Die Fährte - Jo Nesbø - E-Book

Die Fährte E-Book

Jo Nesbø

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Beschreibung

Der Osloer Kriminalbeamte Harry Hole jagt einen Bankräuber, der während eines Überfalls scheinbar grundlos eine junge Angestellte erschoss. Da wird er selbst in einen Mordfall verwickelt: seine ehemalige Geliebte wird tot aufgefunden, und Harry ist der Letzte, der sie lebend sah. Er gerät nun selbst unter Mordverdacht und muss untertauchen, um auf eigenen Faust weiterermitteln zu können. Eine heiße Fährte führt in bis nach Südamerika. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Das Buch

Zwei ungewöhnliche Mordfälle setzen Harry Hole unter Druck: Bei einem Bankraub in Oslo wird eine junge Angestellte von dem maskierten Täter kaltblütig und grundlos erschossen. Harry fällt es schwer zu begreifen, dass ein offensichtlicher Profiverbrecher sich plötzlich von sadistischen Emotionen leiten lassen soll. Die Ermittlungen gestalten sich ausgesprochen schwierig und werden jäh unterbrochen, als Harry selbst in einen Mord verwickelt wird: Er trifft seine alte Liebe Anna wieder, die ihn zu sich einlädt. Am nächsten Tag wacht er in seiner eigenen Wohnung auf und kann sich an nichts erinnern. Als Harry erfährt, dass Anna tot ist, wird ihm klar, dass er sie wohl als Letzter lebend gesehen hat. Bevor er sich's versieht, gerät er unter Mordverdacht und muss untertauchen, um auf eigene Faust weiterermitteln zu können. Eine heiße Fährte führt ihn schließlich bis nach Südamerika.

Der Autor

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Bereits sein Debüt Der Fledermausmann wurde in Norwegen als »Bester Kriminalroman des Jahres« ausgezeichnet und mit Rotkehlchen gelang ihm international der Durchbruch. Jo Nesbø ist mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt und der erfolgreichste Autor Norwegens. Er lebt in Oslo.

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:

Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)Fährte (Harry Holes 4. Fall)Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)Erlöser (Harry Holes 6. Fall)Schneemann (Harry Holes 7. Fall)Leopard (Harry Holes 8. Fall)Larve (Harry Holes 9. Fall)Koma (Harry Holes 10. Fall)Durst (Harry Holes 11. Fall)Messer (Harry Holes 12. Fall)

Außerdem:

HeadhunterDer SohnBlood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck

Jo Nesbø

Fährte

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein.de

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage März 2006

10. Auflage 2010

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2002 by Jo Nesbø

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der norwegischen Originalausgabe:

Sorgenfri (H. Aschhoug & Co., Oslo)

ISBN 978-3-548-92081-8

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Titelabbildung: © Archiv Büro Jorge Schmidt (Hintergrund); Shutterstock / © Le Panda (Ausfransung); Getty Images / © Lillian Tveit (Möwe)

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

Teil 1

Kapitel 1

Der Plan

Ich muss sterben. Aber das macht keinen Sinn. So war das doch nicht geplant, jedenfalls nicht von mir. Kann sein, dass ich schon die ganze Zeit auf diesem Weg war – ohne es zu wissen. Aber mein Plan war das nicht. Mein Plan war besser. Mein Plan hatte einen Sinn.

Ich starre in die Mündung der Waffe und weiß, dass er von dort kommen wird. Der Bote des Todes. Der Fährmann. Zeit für ein letztes Lachen. Wenn du Licht am Ende des Tunnels siehst, kann das durchaus auch eine Stichflamme sein. Zeit für eine letzte Träne. Wir hätten etwas aus diesem Leben machen können, du und ich. Wenn wir uns an den Plan gehalten hätten. Ein letzter Gedanke. Alle fragen, was der Sinn des Lebens ist, aber niemand schert sich um den Sinn des Todes.

Kapitel 2

Der Astronaut

Der alte Mann ließ Harry an einen Astronauten denken. Die komischen kurzen Schritte, die steifen Bewegungen, der schwarze, tote Blick und die unablässig über das Parkett schleifenden Schuhsohlen. Als habe er Angst, den Bodenkontakt zu verlieren und zu entschweben, in die Weite des Weltraums.

Harry warf einen Blick auf die Uhr an der weißen Wand über der Ausgangstür. 15.16 Uhr. Vor dem Fenster, auf dem Bogstadvei, hasteten die Menschen in ihrer Freitagshektik vorbei. Die tief stehende Oktobersonne wurde vom Außenspiegel eines Autos reflektiert, das sich in der Schlange der Autos vorwärts bewegte.

Harry hatte sich auf den alten Mann konzentriert. Hut und grauer, eleganter Mantel, der allerdings mal wieder gereinigt werden könnte. Darunter eine Tweedjacke, Schlips und abgetragene, graue Hosen mit messerscharfer Bügelfalte. Blank gewienerte Schuhe mit abgelaufenen Sohlen. Einer dieser Rentner, von denen der Stadtteil Majorstua anscheinend so dicht bevölkert war. Das war keine Vermutung. Harry wusste, dass August Schultz 81 Jahre alt war, früher in einer Herrenkonfektion gearbeitet hatte und sein ganzes Leben in Majorstua gelebt hatte, außer im Krieg, den er in einer Baracke in Auschwitz überlebt hatte. Die steifen Knie rührten von einem Sturz auf der Fußgängerüberführung über die Ringstraße, die er bei seinen täglichen Besuchen bei seiner Tochter überqueren musste. Der Eindruck einer mechanischen Puppe wurde durch die Haltung der Arme verstärkt. Er hielt sie angewinkelt, und die Unterarme ragten waagerecht nach vorn. Über dem rechten Unterarm hing ein brauner Spazierstock, und die linke Hand umklammerte einen Überweisungsvordruck, den er bereits dem jungen, kurzhaarigen Angestellten hinter dem Schalter 2 entgegenstreckte. Harry konnte das Gesicht des Bankangestellten nicht sehen, wusste aber, dass er den alten Mann mit einer Mischung aus Mitleid und Verärgerung anstarrte.

Es war 15.17 Uhr, als August Schultz endlich an der Reihe war. Harry seufzte.

An Schalter 1 saß Stine Grette und zählte 730 Kronen für einen Jungen mit Zipfelmütze ab, der ihr soeben eine Zahlungsanweisung gegeben hatte. Der Diamant an ihrem linken Ringfinger blitzte mit jedem Schein, den sie auf den Tisch legte.

Obgleich sie nicht in seinem Blickfeld war, wusste Harry, dass sich rechts neben dem Jungen vor Schalter 3 eine Frau mit einem Kinderwagen befand, den sie, vermutlich in Gedanken, hin und her bewegte, denn das Kind schlief. Die Frau wartete darauf, von Frau Braenne bedient zu werden, die ihrerseits mit lauter Stimme einem Mann am Telefon erklärte, dass er nicht per Bankeinzug bezahlen könne, ohne dass der Empfänger das bestätigt habe, und dass schließlich sie es sei, die in der Bank arbeite und nicht er, und sie deshalb vielleicht jetzt endlich diese Diskussion beenden könnten?

Im gleichen Augenblick ging die Tür der Bankfiliale auf und zwei Männer, ein großer und ein kleiner, bekleidet mit identischen, dunklen Overalls, betraten rasch den Raum. Stine Grette blickte auf. Harry sah auf seine Uhr und begann zu zählen. Die Männer hasteten zu dem Schalter, an dem Stine Grette saß. Der Große bewegte sich so, als steige er über Pfützen, während der Kleine den schaukelnden Gang eines Mannes hatte, der sich mehr Muskeln antrainiert hatte, als sein Körper tragen konnte. Der Junge mit der blauen Zipfelmütze drehte sich langsam um und ging auf den Ausgang zu. Er war so beschäftigt damit, sein Geld zu zählen, dass er die zwei gar nicht bemerkte.

»Hallo«, sagte der Große an Stine gerichtet, trat vor und knallte einen schwarzen Koffer vor ihr auf den Tresen. Der Kleine schob sich seine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase zurecht, ging vor und stellte einen identischen Koffer daneben. »Geld!«, piepste er mit hoher Stimme. »Mach die Tür auf!«

Es war, als hätte jemand auf einen Pausenknopf gedrückt: Alle Bewegungen in der Bankfiliale erstarrten. Einzig der Verkehr draußen vor der Tür verriet, dass die Zeit nicht stillstand. Und der Sekundenzeiger auf Harrys Uhr, der jetzt anzeigte, dass zehn Sekunden vergangen waren. Stine drückte auf einen Knopf unter ihrem Schalter. Ein elektronisches Summen ertönte und der Kleine schob die niedrige Schwingtür ganz am Rand der Filiale mit dem Knie auf.

»Wer hat die Schlüssel?«, fragte er. »Schnell, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«

»Helge!«, rief Stine über ihre Schulter.

»Was?« Die Stimme drang aus dem einzigen Büroraum der Filiale, dessen Tür offen stand.

»Wir haben Besuch, Helge!«

Ein Mann mit Fliege und Lesebrille kam zum Vorschein.

»Du sollst den Geldautomaten öffnen, Helge!«, sagte Stine.

Helge Klementsen starrte dumpf auf die beiden Männer mit den Overalls, die jetzt beide auf der Innenseite der Schalter waren. Der Große sah nervös zur Eingangstür, während der Kleine den Filialleiter anstarrte.

»Ja, ja, natürlich«, stammelte Klementsen, als erinnere er sich plötzlich an eine alte Abmachung, und brach in lautes, hektisches Lachen aus.

Harry rührte sich nicht, nur seine Augen sogen jedes Detail von Bewegung und Mimik ein. Fünfundzwanzig Sekunden. Er blickte noch immer auf die Uhr über der Tür, doch aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie der Filialleiter den Geldautomaten von innen öffnete, zwei längliche Metallkassetten mit Geldscheinen herauszog und sie den zwei Männern übergab. Das Ganze lief schnell und leise ab. Fünfzig Sekunden.

»Die sind für dich, Vater!« Der Kleine hatte zwei identische Metallkassetten aus dem Koffer gezogen, die er Helge Klementsen entgegenstreckte. Der Filialleiter schluckte, nickte und schob sie in den Geldautomaten.

»Ein schönes Wochenende!«, sagte der Kleine, richtete sich auf und ergriff den Koffer. Anderthalb Minuten.

»Nicht so schnell«, sagte Helge.

Der Kleine erstarrte.

Harry sog die Wangen ein und versuchte, sich zu konzentrieren.

»Die Quittung ...«, sagte Helge.

Einen langen Augenblick starrten die beiden Männer auf den kleinen, grauhaarigen Filialleiter. Dann begann der Kleine zu lachen. Ein hohes, dünnes Lachen mit schrillem, hysterischem Oberton, als wäre er auf Speed. »Du glaubst doch nicht, dass wir ohne Unterschrift gegangen wären? Wer gibt schon zwei Millionen ab, ohne sich das bestätigen zu lassen!«

»Nun«, sagte Helge Klementsen. »Einer von euch hätte das letzte Woche fast vergessen.«

»Es sind zurzeit so viele Frischlinge auf den Geldtransportern«, sagte der Kleine, während er und Klementsen unterschrieben und gelbe und rosa Formulare austauschten.

Harry wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ehe er wieder auf die Uhr blickte. Zwei Minuten und zehn Sekunden.

Durch das Glas in der Tür konnte er den weißen Kastenwagen mit dem Emblem der Nordea-Bank wegfahren sehen.

In der Bank wurden die Gespräche wieder aufgenommen.

Harry brauchte nicht zu zählen, tat es aber dennoch. Sieben. Drei hinter den Schaltern und drei davor, wobei er das Baby und den Typ in den Zimmermannshosen mitgerechnet hatte, der soeben in die Bank gekommen und an den Tisch in der Mitte der Bank getreten war, um seine Kontonummer auf einen Einzahlungsschein zu schreiben, der, wie Harry erkannt hatte, von der Firma Saga Sonnenreisen stammte.

»Wiedersehen«, sagte August Schultz und begann seine Füße in Richtung Ausgangstür zu schieben.

Es war jetzt genau 15.21 Uhr und zehn Sekunden, und erst jetzt fing alles richtig an.

Als sich die Tür öffnete, sah Harry Stine Grettes Kopf kurz nach oben wippen, ehe sie sich wieder auf die Papiere vor sich konzentrierte. Dann hob sie ihren Kopf wieder, dieses Mal langsamer. Harry blickte zur Eingangstür. Der Mann, der in die Bank gekommen war, hatte bereits den Reißverschluss seines Overalls geöffnet und ein schwarz-olivgrünes G3-Gewehr gezückt. Eine marineblaue Sturmhaube verdeckte mit Ausnahme der Augen sein ganzes Gesicht. Harry begann erneut von null zu zählen.

Wie bei einer Muppets-Puppe begann sich die Sturmhaube dort zu bewegen, wo sich der Mund befinden musste: »This is a robbery. Nobody moves.«

Er hatte nicht laut gesprochen, doch wie nach einem donnernden Kanonenschlag waren alle Geräusche in der kleinen Bankfiliale verstummt. Harry blickte zu Stine. Durch das ferne Rauschen der Autos war das glatte Klicken geölter Waffenteile zu hören, als der Mann den Ladegriff betätigte. Ihre linke Schulter sank kaum merkbar nach unten.

Mutiges Mädchen, dachte Harry. Oder einfach nur zu Tode erschrocken. Aune, der Psychologieprofessor an der Polizeischule, hatte gesagt, dass die Menschen zu denken aufhören und beinahe wie vorprogrammiert handeln, wenn die Angst nur groß genug ist. Die meisten Bankangestellten lösen den stillen Alarm wie im Schock aus, hatte Aune behauptet und seine Aussage damit belegt, dass sie sich hinterher bei den Befragungen nicht mehr erinnern konnten, ob sie den Alarm ausgelöst hatten oder nicht. Sie liefen auf Autopilot. Genau wie ein Bankräuber, der sich vorher eingebläut hat, alle zu erschießen, die ihn aufzuhalten versuchen, sagte Aune. Je ängstlicher ein Bankräuber ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er sich von seinem Vorhaben abbringen lässt. Harry bewegte sich nicht. Er versuchte nur, die Augen des Bankräubers zu erkennen. Blau.

Der Mann nahm seinen schwarzen Rucksack ab und warf ihn zwischen dem Geldautomaten und dem Mann mit den Zimmererhosen auf den Boden. Die Spitze des Kugelschreibers ruhte noch immer auf dem letzten Bogen der Acht. Der schwarz gekleidete Mann ging die sechs Schritte zu der niedrigen Schaltertür, setzte sich auf den Rand und schwang seine Beine hinüber. Dann stellte er sich hinter Stine, die still dasaß und den Blick nach vorne gerichtet hatte. Gut, dachte Harry. Sie hält sich an die Anweisungen und provoziert keine Reaktion, indem sie den Räuber anstarrt.

Der Mann richtete den Lauf des Gewehres auf Stines Nacken, beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Noch hatte sie keine Panik, doch Harry konnte erkennen, wie sich ihre Brust hob und senkte. Ihr dünner Körper schien unter der weißen und mit einem Mal engen Bluse nicht genug Luft zu bekommen. Fünfzehn Sekunden.

Sie räusperte sich. Einmal. Zweimal. Dann brachten ihre Stimmbänder endlich Töne hervor:

»Helge. Die Schlüssel für den Geldautomaten.« Die Stimme war leise und heiser, sie hatte nichts mehr mit der Stimme zu tun, die noch vor drei Minuten die beinahe gleichen Worte gesprochen hatte.

Harry sah ihn nicht, wusste aber, dass Helge Klementsen die ersten Worte des Bankräubers gehört hatte und bereits in der Bürotür stand.

»Schnell, sonst...« Ihre Stimme war kaum hörbar, und in der Pause, die folgte, war das Schleifen von August Schultz' Schuhsohlen auf dem Parkett das einzige hörbare Geräusch – wie ein paar Jazzbesen, die in einem unglaublich langsamen Shuffle über die Haut der Trommel geführt wurden. »... erschießt er mich.«

Harry sah aus dem Fenster. Vermutlich stand irgendwo dort draußen ein Auto mit laufendem Motor, doch von dort, wo er stand, konnte er nichts sehen. Nur Autos und Menschen, die mehr oder weniger unbekümmert vorbeigingen.

»Helge ...«Ihre Stimme klang flehend.

Los, Helge, dachte Harry. Harry wusste auch einiges über den alternden Filialleiter. Er wusste, dass er zwei Königspudel hatte, eine Frau und eine kürzlich erst sitzen gelassene schwangere Tochter, die zu Hause auf ihn warteten. Dass sie gepackt hatten und nur darauf warteten, in ihre Hütte in den Bergen zu fahren, sobald Helge Klementsen nach Hause kam. Dass Klementsen sich jetzt aber wie in einem Traum unter Wasser fühlte, in dem alle Bewegungen unendlich verlangsamt werden, so sehr man sich auch beeilte. Dann tauchte er in Harrys Blickfeld auf. Der Bankräuber hatte Stines Stuhl herumgedreht, so dass er hinter ihr stand, den Blick auf Helge Klementsen gerichtet. Wie ein ängstliches Kind, das ein Pferd füttern soll, stand Klementsen nach hinten gebeugt da, wobei er die Hand mit dem Schlüsselbund so weit wie nur möglich nach vorne streckte. Es waren vier Schlüssel daran. Der Bankräuber flüsterte Stine ins Ohr, während er die Waffe auf Klementsen richtete, der zwei unsichere Schritte nach hinten taumelte.

Stine räusperte sich: »Er sagt, dass du den Geldautomaten öffnen und die neuen Scheine in den schwarzen Rucksack packen sollst.«

Helge Klementsen starrte wie hypnotisiert auf das auf ihn gerichtete Gewehr.

»Du hast fünfundzwanzig Sekunden. Dann schießt er. Auf mich, nicht dich.«

Klementsens Mund öffnete und schloss sich, als wollte er etwas sagen.

»Los, Helge«, rief Stine. Der Türöffner summte und Helge Klementsen trat in den Tresorraum.

Dreißig Sekunden waren vergangen, seit der Bankräuber die Filiale betreten hatte. August Schultz hatte die Ausgangstür jetzt fast erreicht. Der Filialleiter kniete sich vor dem Geldautomaten hin und starrte auf den Schlüsselbund. Es waren vier Schlüssel daran.

»Noch zwanzig Sekunden«, ertönte Stines Stimme.

Die Polizeiwache von Majorstua, dachte Harry. Jetzt waren sie auf dem Weg zu den Autos. Acht Blöcke. Rushhour.

Mit zitternden Fingern suchte Helge Klementsen einen Schlüssel aus und steckte ihn ins Schlüsselloch. Auf halbem Weg blieb er stecken. Helge Klementsen drückte fester.

»Siebzehn.«

»Aber ...«, begann er.

»Fünfzehn.«

Helge Klementsen zog den Schlüssel wieder heraus und versuchte einen anderen. Dieser ließ sich ins Schloss stecken, doch er konnte ihn nicht drehen.

»Herrgott noch mal...«

»Dreizehn. Der mit dem grünen Kleber, Helge!« Helge Klementsen starrte auf den Schlüsselbund, als hätte er ihn noch niemals zuvor gesehen. »Elf.«

Der dritte Schlüssel passte. Helge Klementsen öffnete die Tür und drehte sich zu Stine und dem Räuber um.

»Ich muss noch ein Schloss öffnen, um die Kassette herauszu...«

»Neun!«, rief Stine.

Ein Schluchzen entwich Klementsen, der jetzt wie ein Blinder mit den Fingern über die Zacken der Schlüssel fuhr, als könnten ihm diese wie Blindenschrift verraten, welcher Schlüssel der richtige war.

»Sieben.«

Harry lauschte angespannt. Noch keine Polizeisirenen. August Schultz fasste nach dem Griff der Ausgangstür. Metall klirrte, als der Schlüsselbund zu Boden fiel. »Fünf«, flüsterte Stine.

Die Tür ging auf und der Lärm der Straße drang herein. In der Ferne glaubte Harry einen vertrauten, klagenden Ton zu hören. Er fiel ab und stieg gleich darauf wieder an. Polizeisirenen. Dann schloss sich die Tür wieder.

»Zwei. Helge!«

Harry schloss die Augen und zählte bis zwei.

»Ich bin so weit!« Helge Klementsen hatte gerufen. Er hatte das zweite Schloss aufbekommen und kämpfte jetzt damit, die Kassetten herauszubekommen, die sich offensichtlich verkeilt hatten. »Ich muss nur erst das Geld herausbekommen. Ich ...«

In diesem Moment wurde er von einem schrillen Heulen unterbrochen. Harry blickte zum anderen Ende der Schalter hinüber, wo die junge Frau erschrocken den Bankräuber anstarrte, der noch immer reglos dastand und die Waffe auf Stines Nacken richtete. Die Frau blinzelte zweimal und nickte stumm in Richtung Kinderwagen, während sich das Gebrüll des Säuglings in die Höhe arbeitete.

Helge Klementsen wäre beinahe nach hinten gestürzt, als sich die erste Kassette löste. Er zog den schwarzen Rucksack zu sich, und im Laufe von sechs Sekunden waren alle Kassetten im Rucksack verstaut. Auf Kommando zog Klementsen den Reißverschluss zu und stellte sich an den Tisch. Alle Befehle wurden ihm von Stine gegeben, deren Stimme jetzt überraschend fest und ruhig klang.

Eine Minute und drei Sekunden. Der Bankraub war vorüber. Das Geld lag in einem Rucksack in der Mitte der Bank. In wenigen Sekunden würde der erste Polizeiwagen ankommen. In vier Minuten würden die anderen Polizeiwagen die nächsten Fluchtwege abgeriegelt haben. Jede Faser im Körper des Räubers musste schreien, dass es höchste Zeit war, sich jetzt abzusetzen. Und dann geschah das, was Harry nicht verstand. Es hatte ganz einfach keinen Sinn. Statt abzuhauen drehte der Bankräuber Stines Stuhl herum, so dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Er beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Harry blinzelte. Er sollte irgendwann einmal sein Sehvermögen überprüfen lassen. Aber er sah, was er sah. Dass sie den gesichtslosen Bankräuber anstarrte, während ihr eigenes Gesicht eine langsame Veränderung erfuhr, je mehr ihr die Bedeutung der Worte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte, bewusst wurden. Die schmalen, gepflegten Augenbrauen zeichneten zwei S-Bögen über die Augen, die ihr aus dem Kopf zu quellen schienen, ihre Oberlippe rollte sich nach oben, während sich ihre Mundwinkel zu einem grotesken Grinsen nach unten zogen. Das Kind hörte ebenso plötzlich zu weinen auf, wie es begonnen hatte. Harry holte tief Luft. Denn er wusste es. Das Ganze war wie ein Standbild, ein Meisterfoto. Zwei Menschen, gefangen in dem Augenblick, in dem der eine dem anderen sein Todesurteil mitgeteilt hat, das maskierte Gesicht zwei Handbreit vor dem unmaskierten. Der Henker und sein Opfer. Der Gewehrlauf zeigt auf die Halsgrube und ein kleines, goldenes Herz an einer dünnen Kette. Harry sieht ihren Puls nicht, spürt ihn aber dennoch unter ihrer dünnen Haut.

Ein gedämpftes, klagendes Geräusch. Harry spitzt die Ohren. Doch das ist keine Polizeisirene, sondern bloß das Klingeln eines Telefons im Nebenraum.

Der Bankräuber dreht sich um und sieht zur Überwachungskamera an der Decke hinter dem Schalter. Er streckt eine Hand hoch und zeigt seine fünf Finger in den schwarzen Handschuhen. Dann schließt er die Hand und streckt nur seinen Zeigefinger in die Höhe. Sechs Finger. Sechs Sekunden über der Zeit. Er dreht sich wieder zu Stine, ergreift das Gewehr mit beiden Händen, hält es an der Hüfte, hebt die Gewehrmündung, bis sie auf ihren Kopf zeigt, und spreizt die Beine, um den Rückstoß abzufangen. Das Telefon klingelt und klingelt. Eine Minute und zwölf Sekunden. Der Diamantring blinkt auf, als Stine die Hand ein wenig hebt, als wolle sie jemandem zum Abschied zuwinken.

Es ist exakt 15.22 Uhr und 22 Sekunden, als er abdrückt. Der Knall ist kurz und dumpf. Stines Stuhl wird nach hinten geworfen, während ihr Kopf wie bei einer kaputten Puppe auf dem Hals tanzt. Dann kippt der Stuhl nach hinten. Ein Schlag ist zu hören, als ihr Kopf auf der Kante des Schreibtisches aufschlägt, dann kann Harry sie nicht mehr sehen. Auch die Reklame für Nordeas neuen Rentensparplan, die an der Außenseite der Scheibe über dem Schalter klebt, hat plötzlich einen roten Hintergrund bekommen und ist nicht mehr zu erkennen. Er hört bloß das Klingeln des Telefons, wütend und eindringlich. Der Bankräuber schwingt sich über die Tür und rennt zu dem Rucksack in der Mitte des Raumes. Harry muss sich jetzt entscheiden. Der Bankräuber ergreift den Rucksack. Harry entschließt sich. Mit einem Ruck ist er aus dem Stuhl. Sechs lange Schritte. Dann ist er da. Und hebt den Hörer des Telefons ab.

»Ja.«

In der darauf folgenden Pause hört er das Geräusch der Polizeisirenen aus den Fernsehlautsprechern im Wohnzimmer, einen pakistanischen Hit aus der Nachbarwohnung und schwere Schritte draußen auf der Treppe, die auf Frau Madsen schließen lassen. Dann lacht es weich am anderen Ende. Ein Lachen aus einer fernen Vergangenheit. Nicht was die Zeit angeht, aber dennoch fern. Wie siebzig Prozent von Harrys Vergangenheit, die in unregelmäßigen Abständen als vages Gerücht oder wildeste Erfindung wie aus dem Nichts auftaucht. Aber diese Geschichte konnte er bestätigen.

»Fährst du noch immer auf dieser Macho-Schiene, Harry?«

»Anna?«

»Aber hallo, du beeindruckst mich.«

Harry spürte eine süße Wärme in seinem Inneren, fast wie Whisky. Fast. Im Spiegel sah er ein Bild, das er an die gegenüberliegende Wand geheftet hatte. Von ihm und Søs aus einem lange vergangenen Sommerurlaub in Hvitsten, als sie klein waren. Sie lächelten, wie Kinder lächeln, die noch immer glauben, dass ihnen nichts Schlimmes zustoßen kann.

»Und was machst du so an einem Sonntagabend, Harry?«

»Nun.« Harry hörte, wie seine eigene Stimme automatisch die ihre imitierte. Ein bisschen zu tief und zu zögerlich. Aber das war es nicht, was er wollte. Nicht jetzt. Er räusperte sich und fand eine etwas neutralere Klangfarbe. »Was wohl die meisten Menschen machen.«

»Und das wäre?«

»Videos gucken.«

Kapitel 3

House of Pain

»Das Video angeguckt?«

Der kaputte Bürostuhl schrie protestierend auf, als sich Polizeimeister Halvorsen nach hinten lehnte und seinen neun Jahre älteren Kollegen, Hauptkommissar Harry Hole, mit einem ungläubigen Ausdruck auf seinem jungen, unschuldigen Gesicht anstarrte.

»Ja, natürlich«, sagte Harry und fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen über die dünne, schlaffe Haut unter seinen blutunterlaufenen Augen.

»Das ganze Wochenende?«

»Von Samstagvormittag bis Sonntagabend.«

»Hattest du dann wenigstens Freitagabend ein bisschen Spaß?«, fragte Halvorsen.

»Ja.« Harry zog eine blaue Mappe aus seiner Manteltasche und legte sie auf seinen Schreibtisch, der Kopf an Kopf mit dem von Halvorsen stand. »Ich habe mir die Verhörprotokolle durchgelesen.«

Aus der anderen Manteltasche zog Harry eine graue Tüte mit French-Colonial-Kaffee. Er und Halvorsen teilten sich das vorletzte Büro der roten Zone in der sechsten Etage des Polizeipräsidiums von Oslo-Grønland. Vor zwei Monaten hatten sie gemeinsam eine Rancilio-Silvio-Espressomaschine gekauft, die einen Ehrenplatz auf dem Archivschrank bekommen hatte. Darüber hing das Foto einer jungen Frau, die ihre Beine auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ihr sommersprossiges Gesicht schien eine Grimasse machen zu wollen, war dann aber von Lachen übermannt worden. Im Hintergrund sah man die gleiche Bürowand, an der jetzt das Bild hing.

»Wusstest du, dass drei von vier Polizisten nicht einmal das Wort ›uninteressant‹ buchstabieren können?«, fragte Harry und hängte seinen Mantel an die Garderobe. »Entweder schreiben sie es ohne ›e‹ zwischen dem ›t‹ und dem ›r‹, oder ...«

»Interessant.«

»Was hast du am Wochenende gemacht?«

»Freitag habe ich in einem Auto vor der amerikanischen Botschafterwohnung gehockt. Wir hatten doch diese anonyme Autobombendrohung von irgendeinem Idioten. Natürlich falscher Alarm, aber zurzeit sind ja alle so hypersensibel, dass wir den ganzen Abend da hocken mussten. Samstag habe ich dann wieder versucht, die Frau meines Lebens zu finden, und Sonntag bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es sie nicht gibt. Was ist bei den Verhören über den Bankräuber rausgekommen?« Halvorsen dosierte den Kaffee in einen Doppelfilter.

»Nada«, sagte Harry und zog sich den Pullover aus. Darunter trug er ein koksgraues T-Shirt, das einmal schwarz gewesen sein musste, mit der beinahe vollkommen verwaschenen Aufschrift »Violent Femmes«. Mit einem Stöhnen sank er in seinen Bürostuhl. »Es hat sich niemand gemeldet, der den Gesuchten vor dem Überfall in der Nähe der Bank gesehen hat. Ein Typ ist aus dem 7-Eleven auf der anderen Seite des Bogstadvei gekommen und hat den Bankräuber die Industrigata hinauflaufen sehen. Er ist ihm wegen der Sturmhaube aufgefallen. Die Überwachungskamera außerhalb der Bank zeigt sie beide, als der Bankräuber den Zeugen vor dem Container neben dem 7-Ele-ven passiert. Das Einzige, was der Zeuge uns berichten konnte, und was wir noch nicht von der Kameraaufzeichnung wussten, ist, dass der Bankräuber bei seiner Flucht über die Industrigata zweimal die Straßenseite gewechselt hat.«

»Ein Typ, der sich nicht entscheiden kann, welche Straßenseite er nehmen soll. Für mich hört sich das ziemlich uninteressant an.« Halvorsen platzierte den Doppelfilter in der Maschine. »Also mit ›e‹ und zwei ›s‹.«

»Du weißt wohl nicht viel über Bankräuber, Halvorsen?«

»Warum sollte ich? Wir sind für die Mörder zuständig. Sollen sich doch die Provinzler aus der Hedmark um die Räuber kümmern.«

»Hedmark?«

»Ist dir das im Raubdezernat noch nicht aufgefallen? Überall Dialekt und Strickjacken. Also, was ist der Clou an der Sache?«

»Der Clou ist Victor.«

»Die Hundepatrouille?«

»Die sind in der Regel mit als Erste am Tatort. Ein erfahrener Bankräuber weiß das. Ein guter Hund kann einen Räuber verfolgen, der zu Fuß durch die Stadt flieht, aber wenn er die Straße überquert und ein Auto über seine Spuren fährt, verliert der Hund die Spur.«

»Und dann?« Halvorsen presste den Kaffee mit dem Stempel nach unten und glättete die Oberfläche, indem er die flache Metallscheibe hin und her bewegte, was, wie er selbst meinte, die Profis von den Amateuren unterschied.

»Das nährt den Verdacht, dass wir es mit einem erfahrenen Bankräuber zu tun haben. Und allein diese Tatsache reicht für die Annahme aus, dass unser möglicher Täterkreis dramatisch kleiner ist, als er es sonst wäre. Der Chef vom Raubdezernat hat mir gesagt, dass ...«

»Ivarsson? Ich dachte, ihr redet nicht so oft miteinander?«

»Tun wir auch nicht, er hat zu der Sonderkommission gesprochen, zu der ich gehöre. Und in diesem Zusammenhang hat er gesagt, dass das Milieu in Olso nur knapp hundert Personen umfasst. Fünfzig davon sind so doof, zugedröhnt oder mental kaputt, dass sie fast jedes Mal geschnappt werden. Die Hälfte davon sitzt ein, die können wir also vergessen. Vierzig sind gute Handwerker, die unterzutauchen wissen, wenn ihnen jemand bei der Planung geholfen hat. Und dann gibt es noch zehn echte Profis, die sich an Geldtransporter oder Großbanken wagen, bei denen brauchen wir richtig Glück, um sie zu überführen. Bei diesen zehn versuchen wir, ihren Aufenthaltsort immer zu kennen. Ihre Alibis werden heute überprüft.« Harry warf einen Blick zu Silvia, die vom Archivschrank fauchte. »Und dann habe ich am Samstag mit Weber von der Spurensicherung gesprochen.«

»Ich dachte, Weber sei diesen Monat pensioniert worden.«

»Da hat sich jemand verrechnet, das ist erst im Sommer.«

Halvorsen lachte. »Dann hat er jetzt wohl noch schlechtere Laune als sonst.«

»Jau«, sagte Harry, »aber nicht deshalb. Er und seine Leute haben nichts, aber auch gar nichts gefunden.«

»Gar nichts?«

»Keinen einzigen Fingerabdruck, kein Haar, nicht einmal eine Faser von seiner Kleidung. Und der Abdruck seiner Schuhe zeigt uns natürlich, dass die nagelneu waren.«

»So dass man das Muster der Sohlen-Abnutzung nicht mit seinen anderen Schuhen vergleichen kann.«

»Ko-rrekt«, sagte Harry mit Betonung auf dem »o«.

»Und die Tatwaffe?«, fragte Halvorsen, während er eine der Kaffeetassen zu Harrys Schreibtisch balancierte. Als er aufblickte, bemerkte er, dass Harry die linke Augenbraue bis zu seinem blonden Haaransatz hochgezogen hatte. »Sorry, Mordwaffe?«

»Danke, nicht gefunden.«

Halvorsen setzte sich an seinen Schreibtisch und nippte an seinem Kaffee. »Kurz gesagt ist da also ein Mann am helllichten Tage in eine gut besuchte Bank der norwegischen Hauptstadt marschiert, hat zwei Millionen eingesteckt und eine Frau ermordet und ist dann über eine nicht so bevölkerte, aber dennoch gut frequentierte Straße nur wenige hundert Meter von der nächsten Polizeiwache entfernt davonspaziert. Und wir, die professionell bezahlten königlichen Polizeikräfte, haben nichts?«

Harry nickte langsam. »Fast. Wir haben das Video.«

»Das du jetzt, wie ich dich kenne, Sekunde für Sekunde auswendig kennst.«

»Hm, jede Zehntelsekunde, denke ich.«

»Und die Zeugenaussagen kannst du vermutlich Satz für Satz zitieren?«

»Nur die von August Schultz. Er hat viel Interessantes über den Krieg erzählt. Er hat die Namen seiner Konkurrenten aus der Herrenmode aufgezählt, alles so genannte gute Norweger, die dann während des Krieges das Eigentum seiner Familie konfisziert haben. Er wusste exakt, was die jetzt alle so treiben. Aber, tja, dass da ein Bankraub abgelaufen ist, hat er nicht mitbekommen.«

Schweigend tranken sie den Rest ihres Kaffees. Regen klatschte an die Scheibe.

»Du magst dieses Leben, oder?«, fragte Halvorsen plötzlich. »Das ganze Wochenende allein in deiner Bude zu hocken und Gespenster zu jagen.«

Harry lächelte, gab aber keine Antwort.

»Ich dachte, du hättest mit deiner Eigenbrötlerei aufgehört, jetzt, da du familiäre Verpflichtungen hast!«

Harry sah warnend zu seinem jüngeren Kollegen hinüber. »Ich weiß nicht, ob man das so sehen sollte«, sagte er langsam. »Wir wohnen ja noch nicht einmal zusammen, weißt du.«

»Nein, aber Rakel hat einen kleinen Sohn, und das ändert doch wohl einiges, oder?«

»Oleg«, sagte Harry und schob sich zum Archivschrank. »Sie sind am Freitag nach Moskau geflogen.«

»Ach ja?«

»Ein Rechtsstreit. Der Kindsvater will das Sorgerecht.«

»Ach ja, stimmt. Was ist das eigentlich für ein Typ?«

»Nun.« Harry richtete seinen Blick auf das Bild über der Kaffeemaschine. Es hing etwas schief. »Er ist ein Professor, den Rakel in ihrer Zeit in Moskau kennengelernt und dann geheiratet hat. Er stammt aus einer alten, steinreichen Familie mit großem politischem Einfluss.«

»Dann kennen die womöglich auch ein paar Richter?«

»Bestimmt, aber wir glauben, es wird schon gutgehen. Der Vater ist wirklich verrückt, und das ist allgemein nicht unbekannt. Intelligenter Alki mit verminderter Impulskontrolle, du kennst diese Typen.«

»Ich glaube schon.«

Harry blickte abrupt auf und sah gerade noch, wie Halvorsen sich das Lächeln von den Lippen wischte.

Es war im Präsidium allgemein bekannt, dass Harry Alkoholprobleme hatte. Alkoholismus allein ist noch kein Kündigungsgrund für einen Polizeibeamten, wohl aber, betrunken im Dienst zu erscheinen. Nach Harrys letztem Zusammenbruch hatten sie in den oberen Etagen versucht, ihn zu kündigen, doch der Chef des Dezernats für Gewaltverbrechen, Polizeiabteilungschef Bjarne Møller, hatte wie üblich seine schützende Hand über Harry gehalten und die speziellen Umstände zur Sprache gebracht, die zu seinem Zusammenbruch geführt hatten. Nämlich dass das Mädchen auf dem Bild über der Espressomaschine – Ellen Gjelten, Harrys Partnerin und enge Freundin – mit einem Baseballschläger auf einem Weg am Akerselva-Fluss erschlagen worden war. Harry hatte wieder Boden unter die Füße bekommen, doch der Verlust von Ellen war eine Wunde, die ihn noch immer schmerzte. Insbesondere da die Sache nach Harrys Meinung noch immer nicht aufgeklärt war. Als Harry und Halvorsen genug Indizien gegen den Neonazi Sverre Olsen gefunden hatten, war Hauptkommissar Tom Waaler überraschend schnell bei dem Verdächtigen aufgetaucht, um ihn zu verhaften. Olsen hatte dabei einen Schuss auf Waaler abgefeuert, der das Feuer erwidert und Olsen erschossen hatte. Das Feuergefecht stand in Waalers Bericht, und weder die Funde am Tatort noch die Untersuchungen der polizeiinternen Behörde SEFO hatten andere Schlüsse erlaubt. Auf der anderen Seite war man sich nie über Olsens Motiv klargeworden. Der einzige Hinweis war, dass Olsen in den illegalen Waffenhandel verstrickt war, der Oslo in den letzten Jahren mit Handfeuerwaffen überschwemmt hatte, und dass Ellen auf seine Spur gekommen war. Doch Olsen war bloß ein Handlanger gewesen, und wer wirklich hinter der Liquidation stand, hatte die Polizei noch nicht ermittelt.

Um an dem Ellen-Gjelten-Fall zu arbeiten, hatte sich Harry nach einem kürzeren Gastaufenthalt im Polizeilichen Überwachungsdienst PÜD in der obersten Etage in das Dezernat für Gewaltverbrechen zurückversetzen lassen. Im PÜD hatte man sich nur gefreut, ihn wieder loszuwerden. Und Møller war froh, ihn zurück in der sechsten Etage zu haben.

»Ich geh hiermit nach oben zu Ivarsson ins Raubdezernat«, brummte Harry und wedelte mit der VHS-Kassette herum. »Er wollte gemeinsam mit einem neuen Wunderkind, das sie dort oben haben, einen Blick drauf werfen.«

»Oh, von wem sprichst du?«

»Eine Frau, die erst in diesem Sommer von der Polizeischule gekommen ist, sie soll drei Raubüberfälle gelöst haben, bloß indem sie sich die Videos angesehen hat.«

»Oho, sie ist hübsch, oder?«

Harry seufzte. »Ihr jungen Leute seid so schrecklich berechenbar. Ich hoffe, sie ist gut, der Rest interessiert mich nicht.«

»Bist du sicher, dass es eine Frau ist?«

»Wer weiß, vielleicht hatten Herr und Frau Lønn ja eine besondere Freude daran, ihren Sohn Beate zu nennen.«

»Ich spüre irgendwie, dass sie hübsch ist.«

»Ich hoffe nicht«, sagte Harry und duckte sich aus alter Gewohnheit, als er seine 195 Zentimeter unter dem Türrahmen hindurchbewegte.

»Ach?«

Die Antwort kam vom Flur: »Gute Polizisten sind hässlich.«

Auf den ersten Blick gab Beate Lønns Aussehen keinen Hinweis in die eine oder andere Richtung. Sie war nicht hässlich, und manch einer würde sicher sagen, dass sie ein Puppengesicht hatte. Aber der Grund dafür war vermutlich, dass alles an ihr klein war: Gesicht, Nase, Ohren, Körper. Und zuallererst war sie blass. Ihre Haut und ihre Haare waren derart farblos, dass Harry sofort an die Frauenleiche denken musste, die er und Ellen aus dem Bunnefjord gefischt hatten. Doch im Gegensatz zu der Leiche hatte Harry das Gefühl, dass er vergessen würde, wie Beate Lønn aussah, sobald er nur einen Augenblick den Raum verließ. Wogegen Beate Lønn nichts zu haben schien, denn sie murmelte nur kurz ihren Namen, während Harry ihre kleine, feuchte Hand drücken durfte, ehe sie sie schnell wieder zurückzog.

»Hole ist hier im Haus eine Art Legende, verstehst du«, sagte Dezernatsleiter Ivarsson, der ihnen den Rücken zugedreht hatte und an einem Schlüsselbund herumfingerte. Ganz oben auf der grauen Stahltür vor ihnen stand in gotischen Buchstaben: House of Pain. Und darunter: Gruppenraum 508. »Stimmt doch, Hole, oder?« Harry gab keine Antwort. Es gab keinen Zweifel, welche Art Legende Ivarsson meinte, er hatte sich nie sonderlich angestrengt, seine Meinung über Hole zu verbergen. Er hielt Harry Hole für eine Schande für die ganze Polizei, die längst hätte ausgemerzt werden sollen.

Ivarsson bekam schließlich die Tür auf, und sie traten ein. Das House of Pain war ein Spezialraum, den das Raubdezernat nutzte, um Videoaufnahmen zu studieren, zu redigieren und zu kopieren. In der Mitte des fensterlosen Raumes stand ein großer Tisch mit drei Arbeitsplätzen. Eine Wand war durch ein Regal mit Videobändern verstellt, an der anderen hingen die Steckbriefe gesuchter Räuber und an der dritten eine große Leinwand, eine Oslokarte und ein paar Trophäen erfolgreicher Festnahmen. So auch neben der Tür, wo zwei abgetrennte Pulloverärmel mit Löchern für Augen und Mund hingen. Ansonsten bestand das Interieur aus grauen Computern, schwarzen Fernsehbildschirmen, Video- und DVD-Spielern sowie eine ganze Reihe anderer Geräte, von deren Funktion Harry keine Ahnung hatte.

»Und, was hat das Dezernat für Gewaltverbrechen dem Video entnehmen können?«, fragte Ivarsson, als er sich auf einen der Stühle fallen ließ. Bei dem Wort Gewaltverbrechen legte er sehr viel Druck auf das »w«.

»Das eine oder andere«, sagte Harry und ging zum Regal mit den VHS-Kassetten.

»Ja?«

»Nicht sonderlich viel.«

»Schade, dass ihr nicht zu dem Vortrag gekommen seid, den ich im September in der Kantine gehalten habe. Außer euch waren alle Abteilungen anwesend, wenn ich mich nicht täusche.«

Ivarsson war groß und hatte lange Gliedmaßen. Seine blonden Haare lagen lockig über seinen blauen Augen. Sein Gesicht hatte die markanten Züge deutscher Männermodels, die für Markenartikel, wie zum Beispiel Boss, posierten. Er war noch immer braun von den zahlreichen Sommernachmittagen auf dem Tennisplatz und möglicherweise von der einen oder anderen Stunde im Solarium des Fitnesscenters. Rune Ivarsson war kurz gesagt das, was die meisten einen gutaussehenden Mann nennen würden, und er bestätigte damit Harrys Theorie über den Zusammenhang des Äußerlichen mit der Fähigkeit im Dienst. Doch was Rune Ivarsson in puncto Ermittlungstalent fehlte, kompensierte er mit seinem Gespür für Politik und Allianzbildung in der Polizeihierarchie. Ivarsson hatte überdies ein natürliches Selbstvertrauen, das viele mit Führungsqualitäten verwechselten. Dieses Selbstvertrauen war in Ivarssons Fall einzig dadurch zu begründen, dass er mit einer totalen Blindheit für seine eigene Beschränktheit ausgestattet war, was ihn unweigerlich dazu qualifizierte, aufzusteigen, und ihn eines Tages – direkt oder indirekt – zu Harrys Vorgesetztem machen würde. Prinzipiell hatte Harry nichts dagegen, wenn Mittelmäßigkeit hinwegbefördert wurde und nichts mehr mit den Ermittlungen zu tun hatte, doch die Gefahr bei Leuten wie Ivarsson war, dass ihnen durchaus in den Sinn kommen konnte, die Arbeit derjenigen zu leiten, die etwas von Ermittlungen verstanden.

»Hab ich was verpasst?«, fragte Harry und fuhr mit dem Finger über die kleinen, handschriftlichen Etiketten auf den Kassettenrücken.

»Vielleicht nicht«, sagte Ivarsson. »Wenn man nicht an den kleinen Details interessiert ist, mittels derer die Kriminalfälle gelöst werden.«

Harry widerstand der Versuchung zu sagen, dass er nicht gekommen war, weil er von früheren Zuhörern erfahren hatte, dass es sich bei dem Vortrag um eine einzige Selbstbeweihräucherung gehandelt hatte, deren alleiniger Zweck es war, darauf hinzuweisen, dass die Aufklärungsrate des Raubdezernats seit Ivarssons Amtsübernahme von 35 % auf 50 % gestiegen war, ohne natürlich zu erwähnen, dass diese Amtsübernahme einhergegangen war mit einer Verdopplung des gesamten Personals, einer generellen Ausweitung der Kompetenzen hinsichtlich der Ermittlungsmethoden und der Tatsache, dass die Abteilung ihren schlechtesten Ermittler losgeworden war – Rune Ivarsson.

»Ich halte mich für durchaus interessiert«, sagte Harry. »Also erzählen Sie mir, wie Sie diesen Fall hier gelöst haben.« Er zog eine Kassette aus dem Regal und las laut: »20.11.94, Sparebanken Nord, Manglerud.«

Ivarsson lachte. »Gerne. Wir haben ihn auf die herkömmliche Weise geschnappt. Sie haben den Fluchtwagen auf einer Müllkippe bei Alnabru gewechselt und den ersten Wagen angezündet. Aber er brannte nicht ganz aus, so dass wir die Handschuhe von einem der Täter mit einer DNA-Spur gefunden haben. Die haben wir mit den Leuten verglichen, die uns die Fahnder nach Begutachtung des Videos als mögliche Täter genannt haben, und einer von ihnen passte. Der Idiot bekam vier Jahre, weil er einen Schuss an die Decke abgefeuert hatte. Sonst noch Fragen, Hole?«

»Mm.« Harry fingerte an der Kassette herum. »Was für eine DNA-Spur war das?«

»Hab ich doch gesagt: Eine, die passte.« Ivarssons linkes Auge begann zu zittern.

»Gut, aber was genau? Tote Haut? Ein Nagel? Blut?«

»Ist das wichtig?« Ivarssons Stimme klang jetzt hart und ungeduldig.

Harry forderte sich selbst auf, die Klappe zu halten und dieses Don-Quijote-Projekt aufzugeben. Menschen wie Ivarsson waren ohnehin nicht lernfähig.

»Vielleicht nicht«, hörte Harry sich selbst sagen. »Wenn man nicht an den kleinen Details interessiert ist, mittels derer die Kriminalfälle gelöst werden.«

Ivarsson hatte seinen Blick starr auf Harry gerichtet. In dem geräuschisolierten Spezialraum legte sich die Stille wie ein physischer Druck auf die Ohren. Ivarsson öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen.

»Knöchelhaare.«

Beide Männer im Raum sahen zu Beate Lønn. Harry hatte sie beinahe vergessen. Sie sah von dem einen zum anderen und wiederholte beinahe flüsternd:

»Knöchelhaare. Die oben auf den Fingern ... die heißen doch so ...«

Ivarsson räusperte sich: »Stimmt, das war ein Haar. Aber es war doch wohl – ohne dass wir jetzt genauer darauf eingehen müssten – ein Haar vom Handrücken. Nicht wahr, Beate?« Ohne eine Antwort abzuwarten, klopfte er mit dem Zeigefinger leicht auf das Glas seiner breiten Armbanduhr. »Aber ich muss jetzt los. Viel Spaß mit dem Video.«

Als die Tür hinter Ivarsson ins Schloss fiel, nahm Beate Harry die VHS-Kassette ab, die gleich darauf mit einem summenden Geräusch im Abspielgerät verschwand.

»Zwei Haare«, sagte sie. »Im linken Handschuh. Von den Knöcheln. Und die Müllkippe war in Karihaugen, nicht in Alnabru. Aber das mit den vier Jahren stimmt.«

Harry sah sie verblüfft an. »War das nicht eine ganze Weile vor deiner Zeit?«

Sie zuckte mit den Schultern, während sie den Play-Knopf auf der Fernbedienung drückte. »Man muss doch bloß die Berichte lesen.«

»Mm«, sagte Harry und betrachtete sie genauer von der Seite. Dann machte er es sich auf dem Stuhl bequem. »Mal sehen, ob der da ein paar Knöchelhaare für uns hat.«

Es klickte leise im Videogerät, und Beate löschte das Licht. Während ihnen das blaue Pausenbild entgegenstrahlte, startete in Harrys Kopf ein ganz anderer Film. Er war kurz, dauerte nur ein paar Sekunden, eine in blaues Stroboskoplicht getauchte Szene aus dem Waterfront, einem längst geschlossenen Club in Aker Brygge. Er wusste damals nicht, wie sie hieß, die Frau mit den lachenden, braunen Augen, die ihm durch die Musik etwas zuzurufen versuchte. Es lief Power Pop. Green on Red. Jason and The Scorchers. Er hatte Jim Beam in seine Cola gekippt und darauf geschissen, wie sie hieß. Doch am nächsten Abend, als sie alle Vertäuungen des Bettes mit dem kopflosen Pferd auf dem Bettpfosten gelöst und sich auf ihre Jungfernfahrt begeben hatten, wusste er es. Harry spürte die gleiche Wärme in seinem Bauch wie am Tag zuvor, als er ihre Stimme im Telefon gehört hatte.

Dann begann der andere Film.

Der alte Mann hatte seine Polarexpedition zum Schalter begonnen und wurde alle fünf Sekunden aus einem anderen Kamerawinkel gefilmt.

»Thorkildsen, TV2«, sagte Beate.

»Nein, August Schultz«, sagte Harry.

»Ich meine die Regie«, erwiderte sie. »Das trägt die Handschrift von Thorkildsen bei TV2. Da fehlen immer wieder Bruchteile von Sekunden ...«

»Fehlen? Wie siehst du ...«

»An verschiedenen Sachen. Pass auf den Hintergrund auf. Der rote Mazda, den du hinten auf der Straße erkennst, war bei zwei Kameras mitten im Bild, als die Perspektive wechselte. Ein Objekt kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.«

»Meinst du, da hat jemand an dem Band herumgespielt?«

»Nein, nein. Alle Aufnahmen der sechs Kameras in der Bank und der einen draußen werden gleichzeitig auf ein Band gespielt. Auf dem Originaltape wechselt das Bild blitzschnell von Kamera zu Kamera, so dass das nur ein Geflimmer ist. Deshalb muss der Film redigiert werden, damit man längere, zusammenhängende Sequenzen erhält. Manchmal, wenn wir selbst nicht genug Zeit haben, wird das von irgendwelchen Leuten vom Fernsehen gemacht. Fernsehleute wie Thorkildsen nehmen es manchmal nicht so genau mit dem Zeitcode, damit es etwas schöner aussieht, nicht so abgehackt. Eine Berufsneurose, denke ich.«

»Berufsneurose«, wiederholte Harry. Das Wort erschien ihm seltsam altmodisch für ein so junges Mädchen. Oder war sie vielleicht doch nicht so jung, wie er zuerst gedacht hatte? Etwas war mit ihr geschehen, kaum dass das Licht gelöscht worden war, die Silhouette ihres Körpers schien entspannter, die Stimme fester.

Der Bankräuber betrat die Filiale und rief etwas auf Englisch. Die Stimme klang fern und dumpf, wie in eine Decke gehüllt.

»Was hältst du davon?«, fragte Harry.

»Norwegisch. Er spricht Englisch, damit wir keinen Dialekt, Akzent oder sonst irgendwelche typischen Worte erkennen können, die wir mit irgendwelchen früheren Banküberfällen in Verbindung bringen könnten. Er trägt glatte Kleider, die keine Fasern verlieren, die wir in irgendwelchen Fluchtautos, verdeckten Wohnungen oder zu Hause bei ihm wiederfinden könnten.«

»Mm, und sonst?«

»Alle Kleidungsöffnungen sind verklebt, um keine DNA-Spuren wie Haare oder Schweiß zu hinterlassen. Du kannst erkennen, dass die Hosenbeine an die Stiefel und die Ärmel an die Handschuhe geklebt sind. Ich möchte darauf wetten, dass sein ganzer Kopf mit Klebeband umwickelt ist und er sich Wachs auf die Augenbrauen geschmiert hat.«

»Ein Profi also?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Achtzig Prozent aller Bankraube sind weniger als eine Woche vorher geplant worden und werden von Leuten begangen, die unter Drogen oder Alkohol stehen. Dieser Überfall war vorbereitet, und der Täter wirkt nüchtern.«

»Woran kannst du das erkennen?«

»Wenn wir perfektes Licht hätten und bessere Kameras, könnten wir die Bilder vergrößern und uns die Pupillen ansehen. Aber das haben wir nicht, weshalb ich seine Körpersprache deuten muss. Ruhige, gut überlegte Bewegungen, siehst du? Wenn er etwas genommen hat, dann sicher kein Speed oder irgendwelche Amphetamine. Rohypnol vielleicht. Das wird am liebsten genommen.«

»Warum?«

»Ein Bankraub ist ein extremes Erlebnis. Da braucht man kein Speed, eher im Gegenteil. Letztes Jahr ist einer mit einer automatischen Waffe in eine DnB-Filiale am Solli-Platz gekommen, hat wild um sich geballert und ist dann ohne Geld wieder gegangen. Zum Richter sagte er später, er hätte so viel Amphetamin genommen, dass er es einfach irgendwie rauslassen musste. Ich mag Bankräuber mit Rohypnol lieber, um es mal so auszudrücken.«

Harry nickte in Richtung Leinwand: »Achte auf die Schulter von Stine Grette an Schalter eins. Jetzt löst sie den Alarm aus. Und der Ton der Aufnahme wird plötzlich viel besser. Wie kommt das?«

»Der Alarm ist mit der Aufnahme gekoppelt. Wenn er ausgelöst wird, läuft der Film deutlich schneller, was uns bessere Bilder und einen klareren Ton gibt. Gut genug, um Stimmanalysen des Täters zu erstellen. Und dann hilft es dem Täter auch nichts, wenn er Englisch spricht.«

»Ist das wirklich so treffsicher, wie ihr behauptet?«

»Die Laute unserer Stimmbänder sind wie Fingerabdrücke. Wenn die Stimmanalytiker am NTNU in Trondheim zehn Worte auf einem Band bekommen, können sie zwei Stimmen mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit zuordnen.«

»Mm, aber nicht mit der Tonqualität, bevor der Alarm ausgelöst wird?«

»Dann ist es deutlich unsicherer.«

»Deshalb ruft er also zuerst etwas auf Englisch und nutzt dann, wenn er damit rechnet, dass der Alarm ausgelöst worden ist, Stine Grette als Sprachrohr.«

»Genau.«

Schweigend studierten sie, wie sich der schwarz gekleidete Bankräuber über den Tisch schwang, den Gewehrlauf an Stine Greftes Kopf drückte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

»Was hältst du von ihrer Reaktion?«, fragte Harry.

»Wie meinst du das?«

»Ihren Gesichtsausdruck. Sie scheint ziemlich ruhig zu sein, findest du nicht auch?«

»Ich finde gar nichts. Gesichtsausdrücke geben in der Regel nicht viele Informationen preis. Ich tippe, dass ihr Puls bei 180 liegt.«

Sie blickten auf Helge Klementsen, der auf den Knien vor dem Geldautomat herumrutschte.

»Ich hoffe bloß, dass der da eine gute Betreuung bekommt«, sagte Beate leise und schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie Menschen nach solchen Überfällen zu psychischen Invaliden wurden.«

Harry sagte nichts, dachte aber, dass sie diese Aussage von irgendeinem älteren Kollegen aufgeschnappt haben musste.

Der Bankräuber drehte sich um und zeigte ihnen sechs Finger.

»Interessant«, murmelte Beate und notierte etwas auf dem Block vor sich, ohne auf das Papier zu blicken. Harry beobachtete die junge Polizistin aus den Augenwinkeln und sah, wie sie auf ihrem Stuhl zusammenzuckte, als der Schuss knallte. Während der Räuber auf der Leinwand über den Tisch sprang, sich den Sack schnappte und auf dem Weg zur Tür war, glitt Beates kleines Kinn nach oben und der Stift aus ihrer Hand.

»Das Letzte haben wir nicht ins Internet gestellt oder an die Fernsehsender weitergegeben«, sagte Harry. »Guck, jetzt ist er im Blickfeld der Außenkamera.«

Sie sahen, wie der Räuber an der grünen Ampel über den Bogstadvei hastete und dann rasch über die Industrigata verschwand.

»Und die Polizei?«, fragte Beate.

»Die nächste Polizeistation liegt im Sørkedalsvei direkt hinter der Mautstation, nur achthundert Meter von der Bank entfernt. Trotzdem dauerte es ab der Auslösung des Alarms mehr als drei Minuten, bis sie an der Bank waren. Damit hatte der Räuber also knapp zwei Minuten, um zu verschwinden.«

Beate sah nachdenklich auf die Leinwand, wo sich Autos und Menschen vorbeibewegten, als wäre nichts geschehen.

»Die Flucht war ebenso gut geplant wie der Überfall. Das Fluchtauto stand vermutlich direkt hinter der Kurve, so dass es nicht im Blickfeld der Außenkamera war. Er hatte Glück.«

»Vielleicht«, sagte Harry. »Auf der anderen Seite hast du aber auch nicht den Eindruck, dass das einer ist, der sich auf sein Glück verlässt, oder?«

Beate zuckte mit den Schultern. »Die meisten Banküberfälle sehen durchdacht aus, wenn sie gelingen.«

»Okay, aber hier waren die Chancen, dass die Polizei spät kommt, ziemlich groß. Denn am Freitag zu diesem Zeitpunkt waren alle Streifen der Gegend mit einer anderen Sache beschäftigt, nämlich ...«

»... mit der Wohnung des amerikanischen Botschafters!«, entfuhr es Beate. Sie schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Der anonyme Anruf wegen der Autobombe. Ich hatte Freitag frei, aber ich habe das ja in den Nachrichten gehört. Und das jetzt, wo ohnehin schon alle so hysterisch sind. Da mussten ja alle da sein.«

»Sie haben keine Bombe gefunden.«

»Natürlich nicht. Es ist ein klassischer Trick, unmittelbar vor einem Überfall etwas zu erfinden, das die Polizeikräfte an einen anderen Ort bindet.«

Gedankenverloren sahen sie sich den Rest der Aufnahme an. August Schultz stand vor dem Fußgängerüberweg und wartete. Aus Grün wurde Rot und dann wieder Grün, ohne dass er sich in Bewegung setzte. Auf was wartet er?, dachte Harry. Eine Abweichung, eine extra lange Grünphase, eine hundertjährige Ampelwelle? Tja. Bald würde sie kommen. In der Ferne hörte er die Polizeisirenen.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Harry.

Beate Lønn antwortete mit dem müden Seufzer eines alten Mannes. »Irgendetwas stimmt immer nicht.«

Dann war der Film zu Ende, auf der Leinwand wütete ein Schneesturm.

Kapitel 4

Das Echo

»Schnee?«

Harry brüllte ins Handy, während er über den Bürgersteig hastete.

»Ja, klar«, antwortete Rakel über eine schlechte Verbindung aus Moskau, dicht gefolgt von einem knackenden Echo: »... klar.«

»Hallo?«

»Es ist eiskalt hier ... ier. Drinnen wie draußen ... außen.«

»Und im Gericht?«

»Auch da knapp unter null. Als wir hier wohnten, hat sogar seine Mutter gesagt, ich solle Oleg nehmen und hier wegziehen. Jetzt hockt sie bei den anderen und wirft mir fast hasserfüllte Blicke zu ... icke zu.«

»Wie läuft die Verhandlung?«

»Woher soll ich das denn wissen?«

»Nun, du bist doch Juristin, und außerdem sprichst du Russisch.«

»Harry. Wie hundertfünfzig Millionen andere Russen verstehe ich kein bisschen von diesem Rechtssystem, o.k.... ke?«

»O.k., und wie packt Oleg das Ganze?«

Harry wiederholte die Frage noch einmal, ohne eine Antwort zu bekommen, und warf einen Blick auf das Display, um zu überprüfen, ob die Verbindung zusammengebrochen war, doch die Zeitanzeige der Gesprächsverbindung lief. Er drückte sich das Telefon wieder gegen das Ohr. »Hallo?«

»Hallo, Harry, ich höre dich ... ich. Du fehlst mir ... ir. Warum lachst du ... u?«

»Es hört sich komisch an. Du hast so ein Echo.«

Harry hatte die Haustür erreicht, zog seinen Schlüssel aus der Tasche und sperrte die Tür auf.

»Findest du mich zu aufdringlich, Harry?«

»Ach was.«

Harry nickte Ali zu, der ein Kickboard durch die Kellertür zu schieben versuchte. »Ich Hebe dich. Hallo, hörst du mich? Ich liebe dich! Hallo?«

Harry blickte betroffen von dem toten Telefon auf und bemerkte das strahlende Lächeln seines Nachbarn.

»Ja, doch, dich auch, Ali«, murmelte er, während er mühselig Rakels Nummer zum zweiten Mal wählte.

»Wiederwahl-Taste«, sagte Ali.

»Häh?«

»Nichts. Du, sag Bescheid, wenn du mal Lust hast, dein Kellerabteil zu vermieten. Du benutzt das ja nicht so viel, oder?«

»Habe ich ein Kellerabteil?«

Ali verdrehte die Augen. »Wie lange wohnst du jetzt hier, Harry?«

»Ich habe gesagt, ich liebe dich.«

Ali blickte Harry fragend an, der jedoch abwehrend mit der Hand wedelte und ihm signalisierte, dass er wieder eine Verbindung bekommen hatte. Er joggte die Treppe nach oben und hielt die Schlüssel wie eine Wünschelrute vor sich.

»So, jetzt können wir reden«, sagte Harry, als er endlich in seiner spartanisch eingerichteten, aber sauberen Wohnung war, die er irgendwann Ende der achtziger Jahre für einen Spottpreis gekauft hatte, als der Wohnungsmarkt am Boden war. Schon manches Mal hatte Harry gedacht, dass er mit diesem Schnäppchen alles Glück aufgebraucht hatte, das ihm im Leben zustand.

»Wenn du doch hier bei uns sein könntest, Harry! Oleg sehnt sich so nach dir.«

»Hat er das gesagt?«

»Er braucht das nicht zu sagen. In dem Punkt seid ihr euch ähnlich.«

»He, ich habe doch gerade gesagt, dass ich dich liebe. Dreimal. Mit meinem Nachbarn als Zeugen. Weißt du, was das kostet?«

Rakel lachte. Harry liebte dieses Lachen, seit er es zum ersten Mal gehört hatte. Instinktiv hatte er damals gewusst, dass er alles tun würde, um dieses Lachen öfter zu hören. Am liebsten jeden Tag.

Er streifte sich die Schuhe ab und lächelte, als er den blinkenden Anrufbeantworter im Flur sah. Er musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass dort ein früherer Anruf von Rakel aufgenommen worden war. Sonst rief niemand Harry Hole privat an.

»Woher willst du denn wissen, dass du mich liebst?«, gurrte Rakel. Das Echo war verschwunden.

»Ich spüre, dass mir warm wird im ... wie heißt das da?«

»Herz?«

»Nein, das ist etwas unterhalb des Herzen. Nieren? Leber? Milz? Ja, das ist es, mir wird warm um die Milz.«

Harry war sich nicht sicher, ob das, was er am anderen Ende der Leitung hörte, Lachen oder Weinen war. Er drückte die Play-Taste des Anrufbeantworters.

»Ich hoffe, dass wir in vierzehn Tagen wieder zu Hause sind«, sagte Rakel ins Handy, ehe sie vom Anrufbeantworter übertönt wurde.

»Hei, ich bin's noch mal...«

Harry spürte, wie sein Herz einen Sprung machte, und reagierte, ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er drückte die Stopp-Taste. Doch irgendwie schien das Echo der Worte dieser etwas heiseren, eindringlichen Frauenstimme zwischen den Wänden hin und her zu rollen. »Was war das?«, fragte Rakel.

Harry hielt die Luft an. Ein Gedanke versuchte ihn zu erreichen, bevor er antwortete, aber er kam zu spät. »Nur das Radio.« Er räusperte sich. »Sag mir Bescheid, mit welchem Flugzeug ihr kommt, ich hol euch dann ab.«

»Natürlich tue ich das«, sagte sie etwas überrascht.

Es entstand eine etwas peinliche Pause.

»Du, ich muss jetzt los«, sagte Rakel. »Telefonieren wir heute Abend gegen acht noch mal?«

»Ja, das heißt nein, da kann ich nicht.«

»Oh, ich hoffe, es ist wenigstens mal etwas Angenehmes?«

»Nun«, sagte Harry und holte tief Luft. »Auf jeden Fall gehe ich mit einer Frau weg.«

»Ach nein. Wer ist die Glückliche?«

»Beate Lønn. Eine neue Beamtin im Raubdezernat.«

»Und was ist der Anlass?«

»Ein Gespräch mit dem Ehemann von Stine Grette, das ist die, die bei dem Raub im Bogstadvei erschossen worden ist. Ich habe dir davon erzählt. Und mit dem Filialleiter.«

»Na, dann viel Spaß. Dann telefonieren wir morgen. Oleg will dir aber noch gute Nacht sagen.«

Harry hörte schnelle, laufende Schritte und dann einen hastigen Atem im Hörer.

Nachdem sie aufgelegt hatten, blieb Harry im Flur stehen und starrte in den Spiegel über dem Telefontischchen. Wenn seine Theorie stimmte, blickte er jetzt in das Gesicht eines tüchtigen Polizeibeamten. Zwei blutunterlaufene Augen auf jeder Seite eines kräftigen Nasenrückens, umgeben von einem feinen Netz blauer Äderchen in einem blassen, knochigen Gesicht mit groben Poren. Die Falten sahen aus wie die Kerben auf einem Balken, der willkürlich mit einem Messer bearbeitet worden war. Wie war es dazu gekommen? Im Spiegel sah er die Wand hinter sich, an der das Bild von dem lächelnden, sonnengebräunten Jungen und dessen Schwester hing. Doch Harry war nicht auf der Suche nach verloren gegangener Schönheit oder Jugend. Denn der Gedanke hatte ihn endlich erreicht. Er suchte in seinen Zügen nach dem Betrügerischen, dem Ausweichenden, dem Feigen, das ihn gerade erst wieder dazu gebracht hatte, eines der Versprechen zu brechen, die er sich selbst gegeben hatte: nämlich Rakel niemals – wie auch immer – zu belügen. Dass ihre Beziehung bei all den Hindernissen, die es ohnehin bereits gab, auf keinen Fall auf Lügen aufbauen durfte. Warum also hatte er es wieder getan? Es stimmte, dass er und Beate Stine Greftes Ehemann treffen sollten, aber warum hatte er nicht erzählt, dass er anschließend Anna treffen wollte? Eine alte Flamme, aber – na und? Sie hatten eine wilde, stürmische Affäre gehabt, die ein paar Spuren hinterlassen hatte, doch keine bleibenden. Sie wollten bloß miteinander reden, einen Kaffee trinken und sich gegenseitig erzählen, wie es ihnen nach dem Ende ihrer Beziehung ergangen war, ehe sie wieder jeder zu sich nach Hause gingen.

Harry drückte die Play-Taste des Anrufbeantworters, um den Rest der Nachricht abzuspielen. Annas Stimme erfüllte den Flur:»... ich freu mich drauf, dich heute Abend im ›M‹ zu sehen. Nur zwei Sachen: Kannst du beim Schlüsseldienst in der Vibes Gate vorbeigehen und mir ein paar Schlüssel mitbringen, die ich da bestellt habe? Die haben bis sieben geöffnet, und ich habe deinen Namen als Abholer angegeben. Und kannst du nicht die Jeans anziehen, du weißt schon, die, die ich so gerne mochte?«

Tiefes, heiseres Lachen, und der ganze Raum schien im gleichen Takt zu vibrieren. Sie war die Gleiche geblieben, gar kein Zweifel.

Kapitel 5

Nemesis

Im Licht der Außenlampe, die über dem Keramikschild mit den Namen von Espen, Stine und Trond Grette hing, zeichnete der Regen helle Spuren in den dunklen Oktoberhimmel. Sie standen vor einem gelben Reihenhaus im Viertel Disengrenda. Er drückte auf die Klingel und sah sich um. Disengrenda bestand aus vier langen Reihenhäusern im Herzen eines großen, flachen Feldes, umgeben von größeren Wohnblocks. Harry musste unwillkürlich an eine Siedlung in der Prärie denken, in der sich die Menschen mit einem Ringwall gegen Indianerangriffe geschützt hatten. Und vielleicht war es ja so. Die Reihenhäuser waren in den sechziger Jahren für die stetig wachsende Mittelklasse gebaut worden. Vielleicht hatte die bereits schwindende Urbevölkerung der Arbeiter in den Blocks im Disenvei und im Travervei bereits damals erkannt, dass dies die neuen Herren waren, die die alleinige Herrschaft über das noch junge Land übernehmen würden.

»Scheint keiner da zu sein«, sagte Harry und klingelte noch einmal. »Bist du sicher, dass er auch mitbekommen hat, dass wir heute Nachmittag kommen wollten?«

»Nein.«

»Nein?« Harry drehte sich um und blickte auf Beate hinab, die schlotternd unter dem Regenschirm stand. Sie trug ein Kleid und hochhackige Schuhe. Harry hatte spontan gedacht, dass sie sich wie für ein Kaffeekränzchen herausgeputzt hatte, als sie ihn vor der Gaststätte Schrøder aufgelesen hatte.

»Grette hat den Termin zweimal bestätigt, als ich ihn am Telefon hatte«, sagte sie. »Aber er ... schien nicht ganz bei sich zu sein.«

Harry beugte sich zur Seite und drückte seine Nase an das Küchenfenster. Es war dunkel im Haus, und das Einzige, was er sehen konnte, war ein weißer Kalender an der Wand mit dem Logo der Nordea-Bank.

»Lass uns zurückfahren«, sagte er.

In diesem Moment öffnete sich mit einem lauten Ruck das Küchenfenster der Nachbarn. »Wollen Sie zu Trond?«

Die Worte waren im breitesten Bergendialekt gesprochen worden. Jedes »r« klang, als würde ein Zug entgleisen. Harry drehte sich um und blickte in ein braunes, faltiges Frauengesicht, das anscheinend gleichzeitig lächeln und todernst aussehen wollte.

»Das wollen wir«, bestätigte Harry.

»Verwandtschaft?«

»Polizei.«

»Ah so«, erwiderte die Frau und ließ das Begräbnisgesicht fallen. »Ich dachte, Sie seien gekommen, um ihm Ihr Beileid zu bekunden. Der Arme ist auf dem Tennisplatz.«

»Auf dem Tennisplatz?«

Sie streckte ihren Arm aus. »Auf dem Feld. Seit vier Uhr steht er da.«

»Aber es ist doch dunkel«, sagte Beate. »Und es regnet.«

Die Frau zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl die Trauer.« Sie rollte das »r« derart, dass Harry an die Pappstreifen denken musste, die sie als Kinder früher in Oppsal an der Fahrradgabel befestigt hatten, damit sie in den Speichen klapperten.

»Du bist doch auch irgendwo im Osten der Stadt aufgewachsen?«, fragte Harry, während er und Beate langsam in die Richtung gingen, die ihnen die Frau gewiesen hatte. »Oder täusche ich mich?«

»Nein«, sagte Beate bloß.

Der Tennisplatz lag mitten auf dem Feld genau zwischen Reihenhäusern und Blocks. Sie hörten das dumpfe Klatschen eines nassen Balls auf der Bespannung eines Tennisschlägers, und hinter dem hohen Netz, das den Platz umgab, erblickten sie eine Gestalt, die in der zunehmenden Dunkelheit Aufschläge übte.

»Hallo!«, rief Harry, als sie am Netz standen, doch der Mann antwortete nicht. Erst jetzt erkannten sie, dass er ein Sakko, Hemd und Schlips trug.

»Trond Grette?«

Ein Ball prallte in eine schwarze Pfütze, sprang wieder hoch, klatschte in das Netz vor ihnen und besprühte sie mit einer feinen Dusche aus Regenwasser, die Beate mit dem Schirm abwehrte.

Beate rüttelte an der Tür. »Er hat sich eingeschlossen«, flüsterte sie.

»Hole und Lønn von der Polizei!«, rief Harry. »Wir hatten uns angemeldet. Könnten Sie ... verflucht!« Harry hatte den Ball nicht gesehen, ehe er ins Netz klatschte und nur einen Daumenbreit vor seinem Gesicht in den Maschen hängen blieb. Er wischte sich das Wasser aus den Augen und blickte an sich herab. Er sah aus, als sei er in den rotbraunen Sprühnebel einer Lackiererei gekommen. Harry drehte sich automatisch um, als er den Mann den nächsten Ball hochwerfen sah.