Die Erben des Zeus - Scott Turow - E-Book

Die Erben des Zeus E-Book

Scott Turow

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Beschreibung

Ein tödliches Verwirrspiel, in dem sich politische Macht und persönliche Schuld danach bemessen, wer den besseren Anwalt hat.

Paul und Cass Gianis sind Zwillinge. Paul ist erfolgreicher Anwalt, der seine Wahlkampagne für das Amt des Bürgermeisters vorbereitet. Cass sitzt seit fünfundzwanzig Jahren im Gefängnis, weil er im Jahr 1982 seine Verlobte, Dita Kronon, umgebracht haben soll. Seine Entlassung steht kurz bevor. Nun will Hal Kronon, Bruder des Opfers und aufbrausender Immobilientycoon, einen lang gehegten Verdacht prüfen – nämlich dass Paul nicht minder an der Ermordung seiner Schwester beteiligt war als der Zwilling Cass. Hals Rachefeldzug ist nur der Auftakt zu einem vielschichtigen Verwirrspiel, dessen Dramatik einer griechischen Tragödie gleicht. Denn auf die Protagonisten Paul Gianis und Hal Kronon und ihren Kampf um Wahrheit und Macht fällt der lange Schatten einer Geschichte zweier Einwandererfamilien, in der Hals Vater, Zeus Kronon, die unheilvolle Hauptrolle spielt.

Mit »Die Erben des Zeus« bekräftigt Scott Turow einmal mehr seinen von zahlreichen Bestsellern untermauerten Status als Autor, der literarisches Gewicht und Spannung ungezwungen kunstvoll verbinden kann.

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Paul und Cass Gianis sind Zwillinge. Paul ist erfolgreicher Anwalt, der seine Wahlkampagne für das Amt des Bürgermeisters vorbereitet. Cass sitzt seit fünfundzwanzig Jahren im Gefängnis, weil er im Jahr 1982 seine Verlobte, Dita Kronon, umgebracht haben soll. Seine Entlassung steht kurz bevor. Nun will Hal Kronon, Bruder des Opfers und aufbrausender Immobilientycoon, einen lang gehegten Verdacht auf die Probe stellen – nämlich dass Paul nicht minder an der Ermordung seiner Schwester beteiligt war als der Zwilling Cass. Sein Rachefeldzug ist nur der Auftakt zu einem vielschichtigen Verwirrspiel, dessen Dramatik einer griechischen Tragödie gleicht. Denn auf die Protagonisten Paul Gianis und Hal Kronon und ihren Kampf um Wahrheit und Macht fällt der lange Schatten einer Geschichte zweier Einwandererfamilien, in der Hals Vater, Zeus Kronon, die unheilvolle Hauptrolle spielt.

Mit Die Erben des Zeus bekräftigt Scott Turow einmal mehr seinen von zahlreichen Bestsellern untermauerten Status als Autor, der literarische Gravitas und Spannung verbinden kann.

Scott Turow, Jahrgang 1949, ist Schriftsteller und Anwalt. Er schrieb bereits zahlreiche in über 25 Sprachen übersetzte Romane, darunter sein Debüt Aus Mangel an Beweisen (1987) – verfilmt mit Harrison Ford auch ein enormer Kinoerfolg – und dessen lang erwartete Fortsetzung Der letzte Beweis (Blessing 2010), alle im fiktiven, dem Großraum Chicago nachempfundenen Kindle County angesiedelt. Turow, seit 1986 Partner einer in Chicago ansässigen Anwaltskanzlei, befasst sich mit Wirtschaftsstrafsachen und widmet zugleich einen Großteil seiner Zeit pro-bono-Mandaten. Zudem war er Vorsitzender der Authors Guild. Turow lebt in der Nähe von Chicago.

SCOTT TUROW

DIE ERBEN DES ZEUS

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch

von Ulrike Wasel

und Klaus Timmermann

Blessing

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der Originalausgabe: Identical Originalverlag: Grand Central Publishing, New York, Boston.
Copyright © 2013 der Originalausgabe by Scott Turow Copyright © 2015 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Gregor /Getty Images Satz: Leingärtner, Nabburg ISBN: 978-3-641-15555-1V002
www.blessing-verlag.de

Für Dan und Deb

Ich bin auf dieser Welt ein Wassertropfen,

Der einen andern Tropfen sucht im Ozean;

Und der, stürzt er hinein, ihn dort zu finden,

Suchend, unbemerkt, sich selber auflöst.

WILLIAM SHAKESPEARE

Die Komödie der Irrungen

Figuren

Familie Gianis

Paul Gianis – Anwalt

Cass Gianis – Pauls eineiiger Zwillingsbruder

Lidia Gianis – Pauls und Cass’ Mutter

Familie Kronon

Hal Kronon – Chef des Immobilienkonzerns ZP

Zeus Kronon – Hals Vater und Firmengründer von ZP

Dita Kronon – Hals Schwester, das Mordopfer

Teri Kronon – Hals und Ditas Tante, Zeus’ Schwester und Lidia Gianis’ beste Freundin

Ermittler

Evon Miller – Leiterin der Security-Abteilung bei ZP

Tim Brodie – Ehemaliger Detective im Morddezernat, der im Mordfall Dita Kronon ermittelte

TEIL EINS

1.

Paul – 5. September 1982

Viele Jahre später wird Paul Gianis, wenn er sich an Dita Kronons Ermordung erinnert, immer an den Beginn jenes Tages zurückdenken. Es ist der 5. September 1982, der Sonntag vor Labor Day, ein warmer Nachmittag mit hohen Wolken, die schimmern wie Perlen. Zeus Kronon, Ditas Vater, hat wie üblich die halbe Gemeinde der griechisch-orthodoxen Kirche St. Demetrios in den leicht hügeligen Park seiner Vorstadtvilla eingeladen, um den Beginn des Kirchenjahres zu feiern. Am Fuße des Hügels, auf der als Parkplatz dienenden Wiese am Fluss, kommt Paul mit seiner Mutter und seinem eineiigen Zwillingsbruder Cass an. Paul weiß, dass die nächsten paar Stunden mit den beiden eine nervliche Zerreißprobe darstellen werden.

Cass, der am Steuer sitzt, springt, sobald er den Motor abgestellt hat, aus seinem alten Datsun-Coupé.

»Ich muss zu Dita«, sagt er. Er meint damit seine Freundin, Zeus’ Tochter.

Nachdem ihre Mutter sich mit Pauls Hilfe aus dem Beifahrersitz gehievt hat, sieht sie ihrem anderen Sohn nach, der sich sein Jackett über die Schulter wirft und den Hügel hinauftrabt.

»Theae mou«, murmelt sie auf Griechisch und bekreuzigt sich rasch, weil sie den Namen Gottes benutzt hat, um ihr Missfallen auszudrücken.

»Mom«, sagt Paul, nachdem sein Bruder weg ist, »was machen wir hier eigentlich?«

Lidia zieht die dicken Augenbrauen zusammen, als würde sie die Frage nicht verstehen.

»Du weigerst dich jedes Jahr, zu diesem Picknick zu kommen«, sagt er, »weil Dad Zeus so hasst.«

»Nicht mehr als ich«, antwortet Lidia leise. Sie lässt niemandem gern den Vorrang, bei nichts. Sie hakt sich bei ihrem Sohn ein, und gemeinsam gehen Paul und sie den Kiesweg hinauf zu Zeus’ riesigem weißem Haus mit den flachen Giebeln und den korinthischen Säulen. »Dieses Picknick ist für die Kirche, nicht für Zeus. Ich hab viele meiner alten Nachbarn vermisst, und NounaTeri hab ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen.«

»Du redest doch täglich mit Teri.«

»Paulie mou«, – wörtlich ›Mein Paul‹ – »ich hab dich nicht gezwungen mitzukommen.«

»Ich musste, Mom. Du führst irgendwas im Schilde. Das wissen Cass und ich genau.«

»Ach ja?«, fragt Lidia. »Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings nicht nur Anwalt bist, sondern auch noch Gedankenleser.«

»Du willst irgendwie Ärger wegen Dita machen.«

»Ärger?« Lidia schnaubt. Mit ihren dreiundsechzig Jahren ist sie ein wenig fülliger geworden, hat sich jedoch ihre würdevolle Ausstrahlung bewahrt, eine groß gewachsene Frau mit feurigen Augen und vollem, grau meliertem Haar, das sie aus der Stirn gekämmt trägt. »Dita macht allein schon genug Ärger. Das gibt sogar Teri zu, und sie ist ihre Nichte. Falls Cass Dita heiratet, spricht euer Vater nie wieder ein Wort mit ihm.«

»Mom, das ist doch bloß griechischer Unsinn. Da kannst du genauso gut an den bösen Blick glauben. Cass und ich machen eure verrückte Fehde mit Zeus nicht mehr mit. Und wir sind fünfundzwanzig. Ihr müsst Cass seine eigenen Entscheidungen treffen lassen.«

»Wer sagt das?«, antwortet Lidia, lacht überraschend leise auf und drückt Pauls Oberarm, um die Stimmung ein wenig zu lockern. Das versteht sie unter Witz, lachend etwas zu sagen, das sie vollkommen ernst meint.

Oben auf dem Hügel ist das Picknick ein einziges Trommelfeuer für die Sinne. Die Harze und Gewürze, die nach dem kurzen Gottesdienst noch in den Räucherschalen glimmen, vermischen sich mit den Düften von vier ganzen Lämmern, die sich an Spießen über Eichenholz drehen. Dazu durchschneidet die frenetische, schrille Musik der Bouzouki-Band die Luft, um die Hunderte von Gästen willkommen zu heißen, die den Rasen bevölkern.

Teri, Zeus’ Schwester und Lidias beste Freundin, seit die beiden sieben Jahre alt waren, erwartet sie mit ihrer Vogelscheuchenfrisur aus gelb gefärbtem Haar. Sie umarmt Paul und seine Mutter. Zeus’ Sohn Hal steht neben Teri und begrüßt die Gäste. Hal ist inzwischen vierzig, dick, linkisch und übereifrig, einer, der in der mitleiderregend glücklosen Art eines sabbernden Hundes auf andere zugeht. Trotzdem hat Paul noch immer eine Schwäche für Hal. Vor zwanzig Jahren sind Cass und er ihm hinterhergelaufen wie Welpen, damals, als der Streit um die Pacht für den Lebensmittelladen von Pauls Vater die Familien noch nicht entzweit hatte. Hal scheint genau wie Paul gewillt, das alles außen vor zu lassen. Er umarmt Pauls Mutter, die er noch immer »Tante Lidia« nennt, und plaudert beiläufig mit Paul, bis Teri Lidia wegzieht. Eine Schar Freundinnen erwartet die beiden in einem der blau-weiß gestreiften Zelte, die als Schattenspender auf dem Rasen aufgebaut wurden. Widerwillig begibt sich Paul in dieses Gedränge von Leuten, die er aus seiner Kindheit kennt und deren traditioneller Lebensweise und massiven Erwartungen er schon immer entkommen wollte.

Kaum hat er ein paar Schritte getan, entdeckt ihn seine Freundin Georgia Lazopoulos und kommt mit ihrem anhimmelnden Lächeln auf ihn zu. In ihrem blau karierten Sommerkleid wirkt sie klein und kurvig, und sie hat niedliche Grübchen – weshalb sie oft mit Sally Field verglichen wird. Obwohl die zwei schon seit dem Abschlussjahr auf der Highschool ein Paar sind, streifen sich ihre Lippen zur Begrüßung nur ganz leicht. Georgia ist die Tochter von Father Nik, dem Priester von St. Demetrios, und ihr ist klar, dass sie bei Veranstaltungen wie dieser unter Dauerbeobachtung steht.

Sie hat für Paul schon einen Pappteller mit Lamm und Pastitsio vorbereitet, was er beides sehr gern isst. Dankend nimmt er ihn entgegen, entfernt sich dann jedoch kurz von ihr, um nach Cass Ausschau zu halten. Er entdeckt seinen Zwillingsbruder schließlich inmitten einer Gruppe ehemaliger Schulkameraden. Selbst auf dreißig Meter Entfernung kann er Cass’ Blick auf sich ziehen, und als es ihm gelingt, deutet er mit einer leichten Kinnbewegung in Richtung des Standorts ihrer Mutter. Sie haben vereinbart aufzupassen und dazwischenzufunken, falls Lidia in Ditas Nähe kommt. Dass sie Ditas Eltern anspricht, ist unwahrscheinlich, da sie mit ihnen schon seit Jahren kein Wort mehr gewechselt hat.

Insgeheim teilt Paul die meisten Bedenken seiner Mutter gegenüber Dita, spürt aber auch Cass’ brennendes Bedürfnis nach Unabhängigkeit, und er hat die Wünsche seines Bruders schon immer als gleichbedeutend mit seinen eigenen betrachtet. Trotz des wütenden Widerstands ihrer Eltern scheint Dita mit ihrem spitzen Mundwerk und provozierenden Auftreten Cass weit mehr zu bezaubern als jede andere Frau vor ihr.

Andere Leute – gewöhnliche Leute – können sich nicht vorstellen, wie das ist, aufzuwachsen, ohne genau zu wissen, wo man selbst anfängt und der Bruder aufhört. Für Paul gibt es zwei Kategorien von Menschen: Cass und der ganze übrige Rest. Selbst ihre Mutter, eine titanenhafte Macht, die stets mit der Stärke und dem unbeugsamen Willen einer Marmorsäule über sie wachte, befindet sich nicht in den gleichen Gefilden emotionaler Nähe.

Folglich ist es eines der verblüffendsten Rätsel in Paul Gianis’ Leben, wie sich sein Bruder und er im College derart auseinanderentwickeln konnten. Cass ging ständig auf Partys und widersetzte sich offen ihren Eltern. Nach der Highschool studierte Paul Jura, während Cass sich treiben ließ, bis er sich schließlich erfolgreich an der Polizeiakademie von Kindle County bewarb, die er ab kommender Woche besuchen wird.

Als Paul sich wieder zu der Stelle umdreht, wo er Georgia vermutet, stolpert er über die Beine einer Person hinter ihm und befindet sich plötzlich im Fallen. Überrascht schreit er auf und rudert mit den Armen, wobei ihm sein Teller aus der Hand fliegt. Paul landet flach auf dem Rücken, und schon bückt sich die junge Frau, über die er gestolpert ist, zu ihm hinunter und drückt ihm die Arme auf den Rasen.

»Nicht bewegen«, sagt sie. »Bleib kurz liegen, bis du sicher bist, dass dir nichts passiert ist.«

Es ist Sofia Michalis.

»Wo hast du gesteckt?«, sind die ersten Worte, die ihm über die Lippen kommen. Er weiß nicht, ob er damit einfach nur meint, dass er sie seit Jahren nicht gesehen hat oder dass die Zeit sie verwandelt hat. Beides stimmt. Sofia war schon immer selbstbeherrscht und schlagfertig, aber nicht die Sorte Mädchen, von der man angenommen hätte, dass einmal eine so attraktive Frau aus ihr würde. In der Highschool war sie eines von vielen jungen Mädchen, welche die Jungs mit ihrer typischen Grausamkeit als »griechische Tragödie« bezeichneten, was heißen sollte, dass ihre Nase für ihr Gesicht viel zu groß war. Doch sie hatte schon immer diese besondere Ausstrahlung. Und eine Wahnsinnsfigur. Jetzt weiß sie, dass sie etwas Besonderes ist.

Lachend setzt er sich auf, um sich zu inspizieren. Auf dem Ärmel seines braunen Anzugs von Brooks Brothers ist ein Grasfleck, aber Schmerzen hat er nirgends. Er ergreift ihre ausgestreckte Hand, um wieder auf die Beine zu kommen, während sich einige andere, die herbeikamen, um zu helfen, wieder abwenden.

Sofia antwortet auf Pauls Frage, sie sei die letzten sieben Jahre in Boston auf dem College gewesen und habe Medizin studiert. Im Juni hat sie ihren Doktor gemacht und arbeitet jetzt als Assistenzärztin in der hiesigen Uniklinik.

»Fachgebiet?«, fragt Paul.

»Chirurgie«, antwortet sie.

»Menschenskind«, sagt er. Das hätte er nicht gedacht. »Heißt das, du hättest mich notfalls kostenlos genäht?«

»Meine Mutter sagt immer, ich hätte mir das Nähen von ihr beibringen lassen sollen.«

Sofia erkundigt sich, was er so macht. Er bekommt in zwei Monaten seine Zulassung bei der Anwaltskammer von Kindle County und wird als Staatsanwalt unter Raymond Horgan arbeiten.

»Und sonst so?«, fragt Sofia. »Bist du noch immer mit Georgia zusammen?«

»Noch immer mit Georgia zusammen«, antwortet er. Ihre beiden kleinen Schneidezähne schieben sich über die dünne Unterlippe, und ihr schöner Busen scheint sich irgendwie zu heben. Er versteht, was sie denkt: Wann kommst du endlich auf den Trichter? »Sie ist hier irgendwo«, sagt er und gestikuliert ausladend, als wüsste er nicht, dass Georgia garantiert in der Nähe geblieben ist, fast so, als könnte er ihr sonst entwischen.

»Ich muss sie finden«, sagt Sofia. »Und ihr hallo sagen.«

»Das solltest du«, sagt er und hat das Gefühl, Georgia habe den Schwung ihres Gesprächs irgendwie ausgebremst. Sofia wendet sich mit einem knappen Winken ab, und er widersteht der Versuchung, ihr nachzuschauen. Doch ihr Erscheinen wirkt nach. Sofia, spürt er, ist ein Mensch geworden, wie er gern einer wäre, einer, der in der Welt etwas bewirken kann. Es ist ein verstörender Anblick, als er sich kurz darauf umdreht und Sofia im Gespräch mit Georgia sieht, die keinerlei Ambitionen dieser Art hegt. Auf Father Niks Drängen hin hat Georgia nicht studiert und arbeitet bereits als leitende Kassenbeamtin in einer hiesigen Bank. Paul liebt Georgia. Und wird sie immer lieben. Aber er weiß nicht, ob er sie heiraten will, wovon sie und ihre Familie schon lange ausgehen. Das ist das Problem. Ein Leben mit Georgia wäre gut, aber nicht unbedingt interessant.

Paul merkt, dass er seine Mutter aus den Augen verloren hat, während er diesen Gedanken nachhing, und als er sie endlich entdeckt, sieht er beunruhigt, dass sie mit dem Gastgeber spricht. Aber Lidia mustert Zeus mit versteinerter Miene. Dunkel, mit wallendem Silberhaar und trotz seiner sechsundsechzig Jahre noch immer unwahrscheinlich gut aussehend, gibt sich Zeus in seinem schicken weißen Anzug alle Mühe, angesichts Lidias Frostigkeit vergnügt zu wirken. Paul hätte gedacht, dass Zeus bei seiner allzu offensichtlichen Selbstverliebtheit kein Erfolg in der Politik beschieden sein würde, doch er hat es geschafft, von den Republikanern zum Kandidaten für das Amt des Gouverneurs gekürt zu werden, und die Prognosen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen für die Wahlen in knapp zwei Monaten voraus. Falls Zeus gewinnt, wird er sein gewaltiges Imperium, das Shoppingcenter im ganzen Land besitzt, vermutlich in Hals Hände legen, der es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an die Wand fahren wird.

Unterdessen bemerkt Paul, dass Zeus’ schöne Tochter auf ihn zukommt. Dita schwebt heran und gibt Paul einen feuchten, alkoholgeschwängerten Kuss mitten auf den Mund. Immer wenn er Dita sieht, scheint sie sturzbesoffen zu sein. Paul braucht einen Moment, bis ihm klar wird, dass sie so tut, als könnte sie die Zwillinge nicht unterscheiden – das können noch immer die wenigsten –, und weicht zurück.

»Bist du das, Paul? Ein Glück für mich, dass du nicht mitgespielt hast. Wäre Cass eifersüchtig, oder teilt ihr zwei wirklich alles?« Dita, schwarzhaarig und klassisch schön, mit vollen, symmetrischen Gesichtszügen und unwiderstehlichen dunklen Augen, lacht und drückt ihre Brüste gegen seinen Arm, wodurch sie ihn zwingt, noch einen Schritt zurückzutreten.

Wegen dieser Mätzchen versucht Paul stets, Dita aus dem Weg zu gehen, obwohl er intuitiv weiß, dass sie genau das will, um ihn von Cass zu trennen.

»Dita, ich weiß ja, du hältst dich für witzig, aber an deiner Stelle würde ich mir keine Hoffnung auf einen Gastauftritt in der Carson-Show machen.«

»Ach, Paul«, sagt sie, »du bist viel zu verkrampft. Wenn dir einer ein Stück Kohle in den Hintern schieben würde, käme es als Diamant wieder raus.« Nachdem sie bei diesem kleinen verbalen Schlagabtausch deutlich die Oberhand behalten hat, nimmt Dita sich Zeit für einen prüfenden Blick. »Warum sind alle in deiner Familie gegen mich?«

»Wir sind nicht gegen dich, Dita. Wir sind für Cass.«

»Ach ja, richtig. Cass braucht eine Frau wie Georgia. Faa-de.«

Jemanden so kaltschnäuzig über Georgia reden zu hören ist erstaunlich schmerzhaft, und er muss den Impuls unterdrücken, den Dita so oft bei ihm auslöst, nämlich ihr eine zu knallen. Dita ist clever. Noch etwas, das sie so gefährlich macht. Er wendet sich ab, aber Dita muss noch eine letzte Spitze loswerden.

»Ganz ehrlich«, sagt sie, »ich glaube, ich hätte Cass schon längst abserviert, wenn ich nicht wüsste, dass ihr anderen darüber total begeistert wärt.«

Wenn Paul in späteren Jahren den Tag Revue passieren lässt, der das Leben seiner Familie für immer verändern wird, kann er trotz des zeitlichen Abstands sehen, wie grauenhaft unglücklich Dita mit sich selbst war. Doch in diesem Moment spürt er lediglich, welche Gefahr Dita für seinen Zwillingsbruder darstellt, sowie seine eigene quälende Unfähigkeit, Cass vor ihr zu retten. Paul geht davon, während ihm mit der Wucht und Klarheit eines Trompetenstoßes der Gedanke kommt: Er hasst diese Frau.

2.

Gnadenausschuss – 8. Januar 2008

Evon Miller, fünfzig, Leiterin der Security-Abteilung beim ZP Real Estate Investment Trust, lief mit der ungewöhnlichen Geschwindigkeit einer ehemaligen Athletin durch das Untergeschoss vom Anbau des Regierungsgebäudes, ohne zu wissen, wohin sie musste oder warum sie hier war. Unvermittelt stieß Evon, klein und kräftig gebaut, auf die Nummer des Sitzungssaales, den sie suchte, und blieb abrupt stehen. In einer Plastikhalterung neben der Tür verkündete ein Zettel mit Druckfehler: ANHÖHRUNG GNADENAUSSCHUSS. Sie trat ein und sah ihren Boss, Hal Kronon, Vorstandsvorsitzender von ZP, dessen dringende E-Mail sie hierherbeordert hatte, im Gespräch mit seinem persönlichen Anwalt Mel Tooley und einem anderen Mann im Anzug, den sie nicht kannte.

Evon war zwanzig Jahre Special Agent beim FBI gewesen, bevor sie diesen Job angenommen hatte, und sie hatte gelernt, dass sich die Macht des Staates, über die gelegentlich gesprochen wurde, als wäre sie eine grässliche Krankheit, oftmals vor allem durch den völligen Mangel an Würde auszeichnete, mit dem sie ausgeübt wurde. Der Gnadenausschuss würde seine monatliche Sitzung, in der über die Freiheit von Menschen beratschlagt wurde, in diesem niedrigen, fensterlosen Raum auf metallenen Klappstühlen an zwei billigen Tischen abhalten. Hinter den Tischen hing das Große Staatssiegel, fast einen Meter breit und komplett aus Plastik, leicht schief an der gestreiften Wand. Ein Pult mit Mikrofon stand mittig zwischen dem Ausschuss und zwei weiteren Tischen für die Teilnehmer: der Staat und wer auch immer für den Häftling sprechen würde. Der Beginn der Anhörung, laut Karte an der Tür um vierzehn Uhr, hatte sich offenbar verzögert.

Evons Boss, dunkel und korpulent, das Hemd halb aus der Hose des maßgeschneiderten Anzugs gerutscht und die Krawatte schief, bemerkte sie endlich und zog sie in eine Ecke des Raumes. Auf dem Weg dorthin fragte sie, warum er hier sei. Seine E-Mail hatte keine Erklärung geliefert.

»Ich will, dass Cass Gianis im Gefängnis bleibt«, sagte er. Evon wusste so gut wie nichts über den Mord an Hals Schwester Dita im September 1982. Der Fall war längst kein Gesprächsthema mehr, als sie vor fünfzehn Jahren nach Kindle County zog, und Hal sprach nicht gern darüber. Ihr Wissen beschränkte sich auf das, was kürzlich in den Zeitungen gestanden hatte, dass Cass Gianis, eineiiger Zwillingsbruder von Senator Paul Gianis, der jetzt für das Bürgermeisteramt kandidierte, sich seinerzeit des Mordes an seiner damaligen Freundin Dita schuldig bekannt hatte. »Aber das ist nicht erstrangig.«

»Sondern?«

»YourHouse«, flüsterte er. Hal stand seit Monaten in Verhandlungen, für mehrere hundert Millionen Dollar YourHouse zu kaufen, eine der landesweit größten Baufirmen von Wohnsiedlungen. Er glaubte, nach dem Rückgang der Preise für Einfamilienhäuser hart verhandeln und ZP diversifizieren zu können, wozu man ihm schon seit Jahren riet. »Wir haben bei unserer Risikoprüfung was übersehen. In Indianapolis. Könnte sein, dass der Boden am dortigen Standort teilweise verseucht ist. Wir brauchen Umweltprüfer. Sofort.«

Evon wusste nicht mal, ob es so was gab. Und da sie Hal kannte, fürchtete sie vor allem, Hirngespinsten nachzujagen.

»Woher wissen Sie das?«, fragte sie.

Hal sprach leise weiter, bewegte kaum die Lippen.

»Tim hat Dykstra und die übrigen YourHouse-Leute beschattet, seit sie gestern hier gelandet sind.«

»Meine Güte, Hal.« ZP zahlte Tim Brodie, einem älteren ehemaligen Detective des Morddezernats, seit Jahrzehnten ein Pauschalhonorar dafür, dass er gelegentlich als Privatdetektiv für Hal tätig wurde. Evon hielt nicht viel von Privatdetektiven. Die meisten waren bloß Möchtegerndetektive oder abgehalfterte Polizisten, die nicht wussten, wie weit sie gehen durften, und die Firma dadurch möglicherweise in Schwierigkeiten brachten. Brodie auf seine Verhandlungsgegner anzusetzen, war typisch für Hals unüberlegte und riskante Verrücktheiten.

»Beauftragen Sie jemanden damit«, sagte er zu Evon, »aber bleiben Sie in der Nähe. Vielleicht brauch ich hier noch Ihre Hilfe.«

Seit dem Tod seines Vaters Zeus vor zwanzig Jahren leitete Hal Kronon ZP allein und schien als Boss permanent unter Hochspannung zu stehen. Er konnte abwechselnd herrisch, aufgebracht oder unterwürfig sein, dabei immer laut und rechthaberisch. In jeder Stimmung verlangte Hal von seinen Angestellten die sofortige Erfüllung seiner Wünsche. Deshalb war Evon oft erstaunt, wie sehr er ihr in den drei Jahren, die sie nun schon bei ZP arbeitete, ans Herz gewachsen war. Zum einen war er ungemein großzügig und hatte sie sehr viel reicher gemacht, als sich das ein Mädchen aus Kaskia, Colorado, je hätte träumen lassen. Aber vor allem mochte sie Hal, weil er so kläglich war, wenn er ihre Hilfe brauchte, und hinterher so überschwänglich dankbar. Hal war ein Mann, der viele Frauen brauchte, die sich um ihn kümmerten, besonders jetzt, wo seine Mutter Hermione gestorben war. Da war Hals Frau Mina, lustig, resolut und ebenso pummelig wie ihr Mann, und die alte Tante Teri, die Schwester seines Vaters, die allen ein wenig Angst machte. Beruflich war Evon eine von Hals wichtigsten Vertrauten geworden, die ihm oftmals stundenlang nickend zuhörte und behutsam versuchte, ihn vor sich selbst zu retten.

Sie ging hinaus auf den Flur, um ihren Assistenten anzurufen, der für Indiana zuständig war, und wies ihn an, nach Indianapolis zu fahren und jemanden aufzutreiben, der den Standort auf eine mögliche Umweltkontamination untersuchen konnte. Als sie wieder in den Raum kam, erfuhr sie von Mel Tooley, Hals Anwalt, dass die Anhörung erneut verschoben worden war, weil Cass’ Anwalt noch immer unterwegs war. Ihr Boss war nach draußen gegangen, um einige Telefonate zu führen. Mel hatte sich in eine der drei Klappstuhlreihen gesetzt, die für Zuschauer aufgestellt worden waren, um einen Blick in seinen Palmtop zu werfen, und Evon ließ sich neben ihm nieder. Als FBI-Agentin hatte Evon Mel nur vom Hörensagen gekannt. Er hatte den Ruf, ein typischer schmieriger Vertreter der Anwaltszunft zu sein, clever, aber im Grunde unlauter. Durch Hal hatte sie Mels bessere Seite kennengelernt, dennoch stand sie ihm noch immer skeptisch gegenüber. Zum einen gab er eine lächerliche Figur ab in seinen Anzügen, die für seinen massigen Körper zu eng waren, und mit dem zotteligen Toupet, das er sich anscheinend zugelegt hatte, als Tom Jones ein Topstar war. Der schwarze Lockenwust, der sich auf seinem Kopf türmte, sah aus wie das Zeug, das er vermutlich vom Boden auffegte, wenn er seinen Pudel zum Hundefriseur brachte.

Sie bat Mel, ihr genauer zu erläutern, was an diesem Nachmittag passieren sollte. Mel verdrehte gequält die Augen.

»Ach, Hal hat sich mal wieder was in den Kopf gesetzt«, sagte er. Dann erklärte er, dass die Angehörigen eines Mordopfers das Recht hatten, eine Anhörung zu verlangen, bevor ein verurteilter Mörder auf freien Fuß gesetzt wurde. Es gab jedoch keinen vernünftigen Grund, Cass Gianis länger in Haft zu halten. Bis auf sechs Monate hatte er die fünfundzwanzigjährige Freiheitsstrafe abgesessen, zu der er verurteilt worden war, nachdem er sich schuldig bekannt hatte. Man hätte ihn nur dann weiter hinter Schloss und Riegel halten können, wenn er sich einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Gefängnisordnung geleistet hätte. Stattdessen war Gianis ein Bilderbuchhäftling gewesen.

»Hier«, sagte Mel, »schauen Sie mal seine Akte durch, ob ich irgendwas übersehen habe.« Mel reichte ihr eine dicke Mappe und ging, um selbst zu telefonieren, während Evon sitzen blieb und die Seiten durchblätterte. Offenbar war Cass im Gegenzug für sein ursprüngliches Schuldbekenntnis die Unterbringung in einem Gefängnis mit gelockertem Strafvollzug zugesichert worden, was einem Mörder selten bewilligt wurde und worüber wahrscheinlich hart verhandelt worden war. Folglich hatte er über zwei Jahrzehnte in der Haftanstalt Hillcrest eingesessen, rund fünfundsiebzig Meilen von den Tri-Cities entfernt, und sogar Verlegungen in neuere Gefängnisse abgelehnt, wo er eine Einzelzelle hätte haben können. Wie aus den Formularen hervorging, die er ausgefüllt hatte, war ihm Hillcrest trotz der veralteten Gebäude lieber, da für seine Familie leichter erreichbar, besonders für seinen Zwillingsbruder, der ihn fast jeden Sonntag besuchte. Tooley hatte sich per richterlichem Beschluss alles und jedes beschafft, was je in Hillcrest Eingang in Cass’ Akte gefunden hatte, angefangen mit einem Foto von ihm bei Haftantritt im Juli 1983 und den dabei abgenommenen Fingerabdrücken bis hin zum jüngsten Statusbericht seines Betreuers. Wie Mel gesagt hatte, lieferte die dicke Akte insgesamt den Eindruck, dass da jemand das seltene Kunststück fertiggebracht hatte, nicht nur bei der Gefängnisleitung und den Wärtern beliebt zu sein, sondern auch bei den Mithäftlingen, denen Cass Beratung in juristischen Fragen angeboten hatte sowie Nachhilfeunterricht, falls jemand den Highschool-Abschluss nachholen wollte. Erst kürzlich hatte Gianis ein Fernstudium für eine spätere Tätigkeit als Lehrer absolviert. In einer Umgebung, in der disziplinarische Verstöße an der Tagesordnung waren – Schlägereien um die Fernbedienung, Obst, das aus der Kantine geklaut wurde und mit ein bisschen Brot zu hochprozentigem Fusel fermentiert werden konnte, von Angehörigen reingeschmuggelte Joints – wies Cass’ Akte bloß ein paar wenige »Vermerke« auf, Tadel für Bagatelldelikte wie Lesen nach Beginn der Nachtruhe.

An der Tür tat sich was. Paul Gianis, so gut aussehend wie im Fernsehen, kam herein, gefolgt von zwei geschniegelten jungen Untergebenen, einer Schwarzen und einem Weißen, Wahlkampfmitarbeiter, vermutete Evon. Bürgermeisterwahl hin oder her, Paul hatte offenbar vor, erneut die Rolle einzunehmen, die er von Anfang an gespielt hatte: als einer der Anwälte seines Bruders. Er hängte seinen grauen Wollmantel über einen Metallstuhl und warf eine abgegriffene Aktentasche auf den Tisch, der für die Vertreter des Häftlings gedacht war.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, vor fünfzehn Jahren, da hätte Evon behauptet, Paul Gianis einigermaßen gut zu kennen, obwohl ihr klar war, dass er sie heute vielleicht nicht mal wiedererkannte. Damals war sie hierherversetzt worden, um am Projekt Petros mitzuarbeiten, einer verdeckten Ermittlung des FBI zur Bekämpfung der Korruption an den Gerichten, wo Schadenersatzansprüche verhandelt wurden. Paul war der Ausnahmeanwalt in Kindle County, der als Erster den Mumm hatte, sich dem Erpressungsversuch eines bekannten Richter zu widersetzen, und dann noch größeren Mut bewies, als er sich auf Evons Bitte hin bereit erklärte, als Zeuge vor Gericht auszusagen, nachdem der betreffende Richter wegen der Sache angeklagt worden war. Danach hatte die allgemeine Bewunderung für Paul, vor allem seitens der Presse, ihn in eine politische Karriere katapultiert, die ihn zum Mehrheitsführer im Senat des Staates gemacht hatte. Jetzt kandidierte er für den Posten des Bürgermeisters, und sein bekannter Name sowie die großzügige Unterstützung der Anwaltskammer und einiger Gewerkschaften hatten bewirkt, dass er in ersten Umfragen weit vorn lag.

Evon nickte, als Paul schließlich einen zerstreuten Blick in ihre Richtung warf. Zunächst schien er nichts zu registrieren, doch dann schaute er sie erneut an und strahlte.

»Mein Gott, Evon, Sie sind das.« Er kam prompt quer durch den Raum auf sie zu, um ihr die Hand zu schütteln, und plauderte dann mit ihr, klimperte im Stehen mit Schlüsseln und Kleingeld in seiner Tasche und beantwortete ihre Fragen nach seiner Familie. Pauls Frau, Sofia Michalis, war selbst prominent, eine plastische Chirurgin, die es zweimal in die landesweiten Nachrichten gebracht hatte, weil sie Ärzteteams mobilisiert hatte, um im Irak Opfer von Sprengstoffattentaten zu behandeln. Ihre zwei Söhne gingen beide aufs Easton College, sagte er.

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte er. »Ich hab gehört, Sie arbeiten jetzt für Hal. Wie läuft das denn so?« Seine Mundwinkel zuckten. Paul wusste offenbar um Hals Ruf als Choleriker.

»Er ist kein übler Bursche. Bellt, aber beißt nicht.«

»Hey«, sagte er. »Ich kenne Hal schon mein ganzes Leben.«

Evon stutzte. Das hörte sie zum ersten Mal.

»Unsere Familien waren früher unzertrennlich«, erklärte Paul. »Seine Tante Teri war die beste Freundin meiner Mutter und ihre koumbara, ihre Trauzeugin, bei der Hochzeit meiner Eltern. In unserer Kirche hieß das, dass sie auch die Patin meiner ältesten Schwester wurde, die nouna, und das ist für Griechen eine große Sache. Teri war bei jedem Familienfest dabei – Ostern und Weihnachten und Namenstage –, und Hal war ihr Liebling, also brachte sie ihn mit. My Big Fat Greek Family.« Er schmunzelte über sein lahmes Witzchen. »Irgendwann kriegten mein Dad und Hals Dad sich wegen der Pacht für den Lebensmittelladen meines Dads unversöhnlich in die Wolle, aber davor hat Hal sogar auf Cass und mich aufgepasst.« Er zeigte wieder ein breites, offenes Grinsen, einnehmend, weil es ihn kurz arglos wirken ließ. »Natürlich kann er mich jetzt nicht mehr ausstehen.«

Selbst wenn man den Mord an Dita beiseiteließ – und wie war das möglich? –, hasste Hal alle liberalen Politiker, die, wie er einem gern erklärte, fast ausnahmslos sinnlose staatliche Leistungen dadurch finanzieren wollten, dass sie die Vermögenssteuer anhoben, was Unternehmen aus der Stadt treiben, Arbeitsplätze vernichten und vor allem die Mieter der drei großen ZP-Shoppingcenter in Kindle County verjagen würde. Evon neigte dazu, ihm recht zu geben. Sie hatte ihr Leben lang die Republikaner gewählt, bis 2004, als sie sich von ihnen ausgeschlossen fühlte, weil sie versuchten, die gleichgeschlechtliche Ehe auf eine Stufe mit Lepra zu stellen.

»Wie läuft Ihr Wahlkampf?«, fragte sie.

»Alle sagen, bestens«, antwortete er erneut mit diesem breiten Lächeln. Er war ein gut aussehender Mann, sportlich, mit vollem schwarzem Haar, das bis auf die vereinzelten Silbersträhnen darin glänzte wie das Gefieder eines Raben. Die Zeit hatte sein längliches Gesicht fülliger werden lassen, was immer nur bei Männern gut aussah, die dadurch klüger und edler wirkten und somit besser geeignet für Machtpositionen waren. Bei Frauen wirkte es bloß alt. »Kann ich mit Ihrer Stimme rechnen?«

Wahrscheinlich hätte sie Ja gesagt, selbst wenn er nicht bloß im Scherz gefragt hätte, doch Paul wurde unterbrochen, weil Cass’ Hauptanwalt Sandy Stern hereinkam, der laut der Gefängnisakte Cass’ Verteidiger gewesen war, als er sich schuldig bekannte. Rund und kahlköpfig, mit einem rätselhaft eleganten Auftreten, war Stern der lebende Beweis dafür, dass es von Vorteil war, in jungen Jahren schon mittelalt auszusehen. Die fünfzehn Jahre, seit er Evon erstmals in einem der Petros-Fälle ins Kreuzverhör genommen hatte, waren fast spurlos an ihm vorübergegangen. Stern begrüßte Paul und schüttelte auch Evon mit einer leichten Verbeugung die Hand, obwohl sie nicht sicher war, ob er sich wirklich an sie erinnerte.

Dann trat eine magere Gerichtsschreiberin aus dem Hinterzimmer, um zu verkünden, dass der Ausschuss jetzt bereit sei, und Evon ging auf den Flur, um Tooley und Hal zu holen. Als sie wieder in den Sitzungssaal traten, wurde Cass Gianis gerade von einem Deputy durch eine Seitentür hereingeführt. Er bewegte sich mit Trippelschritten, weil er Fuß- und Handschellen trug, beides mit einer Eisenkette verbunden, die sich um die Taille seines blauen Overalls wand. Paul fragte den Deputy um Erlaubnis, ehe er seinen Bruder umarmte.

Die Gianis-Brüder waren unverkennbar eineiige Zwillinge, aber als Evon sie jetzt nebeneinander sah, stellte sie fest, dass die beiden nicht als exakte Kopien gealtert waren, genau wie die Schwestern Sherrell, mit denen sie damals in Kaskia befreundet gewesen war. Cass war ein klein wenig größer und etwas breiter. Der auffälligste Unterschied war, dass Paul sich vor Jahren mal die Nase gebrochen hatte. Dazu kursierte eine lustige Geschichte, die in jeder Kurzbiografie über ihn erschien, denn als sie 1983 in den Flitterwochen waren, hatte seine Frau Sofia ihn versehentlich mit einem Tennisschläger erwischt, als er versuchte, ihr das Spiel beizubringen. Angeblich hatte sein Vater bei ihrer Rückkehr einen Blick auf den Verband geworfen und gesagt: »Ich hab dir doch gesagt, du sollst keine Widerworte geben.« Paul hatte einen leicht violetten Höcker auf der Nase zurückbehalten, der ein bisschen aussah wie ein Knöchel. Beide Brüder trugen Brille, Cass ein simples Gefängnismodell mit durchsichtigem Plastikgestell, Paul ein schwarzes, mit modisch eckigen Gläsern. Dem Vernehmen nach hatte Paul aufgehört, Kontaktlinsen zu tragen, um seine gebrochene Nase zu verbergen, aber für Evon machte die Brille den Unterschied im Profil der beiden nur noch deutlicher. Ansonsten war die Ähnlichkeit frappierend, nur dass Cass sein volles Haar, das er aufgrund der lockeren Haftbedingungen etwas länger wachsen lassen durfte, mit Linksscheitel trug, während Paul es genau umgekehrt kämmte.

Die fünf Mitglieder des Ausschusses kamen im Gänsemarsch durch die hintere Tür, vier Männer und eine Frau, eine bunte ethnische Mischung wie ein UN-Plakat. Evon hatte keine Ahnung, wer die Leute waren. Bestimmt standen sie alle auf gutem Fuß mit dem Gouverneur, einem Republikaner, und sympathisierten deshalb eher mit Hal, der die Aktionen der Republikanischen Partei in Kindle County größtenteils allein finanzierte.

Der Vorsitzende, ein bekümmert aussehender Mann namens Perfectus Elder stellte eine Reihe von Fällen vor, und der stellvertretende Generalstaatsanwalt, ein hagerer Mann namens Logan, mit dem Hal und Tooley gesprochen hatten, als Evon hereinkam, gab ein paar routinemäßige Kommentare von sich. Während dieses Vorgangs wurde eine alte Dame im Rollstuhl von ihrer zierlichen philippinischen Pflegerin hereingerollt. Die Frau brabbelte irgendwas vor sich hin, und die Pflegerin ermahnte sie leise, als spräche sie mit einem kleinen Kind. Das weiße Haar der alten Frau war unordentlich und schütter, wie Pappelsamen, aber sie war gepflegt gekleidet und hatte sich trotz Alter und Krankheit einen Ausdruck von Entschlossenheit bewahrt. Paul wandte sich von seinem Bruder ab, um sie zu begrüßen, und die Verzweiflung, mit der sie ihn umarmte, verriet Evon, dass die alte Dame die Mutter der Zwillinge war.

»Klar, er will auf die Tränendrüse drücken«, murmelte Hal prompt und so laut, dass der Ausschuss die Bemerkung hören musste. Unter dem Tisch packte Tooley Hals Hand. Evon war schon oft genug in solchen Anhörungen gewesen, um Hals Verdacht zu teilen. Stern und Paul, ein gewiefter Prozessanwalt, der nach seinem Weggang aus der Staatsanwaltschaft im Rechtsstreit der Tabakindustrie einen Haufen Geld verdient hatte, benutzten die Mutter als lebenden Beweis dafür, dass Cass möglichst bald freigelassen werden sollte, weil die Zeit drängte. Unterdessen wartete Paul erneut ab, bis der Deputy sein Einverständnis gab, ehe er Cass zunickte, der sich daraufhin umdrehte und ihre Mutter umarmte. Sie wurde zu einem schluchzenden Häufchen Elend, als sie den Sitzungssaal kurzzeitig mit ihrem Gewimmer erfüllte. Evon begriff, dass die alte Dame ihre Söhne vielleicht schon seit Jahren nicht mehr zusammen gesehen hatte. Vorsitzender Elder verzog leicht das Gesicht und rief dann den Fall auf, für den sich offensichtlich alle hier versammelt hatten.

»In der Sache Cassian Gianis, Nummer 54669, Widerspruch von Herakles Kronon.« Elder verhunzte Hals Namen hoffnungslos, nicht bloß den Vornamen, der oft falsch ausgesprochen wurde, sondern auch den Nachnamen, der sich anhörte, als wäre Hal ein Ire namens Cronin.

Mel trat auf der einen Seite ans Pult und Stern und Paul auf der anderen. Sie nannten ihre Namen fürs Protokoll, eine Bandaufnahme mit dem Gerät, das von einer schlanken jungen Frau am Ende des Tisches bedient wurde. Etliche Reporter hatten sich auf den letzten Drücker hereingeschlichen und setzten sich nun zu Evon und den beiden Mitarbeitern von Paul in die erste Reihe. Anscheinend hatte sich herumgesprochen, dass Paul Gianis im Haus war, denn auch die zweite und dritte Reihe hatten sich mit Zuschauern gefüllt.

»Mr Gianis’ Freilassung ist für den 13. Januar vorgesehen«, sagte Elder, »Und Mr Kronon hat dagegen Widerspruch eingelegt. Mr Tooley, wie sollen wir verfahren?«

»Mein Mandant möchte sich gern selbst an den Ausschuss wenden«, sagte Mel und trat beiseite, um Hal seinen Platz zu überlassen. Tooley ließ dem wilden Pferd freien Lauf, wollte aber möglichst nicht mit Schlamm bespritzt werden, wenn es losgaloppierte. Mit Ausnahme von Hal akzeptierten alle, dass Paul Gianis’ Wahlsieg unvermeidlich war.

Hal stand auf, und wirkte, wie Evon nicht anders erwartet hatte, unbeholfen. Er hatte vergessen, seinen Hemdkragen wieder zuzuknöpfen, die Krawatte hing schief, und er wusste nicht, wohin mit seinen Händen, bis er sie schließlich vor sich faltete. Ihr Boss war selbst in seinen besten Momenten keine angenehme körperliche Erscheinung. Er hatte einen dicken Hängebauch und ein seltsam eidechsenartiges Gesicht mit Glupschaugen, Doppelkinn, eine dicke Hornbrille und eine platte Nase. Sein Haupthaar hatte sich bis auf ein paar schwer zu bändigende Restbestände verabschiedet.

Er dankte den Ausschussmitgliedern und hielt dann einen freien Monolog über Ditas Tod. Obgleich Hal meistens die stürmischen Emotionen mied, die erwachten, wenn er über den Mord an seiner Schwester sprach, war sie in seinen Gedanken immer präsent. An einer Wand in Hals Büro befand sich ein kleiner Altar für Dita mit einem Foto von ihr als Angehörige der Studentinnenvereinigung Kappa Kappa Gamma an der Uni. Sie war apart und dunkel gewesen, mit riesigen Augen und einem breiten, ironischen Lächeln.

Nachdem Hal ein paar Minuten geredet hatte, war er in Tränen aufgelöst und sprach größtenteils unverständlich. Nur eines ging aus seinen Worten deutlich hervor: Da Hal noch immer litt, schien es falsch, Cass Gianis in die Freiheit zu entlassen.

Während Hal sprach, war gelegentlich wirres Gemurmel von der Mutter der Zwillinge auf der anderen Seite des Raumes zu hören, obwohl ihre Pflegerin beharrlich versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. Am Tisch gegenüber verzogen Paul und Cass während Hals gesamtem Vortrag respektvoll keine Miene.

Als Hal schließlich wieder Platz nahm, stand Stern auf und schloss zunächst sorgfältig den mittleren Knopf seines Jacketts. Noch immer sprach er mit dem schwachen Akzent seines Geburtslandes Argentinien.

»Niemand wünscht sich mehr als Cass und seine Mutter und sein Bruder hier an seiner Seite, dass die Ereignisse jener Nacht vor fünfundzwanzig Jahren ungeschehen gemacht werden könnten. Sie haben schreckliches Leid über ihre Familie gebracht, und dennoch wissen sie, dass ihr eigener Verlust neben dem der Familie Kronon klein ist. Aber Cass hat den Preis bezahlt, den das Gesetz für ihn festgesetzt hat, ein Strafmaß, mit dem die Kronons seinerzeit einverstanden waren. Das Protokoll –«

Hal konnte sich nicht mehr beherrschen und sprang auf. »Mein Vater und meine Mutter haben sich damit abgefunden. Ich hab mich nie damit abgefunden.«

Vorsitzender Elder blickte nach diesem Ausbruch noch bekümmerter drein. Er sah sich vergeblich nach einem Richterhammer um und schlug schließlich mit der flachen Hand auf den Tisch, während Tooley Hal wieder zurück auf seinen Platz bugsierte. Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Falls Hal hoffte, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen, hatte er sich getäuscht. Er machte sich bloß zum Narren.

Elder nickte Stern zu, der noch ein paar Schlusssätze sprach. Als er fertig war, beugte sich Elder nach links und beratschlagte mit seinen Kollegen. Es war ungewöhnlich, dass Leute mit Rang und Namen zu diesen Anhörungen kamen. Nur gelegentlich suchten profilsüchtige Staatsanwälte, zumeist solche, die wiedergewählt werden wollten, den großen Auftritt und machten sich gegen die Freilassung eines besonders gefürchteten Häftlings stark. Doch das war wohl kalkuliertes Theater. Dass einflussreiche Außenstehende wie Paul und Hal sich vor dem Ausschuss in die Haare gerieten, war unangenehm, vor allem wenn Reporter anwesend waren. Elder wollte das Ganze offensichtlich möglichst schnell über die Bühne bringen.

»Der Entlassungstermin bleibt unverändert«, sagte Elder. Der Ausschuss verschwand durch die hintere Tür wie Flüssigkeit durch einen Trichter.

Evon sah, wie Paul Gianis seinen Bruder umarmte. Der Deputy hielt Cass am Ärmel seines blauen Overalls fest, erlaubte ihm aber, auch noch kurz seine Mutter zu umarmen, ehe er ihn aus dem Raum führte. Die Reporter umringten Paul.

Stern schüttelte Tooley die Hand und ging als Erster. Hal marschierte nach draußen, mit Evon und Mel als Trauergefolge.

»Das nenn ich gegen eine Wand reden«, sagte Hal auf dem Flur. Eine Sekunde später schwang die Tür des Sitzungssaals auf, und die Pflegerin mühte sich ab, Mrs Gianis’ Rollstuhl über die Schwelle zu manövrieren. Hal, auf seine Art durchaus ein Gentleman, eilte ihr zu Hilfe. Wie zum Beweis dafür, dass man nie wusste, woran man bei Hal war, kniete er sich neben die alte Dame, sobald sie draußen war, und sprach sie liebevoll an, als hätte er ihren Sohn nicht gerade eben als eine Ausgeburt Satans hingestellt.

»Tante Lidia«, sagte er. Er legte eine Hand auf ihren Unterarm, dessen braune Haut mit Altersflecken marmoriert war, durchzogen von einem dünnen weißen Streifen, der wie eine alte Brandwunde glänzte. Evon musste daran denken, wie sich die Haut ihrer eigenen Mutter verschlechtert hatte, als sie im Sterben lag. Dünn wie Papier war sie geworden, als hätte man sie mit den Fingern zerreißen können. »Tante Lidia, ich bin’s, Hal Kronon. Der Sohn von Zeus und Hermione. Ich freu mich sehr, dich zu sehen.« Er lächelte sie an, während die Greisin ihn verständnislos anblickte. Ihre Augen waren im Alter wässrig geworden und wimpernlos. Um ihr auf die Sprünge zu helfen, wechselte Hal ins Griechische. Das einzige Wort, das Evon verstand, war Hals Vorname, als er ihn wiederholte. Aber auch Mrs Gianis bekam ihn mit.

»Herakles!«, rief die alte Dame. Sie nickte mehrmals. »Herakles«, wiederholte sie und hob dann mit bemerkenswerter Zärtlichkeit eine Hand an seine Wange. Wieder wurde die Tür aufgestoßen, und diesmal kam Paul heraus, gefolgt von drei Reportern und seinen beiden jungen Mitarbeitern. Hal stand auf, die Augen wieder feucht, sein überbeanspruchtes Taschentuch ins Gesicht gedrückt. Paul musterte kurz die Szene und wandte sich dann an die Pflegerin.

»Nelda, ich denke, Sie sollten Mom nach oben bringen. Im Heim warten sie schon.« Mrs Gianis wiederholte noch immer »Herakles«, als die Pflegerin sie davonschob. Paul wandte sich mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck wieder Hal zu, irgendwas zwischen Bitterkeit und Verwunderung, die Lippen fest zusammengepresst.

»Du brauchst gar nicht so böse zu gucken, Paul«, sagte Hal. »Deine Mutter war immer nett zu mir. Sie hat keinen Mord begangen. Was sich von dir nicht behaupten lässt.«

Beim letzten Satz klappte Paul tatsächlich der Unterkiefer herunter, und er machte einen Schritt zurück.

»Menschenskind, Hal.«

»Von wegen, ›Menschenskind‹. Du bist ungeschoren davongekommen, aber ich weiß, dass du was mit dem Mord an Dita zu tun hattest. Ich hab’s immer gewusst.«

Die drei Reporter hatten ihre Spiralblöcke gezückt und schrieben hektisch mit. Pauls Stirn legte sich in Falten. Er hatte das öffentliche Image, immer und überall beherrscht zu bleiben, und das würde er nicht aufs Spiel setzen, ganz gleich, wie groß die Provokation war. Er starrte Hal nur einen Moment länger an.

»Das ist Unsinn, Hal. Du bist aufgewühlt.« Er winkte den zwei jungen Leuten, die ihn begleitet hatten, und warf seinen Mantel über, während er mit eiligen Schritten den Flur hinunter verschwand.

Sofort drängten sich die Reporter um Hal. Maria Sonreia von Channel 4, die ihr dickes Kamera-Make-up trug, mit Augenbrauen so formvollendet, als wären sie aufgeklebt, fragte Hal mehrfach: »Inwieweit glauben Sie, dass Senator Gianis an der Ermordung Ihrer Schwester beteiligt war?«

Tooley, dem es ebenso wie Evon zunächst die Sprache verschlagen hatte, schaltete sich endlich ein. Er packte Hal am Arm und zog ihn weg.

»Im Moment haben wir nichts zu sagen«, sagte Mel. »Möglicherweise geben wir morgen eine Stellungnahme ab.«

Auf dem Weg zum Aufzug rief Evon Hals Fahrer an, und als sie auf die Straße traten, wartete dort schon der Bentley, in dessen karamellfarbenen Ledersitzen sie sich immer vorkam wie in einem Schmuckkästchen. Delman, der Fahrer, hielt die Tür auf und lächelte freundlich, als eine Verkehrspolizistin in Signalweste mit ihrem Leuchtstab fuchtelte und ihn aufforderte, den Wagen wegzufahren. Auf Hals Anweisung hin stieg Evon mit ein. Delman würde Hal am Büro absetzen und dann Evon zurück zu ihrem Auto bringen.

»Verdammt, Hal, was sollte das denn?«, wollte Tooley wissen, sobald sie losfuhren. Mel war Hals Freund aus Kindertagen. Zu den vielen Mythen, die Hal über sich selbst verbreitete, zählte auch der, dass er ein »Stadtkind« war, aufgewachsen in einem Bungalow in Kewahnee und nicht in der Landvilla in Greenwood, in die sie gezogen waren, als Hal in die Oberstufe kam. Er hatte nichts übrig für die gut betuchten Vorstädter, mit denen er auf die Highschool und dann aufs College gegangen war und in deren Gesellschaft jetzt seine Kinder aufwuchsen. Er zog ein paar Freunde aus der Grundschule vor, wie zum Beispiel Mel, obwohl der ihm, ehrlich gesagt, damals wahrscheinlich genau wie alle anderen die kalte Schulter gezeigt hatte. Tooley neigte dazu, sehr gestelzt zu sprechen, konnte in der richtigen Stimmung aber auch Tacheles reden.

»Du weißt, dass du morgen auf sämtlichen Titelseiten bist«, sagte Mel.

»Natürlich«, sagte Hal. Man durfte nie vergessen, dass Hal trotz des emotionalen Magmas, das häufig aus ihm herausbrach, ziemlich durchtrieben sein konnte.

»Es hat wohl keinen Zweck, dich dazu überreden zu wollen, dass du heute Nachmittag eine öffentliche Stellungnahme herausgibst, in der du deine Äußerung von vorhin zurücknimmst, oder doch? Wenn wir nämlich schnell was verlauten lassen, verklagt Paul dich vielleicht nicht wegen Rufschädigung.«

»Rufschädigung?«

»Hal, er kandidiert für das Amt des Bürgermeisters. Du hast ihn gerade praktisch einen Mörder genannt. Er wird dich wegen übler Nachrede verklagen. Das kann er nicht einfach auf sich beruhen lassen.«

Hal, in seinen Mantel gemummelt und die Arme vor der Brust verschränkt, erinnerte ein wenig an einen Vogel in der Mauser.

»Ich nehme gar nichts zurück.« Der Besitz von einer Milliarde Dollar hatte eine seltsame Wirkung auf Menschen, wie Evon festgestellt hatte. In Hals Fall machte es ihn häufig zu einem Kleinkind. »Soll er mich doch verklagen. Hab ich nicht das Recht, meine Meinung über jemanden zu äußern, der Bürgermeister werden will?«

»Hal, auch bei einer Person des öffentlichen Lebens verbietet es das Gesetz, Anschuldigungen zu erheben, die eine böswillige Missachtung der Wahrheit erkennen lassen.«

»Aber es ist wahr. Lass es dir gesagt sein. Die Zwillinge stecken da gemeinsam mit drin. Ich kenne die beiden schon ihr ganzes Leben. Ausgeschlossen, dass einer von ihnen so etwas getan hat, ohne dass der andere dabei mitgemacht hat.«

Tooley schüttelte den Kopf.

»Hal, alter Junge, ich hab den Fall für dich jahrelang genau verfolgt. Es gab nicht eine einzige Aussage, die Paul irgendwie belastet hätte. Und der Zeitpunkt für diese Anschuldigung ist einfach absurd. Nach fünfundzwanzig Jahren machst du plötzlich den Mund auf und beschuldigst ihn, der Komplize seines Bruders gewesen zu sein, gerade als Paul kurz davor ist, Bürgermeister zu werden, und du der größte Geldgeber der Gegenseite bist?«

Hal ließ sich das alles mit mürrischer Miene durch den Kopf gehen, während seine Augen hinter den dicken Brillengläsern hin- und herhuschten wie in die Enge getriebene Mäuse.

»Der Kerl geht mir auf den Sack.«

Evon war nicht imstande, das Netz aus Familienfeindschaften vollständig zu erfassen, das hier im Spiel war. Doch zumindest ein Teil von Hals Wut war nachvollziehbar. Ditas Ermordung hatte die politische Karriere seines Vaters beendet. Wenige Tage nach dem Tod seiner Tochter hatte Zeus die Gouverneurskandidatur zurückgezogen. Und nun war Paul auf dem besten Wege, den Olymp zu besteigen, wobei die Zeitungen jetzt schon spekulierten, falls er Bürgermeister würde, wäre der Gouverneurssessel wahrscheinlich die nächste Station.

»Ich hab immer gedacht, dass er irgendwas damit zu tun hatte«, sagte Hal. »Meine Eltern wollten das nie hören. Alle beide nicht. Mein Vater sagte immer bloß: ›Das ist für die Gianis genauso eine große Tragödie wie für uns‹, und meine Mutter wollte einfach nie über die Sache reden, besonders nicht nach Dads Tod. Und ich hab ihnen zuliebe den Mund gehalten. Aber jetzt sind beide tot, und ich kann sagen, was ich denke. Ich glaube, ich werde sogar Fernsehspots schalten.« Hal nickte entschlossen. Evon schwante allmählich, dass Hals Äußerungen vorhin auf dem Flur oder auch jetzt alles andere als spontan waren. Er hatte sich bereits bei seiner Ankunft heute überlegt, eine Szene zu machen, und deren Auswirkungen einkalkuliert.

»Damit zwingst du ihn lediglich, vor Gericht zu gehen«, sagte Tooley. »Wenn du das machst, mein Freund, brauchst du irgendwelche Beweise.«

»Die wird Evon schon finden.«

»Ich?« Sie konnte sich nicht beherrschen. Aber sie hatte nun schon drei Jahre damit verbracht, Hal aus den Löchern zu retten, die er sich selbst gegraben hatte.

»Rufen Sie Tim an«, sagte Hal.

»Tim?«, fragte Evon. Hal meinte den Privatdetektiv, der am Vortag Corus Dykstra von YourHouse beschattet hatte.

»Tim kennt sich mit dem Fall aus«, sagte Hal. »Der hat auch nie geglaubt, dass die ganze Wahrheit ans Licht gekommen ist. Ich wette, er hat schon längst jede Menge Informationen über Paul.«

Sie waren am ZP-Gebäude angekommen, und Hal, auf den eine Besprechung wegen des Kaufs von YourHouse wartete, sprang aus dem Wagen, um zu seinem Büro im vierzigsten Stock zu fahren. Doch dann beugte er sich noch mal kurz ins Wageninnere und drückte ihr einen Zettel in die Hand.

»Das ist Tims Handynummer. Rufen Sie ihn an. Er wird Ihnen helfen.«

3.

Horgan – 10. Januar 2008

Raymond Horgans Großzügigkeit war ein Glücksfall für Paul Gianis’ gesamte Karriere gewesen. Stan Sennett, Rays ehemaliger leitender Stellvertreter, war Pauls Cousin zweiten Grades und hatte ihm 1982 ein Vorstellungsgespräch bei Ray verschafft. Sie verstanden sich von Anfang an blendend. Nach Ditas Ermordung hatte Ray für Paul eine Stelle frei gehalten, während der mit Sandy Stern zusammen an der Verteidigung seines Bruders arbeitete, und daran änderte sich auch nichts, selbst nachdem Cass sich schuldig bekannte. Ray sagte, er hätte seinen Mitarbeitern stets beigebracht, sich bei jeder Entscheidung zu fragen: ›Würde ich mein Verhalten als fair empfinden, wenn der Angeklagte mein eigener Bruder wäre?‹ Er glaubte kaum, dass Paul diese Erinnerung je nötig haben würde.

1986 verlor Ray die Wahl gegen seinen ehemaligen Stellvertreter Nico Della Guardia, und kurz darauf verließ Paul die Staatsanwaltschaft, um sich als Anwalt für Zivilrecht niederzulassen. Doch selbst im Ruhestand blieb Horgan eine führende Figur der Democratic Farmers & Union Party. Horgan beriet Paul, als der vor zehn Jahren beschloss, in die Politik zu gehen, nachdem zwei große Schadenersatzklagen, vor allem der Rechtsstreit der Tabakindustrie, ihn finanziell so unabhängig gemacht hatten, dass Arbeit für ihn praktisch zum Zeitvertreib wurde. Ray war es gewesen, der ihn erstmals mit lokalen Gewerkschaftsführern in Kontakt brachte, und Ray war es auch, der ihm vier Jahre zuvor die letzten beiden entscheidenden Stimmen sicherte, mit denen er als Reformkandidat zum Mehrheitsführer im Senat gewählt wurde. Jetzt fungierte Ray in Pauls Wahlkampf als leitender Berater.

»Nicht bloß Unwahrheit. Sondern fahrlässige Missachtung der Wahrheit«, zitierte Ray die Beweisanforderung, die eine Figur des öffentlichen Lebens wie Paul erfüllen musste, um einen Verleumdungsprozess zu gewinnen. Horgan, Mitte siebzig, war unter der weißen Haarkappe so rot im Gesicht, dass man unwillkürlich an eine Pfefferminzstange denken musste. Mit zwei neuen Kniegelenken ging er steifbeinig und tat nicht mal mehr so, als könnte er sich an Namen erinnern. Manche hielten Horgan nur noch für einen abgetakelten Politiker. Allerdings hatte er sich seine Durchtriebenheit bewahrt und schien sich noch immer für die Mechanismen der Macht zu begeistern.

»Und können wir das beweisen?«, fragte Paul.

»Dürfte ein Kinderspiel werden«, sagte Ray. »Was für Beweise haben die, dass du irgendwas mit dem Mord zu tun hattest?«

Auf der anderen Seite des glänzenden Konferenztischs ließ Mark Crully, Pauls Wahlkampfmanager, seinen Stift fallen.

»Wir müssen sie verklagen«, erklärte Crully. Mark war ein stiller, ehrgeiziger kleiner Bursche, Oberbefehlshaber der Hinterzimmerarmee, die man nie im Fernsehen sah. In den vergangenen zehn Jahren hatte er überall im Land Wahlkämpfe geleitet und erst kürzlich eine außerordentliche Wahl gewonnen, bei der es um einen Kongresssitz in Kalifornien ging, der seit fünfzig Jahren von den Republikanern gehalten worden war. Er war gut. Aber er kannte nur ein Ziel: gewinnen. Und jetzt war er gereizt. Er hatte keine Geduld mit Anwälten. Oder überhaupt mit Leuten. »Wir müssen sie verklagen«, wiederholte er.

Paul beschloss, nicht auf Crully einzugehen. Der Mann schien oft seine eigene Auffassung darüber zu haben, wer hier für wen arbeitete. Paul sprach Horgan an.

»Aber wir müssten beweisen, dass ich nichts mit dem Mord zu tun hatte, oder? Es ist immer verdammt schwierig, ein Negativum zu beweisen. Und ein DNA-Test mit den Blutspuren am Tatort würde auch nichts bringen. Wir sind eineiige Zwillinge.«

»Stimmt«, sagte Ray. »Aber wir werden Offenlegung verlangen. Und die Offenlegung wird zutage fördern, dass Hal nichts in der Hand hat. Richtig?«

Sie saßen in dem verglasten Besprechungszimmer von Pauls Wahlkampfzentrale. Deren Gestaltung stammte von Crully. Er glaubte, eine transparente Optik sandte die richtige Botschaft, und zwar sowohl an die Wahlkampfhelfer als auch an die Presse, der Crully gelegentlich Einlass gewährte. Aber Paul, der es gewohnt war, seine Geheimnisse zu wahren, konnte sich nicht daran gewöhnen.

Wenn man durch die Scheiben in das quirlige Großraumbüro blickte, mochte man meinen, dass der Wahlkampf absolut reibungslos lief. Morgens um zehn waren schon rund hundert Leute bei der Arbeit, bis auf etwa zwanzig alles Freiwillige, die sich hoch motiviert ins Zeug legten. Die Räumlichkeiten gehörten einem Mann namens Max Florence, den Paul seit dem Jurastudium kannte und der ihm zwei Stockwerke zur Verfügung gestellt hatte. Sie hatten weiße Stellwände mit großen Fenstern angeschafft, und an dem Tag, als Paul seine Kandidatur bekannt gab, war das gesamte Büro bereits voll funktionsfähig. Für sein halbes Dutzend Mitbewerber eine Demonstration seiner ungeheuren Effektivität.

Eine Hälfte des Büros war für das Sammeln von Spenden vorgesehen. Die meisten Freiwilligen waren an der Telefonhotline tätig, arbeiteten die Namenslisten ab, die Paul in vier anderen Wahlkämpfen zusammengestellt hatte, und baten um Geld. Field, der zweite der drei Wahlkampfmanager, hatte seinen Schreibtisch ihnen genau gegenüber. Jean Orange lachte mit ihren beiden Assistenten über irgendwas; ihre Metallwände waren mit Landkarten des County tapeziert, grüne Markierungen zeigten an, wo sie Niederlassungen eingerichtet hatten, rote Markierungen hoben die Bezirke hervor, in denen Stadt- oder Gemeinderäte ihre Unterstützung versprochen hatten. Jetzt, da die Weihnachtsferien vorüber waren, plante sie, am Wochenende tausend Leute von Tür zu Tür zu schicken, um ihre Wähler zu ermitteln. Um die Ecke, wo die Presseabteilung untergebracht war, ging es heute hoch her. Tom Mileie, ein zweiunddreißigjähriger Internetexperte, seine drei Mitarbeiter sowie natürlich die beiden stellvertretenden Wahlkampfmanager und der Chefstratege waren allesamt damit beschäftigt, Anrufe von Journalisten entgegenzunehmen, die wissen wollten, was Paul zu sagen hatte, nachdem Hal Kronon die Behauptung in die Welt gesetzt hatte, Paul sei an Ditas Ermordung beteiligt gewesen.

Crully meldete sich erneut zu Wort.

»Sie müssen diesen Spinner verklagen. Sie haben ihm einen Tag Zeit gelassen, sich zu beruhigen. Wir haben ihn per Brief aufgefordert, die Klappe zu halten, stattdessen hat er den Unsinn heute Morgen Reportern gegenüber wiederholt. Deshalb müssen wir ihn jetzt verklagen.«

Paul stand lange genug im öffentlichen Leben, um sich von Krisen nicht so leicht aus der Bahn werfen zu lassen. Ehrlich gesagt, sie waren sogar ein wenig das Salz in der Suppe. Die Leute verlassen sich auf dich. Also finde eine Lösung. Und das würde er. Er fand immer eine.

»Hal ist emotional aufgeladen«, sagte Paul. »Das verstehen die Leute. Wenn ich ihn verklage, liefere ich ihm die Plattform, die Geschichte in den Nachrichten zu halten. Laut unserer letzten Umfrage liegen wir zwanzig Punkte vorn. Bei so einer Führung bewahrt man die Ruhe und geht kein Risiko ein.«

»Der Kerl braucht keine Plattform«, antwortete Crully. »Der hat eine Milliarde Dollar.« Crully trug ein weißes Hemd, das so hell leuchtete wie ein Scheinwerfer. Seine Manschetten waren zugeknöpft und die gestreifte Krawatte ordentlich bis zum Kragen hochgezogen. Alle anderen, mit Ausnahme der Presseleute, die für die Kameras häufig eine Krawatte tragen mussten, arbeiteten in Jeans. Crully demonstrierte jedoch gern, dass er noch immer ein Marine war. Er sprach leise und versuchte, keine Gefühlsregung zu zeigen, während er diesen verdammten Bleistift zwischen den Fingern rollte. Pauls Erfahrung nach hatten die Crullys dieser Welt zwei verschiedene Drehzahlen. Wenn er nach Pennsylvania fuhr, verbrachte er wahrscheinlich zwei Tage heulend am Grab seiner Mutter, schäumte vor Wut auf seinen Vater, den trunksüchtigen Scheißkerl, und hasste seine Brüder. Und dann kehrte er mit der blutleeren Aura eines Profikillers zurück an seine Arbeit. »Und wir haben noch ein Problem.« Mark zeigte mit seinem Bleistift auf Ray und gab ihm damit das Stichwort.

»Also, ich hab einen Anruf erhalten«, sagte Ray. »Ein Freund von früher. Noch so ein alter Kocker wie ich. Hal hat angeblich Coral Glotten engagiert, um eine Fernsehspotkampagne zu entwerfen.«

»Wofür?«

»Wahrscheinlich, um bekannt zu geben, dass du seine Schwester umgebracht hast. Und du hast ja immerhin noch Gegenkandidaten. Murchison und Dixon werden eine Möglichkeit finden, das zu nutzen. Alle werden das.«

»Warten wir erst mal die Spots ab«, sagte Paul.

Crully ließ wieder seinen Stift fallen.

»Na toll«, sagte er. »Wie viel Zeit und Geld wollen Sie dafür opfern, um die Katze wieder einzufangen, wenn sie erst mal aus dem Sack ist? Sie haben keine andere Wahl. Wir sind im Wahlkampf. Bei Wahlkämpfen geht es um Mythen, darum, den Leuten einzureden, dass Sie ein Gott sind, kein Sterblicher. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Kann Hal das einfach so machen?«, fragte Paul. »Zigtausende für Fernsehspots ausgeben?«

»Wahrscheinlich«, sagte Ray. »Dabei handelt es sich nicht um beschränkte Ausgabeposten, soweit wir wissen. Er ist lediglich ein Bürger, der sein Recht auf Meinungsfreiheit ausübt. Wenigstens solange fünf Clowns am Obersten Gerichtshof denken, Geld ausgeben sei eine Form der freien Meinungsäußerung.«

»Außerdem«, sagte Crully, »mal angenommen, es wäre illegal. Wollen Sie deshalb vor Gericht gehen? Oder vor den Wahlausschuss? Dann kann Hal sich das Geld für die Spots sparen. Er muss bloß jeden Tag eine Pressekonferenz abhalten und erklären, wie Sie versuchen, ihm einen Maulkorb zu verpassen. Maulkörbe können Journalisten gar nicht leiden. Die denken immer gleich, sie sind als Nächste dran. Aber so oder so: Sie werden ihn verklagen. Die Frage ist nur, wann. Tun Sie’s jetzt, wo jeder es nachvollziehbar findet, dass ein Unschuldiger seiner Empörung Ausdruck verleiht? Oder in drei Wochen, wenn es so rüberkommt, als würden Sie bloß darüber jammern, dass Hal ein Vermögen dafür ausgibt, Sie zu beschimpfen? Keine schwere Entscheidung«, endete Crully. Er senkte das Kinn, sodass Paul den ausdruckslosen Blick seiner hellen Augen sehen konnte.

Mario Cuomo hat einmal gesagt, Wahlkampf werde in Gedichtform geführt, regiert dagegen in Prosaform. Doch soweit Paul das beurteilen konnte, war beides ein Gang zum Schlachthaus, nur durch verschiedene Eingänge. Regieren und Kandidieren, beides war brutal. Es floss viel Blut aus Adern, die man selbst öffnete, und aus Wunden von Speerstichen in die Seite, die einem die Gegner verpasst hatten. Politik würde immer der Krieg aller gegen alle sein – was auch die Leute mit einschloss, die eigentlich für einen sein sollten. Crully zum Beispiel wollte, dass Paul gewann. Aber nur, damit er noch größere Wahlkämpfe managen konnte. Pauls Familie oder die komplizierten Kompromisse, die sie alle seit Jahrzehnten eingegangen waren, um mit der schrecklichen Tatsache von Ditas Ermordung zu leben, waren ihm im Grunde herzlich egal. In Wahrheit hatte Crully diesen Job angenommen, um den Kampf zwischen Obama und Hillary auszusitzen. Bis Mai, wenn die Stichwahl für den Bürgermeisterposten anstand, wäre der Wettlauf um die Präsidentschaftskandidatur entschieden, und Crully könnte auf den fahrenden Zug aufspringen, wahrscheinlich um den Wahlkampf in einem der Swing States mit ihren unklaren Mehrheiten zu leiten.

»Klar, Mark«, sagte Paul. »Sie haben nicht unrecht, aber Hal wird die Gelegenheit nutzen, um absolut jeden in den Gerichtssaal zu zerren, der irgendwann irgendwas gehört oder gesehen hat. Ich meine, soll ich tatsächlich zwei Wochen vor der Wahl da rumsitzen und eidesstattliche Aussagen machen?«

»Sie werden gar nichts machen«, sagte Crully. »Sie verklagen Kronon, und anschließend zögern die Anwälte die Sache hinaus. Er wird einen Antrag auf Klageabweisung stellen, weil Sie sein Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken, und wir lassen uns wochenlang Zeit, bis wir darauf antworten, und bis dahin ist die Wahl vorbei.« Crully machte eine abfällige Handbewegung Richtung Ray, um seine Verachtung für juristische Winkelzüge und die vorhersehbare Ineffektivität der Rechtsprechung auszudrücken.

Ray fand Crully die meiste Zeit amüsant, vielleicht, weil Ray mit in dem Team gewesen war, das ihn ausgesucht hatte. Aber jetzt blickte Horgan verärgert. Er stand auf und hängte sein Jackett über die Rückenlehne seines Sessels. Genau wie Paul zog er es vor, Mark mitunter einfach zu ignorieren.