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Der bayerische Ministerpräsident Martin Schwertlein gibt Rätsel auf. Verwirrt erzählt er, er sei vom Pferd gestürzt, aber die Statue des Heiligen Emmeram hätte ihn aufgefangen. In einer Villa, wo man ihn vordergründig zur Erholung einquartiert, soll der Polizeipsychologe Rolf Umberger herausfinden, was wirklich passiert ist. Schnell wird klar, dass Schwertleins Lebensthema um Macht und Kontrolle kreist. Aber was steckt dahinter? Wieso attackiert ihn ein Blogger im Netz? Wieso behauptet ein krimineller Software-Entwickler, Schwertlein benötige eine KI zur Erkennung von Emotionen? Und was vor allem hat das mit dem Vorfall bei der Statue zu tun?
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0392-0
ISBN e-book: 978-3-7116-0393-7
Lektorat: Andrea Pichler
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
I
„Der Ministerpräsident ist vom Pferd gefallen!“ Die Nachricht überraschte mich dreifach. Erstens klang die Stimme des Leiters der Einsatzzentrale im Polizeipräsidium seltsam aufgeregt. Normalerweise sind die Leute dort die Ruhe selbst. „Also, wir haben da eine Schießerei. Mehrere Tote. Wahrscheinlich mehrere Täter mit Langwaffen …“ Selbst bei derartigen Meldungen, bei denen einem der Atem stockt, bleiben die ganz ruhig. Zweitens wunderte es mich sehr, dass ich als Polizeipsychologe in so einem Fall alarmiert wurde. Normalerweise, wenn man mich anruft, steht einer auf einem Baukran und droht, hinunterzuspringen oder hält seine Freundin, die ihn verlassen will, in der verbarrikadierten Wohnung gefangen. Solche Sachen. Und drittens ist, normalerweise, der Herr Ministerpräsident ein exzellenter Reiter. Das weiß doch jeder. Schließlich hatte er schon als Schüler beim Anblick eines Reiterstandbildes in Coburg spontan den Entschluss gefasst, das Reiten zu erlernen.
Jedenfalls war die Sache, die der Leiter der Einsatzzentrale, der LEZ, ungewöhnlich aufgeregt berichtete und die ich später mit verstörenden Details angereichert erzählt bekam, wie folgt: Der Bayerische Ministerpräsident Martin Schwertlein hatte am Samstagnachmittag die Reiterstaffel der Münchner Polizei besucht. Er wollte knallhart das berittene Einsatzgeschehen miterleben. Also fuhr man ihn in den Englischen Garten. Dort bestieg er einen stattlichen Braunen und genoss es sehr, wie die charmante Polizeiobermeisterin, deren Pferd er da reiten durfte, ihm huldvoll den Steigbügel hielt. Ein Lächeln, halb Dank halb Hochmütigkeit, dann galoppierte er los und ward bald nicht mehr gesehen. Niemand konnte seinem Husarenritt folgen. Schon gar nicht sein Staatskanzleichef Werner Kneif, den sie ebenfalls aufs Pferd bugsiert hatten. Kneif hat man Sekunden später aus dem Schwabinger Bach gefischt. Aber wo blieb der Ministerpräsident? Lange musste man ihn suchen. Bei der Polizei gingen währenddessen andauernd Notrufe ein. Ein wilder Reiter mit wehendem dunkelgrünem Lodenmantel presche da durchs Unterholz, jage über die Wiesen des nördlichen Englischen Gartens, fahre in eine Schafsherde und springe über die Bäche. Dann hieß es, ein Verrückter zu Pferd hetze die Isar entlang, als sei der Leibhaftige in ihn gefahren. Streifenwagen rechts und links des Flusses brausten längst in Richtung Norden, eine motorisierte Hatz mit Blaulicht und Martinshorn. So eine Verfolgungsfahrt hatte München noch nicht gesehen. Endlich kam der entscheidende Hinweis. Bei der St.-Emmeram-Brücke, die den Englischen Garten mit dem Ortsteil Oberföhring verbindet, war ein mutmaßlich verwirrter Mann aufgefunden worden, der wie von Sinnen auf und ab rannte und sich im Kreis drehte wie ein tanzender Derwisch, nur dass der flatternde dunkle Lodenmantel ihn noch gespenstischer aussehen ließ. Dabei stieß er schreckliche Laute aus, als würde er gemartert wie der Märtyrer Emmeram, den man vor mehr als dreizehnhundert Jahren an eine Leiter gebunden hatte, um ihm Hände und Füße abzuhacken. Später im Rettungswagen hatte sich Martin Schwertlein rasch erholt. Dem Sanitäter warf er ein paar Sätze hin. Das Pferd, dieser Teufel, hätte ihn abgeworfen und gegen den heiligen Emmeram geschleudert. Der hätte ihn schützend in seine Arme genommen und so gerettet.
Tatsächlich befindet sich unweit der Brücke ein Bronzestandbild des Hl. Emmeram und tatsächlich klebten an Emmerams frommem Bauch Haare des Ministerpräsidenten. Das erfuhren wir von der Spurensicherung. Aber das Schlimme waren nicht die vom Notarzt an Ort und Stelle diagnostizierte Gehirnerschütterung und eine vielleicht daraus resultierende kurzeitige Verwirrung. Das Schlimme war, dass Martin Schwertlein, der mächtige Ministerpräsident, sonst hart im Nehmen und immer Realist, nicht aufhörte zu jammern und herumzuschreien. „Mein Hirn, mein Hirn! Wer hat den Gaul verhext? Wer hat mir das angetan? Ich bring sie alle um!“, … und so fort. So ging das die ganze Zeit. Die halbe Staatsregierung, die mittlerweile um sein Krankenbett im Klinikum Bogenhausen versammelt war, geriet in Panik.
Das also war der Moment, als der Leiter der Einsatzzentrale mich anrief. Ich solle sofort ins Bogenhausener Krankenhaus kommen. Unser Chef, Polizeipräsident Rudolf Frühbeis – auch er war selbstverständlich zusammen mit der Innenministerin Teil der nichtärztlichen Visite – hatte das so angeordnet. Man musste jetzt vorsichtig sein. Externe Fachleute hinzuzuziehen, gar die Folgen des Pferdesturzes der Öffentlichkeit mitzuteilen, könnte sich politisch verheerend auswirken. In einem halben Jahr würden Landtagswahlen anstehen. Ein Ministerpräsident mit einem offensichtlichen Dachschaden! Nicht auszudenken!
Vielleicht handelte es sich ja nur um eine vorübergehende Störung. Die Ärzte der Klinik hielten das für denkbar. Freilich hatte man sofort computertomographische und weitere Untersuchungen eingeleitet, um Hirnschädigungen etc. auszuschließen. Der endgültige Befund ließ noch auf sich warten. Zunächst wunderte man sich über die Symptome, sprich: über die Art und Weise, wie sich der Herr Ministerpräsident benahm, vor allem, wie er redete. Das durfte nicht nach außen dringen. Das ganze Haus wurde sofort, eigentlich unter Ärzten eine Selbstverständlichkeit, zum Stillschweigen verpflichtet, auch die Krankenschwestern, auch die eine aus Syrien, die sowieso kaum Deutsch sprach. Die hatte ich vor Schwertleins Patientenzimmer getroffen. Um nicht unvorbereitet einzutreten, hatte ich sie gefragt, wie es dem Herrn Ministerpräsidenten geht und wie er so drauf wäre. Sie verstand mich schlecht und entschuldigte sich damit, dass sie aus Syrien sei und erst seit kurzem in Deutschland lebe. Sie war sehr hübsch und sehr schüchtern, und trotz unserer Sprachbarriere hätte ich mich lieber mit ihr als mit Schwertlein unterhalten. „Samira“ stand auf ihrem Namensschild.
Der Ministerpräsident aber lag jetzt friedlich da und erzählte ungefragt von der jungen Polizistin, die ihm noch den Namen ihres Pferdes ins Ohr geflüstert hatte: Flucki. Na ja, Fury hätte ihm besser gefallen. Fury klingt wild, ungebändigt, so wie sein Ritt. Danach wollte ich ihn fragen. Aber zunächst stellte ich mich vor: Dr. Rolf Umberger, Leiter des Psychologischen Dienstes der Bayerischen Polizei. Der Herr Polizeipräsident Frühbeis sei sehr besorgt. Er hätte mich gebeten, ihm, dem Herrn Ministerpräsidenten, psychologische Betreuung anzubieten. Schwertlein nickte fast unmerklich, so als wollte er ausdrücken: „So was hab ich mir schon gedacht!“ Seine Lippen und Wangen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, nur kurz, aber dass es verächtlich gemeint war, konnte man sehen. „Ich hab hier genügend Betreuung“, sagte er spitz. „Und jetzt treten Sie zur Seite, damit die Schwester mir Fieber messen kann. Meinetwegen schauen Sie morgen mal vorbei.“ Ich hatte in der Aufregung, dem großen Landesvater so nahe zu sein, gar nicht bemerkt, dass eine Krankenschwester in das äußerst geräumige Zimmer getreten war. Als ich mich umdrehte, sah ich Samira. Sie lächelte, schaute mich aber kaum an, sondern näherte sich ganz konzentriert mit einer Art Pistole dem Ohr des Ministerpräsidenten. Das Ding in ihrer Hand war ein Fiebermessgerät.
Martin Schwertlein hatte mir also einen zweiten Besuch gewährt. Offensichtlich wollte er den Polizeipräsidenten und vor allem dessen Vorgesetzte, die Frau Innenministerin, nicht vor den Kopf stoßen.
Die Fragen, die sich die Herrschaften eher nicht stellten, die mich aber umso mehr umtrieben, lagen auf der Hand: War ich überhaupt geeignet für diesen „Betreuungsjob“? Passte er zu mir, zu meiner Persönlichkeit? War ich den Erwartungen gewachsen? Hatte ich die Fachkompetenzen? Und vor allem: Hatte ich das kriminalistische und taktische Gespür, das nötig war, um dem Ministerpräsidenten seine Geheimnisse zu entlocken, sollte es solche geben rund um seinen merkwürdigen Emmeramsritt? Eines war klar: Die Sache gestaltete sich von vornherein als echter Spagat. Einerseits sollte ich sinnvoll psychologisch betreuen oder zumindest so tun, aber das so überzeugend, dass mir Schwertlein meine fachpsychologische Expertise abnahm, und andererseits sollte ich ihn aushorchen, aber so, dass es nicht zu sehr seinen Argwohn erregte. Was also brachte ich dafür mit? Ich hatte als Diplompsychologe über dreißig Dienstjahre in der Polizei hinter mir. Jetzt, mit sechzig Jahren, hatte ich so ziemlich alles erlebt, was die Polizei einem Psychologen bieten kann oder von ihm verlangt: Tests für die Personalauswahl, Referate, Seminare, ganze Schulungskonzepte für die Aus- und Fortbildung, Betreuungsmaßnahmen für Polizeibedienstete in der Krise oder nach einem schwierigen Einsatz, Fachberatung in der Einsatzplanung oder während eines Einsatzes, zum Beispiel bei Demonstrationen oder großen Veranstaltungen, Verhandlungen mit Geiselnehmern, Direktkommunikation mit akut suizidalen Menschen oder mutmaßlich psychisch Kranken, die sich bewaffnet haben und andere bedrohen, wissenschaftliche Studien zum Image der Polizei oder zu ihrem Einschreitverhalten, interne Untersuchungen, wenn auf einer Dienststelle der Haussegen schiefhängt oder eine Umorganisation ansteht und so weiter und so fort, eine endlos lange Liste. Fluch und Segen. Spannend, aber auch von einem Feld ins andere hüpfend. Gut, aber befähigte mich all das für meinen Schwertlein-Job? Nur bedingt. Ich war weder ein ausgewiesener klinischer Psychologe mit psychotherapeutischer Approbation, noch war ich kriminalpolizeilich in Vernehmungstechnik weitergebildet. Den Ministerpräsidenten psychologisch betreuen und gleichzeitig in seinen – gerade polizeilich bedeutsamen – Verhaltensweisen und Motiven verstehen, das war schon eine große Herausforderung!
Immerhin war Kommunikation eines meiner beruflichen Leib- und Magenthemen. Damit wollte ich es versuchen.
II
Als ich den Ministerpräsidenten am nächsten Tag, am Sonntagmorgen, wieder besuchte, kam ich auch mit Kommunikationsbemühungen zunächst nicht an ihn ran. Er war mit sich selbst beschäftigt. Wenigstens schrie und klagte er nicht mehr. Stattdessen war nicht zu übersehen, wie er jetzt Samira anhimmelte. Wenn sie ihm Tee brachte, waren es die Düfte des Orients. Beim Blutdruckmessen beschwor er den Blick ihrer großen Augen, ein Blick, der die Lebenskraft in seinen Adern wecken würde. Es war peinlich. Das heißt, Samira war belustigt. Sie verstand ja auch nur die Hälfte. Für meine Person hatte Schwertlein wieder einmal keinen Bedarf. Aber ich musste dem Polizeipräsidenten Bericht erstatten. Was sollte ich vermelden?
Schwertlein war übrigens verheiratet und hatte zwei erwachsene Kinder. Das ältere, der Sohn, arbeitete in einer renommierten Anwaltskanzlei in Nürnberg, die Tochter studierte in Kalifornien. Seine Frau war Geschäftsführerin des elterlichen Hotels in Bamberg. Ehefrau und Sohn kamen noch am Tag des Reitunfalls angereist, besorgt natürlich, aber „nicht über die Maßen“, wie mir der damals anwesende Präsident Frühbeis später verriet.
„Also“, meinte Frau Schwertlein, „dumm daherreden, das konnte mein Mann schon immer. Und einen harten Schädel hat er auch. Wenn die Ärzte nichts Schlimmeres finden, sitzt er bald wieder in der Staatskanzlei.“
Die Ärzte fanden tatsächlich nichts Schlimmeres. Kein Hirntrauma. Selbst die Gehirnerschütterung war kaum nachweisbar. Die „verbalen Entgleisungen“, so hatte das Frühbeis genannt, blieben unerklärlich und weiter besorgniserregend; denn was ich meinem Präsidenten zu berichten wusste, beruhigte niemanden so recht. Mittlerweile hatte man natürlich kriminalpolizeilich „in alle Richtungen ermittelt“. Interessant: Die Personenschützer des Herrn Ministerpräsidenten sagten aus, dass Schwertlein gern mit ihnen im nördlichen Englischen Garten joggen war. Regelmäßig ließ er sich bis zum Isarring fahren, lief dann mit einem Personenschützer von dort durch den Park und über die Emmeram-Brücke und weiter zum Gasthof Emmeramsmühle, wo sein Chauffeur und der zweite Personenschützer mit den Dienstfahrzeugen warteten. Manchmal schickte er auch alle weg, wollte für zwei Stunden oder so allein sein, um zu meditieren, wie er sagte. Jedenfalls kannte Schwertlein die Gegend gut. Umso erstaunlicher, dass er, der geübte Reitersmann, dort vom Pferd gefallen oder vom braven Flucki abgeworfen und dabei auch noch seitlich, nicht unbedingt im Weg liegend, den Bauch des Heiligen Emmeram als Prellbock gefunden haben soll. Schwertleins Mantel war an der Rückennaht leicht eingerissen und am oberen Rückenteil leicht verdreckt. Aus einer kleinen Wasserpfütze zog die Spurensicherung mit einer Pinzette Wollfasern des Mantels. Die Wasserpfütze allerdings war fünf Meter vom Heiligen Emmeram entfernt! Es wurde Zeit, mit dem Ministerpräsidenten darüber zu reden.
Samira hatte Schwertleins Zimmer verlassen, so dass er endlich, wenn auch kein Auge, so doch ein Ohr für mich hatte.
„Herr Ministerpräsident, ich hatte mich Ihnen als Leiter des Psychologischen Dienstes der Bayerischen Polizei vorgestellt. Sie haben nur genickt, vielleicht ganz leicht gelächelt. Ansonsten scheint Sie meine Gegenwart nicht weiter zu interessieren. Na ja, ich bin auch nur ein kleines Licht.“
„Wissen Sie, von kleinen Lichtern bin ich ständig umgeben. Entspannen Sie sich, und erzählen Sie Ihrem Präsidenten, dass ich wieder vollkommen okay bin.“
Etwas mehr Freundlichkeit hätte ich schon erwartet. Da war er wieder, der alte Schwertlein, ein arroganter Machtmensch, der allen als Erstes erklärt, wie mittelmäßig bis winzig klein sie sind neben ihm, dem Lenker und Leiter des Freistaats, dessen schicksalhafte Bestimmung mit dem Amt des bayerischen Ministerpräsidenten selbstverständlich noch nicht ihr Ende gefunden hat. Jetzt saß er fast aufrecht in seinem Krankenbett mit drei Kissen, die ihm Samira untergeschoben hatte, wobei sie, wie ich im Moment, sein Rasierwasser hatte riechen müssen, wahrlich kein Duft des Orients; saß also da mit einem breiten weißen Verband um den Kopf, wie die Soldaten in Kriegsfilmen, und spielte schon wieder den großen Zampano.
Dr. Martin Schwertlein war Ende 50, für sein Alter auffallend schlaksig – so beschrieben ihn gern die Medien, mittelgroß, sein Gesicht markant mit zahlreichen Furchen und Falten, kräftigen Augenbrauen und einem durchdringenden Blick. Die ganze Erscheinung nicht unattraktiv, aber etwas unangenehm. Er war eigentlich kein gelernter Berufspolitiker, der schon als Teenager ein Parteibuch erwirbt und während des Jurastudiums in der Partei-Jugendorganisation erste Führungsfunktionen anstrebt. Er hatte in Erlangen Geschichte studiert und etwas Germanistik – und dort auch seine Frau kennengelernt. Später wurde er in München von der Ludwig-Maximilians-Universität promoviert, magna cum laude, mit einer Arbeit über Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha. Schon merkwürdig, dass der spätere machtbewusste Politiker Schwertlein sich ausgerechnet den kunstsinnigen und politisch liberalen Fürsten ausgesucht hatte. Es lag wohl am Reiterstandbild in Coburg, das ihn so faszinierte und das tatsächlich den guten Herzog Ernst zeigt. Zur Politik kam er, weil ihn ein Studienfreund drängte, Bürgermeister der oberfränkischen Stadt Naila zu werden. Er hätte doch das rhetorische Talent und diesen Ehrgeiz, aus Naila oder auch aus jeder anderen Stadt etwas Besonderes zu machen, und überhaupt diesen Durchsetzungswillen, und er wollte doch schon immer anderen zeigen, dass er’s draufhat, und so weiter. Schwertlein trat zur Wahl an und siegte. Später als Landrat kam er mit dem jetzigen Finanzminister Manfred Brezenegger zusammen. Brezenegger, ein wuchtiger, rotbackiger, erzkonservativer Mann aus der Rosenheimer Gegend, wurde sein großer Mentor und Förderer. Vor allem fütterte er Schwertlein mit den politischen Weisheiten des großen Vorsitzenden seiner Partei, der wiederum der Mentor von Brezenegger war. „Schau den Menschen aufs Maul, aber red ihnen nicht nach dem Mund“, lehrte er ihn, und „du musst den Menschen sagen, worauf es ankommt, nicht was ankommt.“ Das waren schöne Worte. Brezenegger jedenfalls gab sie so zum Besten und Schwertlein hörte gut zu. Gut zuhören konnte er, wenn er sich davon einen persönlichen Vorteil versprach.
Es gibt übrigens eine Geschichte, die erklären hilft, weshalb sich Brezenegger für den „Geisteswissenschaftler Schwertlein“ – Originalton Brezenegger – so rückhaltlos einsetzte. Die Geschichte erzählt Schwertlein gern und in allen Einzelheiten. Sie ist für ihn so etwas wie der Entstehungsmythos seiner grandiosen politischen Karriere. Als Brezenegger den aufstrebenden Landrat Schwertlein kennenlernte, lud er ihn zu einem Skitag ein. Von Brezeneggers Heimatort ist es nur ein Katzensprung in die Tiroler Bergwelt gleich hinter der bayerisch-österreichischen Grenze bei Kufstein. Sie fuhren nach Söll ins Skigebiet Wilder Kaiser und von dort mit der Kabinenbahn auf die Hohe Salve, kein besonders anspruchsvoller Berg für den guten Skifahrer Brezenegger, aber nicht befahrbar für einen Skianfänger. Wenn man oben am Gipfel der Hohen Salve steht, geht es links und rechts, nach Norden und Süden, die ersten hundert Meter steil hinunter. Die Nordflanke ist häufig glatt und eisig, dagegen ist der Schnee der Südseite, wenn von der Sonne beschienen. schön weich, wird dann aber von den schnittigen Wedelexperten zu unschönen Buckeln zusammengeschoben. Schwertlein konnte eigentlich nicht Ski fahren. Das wusste auch Brezenegger. Gut, der kleine Martin stand ein paarmal auf den Brettern, mit den Eltern im Frankenwald und einmal auf dem Ochsenkopf im Fichtelgebirge. Das war’s auch schon. Später fuhr er lieber schnelle Autos und Motorräder, wenn Rennpiste, dann lieber Asphalt als Schnee. Dass ihn Brezenegger, der Schuft, gleich auf diesen Berg mit den Steilhängen führen würde, hatte er nicht erwartet. Jetzt stand er neben dem schon ungeduldig mit den Hüften wackelnden Oberbayern und sollte sich entscheiden, links oder rechts, Eishang oder Buckelpiste. Für einen Moment dachte Schwertlein an Kapitulation. Aber wenn er gesagt hätte, „Manfred, ich komm hier nicht heil runter“, dann wäre er für immer unten durch gewesen, dann hätte ihn Brezenegger fallengelassen. Völlig klar. Während er noch überlegte, hörte er Brezenegger wie aus weiter Ferne sagen: „Wir nehmen den Nordhang.“ Sagte es und drehte sich in Richtung dieses spiegelglatten Abgrunds. Schwertlein neben ihm schaute in die sich auftuende Tiefe. Da aber machte der spätere Ministerpräsident eine Erfahrung, die er an sich noch nie so bewusst wahrgenommen hatte: die Erfahrung der Furchtlosigkeit in heiklen Situationen. Schwertlein kannte keine Angst. Angst war etwas, wovon andere erzählten, etwas, was er bei anderen als merkwürdige Regung, ja als Schwäche wahrnahm, aber nichts, was er selber körperlich spürte, kein wild klopfendes Herz, keine schlotternden Knie, nicht einmal feuchte Hände. Im Kopf spielten sich bloß Kosten-Nutzen-Kalkulationen ab: „Schaff ich’s? Bin ich stärker als der andere? Ist es ratsam, nachzugeben?“ Gedanken, aber keine Gefühle, Kognitionen, aber keine Emotion. Schwertlein also schaute hinunter auf die glatte Piste und wusste, dass er beim ersten oder zweiten Schwung wegrutschen, umkippen oder vornüber aufschlagen würde. Sorgen machte ihm nur die Vorstellung, dass er sich verletzten könnte oder, viel schlimmer, dass er eine lächerliche Figur abgeben würde, wenn er auf dem Hosenboden talwärts sauste. Er war noch in Gedanken, als sich Brezenegger mit seinen Skistöcken abstieß und den Hang hinunter tanzte. Sah elegant aus. Unten, wo es flacher wurde, machte er einen feinen Abbremsschwung und schaute hoch hinauf zu seinem Parteifreund Martin. Jetzt galt’s. Schwertlein fuhr schneidig los, Stockeinsatz rechts, dann Stockeinsatz links. Zu mehr kam er nicht. Die Ski flutschten ihm nach unten weg. Er knallte auf die linke Hüfte und Schulter und dahin ging’s in rasantem Tempo. Eine vogelwilde Rutschpartie. Schneestaub vor den Augen. Die Ski schlugen hart auf, die Bindungen öffneten sich und die so befreiten Bretter purzelten talwärts. Die Stöcke hüpften in den Schlaufen, aber er verlor sie nicht. Abfahrtsläufer fallen nach dem Sturz auch nicht anders! Das war Schwertleins einziger Gedanke, bevor ihm einfiel, dass er mit den Skischuhen abbremsen konnte. Tatsächlich kam seine unkonventionelle Abfahrt nach den hundert steilen Metern langsam zum Stillstand. Brezenegger musste ihm nur ein paar Schritte entgegenstapfen, um ihm aufzuhelfen. „Sauber“, sagte Brezenegger, „alles okay?“ Schwertlein, als er nun doch mit schlotternden Knien, schlotternd wegen der muskulären Anstrengung, aufrecht stand, checkte erst einmal, ob er Schulter- und Hüftgelenk bewegen konnte und ob die Schmerzen auszuhalten waren. „Alles okay!“, sagte er und lächelte etwas verkrampft. Er hatte die Feuertaufe bestanden. Manfred Brezenegger war jetzt sein Freund. Der politische Weg nach oben war geebnet.
Die Geschichte vom steilen Sturz, der zum Höhenflug wurde, kannte ich natürlich noch nicht, als ich neben Schwertleins Krankenbett stand. Leider.
„Herr Ministerpräsident“, ich versuchte trotz seiner Ruppigkeit ausgesucht höflich zu bleiben, „ich wurde nun mal gebeten, Sie zu betreuen, das heißt, ich bin einfach für Sie da. Um aber ein bisschen zu verstehen, was eigentlich passiert ist, hätte ich folgende Frage: Sie haben zu Protokoll gegeben, das Polizeipferd hätte Sie an der Emmeram-Brücke in Oberföhrung abgeworfen. Sie wären dabei gegen die Statue des Heiligen Emmeram geschleudert worden und haben sich so, wie man sieht, eine Kopfverletzung zugezogen …“
„Wollen Sie mich jetzt verhören? Ich bin vom Pferd und gegen die Statue gefallen. Das konnte sich doch jeder zusammenreimen. Mehr weiß ich nicht. Ich hatte einen totalen Blackout. Erst hier in der Obhut der exzellenten Ärzte und vor allem der fürsorglichen Pflege der Krankenschwester Samira bin ich langsam wieder klar im Kopf geworden. Und jetzt sehen Sie zu, dass der Kneif von der Staatskanzlei kommt und ich mit ihm besprechen kann, wann und wie ich die Amtsgeschäfte wieder aufnehme.“
Mir ging vieles durch den Kopf, was sich noch gar nicht zusammenreimte: Schon der Sturz vom Pferd war sonderbar, dann der Aufschlag am Bronzebauch des Heiligen. Keinen hätte es verwundert, wenn Schwertleins Gehirn davon Schaden genommen hätte. Mit meiner Halbbildung in Hirnphysiologie dachte ich mir: Der ist doch mit der Stirn gegen den Emmeram geknallt! Mit der Stirn! Dahinter sitzt im Schädel der präfrontale Kortex, eine verdammt wichtige Region des Großhirns, die unter anderem dafür zuständig ist, dass man sich in bestimmten Situationen angemessen benimmt. Wenn dieser präfrontale Kortex Schaden erleidet, tut man sich schwer mit vernünftigem Verhalten. Schwertleins Veitstanz und die irren Sprüche und Verwünschungen wären so erklärlich. Aber die medizinische Diagnose lautete: Nix weiter passiert. Nur eine Gehirnerschütterung. Kann man doch nicht glauben! Dazu kamen die ersten Befunde der Spurensicherung, Haare an der Statue, aber Wollfäden in der Wasserlache! Keine Verletzungen übrigens am Pferd, keine Auffälligkeiten am Zaumzeug oder Sattel …
Diese ersten Ermittlungsergebnisse konnte ich mit Schwertlein natürlich nicht teilen. Wenn er mir nichts erzählte, wurde es schwierig mit der Kommunikation. Loben konnte ich ihn zumindest, loben für seinen harten Schädel, und dass man in seinem Fall eine Läsion des präfrontalen Kortex hätte befürchten müssen, dass es schon erstaunlich sei, wie schnell er sich erholen würde, dass wir alle darüber sehr froh wären und ähnliches Gesäusel. Eine einseitige Kommunikation, sehr zäh! Das mit dem präfrontalen Kortex sagte ich natürlich, um bei ihm Eindruck zu schinden. Ich lauerte darauf, dass er von sich etwas erwidert und sei es nur, um mir zu widersprechen oder etwas geradezurücken. Fehlanzeige.
Glücklicherweise erschienen nach kurzer Zeit der Staatskanzleichef Werner Kneif und Christina Berggrün, die Staatsministerin des Innern in ihrer Funktion als stellvertretende Ministerpräsidentin. Die beiden taten sehr bekümmert, vielleicht waren sie es auch, mit jeweils unterschiedlichen Hintergedanken. Kneif war Schwertleins loyaler Vertrauter, sein Schwertträger sozusagen, und er wollte einfach aus den Schlagzeilen. Er war in den letzten Tagen durch ein Stahlbad von Häme und Spott gegangen. Jemand war schnell genug gewesen, seinen Parforceritt in den Schwabinger Bach mit dem Handy zu filmen und ins Netz zu stellen. Unter dem Hashtag #whatadiveforkneif machte die Sache international Furore. Schade, dass niemand gefilmt hat, wie der MP vom Pferd und gegen die Statue gefallen ist, raunte sich die Opposition im Landtag zu. Der Schwertlein wäre politisch erledigt gewesen. Für alle Zeit. Vielleicht wäre das auch die Chance für die Berggrün geworden. So dachte eventuell die Berggrün. Sie war so ehrgeizig, wie ihr Chef machtversessen. Dabei war es keineswegs so, dass ihr Ehrgeiz sie blind gemacht hätte gegenüber den Machbarkeiten der Personalpolitik, dafür war sie zu klug und zu vorsichtig. Aber ihre Loyalität zum Ministerpräsidenten entsprang zumindest bisher dem Kalkül, Schwertlein groß und stark aussehen zu lassen, bis seine Partei ihn zum Kanzlerkandidaten ausriefe. Dann, so glaubte sie, würde ihre eigene Partei mit ihr an der Spitze nach der Macht im Landtag greifen, nach den nächsten Wahlen jedenfalls. Das galt auch für den Fall, dass Schwertlein es nicht bis zum Bundeskanzler brächte; denn er würde dann als Versager gelten, im Bund wie in Bayern. So las man das in den Leitartikeln und Kommentaren der Presse. Man kann sich ausmalen, wie solche Spekulationen Schwertlein quälten. Es wurmte ihn fast wie Herodes, als man diesen fragte, wo der neue König der Juden geboren sei. Wahrscheinlich hat Schwertlein bei der morgendlichen Zeitungslektüre schon früher manchen Veitstanz aufgeführt. Aber das ist auch Spekulation. Aufbrausend und jähzornig konnte er jedenfalls sein. Das zeigte sich jetzt wieder.
„Martin, Martin“, begann gleich die Berggrün, „wie siehst du denn aus!“
„Was glaubst du, wie ich aussehen soll nach so einem Sturz?! Sei froh, dass ich noch lebe und danke dem Heiligen Emmeram. Seine Statue war zwar hart, aber so bin ich wenigstens nicht wer weiß wohin geflogen. Vielleicht wär ich sonst in hohem Bogen durch die Luft gewirbelt worden und mit gebrochenem Genick am Boden liegen geblieben.“
Werner „the dive“ Kneif sah seinen Chef voll ahnungsvoller Bewunderung an.
„Martin, ich kann es nicht glauben, dass du nach allem, was passiert ist, so frisch und munter bist – und schon wieder angriffslustig!“
Sein Blick streifte die Ministerin. Da war dieser kleine Triumph, der ihr sagen sollte: Du hast den Schwertlein noch lange nicht in der Tasche!
„Sensationell, Martin! Alle sprechen davon, wie hart du im Nehmen bist, wie Joe Frazier beim Thrilla in Manila gegen Muhammad Ali.“
„Schon gut, Werner. Aber gewonnen hat Joe Frazier damals trotzdem nicht. Und überhaupt: Es ist ja nett, dass ihr mich besucht, aber es wäre mir lieber, die Ärzte würden mich jetzt gehen lassen, und ich könnte alles Weitere mit euch in meinem Büro besprechen. Zum Beispiel will ich …“
„Nicht so schnell, Martin“, fiel ihm die Berggrün ins Wort. „Da gibt es einige Hürden.“
Sie sagte „Hüürrden“, sehr gedehnt, sehr bedeutungsschwanger und dabei tätschelte sie fast zärtlich seinen linken Unterarm. Er ließ es geschehen.
„Die ganze Welt weiß von deinem Sturz. Einige sind besorgt, andere lachen sich den Ast ab. Im Netz, aber auch in der Presse, sogar im Fernsehen fragt man sich, ob du überhaupt noch bei Trost bist. Ich meine, die zweifeln schon an deinem Verstand wegen des Teufelsritts im Englischen Garten. Von deinem Sturz und den Folgen erst gar nicht zu reden. Überhaupt, sei froh, dass dich nur ein altes Ehepaar gesehen hat, als du da deinen Tanz um den Emmeram aufgeführt hast. Die haben schlicht den Notruf getätigt und dich besänftigt. Stell dir vor, man hätte dich gefilmt wie den Werner, als er kopfüber abtauchte und aus dem Bach gezogen wurde wie ein verrostetes Fahrrad bei der Bachreinigung.“
„Jetzt reicht es aber!“
Dem Schwertlein wären wahrscheinlich die Stirnadern geplatzt vor Zorn, wenn nicht der enge Verband um den Kopf das verhindert hätte.
„Du Lästermaul! Ich verbiete mir diesen Ton und überhaupt dieses Geschwätz – und Sie, Herr Psychologe, Sie gehen jetzt raus. Hier gibt es einiges klarzustellen.“
So schnell kam ich gar nicht von meinem Stuhl hoch und zur Tür hinaus, dass ich nicht mitbekommen hätte, wie der Schwertlein gleich wieder loslegte.
„Ein für alle Mal: Der Ministerpräsident bin ich. Und was im Englischen Garten …“, mehr konnte ich dann nicht mehr verstehen, aber ich habe nach und nach die wohl wichtigsten Details erfahren, und zwar von Frau Berggrün.
Vom Bogenhausener Krankenhaus fährt man bequem mit der Straßenbahn nach Oberföhring. Ein kurzer Fußmarsch von der Endhaltestelle hinunter zur Isar, und schon steht man vor dem wohlbeleibten Heiligen. Ich schaute lange hinauf zu seinem etwas rätselhaften Gesicht. Hinauf musste ich schauen, weil sie den überlebensgroßen Emmeram zusätzlich auf einen Betonsockel gestellt haben. Er blickt, der Welt entrückt, mit leicht geschlossenen Lidern zu dir hinunter. Seine Hände segnen dich, aber es sieht so aus, als wollte er gerade ein Streichholz anzünden, vielleicht um denen heimzuleuchten, die sich wie Schwertlein an seinen vorgewölbten Bauch drücken.
Was war da mit unserem Ministerpräsidenten nur passiert? Ich lehnte mich an einen Baum und schloss die Augen. Da kam er auch schon von links über die Brücke geprescht. Der Lodenmantel wehte über dem Pferderücken wie eine riesige Fledermaus. Schwertlein schrie: „Ich krieg euch alle!“ Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Zähne so groß wie die seines Gauls. Das war ja furchterregend. Ich machte schnell die Augen wieder auf. „Also“, dachte ich mir, „es wird schon besser sein, die Aufklärung des Falls der Kripo zu überlassen.“
III
Christina Berggrün hatte mich gleich am nächsten Tag in ihr Ministerbüro bestellt. Vor dem Innenministerium am Odeonsplatz und dahinter am Wittelsbacherplatz stehen übrigens zwei gewaltige Reiterstandbilder, die Schwertlein sicher schwer beeindruckt haben. Erstaunlich nur, dass er sich weder den vorne auf die Ludwigstraße zureitenden König Ludwig I. zum Vorbild genommen hat, noch den hinten wuchtig lostrabenden Kurfürsten Maximilian. Beide sind auf riesige Sockel gehoben. Ludwig, majestätisch mit Krone und Purpurmantel, rechts und links flankiert von zwei Pagen, hebt huldvoll sein Zepter in die Höhe, als wolle er die vorbeifahrenden Autos grüßen. Maximilian, auf seinem von ehemaligen Adelspalästen umgebenen Platz, steht jetzt genau vor der Macht- und Schaltzentrale der Siemens AG, der er mit erhobenem Arm und Zeigefinger schlachtenerprobt den rechten Weg weist. Beide, möchte man meinen, sind doch ganz andere Kaliber als der brave Fürst im Hofgarten zu Coburg! Ich nahm mir vor, mit dem Schwertlein mal darüber zu reden.
Vorerst aber stand der Termin bei Frau Minister Berggrün an. Sie ließ mich lange warten. Die Frau Ministerin wäre noch in einem Gespräch. Ich ging den Flur auf und ab, der hier auf der Ministeretage genauso eng und schmucklos ist wie die Gänge überall in diesem verschachtelten Gebäude. Nach einer Weile ging endlich die Tür des Vorzimmers auf. Ein großer stattlicher Mann in einem feinen dunkelblauen Maßanzug, also offensichtlich kein Beamter des Hauses, eilte heraus. Griesgrämig sah er aus – und noch bevor er mich wahrnahm, tupfte er sich mit einem Stofftaschentuch die Lippen ab, sorgfältig. Ich kenne diese Geste von mir. Meine Frau benutzt täglich und grundsätzlich Lippenstift. Ich habe dann nach einem Kuss immer was zum Abwischen, also nicht grundsätzlich, aber zum Beispiel nach einem Abschiedskuss, wenn ich unsere Wohnung verlasse. Der elegante Herr steckte sein Taschentuch, als er mich erblickte, schnell weg. Wir nickten uns kurz zu, dann stand auch schon eine der Vorzimmerdamen in der Tür, um mich zur Chefin vorzulassen.
Christina Berggün war eine große, attraktive Dame, sehr chic in einem cognacfarbenen Kostüm mit blauem Seidentop. Das blondierte, relativ kurz geschnittene Haar ging in Wellen nach hinten, ein bisschen wie bei Grace Kelly in Über den Dächern von Nizza. Welche Farbe ihre Augen hatten, weiß ich nicht. Jedenfalls begrüßte sie mich überaus herzlich. Sie lächelte sogar. Kann sein, dass meine Blicke ihr etwas verraten hatten, was Frauen auch heute doch zu schätzen wissen. Kann auch sein, dass ich Teil ihres viel diskutierten Kalküls geworden bin. Sicherlich war Letzteres der Grund, aber die erste Möglichkeit wollte ich deswegen nicht gleich über Bord werfen.
„Herr Dr. Umberger“, so kam sie gleich zur Sache, „wir brauchen Sie weiterhin dringend als psychologischen Betreuer für unseren Herrn Ministerpräsidenten.“
Meinen Einwand, dass der Ministerpräsident doch für weitgehend gesund erklärt worden sei, erwiderte sie mit einer energischen, mein Argument beiseite wischenden Handbewegung. Dann lehnte sie sich etwas vor, so dass ich eigentlich eine Chance gehabt hätte, ihre Augenfarbe zu identifizieren. Aber ich war tatsächlich von der Aussicht, noch mehr Zeit mit diesem Schwertlein verbringen zu müssen, gedanklich so gefangen, dass mein Blick total ins Leere ging. Das muss sie auch gespürt haben. Mit dem leicht zu mir gebeugten Oberkörper wurde auch ihre Stimme weicher.
„Schauen Sie, ich erkläre es Ihnen und bitte um absolute Diskretion.“
Dann kam eine etwas umständliche Erläuterung, weshalb Martin Schwertlein zum jetzigen Zeitpunkt auf keinen Fall zurück in die Politik und in die Öffentlichkeit dürfe. Sein Ruf sei angeschlagen. Viel zu viele Spekulationen seien im Umlauf. In den sozialen Medien würde diskutiert, ob der Ministerpräsident in einem quasi suizidalen Akt auf dem Pferd davon geprescht sei, so wie andere Lebensmüde mit 200 Sachen über die Autobahn rasen, oder ob sein Ritt nicht als Flucht weg vom Irrsinn seiner „wirklichkeitsleeren“ Politikerexistenz hin zu einem selbstbestimmteren Leben gedeutet werden müsse, mit dem Endpunkt St. Emmeram, gegen dessen Bauch er seinen Schädel selbst geschlagen hätte, quasi in rasender Verzweiflung ob der Ausweglosigkeit der Flucht … Manche Schreiberlinge hatten hier offensichtlich auch ein Pferd geritten, und zwar den Pegasus! Wirr und wüst gestalteten sich also die Kommentare im Netz und nur leicht geglättet in der Boulevardpresse. Sogar der Leitartikler einer großen renommierten Münchner Zeitung wiegte sein weises Haupt in Anbetracht des politischen Scherbenhaufens, den Schwertlein mit seinem Gesamtverhalten hinterlassen habe. Deshalb müsse man, so Frau Berggrün, auf der wohl einzig wahren Version bestehen, die so verlautbart wurde: „Der Ministerpräsident hat sich während einer Einsatzbeobachtung der Reiterstaffel des Polizeipräsidiums München bei einem unglücklichen Sturz vom Dienstpferd eine minderschwere Kopfverletzung zugezogen. Derzeit befindet er sich noch in Rekonvaleszenz und wird in absehbarer Zeit seine Dienstgeschäfte vollumfänglich wieder aufnehmen.“
Na, da war ich aber froh. Trotzdem wollte ich vorsichtig wissen, was „absehbare Zeit“ bedeutet, und wo und wie man sich meine „Betreuung“ vorstellt. Natürlich war an alles gedacht. Mit dem Charme konzeptioneller Überlegenheit klärte sie mich auf: Mein Part sei selbstverständlich mit dem Polizeipräsidenten Frühbeis abgesprochen. Er habe mich vorerst für zwei Wochen von allen sonstigen Dienstverpflichtungen freigestellt. Ein Beamter der Staatskanzlei, ferner eine Krankenschwester der Klinik Bogenhausen und ich würden das Betreuungsteam bilden, und die Personenschützer hätten selbstverständlich für die Sicherheit des Ministerpräsidenten zu sorgen. Niemand sonst sollte erfahren, wo sich Schwertlein aufhält, weder sein persönlicher Chauffeur und der Fahrdienst noch sein Büro noch die Kabinettsmitglieder und Parteifreunde, Kneif ausgenommen. Alle Amtsgeschäfte des MP würde bis auf Weiteres die stellvertretende Ministerpräsidentin, also sie selbst, führen. Als Aufenthaltsort habe man eine Villa am erhöhten Ostufer des Starnberger Sees ausfindig gemacht, herrlich gelegen, im Moment leerstehend, da die Eigentümerin, Name geheim, in ihrem Zweit- oder Drittdomizil in Italien weile. Wirtschafts- und Küchenpersonal wären aber vor Ort. Der Ministerpräsident habe all dem zugestimmt, nachdem man sehr ernsthaft und durchaus anfangs kontrovers die Optionen einer politischen Schadensbegrenzung durchgespielt hätte. Dr. Schwertlein werde einfach für circa zwei Wochen abtauchen, bis sich für die Sache keiner mehr interessiert, um dann wie nach einem Bad im Jungbrunnen umso strahlender zurückzukommen.
Das mit dem Jungbrunnen hatte sie nicht gesagt, das ist nur meine Ausschmückung. Die Frau Innenministerin war viel zu kühl in ihren Überlegungen und viel zu prosaisch in ihrer Sprache, als dass sie zu Bildern und Metaphern neigen würde, ausgenommen bei dem Vergleich mit dem verrosteten Fahrrad bei der Bachreinigung. Das Bild hatte sie wahrscheinlich geklaut, um Kneif eins auszuwischen. Sie hatte auch nicht irgendetwas Geisteswissenschaftliches studiert wie ihr Chef, sondern war gelernte Polizeibeamtin mit einer steilen Karriere, vom Streifendienst über die Vermisstenstelle, dann Mordkommission der Münchner Kripo bis zum Amt der Vizepräsidentin im Landeskriminalamt. Manche hassten sie für ihren Erfolg und sagten ihr alles Mögliche nach. Es hieß, dass sie als Kriminalbeamtin jeden Fall, aber auch jeden, unbedingt lösen wollte. Noch vor Gericht war ihr wichtig, dass ein von ihr überführter Täter auch angemessen bestraft wurde. Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen ließ sie vor Wut käseweiß werden. Einmal hätte sie sogar hemmungslos geheult. Ein andermal hat sie den Fahndungserfolg mit Mitteln erzwungen, die man für grenzwertig halten konnte. Sie war Leiterin einer Sonderkommission in einem Mordfall, einem mutmaßlichen sogenannten Ehrenmord. Ein siebzehnjähriges Mädchen aus einer ostanatolischen Familie war erschossen worden. Tatverdächtig war der neunzehnjährige Bruder, womöglich zusammen mit weiteren Familienmitgliedern. Jedenfalls hielt sich der Neunzehnjährige versteckt. Niemand gab Auskunft, bis ausgerechnet Christina Berggrün vom neunjährigen Bruder des Verdächtigen einen entscheidenden Hinweis bekam. Frau Berggrün hatte den Buben gezwungen, sich mit ihr immer wieder ein Familienvideo anzuschauen, das ihn, den Neunjährigen mit seinem großen Bruder beim Fußballspielen zeigte. Der Große war sehr liebevoll zu dem Kleinen, strich ihm über den Kopf, wenn sich der Kleine mit der Ballbehandlung schwertat. „Du willst doch sicher deinen Bruder wiedersehen und wieder mit ihm Fußball spielen“, sagte sie zu dem Buben. Der kapitulierte irgendwann.
Mir tat der Junge leid. Fakt ist, sie hatte neben einem unbändigen Willen und Ehrgeiz eine extrem schnelle Auffassungsgabe, konnte komplexe Sachverhalte treffsicher analysieren und – was für ihre jetzige Position entscheidend war – sie dachte immer auch politisch. Das war dann bald dem Innenminister aufgefallen, der sie als Quereinsteigerin auf den Staatssekretärsposten setzte. Nach dessen plötzlichem Tod vor sieben Jahren wollte sie ihn politisch beerben. Schwertlein zögerte. Brezenegger und andere waren dagegen. So wechselte sie die Partei und profilierte sich als deren innen- und sicherheitspolitische Expertin. Schon bei der nächsten Landtagswahl galt sie als ministrabel. Für ihre Partei ging die Wahl sehr gut aus und Frau Christina Berggrün wurde Innenministerin. Schwertlein hatte das sogar befürwortet. Mir schien, als hätte er es bald bereut.
Frau Berggrün begleitete mich zum Abschied noch bis zur Tür. Irgendwas ging ihr durch den Kopf. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie mir etwas verraten oder für sich behalten sollte. Schließlich siegte wohl die Kriminalbeamtin in ihr.
„Und im Übrigen kann ich Ihnen versichern, dass wir noch herausfinden, was bei der Emmeram-Statue wirklich passiert ist. Vielleicht können Sie uns dabei sogar helfen. Aber jetzt genießen Sie die Zeit in der Villa am Starnberger See. Machen Sie’s gut.“
IV
Jetzt wusste ich also definitiv, was ich „gut“ machen sollte: Herausfinden helfen, was mit dem Schwertlein los war und los ist. Eine Art Spitzeltätigkeit. Es war nicht schwer zu erraten. Schwertlein hatte es wahrscheinlich schneller durchschaut als ich. Seine Ruppigkeit sprach Bände. Was die Aussicht auf die nächsten Wochen dann aber aufhellte, war die Location, eine Villa am Starnberger See! Das war eine echte Überraschung, fast wie die Mitteilung, ich hätte einen Urlaub mit Übernachtung in einem Vier-Sterne-Hotel gewonnen. Bei der Polizei wird man nämlich regelmäßig in kargen Dienstunterkünften untergebracht. Es war Mitte März, und ich hatte mich schon, während die Ministerin sprach, irgendwo in den verschneiten Alpen gesehen, wie ich den Holzofen einer Berghütte schüre oder hinter Klostermauern eine karge Mönchszelle beziehe. Nein, wir würden in einer Villa residieren! War ja auch für den Ministerpräsidenten. Meiner Frau sollte ich erzählen, dass der Herr Ministerpräsident Urlaub macht und ich die große Ehre habe, ihn zwecks psychologischer Betreuung zu begleiten. Ziel und Dauer der Reise unbekannt. Frau Schwertlein musste übrigens auch verreisen. Ihre Legende: Mit Ehemann und Sohn zu Freunden nach Frankreich, eine vage Destination, die obendrein wohl auch nicht stimmte. Es war ein Verwirrspiel, dass einem der Schädel brummte wie dem Schwertlein der Seine in Oberföhring.
Die Villa hielt nicht, was ich mir in meinen Mittelstandsfantasien von ihr versprochen hatte. Einen für mich als Laien erkennbaren Baustil hatte sie nicht. Keine Gründerzeitvilla, eher ein bisschen Neorenaissance-Stil mit Rundungen und Erkern und einer großen erhöhten Terrasse. Auch kein Haus im Voralpen-Look mit fein nachgedunkelten Holzfassaden und lang gestreckten Balkonen. Stattdessen eine Nachkriegsmixtur mit Umbauten, immerhin mit kunstvoll geschmiedeten Gittern an allen Fenstern im Erdgeschoss und mit Alarmanlage und Sicherheitstüren nach besten Empfehlungen unserer Beratungsspezialisten für technische Prävention. Das fand ich aber erst später heraus. Die größte Enttäuschung war allerdings die Lage: Kein Seeblick! Ja, wenn man auf einen Hügel stapfte und zwischen anderen Anwesen einen Durchblick fand, konnte man ihn sehen, den See, ein wenig davon. Man musste schon einen ausgedehnteren Spaziergang unternehmen, um ans Wasser zu gelangen. Also stellte ich mir schon vor, wie der Herr Ministerpräsident mit mir hinunter zum Ufer schlendern würde wie anno 1886 der König Ludwig II. mit seinem Psychiater. Beide sind ja damals im See ums Leben gekommen. Wenn es so war, wie viele meinen, dass nämlich der König in suizidaler Absicht ins Wasser gehen wollte und der Herr Dr. Gudden es einfach nicht schaffte, ihn daran zu hindern, wenn es wirklich so war, dann sollte ich Schwertlein lieber allein gehen lassen. Zumindest war es ratsam, einen gewissen Abstand zu wahren. Wer weiß, was dem Ministerpräsidenten in seiner Krise zuzutrauen war.
Aber auch in diesem Punkt gab es eine Überraschung. Kaum waren wir in der Villa angelangt und hatten uns ein bisschen eingerichtet, blühte der Schwertlein auf.
„Welch herrliche Gegend. Die gute Luft. Die Vögel zwitschern. Frühlingserwachen. Ach, ich vermisse hier nichts, schon gar nicht die Politik!“
So und ähnlich und immerfort sprudelte es aus ihm heraus. Er wirkte wie befreit von etwas. Kann aber auch sein, dass er uns oder sich selbst etwas vormachte. Befreiung und Erlösung, Vorspiegelung und Vortäuschung, wer wusste das schon. Schwertlein war psychologisch eine harte Nuss. Ich wusste wirklich nicht, ob ich die knacken würde. Samira, der Krankenschwester aus Bogenhausen, gefiel Schwertleins Sprachdiarrhoe. Sie verbesserte daran ihr Deutsch.
„Herr Ministerpräsident, was machen Vogel?“
„Die Vögel zwitschern“, deklamierte dann Schwertlein. „Sie zwitschern.“
Samira amüsierte sich. Zwitschern war tagelang ihr Lieblingswort, vor allem, wenn Schwertlein es aussprach. Er war ja auch rhetorisch eine Naturbegabung. Keiner konnte so pointiert, so geschliffen, so schneidend scharf, aber auch so sanft, einfühlsam und fast lyrisch reden wie er. Ohne dieses Talent wäre er wohl auch nicht Politiker geworden. Samira jedenfalls fand ihn, wenn er „zwitschern“ sagte, „soo süß.“ Das gestand sie aber nur mir, nehme ich mal an. Übrigens hatte Dr. Schwertlein vehement darauf bestanden, dass Samira zu seiner Betreuung mitkommt. Es war aber auch das einzige Zugeständnis, das er der Berggrün abringen konnte.
Frau Samira Nazari war vor einem Jahr nach Deutschland gekommen, mit neunzehn Jahren. „Nach Deutschland gekommen“, klingt vielleicht wie „ist von Damaskus nach München mit Lufthansa eingereist“. So war es natürlich nicht. Über ihren langen, mühseligen und kostspieligen Fluchtweg von Syrien über die Türkei und Südosteuropa, übrigens zusammen mit einem Teil ihrer Familie, hat sie mir später erzählt, auch dass sie ihre Mutter und ihre kleine Schwester zurücklassen musste und nun sehr vermisst. Samira hatte schon in ihrer Heimatstadt Homs in der Krankenpflege gearbeitet. Den Job in der Münchner Klinik empfand sie als Glücksfall. Auf meine scheinheilige Frage, ob sie auch den Betreuungsdienst beim Herrn Ministerpräsidenten als Glücksfall ansähe, lächelte sie nur. Sie hatte schon ein bezauberndes Lächeln. Strahlend wie die Sonne und tief wie die Geheimnisse des Orients, hätte Schwertlein wohl in einem seiner poetischen Momente gesagt. Vielleicht hat er es auch. War Schwertlein verliebt? Ein bisschen schon, aber ein klein bisschen waren wir es alle, auch der Herr Regierungsrat Florian Ziegler, ein junger Jurist und persönlicher Referent des Ministerpräsidenten, und sogar der Hausmeister. Der Regierungsrat Ziegler machte ansonsten nicht den Eindruck, dass er an amourösen Abenteuern besonders interessiert wäre. Wie eine Fliege schwirrte er ständig um seinen Herrn und Meister, reichte ihm eine Unterschriftenmappe hier, den Regenmantel da, immer zu Diensten, immer agil, man könnte auch sagen: servil. Unsympathisch erschien er mir trotzdem nicht. Bei allem beflissenen und untertänigen Getue gegenüber Schwertlein war er doch freundlich zu uns, lächelte viel, vor allem dann, wenn er nicht recht wusste, wie er mit uns umgehen sollte, ob eher locker kollegial wie ein guter Kumpel oder eher streng verbindlich wie ein kleiner Vorgesetzter, wo doch sein Chef der große Ministerpräsident war. Nett und kameradschaftlich stand ihm besser. Zum Vorgesetzten fehlte ihm die Statur. Dazu war er zu ungelenk, und sein pausbäckiges Gesicht mit der Drahtbrille und den Wuschelhaaren knapp darüber verrieten halt doch sein junges Alter.
Der auch leicht verliebte, überaus nette Hausmeister, Herr Sebastian Fiegl, und die Köchin, Frau Anna Graf, bildeten das „Wirtschafts- und Küchenpersonal“, das uns versprochen worden war. Frau Graf kochte hervorragend, manchmal half ihre Tochter mit.
Richtig verliebt in die Samira aber war schon einer, der Tom. Er sagte bei der Vorstellung nur: „I bin der Tom.“ Der Tom war einer von den Personenschützern, die sich in ihrem Dienst abwechselten. Ein Naturbursche, sehr zurückhaltend, manchmal fast schüchtern, der Kopf fast zu klein für die große Gestalt, die Figur wie nach jahrelanger Quälerei im Fitnessstudio, nicht ganz wie der junge Schwarzenegger, aber doch so kräftig, dass er in seine Dienstuniform, sprich in seine dunklen Anzüge, so gerade noch reinpasste. Er sah fesch aus. Seine Stirn hatte sich allerdings schon weit nach oben in Richtung des schütteren kurzen Haares ausgedehnt. Das machte ihn älter. Dabei war er noch jünger als Ziegler, so Ende zwanzig. Rührend anzusehen, wie Tom der jungen Frau den Hof machte. „Samira, darf ich dir noch ein Glas Wasser einschenken?“ Seine Augen leuchteten dazu, als würde er einen Verlobungsring aus der Tasche ziehen und sagen: „Darf ich dir diesen kleinen Ring schenken?“ Aber er war ja schüchtern und die Samira freundlich reserviert. Andererseits, was heißt das schon auf Dauer?
Martin Schwertlein übernahm vom ersten Tag an das Kommando, dafür hatte er auch seine Schiffskommandobrücke. Das Entrée der Villa weitete sich nämlich zu einer geräumigen Diele mit einer geschwungenen Treppe, die auf eine Galerie hinaufführte. Das Treppengeländer setzte sich oben in einer Balustrade mit weißen gedrechselten Stäben fort. Dort auf der Galerie, den Handlauf fest im Griff, stand er wie ein Kapitän, um Befehle zu erteilen oder auch nur versonnen über uns hinwegzublicken. Entweder suchte er das weite Meer oder den nahen See oder seine politische Bestimmung. Ich nahm mir vor, auch das zu erfragen.
Vorerst kündigte er an, eine Ansprache an sein Volk halten zu wollen. Na gut, er sagte, er möchte eine Videobotschaft an alle Mitbürgerinnen und Mitbürger aufnehmen und Ziegler solle dafür sorgen, dass sie überall gesendet wird.
Die Botschaft geriet, kein Wunder, ziemlich lang und weit ausholend. Sie begann so:
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, es ist mir – als Ihr Ministerpräsident – ein großes Bedürfnis, Sie aus meinem erzwungenen Urlaub in Frankreich herzlich zu grüßen.“
Das „erzwungen“ war natürlich eine kleine Spitze gegen seine Stellvertreterin, sollte aber wohl bedeuten, dass er viel lieber seinem bedeutsamen politischen Amt nachginge als hier sich auskurieren zu müssen.
„Sie sehen“, fuhr er fort, „meine Platzwunde am Kopf ist verheilt und ich bin eigentlich schon komplett wiederhergestellt. Es drängt mich, möglichst bald wieder Ihnen und unserem geliebten Bayernland dienen zu können.“
Die Berggrün wird sich bei diesen Worten ihr schönes Wellenhaar zerzaust haben. Kann der Kerl nicht einfach zwei Wochen stilvoll abtauchen und seinen Mund halten! Anschließend wurde es in Schwertleins Ansprache dann unverdächtiger. Er schilderte die herrliche französische Landschaft, die er hier genieße, die Hügel, die Bäume und Wiesen und die singenden Vögel und dort in der Ferne glitzerndes Wasser. „Ach so erholsam!“ Schon toll, wie er unsere oberbayerische Umgebung am