen Jahres, der einen großen Teil der Stadt zerstörte. Um solche Katastrophen zu verhüten, gibt es strenge Vorschriften. So müssen alle Haushalte ihre Kamine jeden Monat kehren lassen, was von der zuständigen Behörde überwacht wird. Die eigentliche Arbeit wird ausschließlich von ausgemergelten Kindern verrichtet. Man könnte meinen, dass es eigentlich auch erwachsene Kaminkehrer geben müsste, aber das ist nicht der Fall, denn entweder suchen sich die kleinen Kaminkehrer eine bessere Arbeit, sobald sie das stattliche Alter von zwölf Jahren erreicht haben und zu groß geworden sind, um in die engen Schornsteine zu kriechen – oder sie sind dann schon tot. Kaminkehrerjungen sind unsichtbar, unauffällig wie winzige Mücken. Und es sind alles Farbige, mir zumindest ist auf dieser Insel noch nie ein Schornsteinfeger weißer Hautfarbe begegnet.