Die Erinnerung an unbekannte Städte - Simone Weinmann - E-Book

Die Erinnerung an unbekannte Städte E-Book

Simone Weinmann

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Beschreibung

Nathanael ist fünfzehn, als seine Eltern ihn aus der Schule nehmen, obwohl er ein so begabter wie wissbegieriger Schüler ist und unbedingt Arzt werden möchte. Aber seine Mutter hat eine Laufbahn als Prediger für ihn vorgesehen, und Universitäten gibt es nicht mehr. Oder doch? Nathanael hat von einem Polytechnikum in Italien gehört und beschließt, dorthin aufzubrechen. Auch Vanessa, eine Mitschülerin, will weg aus der Enge des Dorfs. Bei Nacht und Nebel brechen sie gemeinsam auf. Als man ihre Abwesenheit entdeckt, wird ihnen Lehrer Ludwig nachgeschickt. Anders als die Jugendlichen erinnert er sich noch an die Zeit vor der Katastrophe und hofft auf keine Besserung mehr. Seine Schüler aber kann er nicht im Stich lassen, und der Weg durchs gesetzlose Gebiet ist gefährlich. In ihrem spannenden dystopischen Roman erzählt Simone Weinmann von einer Welt, die nur noch entfernt der unseren ähnelt: Worauf werden die Menschen bauen, wenn sie den technischen Fortschritt verlieren, wenn es keinen Strom mehr gibt? Werden sie sich an den Glauben klammern oder von Wissensdurst getrieben ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen? Leise und tastend, aber umso eindringlicher schildert Simone Weinmann ein archaisches Leben, in dem der Verlust gesellschaftlichen und technischen Fortschritts erschreckend deutlich wird.

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Zum Buch

2045. Eine Katastrophe hat die Menschen auf eine karge bäuerliche Existenz zurückgeworfen, viele finden Trost im Glauben. Nathanael und Vanessa sind jung, wollen sich nicht abfinden und laufen fort. Ihr Lehrer, der noch weiß, wie es früher war, wird geschickt, um sie zu suchen. Doch der Weg führt für alle drei durch gefährliches Terrain.

Nathanael ist fünfzehn, als seine Eltern ihn aus der Schule nehmen, obwohl er ein so begabter wie wissbegieriger Schüler ist und unbedingt Arzt werden möchte. Aber seine Mutter hat eine Laufbahn als Prediger für ihn vorgesehen, und Universitäten gibt es nicht mehr. Oder doch? Nathanael hat von einem Polytechnikum in Italien gehört und beschließt, dorthin aufzubrechen. Auch Vanessa, eine Mitschülerin, will weg aus der Enge des Dorfs. Bei Nacht und Nebel brechen sie gemeinsam auf. Als man ihre Abwesenheit entdeckt, wird ihnen Lehrer Ludwig nachgeschickt. Anders als die Jugendlichen erinnert er sich noch an die Zeit vor der Katastrophe und hofft auf keine Besserung mehr. Seine Schüler aber kann er nicht im Stich lassen, und der Weg durchs gesetzlose Gebiet ist gefährlich.

In ihrem spannenden dystopischen Roman erzählt Simone Weinmann von einer Welt, die nur noch entfernt der unseren ähnelt: Worauf werden die Menschen bauen, wenn sie den technischen Fortschritt verlieren, wenn es keinen Strom mehr gibt? Werden sie sich an den Glauben klammern oder von Wissensdurst getrieben ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen? Leise und tastend, aber umso eindringlicher schildert Simone Weinmann ein archaisches Leben, in dem der Verlust gesellschaftlichen und technischen Fortschritts erschreckend deutlich wird.

Über die Autorin

Simone Weinmann hat in Zürich bei Prof. Ben Moore in Astrophysik promoviert und einige Jahre am Max-Planck-Institut München und an der Sterrewacht in Leiden gearbeitet. Heute unterrichtet sie Physik und lebt mit Mann und Kind in Zürich. 2017/2018 war sie Stipendiatin des Roman-Seminars am Literaturhaus München bei Günther Eisenhuber und Annette Pehnt. Die Erinnerung an unbekannte Städte ist ihr erster Roman.

Simone Weinmann

DIE ERINNERUNG AN UNBEKANNTE STÄDTE

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Für Christian

Irgendwann wird der letzte Herbst anbrechen, in dem Flugzeuge schwer auf der regennassen Rollbahn landen. Der letzte Herbst, in dem die Drähte summen von Dingen, die wir uns dringend erzählen müssen, während draußen der Wind gegen die Mauern drückt.

Der letzte Herbst, in dem unsere Kontostände steigen und sinken, in dem die Börsenkurse zittern. In diesem Herbst werden noch einmal Durchsagen gemacht in den Bahnhöfen, den Bussen, den Konzertstadien.

Autos werden auf den schnurgeraden Straßen rauschen, auf ein Ziel zu, einen Parkplatz oder eine Tiefgarage, wo sie leise klickend, ausatmend zur Ruhe kommen. Orchester werden Symphonien spielen, während zwei Häuser weiter Patienten in ihre Vollnarkose sinken. Menschen werden im Supermarkt nachdenklich in die Tiefkühltruhen starren. Unsere Gesichter werden blau schimmern von den tanzenden Bildern auf den Geräten. Aus den Apotheken werden wir in kleinen raschelnden Plastiksäcken Grippemittel, Hustensaft und Eukalyptusbonbons tragen, wir werden vergessen, unsere Eltern anzurufen.

Wahlkampagnen werden anlaufen, Menschenmengen werden jubeln. Die Filmstarts für den Herbst werden besprochen, die neuen Studenten werden sich ein letztes Mal in den Gängen vor den Hörsälen stauen und nicht wissen, dass ihre Gesichter leuchten.

Die Wetterkarten werden noch einmal Herbststürme voraussagen. Umgestürzte Bäume werden von den Straßen entfernt, Unfallopfer dick eingepackt zum Krankenwagen getragen.

Am 21. Dezember wird die längste Nacht über der Nordhalbkugel anbrechen, und diese tiefste Dunkelheit auf Erden wird noch einmal hell erleuchtet sein von Straßenlampen und Lichterketten, von Neonröhren, Kerzen, Scheinwerfern, Bildschirmen, Flutlichtern, den Lampen an den Autobahnraststätten, den Lichtern der Züge, den Leuchtfingern der Flugzeuge, die die Wolken ertasten, sie wird fast festlich sein, diese Nacht, strahlend und kalt.

Und dann wird der letzte Herbst vorbei sein.

I

WINTER

 

Anatomie

Augenlieder mit ie. Schon wieder ein Rechtschreibfehler im heiligen Text. Nathanael blickte zwischen der Vorlage und seiner Abschrift hin und her. Er hatte das Wort unwillkürlich richtig geschrieben. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Jetzt würde er die letzten Buchstaben mit dem kleinen brüchigen Gummi ausradieren müssen, was schwierig war, weil das Papier leicht zerriss. Erst ein paar Zeilen weiter oben hatte er eine der Markierungen korrigieren müssen und beinahe ein Loch ins Papier gemacht. Eine fehlplatzierte Unterstreichung, und der Text war entweiht, weil der Vorleser dann an der falschen Stelle die Hände zum Himmel hob. Aber warum man auch die Schreibfehler beibehalten musste, hatte er nie verstanden.

Nathanael legte den Stift und den Radiergummi hin, stand auf und streckte sich. Durch das kleine Fenster des Dachzimmers sah er auf die verschneite Straße. Sie war voller Fußspuren, aber menschenleer. Schnee lag auf den Dächern und zwischen den Mauern der verfallenen Häuser. Im ersten Stock des Hauses gegenüber bewegte sich hinter den Fenstern ein schwaches Licht. Jemand war mit einer Kerze unterwegs, obwohl es bald Mittag sein musste, so trübe war der Tag. Vielleicht Sarah. Ob sie die Öllampe auf seinem Pult auch flackern sah?

Nathanael hörte die schnellen Schritte der Mutter auf der Treppe, dann klopfte es. Bevor er antworten konnte, öffnete sich die Tür. Die Mutter trug eine weiße Schürze über ihrem langen dunklen Kleid. Vom Kochen hatte sie Flecken auf den Wangen.

»Bist du fertig? Das Essen ist gleich so weit.«

»Noch nicht.«

»Erst auf Seite 38? Was stehst du da am Fenster und trödelst?«

Nathanael schwieg.

»Ich werde dir das Mittagessen beiseitestellen.«

»Kann ich nicht nachher weiter abschreiben?«

Zwischen den Brauen der Mutter erschien eine steile Falte. »Nein. Die Prophetin zählt auf uns.«

Die Prophetin kümmerte es bestimmt nicht, ob Nathanael die Abschrift heute oder morgen fertigstellte. Sie hatte sich in den Wald zurückgezogen, und wer wusste schon, was sie dort tat. Aber er hatte sich vorgenommen, der Mutter zu gehorchen oder zumindest so zu tun.

Die Mutter schloss die Tür wortlos. Nathanael setzte sich ans Pult und nahm den Stift in die Hand, legte ihn dann aber doch wieder weg. Er streifte seinen rechten Schuh ab, krallte seine Zehen in den Griff der untersten Schublade und zog sie auf. Hier hatte er das Buch aufbewahrt.

Auf dem Titelbild war ein Mensch ohne Haut abgebildet gewesen, mit braunen Muskeln und blauen Adern. Aber am besten hatte ihm die Doppelseite über das menschliche Herz gefallen. In der Mitte prangte ein schön gezeichnetes rosafarbenes Herz, das vom Seitenfalz durchteilt wurde. Eine kleine Fotografie unten links zeigte eine Operation am offenen Herzen. Die Chirurgen trugen Kittel und Kappen in blassem Grün und enge Handschuhe. Durch Brillen mit kleinen aufgesteckten Zylindern blickten sie in die klaffende Wunde, die mit einem Metallgestell offen gehalten wurde. Ein Chirurg tippte mit einem Stift in die Mitte der Wunde, als setzte er dazu an, ein Wort ins Herz zu schreiben.

Wenn er nur das Bild noch einmal anschauen könnte. Aber er würde das Buch nie wieder in die Hände bekommen. Als die Mutter damit zur Schule geeilt war, war Nathanael ihr gefolgt. Sie war wie von unsichtbaren Fäden gezogen die Treppe hinaufgestiegen, Nathanael hatte kaum mit ihr Schritt halten können. Dann hatte sie die Tür zum Lehrerzimmer aufgerissen und Gruber das Buch vor die Füße geworfen wie etwas Verseuchtes, das sie in ihrem Haus gefunden hatte. Nathanael schob die Schublade mit dem Fuß wieder zu. Er hatte sich für die Mutter geschämt, wie sie Gruber angeschrien hatte. Der Lehrer hatte ihr ruhig zugehört, ohne das Gesicht zu verziehen. Schließlich hatte die Mutter tief durchgeatmet und gesagt, dass ihr Sohn keinen Tag länger in die Schule gehen würde.

Nathanael legte das Handgelenk an sein rechtes Ohr, die Ohrmuschel war kalt. Er trug einen Schal und zwei Pullover. Trotz der niedrigen Temperaturen, die im Dachzimmer herrschten, war er immer gerne in diesem wenig benutzten Raum gewesen, um Hausaufgaben zu machen, hier hatte er seine Ruhe vor Samuel und Elias. Aber heute wollte er nur nach draußen, auf die Straße, eisige Winterluft einatmen, die im Hals schmerzte.

Am Abend, nachdem die Eltern ihn aus der Schule genommen hatten, war Nathanael übel geworden. Es hatte sich angefühlt, als hätte er sich zwischen Bauch und Rippen etwas eingeklemmt. Zwei Tage lang hatte er im Bett gelegen und keinen Bissen heruntergebracht. Es hatte ihm Angst gemacht, aber er hatte kein Fieber und die Mutter machte sich keine Sorgen. »Gott wirkt in dir«, sagte sie. Nathanael ärgerte sich so sehr darüber, dass er sich vornahm, nicht mehr mit ihr zu sprechen. Schließlich hatte er doch wieder damit angefangen, und auch das schrieb sie natürlich Gottes Einfluss zu.

Gott, dachte Nathanael. Er macht, dass mir übel ist und dass ich wieder mit der Mutter spreche. Aber Rahel wollte er nicht retten.

»Als ich jung war, hat kaum jemand an Gott geglaubt«, hatte Gruber einmal gesagt. Nathanael konnte sich das nicht vorstellen. Er nahm den Stift wieder in die Hand und las die nächsten Zeilen im Evangelium.

Schulzimmer

»Die Oortsche Wolke«, sagte Ludwig Gruber. »Da kommen die Kometen her. Das haben wir doch gestern alles besprochen.«

Seine Klasse schlief so früh am Morgen noch, sie war ganz still, auch wenn die meisten Augen täuschend weit geöffnet waren. Draußen dämmerte es.

Aus dem Dorfbrunnen war heute kein Wasser gekommen. Ludwig hasste das Gefühl von ungewaschenen Händen, er wischte sie zum wiederholten Mal an den Seiten seiner Hosen ab. Er schwieg, die Klasse schwieg. Niemand schien sich an dem Schweigen zu stören. Ludwig blickte auf seine Schuhe. Das Leder war von der Kälte rissig geworden, und an einer Stelle begann sich die Sohle zu lösen.

»Nehmt das Buch heraus«, sagte er.

Sekunden verstrichen, bevor der erste Schüler sich rührte, die anderen folgten ihm traumwandlerisch. Wenn sie eine Bewegung nachahmen konnten, mussten sie keine Worte verstehen. Die Bücher waren alt, eines fiel beim Öffnen auseinander. Der Schüler, dem es gehörte, bückte sich ächzend nach den losen Seiten und begann zu husten. Schon den ganzen Winter lang hustete er so.

Während die Schüler das Kapitel lasen oder die aufgeschlagene Seite anstarrten, schaute Ludwig aus dem Fenster. Der Himmel begann von unten hell anzulaufen, es sah aus, als stiege ein Licht hinter einer milchigen Scheibe auf. Ludwig wandte sich zurück zur Klasse, sein Blick fiel auf den leeren Platz am verkratzten Pult vorn links, wo Nathanael gesessen hatte.

»Es ist so langweilig«, flüsterte Sarah ihrer Banknachbarin zu und schaute Ludwig aus trüben Augen an. »Beim Dorffest werden wir …«, und dann wurde ihre Stimme so leise, dass er sie nicht mehr verstand. Immer dieses Dorffest. Es war das Einzige, was die Schüler in der Winterzeit aus ihrer Lethargie zu reißen vermochte. Sie waren schon vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und würden die Schule bald für immer hinter sich lassen.

Eine leise Unruhe erfasste die Klasse und ging zwischen den Pulten umher wie eine Person. Ludwig räusperte sich. »Wer fertig ist, beginnt mit den Hausaufgaben. Schreibt eine Seite über Kometen.« Jemand seufzte laut.

Es knallte. Vanessa hatte Peter mit einem zusammengerollten Heft auf den Kopf geschlagen und huschte zurück an ihren Platz. Einige schrieben jetzt mit kratzenden Geräuschen. Peter lächelte, als wäre er glücklich über Vanessas Angriff. Dabei hielt er den Mund geschlossen, sodass seine schiefen Zähne nicht zu sehen waren. Ludwig machte ein paar Schritte auf Vanessas Pult zu und blickte auf ihr Papier. Sie hatte einen Satz geschrieben, ließ aber jetzt ihren Bleistift zwischen zwei Fingern hin- und herwippen und gab vor, Ludwig nicht zu bemerken. Ihre weißblonden gelockten Haare fielen ihr über die Schultern wie ein Umhang, sie sahen ungekämmt aus.

Sarah hatte noch gar nichts geschrieben, sie hatte den Kopf auf die Bank gelegt und die Augen geschlossen. Er ging zu ihr hin und berührte mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und sah ihn fragend an. »Du musst mitarbeiten«, sagte er leise.

Als er sich wieder ans Lehrerpult setzte, sah er, dass Sarah sich aufgerichtet hatte und ihn immer noch fixierte, als versuche sie sich zu erinnern, was der Auftrag war. Dann schaute sie aufs Blatt und begann etwas zu kritzeln, das sie mit ihrer Hand vor seinem Blick schützte, wahrscheinlich zeichnete sie etwas.

Ludwig schaute wieder aus dem Fenster. Mittlerweile hatte der Himmel die Farbe angenommen, die er an wolkenlosen Tagen hatte, das gebrochene Weiß eines Mehlteigs. Der Schulhof darunter sah aus wie neu, die Risse im Asphalt waren unter dem Schnee verschwunden.

Es dauerte nur eine kurze Weile, bis die Klasse merkte, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihnen war. Die Schreibgeräusche erstarben. Jemand kicherte. Ludwig dachte an die Kometen, die weit weg ihre stillen Bahnen durch das Weltall zogen. Dann wandte er sich der Klasse zu.

Betgruppe

Nathanael blieb in der Tür des Saals stehen und suchte mit den Augen die Sitzreihen ab. Sarah war noch nicht hier. Vorn begrüßte Hendrik die Neuankömmlinge und schüttelte ihnen lächelnd die Hand. Auch ihm winkte er zu, aber Nathanael hob nur kurz die Augenbrauen. Dann setzte er sich in die hinterste Reihe. Im Rücken spürte er die kalte Wand. Er hätte Hendrik wenigstens zunicken können, er hatte sich doch vorgenommen, freundlich zu sein, bis er zurück in die Schule durfte. Bestimmt würde sich der Prediger später wieder bei den Eltern beklagen. Hendrik fasste einen Mann leicht am Oberarm, woraufhin dessen Gesicht aufleuchtete.

Dutzende von Kerzen brannten auf Tischen und am Boden. Nathanael beobachtete die Erwachsenen, die den Raum langsam füllten. Die Frauen in ihren langen dunklen Röcken, mit ihren Zöpfen, die Männer mit ihren Bärten und den abgeschabten Hosen und Jacken. Sie setzten sich mit umständlichen Bewegungen in die vorderen Reihen und unterhielten sich. In den Händen hielten sie alle eine Bibel, in vielen verschiedenen Ausgaben, dunkelrote und grüne, kleine und große, und das, was Hendrik ihre Vollendung nannte: einen handbeschriebenen, zusammengehefteten Stapel Papier. Das Evangelium des Staubes. Einiges davon hatte Nathanael selbst abgeschrieben.

Endlich tauchten auch Sarah und ihr Vater auf. Nathanael sah ihnen dabei zu, wie sie sich zwei Reihen vor ihn setzten. Sarah drehte den Kopf zur Seite, als ob sie sich nach ihm umschauen wollte, doch sie wandte den Blick gleich wieder nach vorn. Nathanaels Eltern betraten den Raum als Letzte, man hatte ihnen zwei Plätze in der ersten Reihe freigehalten. Die Mutter ging voraus, auch sie in einem langen schwarzen Kleid, mit aufrechtem Gang, die schwarzen Haare in einem Knoten hochgesteckt. Der Vater folgte, seine Haltung wie immer etwas schief, und statt einem Vollbart wie die meisten anderen Männer hatte er kreuz und quer abstehende graue Stoppeln am Kinn.

Samuel, der dicht hinter den Eltern gegangen war, bog ab und drängte sich an den anderen Jugendlichen in der letzten Reihe vorbei. Dann ließ er sich schwer auf das Evangelium fallen, das Nathanael neben sich abgelegt hatte.

»Hau ab«, zischte Nathanael ihm ins Ohr, »hier ist reserviert.« Vielleicht würde Sarah ja nach der Pause den Platz wechseln.

Samuel schnitt ein Gesicht. »Wieso?«

Nathanael stieß ihm seinen Ellbogen in den Oberarm.

»Aua«, rief Samuel leise.

»Steh jetzt auf. Oder ich verrate den Eltern, wo du gestern warst«, sagte Nathanael.

Samuel schaute ihn ungerührt an, aber dann verzog er sich. Am Tag zuvor war er mit seinen Klassenkameraden weit auf den gefrorenen Dorfweiher hinausgeschlittert, bis das Eis angefangen hatte zu knacken. Nathanael hatte ihnen vom Ufer aus zugesehen.

Samuel setzte sich vorn neben Elias, mit dem er sofort zu tuscheln begann. Nathanael betrachtete ihre Hinterköpfe. Samuel hatte helle Haare, Elias dunkle, aber die Ähnlichkeit in ihren etwas eckigen Bewegungen verriet, dass sie Brüder waren. Hoffentlich bewegte er sich nicht auch so.

»Sei doch froh, dass du nicht mehr in die Schule musst«, hatte Samuel am Morgen gesagt. Nathanael hätte ihm für die dumme Bemerkung gerne unter dem Tisch einen Tritt versetzt. Aber er konnte keinen zusätzlichen Ärger gebrauchen.

Hendrik erhob seine Stimme. »Beginnen wir.«

Nathanael versuchte sich vorzustellen, was er von Hendrik halten würde, wenn er ihm heute zum ersten Mal begegnen würde. Hendrik war groß und dünn. Er hatte schütteres Haar und ein Gesicht, das stets leicht beleidigt wirkte. Die Eltern sagten, er habe es schwer gehabt, bevor er zum Evangelium gefunden habe. Jetzt war sein schmaler Körper erfüllt von etwas, das nicht von dieser Welt war, etwas Starkem, das ihn hin- und herwarf und durch den Raum trieb. Hendriks Hände bewegten sich beim Reden wie von selbst, schlanke, elegante Hände. Nicht wie bei Gruber, dessen Hände beim Sprechen immer wieder kraftlos nach unten sanken oder in den Hosentaschen verschwanden. Hendriks Stimme war scharf und klar, man hörte jede Silbe überdeutlich. Gruber klang immer etwas verhangen, als strenge ihn das Sprechen an, während für Hendrik das Sprechen scheinbar eine Erleichterung darstellte.

Der Saal war ganz still. Nathanael wäre gerne mit den Gedanken abgeschweift, aber Hendriks Worte bohrten sich hartnäckig in seine Ohren. Dabei hatte er fast die gleiche Predigt schon einmal gehalten. Sie handelte von dem gesegneten Dorf in Russland, über dem der Himmel noch offen war und wo die Menschen nichts mehr zu essen brauchten, weil sie so heilig und rein waren. Nathanael konnte sich nicht vorstellen, wie es war, nie mehr etwas essen zu wollen. Hellblau sei der offene Himmel, sagte Hendrik, und am Abend rosa, so wie Gott ihn geschaffen habe.

Die Gemeinde hörte andächtig zu. Vielleicht wussten sie nicht mehr, dass sie das alles schon einmal gehört hatten, oder sie mochten gerade die Wiederholung. Dann begann das Beten. Alle senkten die Köpfe. Auch Nathanael legte seine Hände so in den Schoß, wie es richtig war, mit dem rechten Daumen in der linken Handfläche. Er versuchte weiter, Hendriks Worte auszublenden, und konzentrierte sich auf den hellen Halbmond am Daumennagel.

Auch im Pausenraum brannten Kerzen. Die Leute scharten sich im Halbdunkel um die großen Metalltöpfe, der Geruch von Kräutertee und süßem Gebäck lag in der Luft. Nathanael wartete neben der Tür, bis Sarah erschien. Sie roch gut, nach Seife und Wolle.

»Komm«, sagte sie und zog ihn in den dunkelsten Teil des Raums, weit weg von den Kerzen und den redenden Erwachsenen. »Hier.« Sie blätterte in ihrem Evangelium und nahm einige lose Blätter heraus. Nathanael faltete sie und steckte sie in seine Bibel. Er blickte sich um. Niemand schien sie gesehen zu haben, seine Eltern standen mit Hendrik in einer Ecke und tranken Tee.

»Was habt ihr in der Schule gemacht?«, fragte er.

»Ich hab nicht zugehört«, antwortete Sarah. »Du kannst es nachlesen. Ich hab die Seiten aus dem Biologiebuch gerissen, pass auf, dass niemand sie sieht.«

Nathanael unterdrückte den Impuls, ihr zu sagen, dass sie die Bücher nicht zerreißen durfte. Es gab nicht viele von ihnen. Aber er brauchte die Seiten ja.

»Haben wir … habt ihr viele Hausaufgaben?«, fragte er.

»Ja«, sagte Sarah. »Viel zu viele. Ich verstehe nicht, was sein Problem ist. Wo wir doch bald Dorffest haben.«

Nathanael wusste nicht, was das mit dem Dorffest zu tun hatte, das erst Ende der Woche stattfinden würde. Aber er fragte nicht nach. »Ich geb sie dir morgen.«

»Kannst du wieder ein paar Fehler einbauen? Und meine Schrift nachmachen?«

Sarah lächelte Nathanael verschmitzt an, ihm wurde ganz flau im Magen. Mussten ihre braunen Haare so schimmern? Sie stand zu nah bei ihm. Seltsam, oft wünschte er sich, in ihrer Nähe zu sein, aber wenn er sie dann traf, wollte er nur, dass es schnell wieder vorbei war und er in Ruhe darüber nachdenken konnte, was sie gesagt und wie sie es wohl gemeint hatte.

»Ich weiß nicht, deine Schrift ist komisch«, sagte Nathanael. Sarahs Buchstaben neigten sich so stark nach rechts, dass man sie kaum lesen konnte.

»Sonst merkt er es«, sagte sie. »Er hat schon letztes Mal so seltsam geschaut.»

»Ich versuche es.«

»Ich wünschte, ich müsste auch nicht mehr in die Schule.«

»Zu Hause ist es langweilig«, antwortete Nathanael.

»Kannst ja deinem Vater helfen.«

»In der Metzgerei?« Nathanael verzog das Gesicht. Er hasste den Blutgeruch.

»Warum nicht? Ich kann Fische sehr schnell ausnehmen. Papa sagt, ich werde mal eine gute Fischerin.«

»Papa sagt was? Hallo Nathanael.«

Nathanael zuckte zusammen, er hatte Sarahs Vater nicht bemerkt. Michael war größer als Nathanaels Vater und hatte ein unförmiges Gesicht. Er reichte Sarah ein Stück Gebäck, das in ein Tuch gewickelt war.

»Gutes Essen«, lobte er. »Dafür lohnt es sich, diesem Schwätzer zuzuhören.« Und zu Nathanael gewandt: »Erzähl das nicht deinen Eltern.«

»Papa, geh doch nach Hause, wenn du nicht zuhören willst«, sagte Sarah. »Mir hat die Predigt gefallen.« Dabei schaute sie Nathanael an.

Nathanael antwortete nicht. Er verstand nicht, warum Sarah hier besser aufpasste als in der Schule. Michael schien es jedenfalls nichts auszumachen, wie Sarah mit ihm sprach, er lächelte nur.

»Du hast recht, Liebes. Es liegt sicher viel Wahres darin.«

»Nenn mich nicht Liebes.«

»Frauen«, sagte Michael zu Nathanael und lachte. Nathanael lachte mit, obwohl er nicht wusste, was Michael meinte.

»Wir machen weiter«, rief Hendrik.

Frauen, dachte Nathanael auf dem Weg zurück in den Raum. Seine Mutter in ihrem schwarzen Kleid. Sarah mit ihren glänzenden Haaren. Vanessa, die einem Mitschüler quer durch den Raum ein Buch an den Kopf warf. Die Prophetin, die angeblich im Wald lebte. Nathanael stellte sie sich mit wirren Haaren vor. Hendrik hatte gesagt, sie habe leuchtende Augen und ganz warme und trockene Hände gehabt, von dem Fieber, das ihre Visionen begleitete, und sie habe mit einem leichten Akzent gesprochen, weil sie doch als Kind von Russland hergezogen war. Er und sie seien Freunde gewesen, behauptete er, aber Nathanael vermutete, dass er log. Einmal hatte Rahel gefragt, ob denn die Prophetin Rechts- oder Linkshänderin sei, und Hendrik hatte es nicht gewusst.

Sarah setzte sich auch nach der Pause wieder neben ihren Vater. Samuel und Elias schauten sich nach Nathanael um und kicherten. Sie kamen ihm fremd vor, wie irgendwelche Jungs, mit denen er nichts zu tun hatte.

Dorffest

Der Wein schmeckte nach Schimmel und Gewürzen und war nicht warm genug, um die Kälte zu vertreiben. Ludwig nahm einen tiefen Schluck. Vorn auf der Bühne verausgabten sich die Schauspieler im trüben Licht des späten Nachmittags. Sie schrien einander an und warfen die Hände in die Luft. Gelächter wogte durch die Menge um ihn. Auch Ludwig begann zu lachen, er mochte das Gefühl, wie sein Lachen im Gelächter der Menge unterging, wie ein Kiesel, der im tiefen Meer versinkt. Um ihn herum standen die Menschen dicht gedrängt auf dem Dorfplatz, in dicken Mänteln und Jacken. Es schneite leicht, die Flocken schmolzen zwischen Ludwigs Schal und seinem Nacken.

Ein Kind begann so laut zu schreien, dass Ludwig nicht mehr verstand, was die Schauspieler auf der Bühne riefen. Eine Frau fuchtelte wie eine Furie mit einem Wallholz, und ein Mann stolperte mehrmals und fiel hin. Die Menge begann zu klatschen, Ludwig wusste nicht warum. Aber er klatschte vorsichtig mit, Hand auf Handrücken, um den Wein nicht zu verschütten. Als er den Arm senkte, zog ihn jemand am Ärmel. Nathanael. Ludwig wollte fragen, wie es ihm ging. Bevor er etwas sagen konnte, drückte Nathanael ihm ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier in die Hand und verschwand wieder zwischen den dunklen Mänteln der Dorfbewohner.

Ludwig fuhr mit den Fingern die Kanten des gefalteten Papiers entlang und nahm einen Schluck Wein. Dann steckte er es in die Manteltasche.

Die Luft im Festzelt war dick und roch nach dem gewürzten Wein und dem Rauch der Öllampen. Es war warm, Ludwig hatte seinen Mantel über einen Stuhl gehängt. Die Dorfbewohner standen in Gruppen dicht beieinander. Alle riefen statt zu sprechen, irgendwo im Halbdunkel spielte jemand Gitarre, aber nur hie und da drang die Musik zu Ludwig durch, und er erkannte die Melodie nicht.

Auf dem Weg zum Weinstand, wo er seinen Becher nachfüllen wollte, hielten ihn die Eltern einer Schülerin auf. Ihre Gesichter waren voller Sorge. Bestimmt wollten sie sich darüber beklagen, dass Ludwig auf die Mathematikprüfung ihrer Tochter »absolut ungenügend« geschrieben hatte.

»Sie hat immer noch diesen Ausschlag«, sagte der Vater.

»Das kann sein«, sagte Ludwig. Die Pusteln bedeckten die Hälfte ihres Gesichts und den Hals.

»Woher kommt das nur?«, fragte der Vater. »Es wird jeden Tag schlimmer.«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber was kann man dagegen tun?«, fragte die Mutter.

»Mit Alkohol einreiben?«, schlug Ludwig vor.

»Das nützt nichts«, antwortete sie.

»Ich bin kein Arzt«, antwortete Ludwig müde. Wie oft er ihnen das schon gesagt hatte.

»Ich hätte auch eine Frage«, sagte Urs, der mit unsicheren Schritten hinzutrat. Die Schatten unter den Augen des Dorfchefs schienen dunkler als sonst. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab.

»An mich?«, fragte Ludwig. Er hoffte, Urs würde gleich wieder gehen. Er unterhielt sich nicht gern mit Urs, wenn er angetrunken war. Urs neigte dann dazu, Dinge zu verraten, die zu wissen Ludwig peinlich berührte. Auch wenn ihn die Zentrale angestellt hatte, war Urs sein Vorgesetzter, und er hätte gerne etwas mehr Abstand zu ihm gehalten. Aber das Dorf war zu klein dafür.

»Unser Jüngster schlafwandelt. Geht das wieder weg?«

Nein, wollte Ludwig erst antworten. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ja, ich glaube schon, das wächst sich aus.«

Urs sah ihn enttäuscht an.

Alles, was Ludwig über Medizin wusste, stammte aus den alten Biologiebüchern, die er in der Schule gefunden hatte. Auch das Anatomiebuch, das ihm Nathanaels Mutter vor die Füße geworfen hatte, enthielt keine Antworten auf die Fragen, die ihm gestellt wurden. Die meisten Bücher, die überhaupt etwas taugten, waren von der Zentrale eingezogen worden. Ludwig wünschte, er hätte damals in der Schule besser aufgepasst, aber die Biologie des Menschen hatte ihn abgestoßen, diese obskuren Prozesse, die tief in seinem Innern vor sich gingen und ihn am Leben hielten.

Eine Gruppe von Leuten begann zu singen, ein altes Lied über einen Lindenbaum. Es klang schief, trotzdem hatte Ludwig Lust, mitzusingen und dabei an nichts zu denken.

»Ich brauche noch einen Becher Wein«, sagte er und ließ Urs und die Eltern stehen.

Ludwig trat aus dem Festzelt, um etwas frische Luft in die Lunge zu bekommen. Es hatte aufgehört zu schneien, war aber kälter geworden. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er Lisa. Er hatte angenommen, sie würde nicht zum Fest kommen.

»Ist zu warm im Zelt«, sagte Lisa und lächelte ihn an. In der Hand hielt sie einen Becher.

»Viel zu warm«, sagte Ludwig. Er wandte sich ab, er wollte nicht mit ihr reden. Aber sie fasste ihn am Arm. Wie angenehm sich ihre Berührung anfühlte, selbst durch die Winterjacke hindurch.

»Hast du gesehen?«, fragte sie und deutete zum Himmel. Die Wolken hatten sich gelichtet und gaben einen Teil der Staubdecke frei, durch die der Mond als verschwommene weiße Scheibe hindurchstrahlte. Nach außen zerlief sie in einen bläulichen Kranz, der erst ins Grüne überging und sich dann ins Rote verlor. Das Ganze sah aus wie die Perlmuttschicht im Innern einer Muschel. Das sei der Hof, hatte jemand einmal gesagt. Man konnte ihn sehen, wenn keine Wolken am Himmel waren und der Mond hell genug leuchtete.

»Auch als man ihn noch deutlich sehen konnte, habe ich nie verstanden, was die Leute an diesem Steinklumpen finden«, sagte Ludwig.

»Ich weiß«, antwortete Lisa.

Ihr Gesicht war schön, wie immer. Bleich und rund, mit blonden Strähnen, die unter ihrer Mütze herausfielen. Wenn sie ihn so anblickte, dachte er immer, er schuldete ihr etwas.

»War das Stück nicht fürchterlich?«, fragte sie.

»Wie geht es Michael?«, fragte Ludwig.

»Gut«, sagte sie. »Besser als mir jedenfalls.«

»Es war deine Entscheidung«, sagte er. Er wollte wütend klingen, aber es gelang ihm nicht so recht. Trotz allem tat es ihm gut, mit Lisa zu sprechen.

»Ist Vollmond?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht.«

»Schau nach und sag mir Bescheid.«

Früher hatte sie den Mondkalender, der bei ihm an der Wand hing, oft interessiert betrachtet. Sie war überzeugt, dass man gewisse Handlungen nach den Mondphasen ausrichten sollte. Er hatte das meiste davon vergessen und konnte sich einzig daran erinnern, dass sie sich und Sarah die Haare nur bei Leermond schnitt. Nachdem sie aufgehört hatten, sich zu treffen, war Sarah einmal mit schiefen, kurzen Stirnfransen in die Schule gekommen, und Ludwig hatte am Abend zu Hause nachgeschaut. Lisa hatte den Leermond um Tage verpasst. Aber sie sollte tun und lassen, was sie wollte, es ging ihn nichts mehr an.

»Begleitest du mich nach Hause?«, fragte Lisa. Sie schwankte. »Ich bin betrunken.«

»Nein«, sagte Ludwig.

»Ich will nicht stolpern und erfrieren.«

»Wieso fragst du nicht deinen Ehemann?«

»Ich mag nicht.«

Also gut. Er würde sie nach Hause begleiten, dorthin, wo sie hingehörte, wo sie mit Michael und Sarah wohnte, dann selbst heimgehen und nicht mehr an sie denken. Drei Monate war es her, seit sie ihm gesagt hatte, dass sie sich nicht mehr treffen sollten. Mit jeder Woche war es einfacher geworden. Aber heute Abend fühlte es sich wieder genauso schwer an wie am Anfang. Sie schwankte, und er packte sie am Unterarm.

Auf halbem Weg kam ihnen eine dunkle Gestalt mit einer Laterne entgegen. Erst als sie schon fast bei ihnen war, erkannte Ludwig Nathanaels Mutter und ließ Lisas Arm sofort los. Aber es war zu spät. Petra ging grußlos an ihnen vorbei. Ihr langer schwarzer Rock flatterte im Wind.

»Sie ist mir böse, weil ich nicht mehr in die Betgruppe gehe«, flüsterte Lisa.

»Sie sucht wohl Elias«, erwiderte Ludwig. Nathanaels Bruder war immer noch auf dem Fest, er lungerte seit dem frühen Abend in der Nähe des Weinstands herum. Ludwig wandte sich im Gehen nach Petra um und sah, dass sie weiter oben am Weg stehen geblieben war und zurückschaute. Ludwig packte Lisas Arm wieder, so fest, dass sie erschrak und kurz ins Straucheln geriet. Was kümmerte es Petra, ob er und Lisa zusammen nach Hause gingen, ob Lisa Michael verließ oder nicht, das ging sie alles nichts an.

»Du weißt, wie ich das gemeint habe?«, fragte Lisa. Sie waren bei ihrem Haus angekommen, und sie löste sich von seinem Arm.

»Was denn?«, fragte Ludwig.

»Sag bitte Bescheid wegen dem Mond.«

Wieder schaute sie ihn so an. Ludwig wollte sie an sich ziehen, damit sie den Mond vergäße, stattdessen hob er nur die Hand und ließ sie stehen.

Alkohol

Nathanael wurde von Samuels Weinen geweckt. »Was ist?«, fragte er. Vor dem Fenster war es dunkel, es musste mitten in der Nacht sein. Samuel lag zusammengerollt im Bett, seine Kerze brannte noch.

»Elias«, murmelte Samuel. »Er ist krank.«

»Was hat er?«

»Weiß nicht, er ist ohnmächtig.«

Nathanael sprang auf. Beim Abendessen am Dorffest hatte Elias noch gesund ausgesehen. Er öffnete die Tür zum Gang. Unten im Wohnzimmer hörte er leise Stimmen. Schnell stieg er die Treppe hin unter.

Die Eltern saßen bei Elias, der weich und schlapp auf dem Sofa lag. Der Vater blickte auf und schüttelte den Kopf. »Er hat eine Alkoholvergiftung.«

»Mit elf«, fügte die Mutter an. Ihre Augen waren gerötet. Sie streckte die Arme nach Nathanael aus, und er ging hin und umarmte sie. In ihren Kleidern hing der Geruch nach Holzfeuer und Alkohol.

»Er hat die herumstehenden Weingläser leer getrunken«, sagte sie. »Fang mir jetzt nicht mit deinen Bakterien an.« Die Mutter lächelte ein wenig.

»Wird er wieder gesund?«, fragte Nathanael.

Der Vater seufzte. »So Gott will.«

»Natürlich wird er wieder gesund.« Die Mutter stand auf. »Aber es ist zum Verrücktwerden. Da gehen wir herum und versuchen, mit den Leuten über den Glauben zu sprechen. Und zur gleichen Zeit …«

»Erst du«, sagte der Vater mit bitterer Stimme. »Und jetzt Elias.«

»Ich trinke doch nicht«, wehrte sich Nathanael. »Ich versuche nur, ein paar Dinge besser zu verstehen.«

Die Eltern schauten sich vielsagend an, dann wandte sich die Mutter ihm wieder zu und blickte ihn streng an. »Alles, was wir wissen müssen, steht in der Bibel und im Evangelium.«

»Hör auf deine Mutter«, fügte der Vater an. »Du bist jung. Du hast nicht gesehen, was wir gesehen haben.«

»Ich habe gesehen, wie sehr Rahel …«

»Nicht jetzt, Nathanael«, sagte die Mutter scharf.

»Und wenn Elias aufhört zu atmen?«, fragte Nathanael.

»Gott schaut auf uns. Er wird uns nicht noch ein Kind nehmen«, sagte die Mutter. Ihre Stimme klang entschieden. Der Vater sah Nathanael warnend an.

»Wenn wir einen Arzt hätten …«, sagte Nathanael trotzdem.

»Nathanael, wir haben das schon tausend Mal besprochen. Früher gab es so viele Ärzte«, sagte die Mutter. »Was hat es uns genützt?«

Nathanael dachte an Rahel. Als sie um Luft gerungen hatte, wollte der Vater doch noch bei der Zentrale einen Arzt holen, aber es war zu spät gewesen.

Elias’ Brustkasten hob und senkte sich langsam. Der Vater strich ihm vorsichtig über die bleichen Wangen.

»Geh ins Bett«, sagte die Mutter. »Wir bleiben wach und beten für Elias. Und für dich.«

Nathanael stapfte die Treppe hinauf, verharrte kurz und warf einen Blick zurück. Die Eltern beugten sich über Elias. Beide hatten den rechten Daumen auf ihre linke Handfläche gelegt, die Mutter murmelte ein Gebet. Die Worte verstand er nicht, aber er hörte das Vertrauen in ihrer Stimme und dahinter die Angst.

Im Zimmer war es dunkel, Samuel atmete ruhig. Nathanael legte sich ins Bett. Er blies die Kerze aus und starrte mit weit geöffneten Augen ins Dunkel. Jeden Moment erwartete er, dass die Eltern anfangen würden zu schreien. Er würde nach unten rennen und Elias beatmen, er hatte gelesen, wie es ging.

Doch es blieb still.

Komet

Ludwig erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Er fror, das Feuer war in der Nacht erloschen. Mühsam stand er auf und streifte seinen Mantel über. Im Zimmer nebenan hörte er leise die Hühner scharren und gackern. Bald würde er sie füttern müssen. Aber zuerst musste er pinkeln. Er zog die Schuhe an und öffnete die Haustür. Draußen war es noch kälter als gestern. Dieser elende Winter. Die dünne Schneedecke im Garten brach unter seinen Füßen, während er die wenigen Schritte zum Bretterverschlag zurücklegte. Auf dem Weg zurück zum Haus steckte er die eiskalten Hände in die Manteltaschen und streifte dabei den Zettel von Nathanael. Drinnen nahm er ihn aus der Tasche, faltete ihn auf und begann zu lesen.

Auf einem Kometen im Sonnensystem lebt eine außerirdische Zivilisation. Für viele Jahrhunderte reist der Komet durch Kälte und Dunkelheit. Am dunkelsten und kältesten ist es, wenn er sich der Oortschen Wolke nähert, wo er ursprünglich herkommt und wo alles aus Eis besteht, sogar die Luft gefriert dort.

Während der langen Jahre, die der Komet in Sonnenferne verbringt, befindet sich alles Leben in tiefem Schlaf. Nichts bewegt sich. Doch wenn der Komet alle paar Jahrhunderte näher an die Sonne kommt, an der Erde vorbei und noch näher, erwacht er für einige Zeit. Dann tauen die gefrorenen Wesen auf, umarmen sich und treffen sich, sie spielen Musik, tanzen und lachen und führen Theaterstücke auf. Gleichzeitig bekommt der Komet einen Schweif, denn das Eis schmilzt, und der Schweif zieht sich weit durch das Sonnensystem und ist von allen Planeten aus sichtbar, außer von der Erde und der Venus, die von ihren Atmosphären dicht verhüllt sind. Aber vom Mars aus sieht man ihn kristallklar, und er zieht sich über den ganzen weiten Marshimmel, an den glitzernden Sternen vorbei.

Dann schleudern die Gesetze der Gravitation den Kometen wieder fort von der Sonne. Die Wesen verabschieden sich traurig voneinander, wenn es dunkler wird, und vergraben sich in den Boden, wo sie zu Stein gefrieren für die nächsten Jahrhunderte. Doch von all dem wissen wir nichts, und wir werden auch nie etwas davon erfahren.

Ludwig faltete den Zettel langsam zusammen. Er starrte aus dem Fenster auf die menschenleere Straße. Jemand musste Nathanael die Unterlagen zur Astronomiestunde weitergegeben haben. Was stellte der Junge sich vor? Dass Ludwig seine Hausaufgabe korrigieren und zurückgeben würde, gegen den Willen seiner Eltern? Nathanael schien den Auftrag, den er den Schülern gegeben hatte, zudem missverstanden zu haben, es war nicht darum gegangen, eine Geschichte zu erfinden. Immerhin stimmte der Kometenorbit, den Nathanael beschrieb, ungefähr mit den Tatsachen überein. Das war schon viel, die Texte der anderen Schüler waren konfus gewesen, so als hätten sie keines von Ludwigs Worten verstanden.

Ludwig nahm eine Handvoll trockenes Stroh, stopfte es zwischen die Holzscheite im Kamin und schlug den Feuerstein und das Stahlstück zusammen, bis das Stroh zu qualmen begann. Er hängte den Wasserkessel über die größer werdenden Flammen und warf getrocknete Pfefferminzblätter hinein. Wie sehr er Kaffee noch immer vermisste, gerade an einem Morgen wie heute. Er streute aus einer Dose Hafer in das Pfefferminzwasser und löffelte den Brei langsam. Das Licht draußen war noch trüber als sonst, vielleicht würde es bald wieder schneien.

Wenn er Nathanaels Hausaufgaben weiterhin korrigierte, würde früher oder später unvermeidlich Petra an seine Tür klopfen. Sie würde ihn anschreien, was er sich einbilde und ob sie Nathanael einsperren müsse, damit Ludwig aufhören würde, ihn zu beeinflussen. Wahrscheinlich würde sie Urs in die Sache hineinziehen, der sich dann in Ludwigs Lehrplan einmischen würde. Sina, Urs’ Frau, besuchte jetzt auch die Betgruppe.

Als Petra Nathanael aus der Schule genommen hatte, hatte sich in Ludwigs Ärger eine leise Erleichterung gemischt. Er war froh gewesen, dass er ihr hartes Klopfen an seiner Tür nicht mehr hören würde, zumindest so lange, bis Samuel und Elias in die Oberstufe kämen. Wenn Petra sie denn überhaupt die Oberstufe besuchen ließe. Seit Ludwig Nathanaels Klasse übernommen hatte, war sie in regelmäßigen Abständen vorbeigekommen, um seinen Unterricht zu kritisieren. Ob er nicht dieses Buch oder jenes Thema weglassen könne. Ständig hatte sie Nathanaels Taschen durchsucht und seine Schulunterlagen kontrolliert. Früher hatte Ludwig noch gehofft, dass Niklas, Nathanaels Vater, sich eines Tages gegen seine Frau wehren würde. Er war ein schweigsamer Mann und schwer zu durchschauen. Aber scheinbar teilte er Petras Ansichten.

Nein, dachte Ludwig. Ich werde nichts tun. Es ist besser, auch für Nathanael.

Glocke

Es war schon hell, als Nathanael nach unten ins Wohnzimmer kam. Die Mutter verteilte drei Teller auf dem Tisch und sah nur kurz auf. Elias saß auf dem Sofa, in eine karierte Decke gewickelt. Lediglich sein Kopf schaute heraus. Er war bleich, starrte aus dem Fenster auf den fein fallenden Schnee und beachtete Nathanael nicht.

»Geht es ihm besser?«, fragte Nathanael.

»Ihm geht es gut«, sagte die Mutter. »Sei leise, Vater schläft. Er war die ganze Nacht wach.«

Samuel polterte die Treppe herunter. Auf halber Strecke blieb er abrupt stehen und musterte Elias.

»Elias, du Idiot«, rief er.

»Ruhe«, rief die Mutter. »Ihr seid genauso schuld. Ihr wisst doch, dass ihr auf Elias achtgeben sollt.«

Elias zog sich die Decke über den Kopf.

»Gehen wir nicht zur Predigt?«, fragte Nathanael. Hendrik hatte bereits das erste Mal die Glocke geschlagen. Normalerweise weckte die Mutter sie vor dem Läuten.

»Ihr geht. Ich bleibe bei Elias. Und Vater muss schlafen.«

»Das ist gemein«, nörgelte Samuel.

Die Mutter legte das Besteck hin.

»Genug jetzt«, sagte sie leise. »Kommt her, sofort.« Nathanael und Samuel näherten sich ihr zögernd. »Wir tun alles für euch. Tag für Tag rackern wir uns ab, damit ihr genug zu essen habt. Und ihr? Ihr beklagt euch, dass ihr am Samstagmorgen das Wort Gottes hören müsst? Ist das für euch nur eine Pflicht? Wollt ihr lieber so aufwachsen wie Vanessa? Mit einer Mutter, die gut und schlecht nicht unterscheiden kann?« Wie bleich sie ist, dachte Nathanael. »Reicht denn nicht, was Elias uns angetan hat?«

»Wir gehen ja«, sagte Nathanael und zog Samuel am Ärmel. »Ich werde auf Samuel aufpassen. Wir werden hingehen und für Elias beten.«

»Das ist das Mindeste«, sagte die Mutter. »Das Mindeste.«

»Auf mich muss niemand aufpassen«, sagte Samuel. »Ich lese keine verbotenen Bücher und trinke auch nicht.«

»Dann passt eben aufeinander auf«, sagte die Mutter müde. »Und nehmt euch noch ein Stück Brot mit.«

Metallladen

Lisa saß hinter der Theke und las. Als Ludwig die Tür öffnete, zuckte sie zusammen und richtete sich auf. »Und, war Vollmond?«, fragte sie.

Ludwig nickte. Er fuhr mit dem Finger die Theke entlang. Er hatte nicht nachgesehen. Ohnehin konnte niemand sicher sein, welcher Tag genau war; ein paar Dörfer weiter waren sie überzeugt, es sei drei Tage später. Lisas Bitte hatte ihn dazu gebracht, wieder darüber nachzudenken, wie man den Kalender genauer machen könnte, etwa, indem man versuchte, die dunkelste Nacht des Monats zu bestimmen. Aber wozu, Lisas Vorstellungen vom Einfluss des Monds waren doch nur dummer Aberglaube.

Die Tür zum Hinterzimmer des Ladens stand halb offen. Auf dem kleinen Tisch lag ein gelb gemustertes Wachstuch, dahinter waren die rostigen Armaturen einer ehemaligen Küche sichtbar. Am Boden stand das Kurbelradio. Leise chinesische Musik, unterbrochen von statischem Knistern, drang aus den Lautsprechern. Ludwig wünschte sich, dort am Tisch sitzen zu dürfen, den ganzen Tag lang. Er würde den Kopf auf das kühle Wachstuch legen und der Musik zuhören, bis es Abend wurde, während Lisa vorn an der Theke las.

»Habt ihr das Fahrrad noch?«, fragte Ludwig, um etwas zu sagen.

»Ja, aber wie du weißt, darf ich es nicht …«

»Ich will es ja nicht kaufen. Nur ausleihen. Ich möchte nächste Woche den Dynamo behandeln.«

Lisa zögerte und nickte dann. Sie verschwand im Hinterzimmer, und Ludwig hörte, wie sie eine Tür aufschloss. Sie kam mit einem großen, verbeulten Mountainbike unter dem Arm zurück. Ludwig nahm es ihr ab. Es war schwerer, als er erwartet hatte, waren Mountainbikes nicht leicht gewesen? Er stellte es auf den Boden. Lisa strich sich den dunklen Rock glatt und richtete ihren Zopf.

»Was für ein Ding«, sagte Ludwig.

Sie lächelte stolz, als hätte sie das Fahrrad selbst gebaut.

Das Hinterrad des Mountainbikes war vollkommen verbogen, und die Speichen waren rostig. Doch das Vorderrad lief noch. Ludwig hob es an und drehte das Rad, die Lampe leuchtete hell. Wie schön es wäre, ein Fahrrad zu besitzen. Ludwig würde damit in andere Dörfer fahren und mit Neuigkeiten zurückkommen, die Lisa überraschten. Oder er würde sie mitnehmen, sie würden immer weiter fahren, bis sie ans Meer kämen, und dort ein Haus bauen.

»Danke«, sagte Ludwig, nachdem Lisa das Fahrrad zurück ins Hinterzimmer getragen und die Tür wieder verschlossen hatte. »Ich hole es in ein paar Tagen.«

»Ist gut«, sagte Lisa und griff nach dem Buch, das vor ihr auf der Theke lag.

»Was liest du?«, fragte er.

»Die Buddenbrooks«, antwortete sie.

Schon wieder, dachte Ludwig. Während der großen Kälte hatte er stapelweise Bücher in den Kamin geworfen und verbrannt. Nur zwei naturwissenschaftliche hatte er aussortiert. Beide lagen seit Jahren in Walters Bibliothek.

Lisa hielt ihm das Buch hin, und er schlug es auf der ersten Seite auf.

»Lisa Wendelin«, las er vor.

Sie richtete sich auf, und Ludwig merkte, dass er mit seiner Lehrerstimme gelesen hatte wie vor der Klasse, wenn er die Anwesenheitsliste prüfte. Lisa hatte ihren Mädchennamen mit runden Buchstaben hineingeschrieben, bestimmt noch als Schülerin. Wahrscheinlich hatte sie das Buch auf der Flucht mitgeschleppt. Wieso hatte er sie nicht schon damals kennenlernen können? Jetzt trug sie Michaels Namen, Schmid. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Es war wie eine Tarnung, die sie sich übergestülpt hatte.

Weiter unten war eine Strichliste eingezeichnet, neun Fünferblocks und ein angefangener Block mit vier Strichen. Das Lesezeichen steckte fast am Ende des Buches zwischen den Seiten, bald würde sie auch den letzten Block durchstreichen können.

»Nächstes Jahr werde ich es Sarah zum Lesen geben«, sagte Lisa.

Ludwig nickte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sich Sarah auf solch ein langes Buch würde konzentrieren können. Es ärgerte ihn, dass ausgerechnet Lisas Tochter so unbedarft von der Schule gehen würde. In letzter Zeit arbeitete sie immer weniger mit.

»Wie geht es dir?«, fragte er schließlich.

»Ich habe schlecht geschlafen. Muss der Vollmond sein.«

»Ich auch.« Ludwig schaute Lisa lange an. Sie lächelte. Also doch.

Die Tür ging auf, kalte Luft kam ins Innere. Es war Urs.

Er wandte sich an Lisa: »Hast du die Ersatzschrauben gefunden?«

Lisa griff unter die Theke und holte eine Tüte mit Schrauben hervor. »Es sind nur fünf, und eine wird nicht ganz passen, die musst du noch abschleifen.«

Urs nahm die Schrauben entgegen. »Danke. Warum bist du letzte Woche nicht zur Dorfversammlung gekommen?«, fragte er.

»Hat Michael mich nicht entschuldigt?«

»Doch«, sagte Urs. »Aber ich wäre froh gewesen um eine weitere Stimme gegen Hendriks Vorschlag.«

»Du musst ihn ja nicht umsetzen«, sagte Ludwig.

Hendrik hatte wieder einmal darum gebeten, dass Urs bei der Zentrale vorstellig werden sollte, um finanzielle Unterstützung für die Kirche zu holen. Sie täten so viel für die Gemeinschaft, und früher hätte es ja auch die Kirchensteuer gegeben. Und obwohl die Mehrheit der Versammlung dafür gewesen war, hatte Urs gesagt, es stünde außer Frage, die Zentrale erneut damit zu behelligen.

»Ja, aber es sieht besser aus, wenn zumindest ein paar von euch auf meiner Seite sind. Zumal nun sogar Sina gegen mich stimmt.«

Urs hob die Hand zum Gruß und verließ den Laden, die Tüte in der Hand.

»Der hat’s auch nicht immer leicht«, sagte Ludwig.

Lisa schüttelte den Kopf. »Mir wär’s lieber, die Zentrale würde die Religiösen unterstützen. Wenn die bei uns klopfen, fühlen wir uns jedes Mal verpflichtet, etwas zu geben. Sarah und Michael gehen doch auch oft zu den Betabenden.«

Ludwig zuckte mit den Schultern. Er gab ebenfalls meistens etwas, dem Frieden zuliebe, aber er hatte gegen Hendriks Vorschlag gestimmt.