Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band. - Adlersfeld-Ballestrem, Eufemia von - kostenlos E-Book

Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band. E-Book

Adlersfeld-Ballestrem, Eufemia von

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The Project Gutenberg EBook of Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band., by Eufemia von Adlersfeld-BallestremThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band.Author: Eufemia von Adlersfeld-BallestremRelease Date: December 30, 2014 [EBook #47820]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE FALKNER VOM FALKENHOF. ***Produced by The Online Distributed Proofreading Team athttp://www.pgdp.net (This file was produced from imagesgenerously made available by The Internet Archive)

Die Falkner vom Falkenhof

Roman vonEuf. v. Adlersfeld-Ballestrem

Fünfundzwanzigste Auflage

Zweiter Band

Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

Gedruckt 1922 in der Druckerei von Philipp Reclam jun. Leipzig

[II. (Fortsetzung)]

Dolores hatte in der letzten Nacht schwere, seltsame Träume. Ihr träumte, sie müßte gegen dichte wogende Nebel ankämpfen in kalter Nacht auf einem unebnen, steinigen Wege, dessen scharfe Kanten ihre Füße verletzten. Endlich aber stand sie vor einer undurchdringlich grauen Wand – sie wußte nicht, war's Nebel, war's ein Felsen, der den Weg versperrte. Rechts und links gähnten tiefe Abgründe, die ins Unendliche zu führen schienen, und als sie sich wendete, um zurück zu gehen, da hatte ein rauschender Strom den Weg überschwemmt oder fortgerissen, so daß sie verloren schien. Und in der furchtbaren Angst, die sie befiel, klopfte sie an den Felsen wie an eine Thür. Und siehe da – die kahle graue Wand schien sich auseinander zu schieben, die Nebel schienen zu zerreißen, dünner und dünner zu werden, und endlich sah sie durch die Wand hindurch, und sah – sich in ihrem eignen Zimmer sitzen. Aber sie war nicht allein. Ihr gegenüber hatte Doktor Ruß Platz genommen. Der sprach eifrig in sie hinein – sie hörte den musikalischen Ton seiner Stimme, aber sie verstand seine Worte nicht. Und er schob ein auf großem, weißem Bogen entworfenes Schriftstück auf dem Tisch zu ihr hinüber und sie sah, wie sie selbst das Dokument ergriff, zerriß und in das Feuer warf, welches im Kamin brannte. Da erhob sich Doktor Ruß und drückte auf den Kopf der linken Kaminmantelfigur und der ganze Kamin drehte sich hinein in die Wand mitsamt dem Doktor Ruß wie ein Karussell, und als er wieder mit seiner Vorderseite erschien, war Doktor Ruß verschwunden. Da begannen wieder Nebel zu ziehen über das klare Bild – hastig, wie vom Sturm gejagt, und wieder zerrissen die grauen Wolken, und wieder sah Dolores sich selbst stehen im Dämmerlicht, im weißen Kleid, Hand in Hand mit Alfred Falkner. Und der Ort, an dem sie standen, war das Hexenloch unten im Park. Schwarz schimmerte das scheinbar regungslose Wasser, geheimnisvoll flüsterten die Tannen und Buchen über ihren Häuptern, es webte in der stillen Abendluft seltsam und geheimnisvoll, und wo im Westen der Park eine Lichtung hatte, schimmerte blutrot ein Streifen an der Stelle, wo die Sonne eben untergegangen war. Und Alfred Falkner ließ ihre Hände los und schritt durch die Lichtung dem Streifen entgegen. Da ward es ganz dunkel. Und es hob sie ein Etwas empor, und die Wasser des Hexenloches schlugen über ihr zusammen, und es ward dunkel und dunkler um sie – –

Und als sie die Augen aufschlug, träumte ihr weiter, da sah sie sich langsam durch den Park schreiten, einen Brief in der Hand mit einem fremden Poststempel. Sie zerriß das Couvert und begann den Brief zu lesen, aber während sie dazu ihre Schritte anhielt, schlug etwas in das Briefblatt, sie wußte nicht was, doch sie sah, daß ein erbsengroßes, rundes Loch mit versengten Rändern in dem Papier entstanden war. Und wieder ward es licht, und sie sah sich abermals selbst auf die Terrasse des Falkenhofes hinaustreten, wo Frau Ruß und ihr Mann standen. Hinter ihr brachten Diener einen fertig besetzten Theetisch, und alle nahmen Platz und Dolores schenkte drei Tassen Thee ein. Da kam Engels hastigen Schrittes die Terrasse herauf, die Flinte über der Schulter, einen erlegten, mächtig großen Vogel in den Händen, und alles sprang auf, die Beute zu sehen, und während Engels die Flügel des Vogels auseinanderlegte, sah Dolores sich selbst die Spannweite der Flügel messen. Währenddessen schien es ihr, als thäte Doktor Ruß ein Stück Zucker in ihre Theetasse, und sie schrie auf: »Nicht so süß! Nicht so süß!« Aber sie trank den Thee dennoch, und er schmeckte nicht süß, aber fremdartig, ihr ekelte es vor dem Getränk. Während sie aber trank, sah sie die kalten, hellblauen Augen der Frau Ruß mit seltsam forschendem, grausamem Ausdruck auf sich gerichtet, und diese Augen bohrten ihren Blick bis tief hinein in ihr Herz, daß eine furchtbare Angst sie ergriff, und doch, der Schrei um Hilfe vor diesem schrecklichen Augenpaar kam nicht über ihre Lippen, Angstschweiß, wahrer Todesschweiß trat auf ihre Stirn –

Da legte sich eine sanfte, kühle Hand auf ihr Haupt – der Alp wich, und zitternd erwachte sie aus dem quälenden Traume –

Doch nur halb erwachte sie, um halb wachend sogleich wieder weiter zu träumen, denn ihr war's, als ruhe die kühle Hand immer noch auf ihrer Stirn, und als sie die Augen aufschlug, sah sie die Gestalt der Ahnfrau Maria Dolorosa im schwachen Schein der Nachtlampe neben ihrem Bette stehen, freundlich lächelnd, genau wie das Bild in der gefundenen Kapsel. Und die Gestalt beugte sich herab und küßte mit kalten Lippen die Wangen der Träumenden.

»Dolores, Erlöserin!« flüsterte es in ihr Ohr, »Gott hat dich gewürdigt, hinter den Schleier der Zukunft zu schauen. Du kennst nun die Gefahren, die sie für dich birgt – aber sei stark und mutig, eine echte Falkner. Und bleibst du hier, so bleib' auch ich dir zur Seite mit meinem Schutz, der die Warnung ist. Mehr darf ich dir nicht geben – o, daß du nicht unterliegen möchtest, Dolores, Blut von meinem Blute –«

Mehr hörte Dolores nicht, denn ruhig und fest schlief sie weiter, doch als Tereza sie am Morgen weckte, schmerzte sie der Kopf, und sie mußte über ihren Traum nachdenken, bis er wieder in jeder Einzelheit vor ihrem geistigen Auge stand.

»Solch' wirres, thörichtes Zeug,« schalt sie sich selbst. »Das macht der starke Thee von gestern Abend.«

Aber es fröstelte sie trotzdem, als sie des schrecklichen Blickes gedachte, von dem ihr geträumt, doch an den Kuß der toten Ahnfrau dachte sie ohne Grauen. Und je mehr sie nachdachte über die Träume der vergangenen Nacht, je mehr hätte sie darauf schwören können, daß sie die Erscheinung der Freifrau Dolorosa wirklich gesehen, daß kein Traum ihr dieselbe gezeigt, kein Zustand von halbem Wachen und halbem Schlafen, und es gewährte ihr eine Beruhigung, sich diese Unmöglichkeit vorzustellen und einzureden mit der klaren Begründung, daß es eben eine Unmöglichkeit war.

»Ich werde nervös,« dachte sie am Ende. »Luft und Arbeit – Arbeit, damit die Traumgestalten weichen.« –

Als Engels dann mit seinen Rapporten und Akten erschien – »als vortragender Rat vor Ihrer Majestät der regierenden Herrin von Falkenhof,« wie er sich gern scherzhaft selbst nannte – da sah er sie lange kopfschüttelnd an.

»Fräulein Dolores, Sie gefallen mir gar nicht,« sagte er endlich, als ihre nervös bebenden Hände die Feder fallen ließen, mit der sie ihre Unterschrift geben sollte.

»Aber lieber Engels, das wäre ja schrecklich,« versuchte sie zu scherzen.

»Blasse Wangen, blaue Ränder unter den Augen – es kleidet Sie ja, aber richtig ist es doch nicht,« sagte er kopfschüttelnd. »Und nun gar noch den Tadderich in den Händen – na! na!«

»Ich habe schlecht geschlafen – schreckliche Dinge geträumt – Gespenster gesehen,« erwiderte sie lachend.

»Weiter nichts?« fragte er. »Na, dagegen giebt's Mittel, gute Mittel. Erstens spazieren gehen bis Sie rechtschaffen müde sind; zweitens abends nicht zuviel essen oder starken Thee trinken – –«

»Und gegen die Gespenster?« fragte sie, als er einhielt.

Da holte er seinen Stock, den er an der Thür stehen gelassen hatte, und machte eine sehr deutliche Bewegung damit.

»Lassen Sie mich mal aufpassen,« bat er, »und ich garantiere Ihnen, daß kein Gespenst mehr erscheint.«

»O, ich bin von dem Erfolge im voraus überzeugt,« rief Dolores lachend. »Aber seien Sie ruhig – die Sorte von Gespenstern beschwöre ich schon allein, und es hat sich auch noch keines an mich herangewagt.«

»Wäre auch höchst unvorsichtig,« brummte Engels und kehrte zu seinen Papieren zurück.

Dolores setzte ihren Namen unter das letzte Aktenstück und reichte es ihm hinüber.

»Das werden Sie nächstens allein besorgen müssen,« sagte sie leicht.

»Wieso allein?«

»Nun zum Winter mache ich mich aus dem Staube – das heißt aus dem nordischen Schnee nach dem Süden. Da sind Sie dann Alleinherrscher im Falkenhofe.«

»Dazu brauchte ich aber eine Vollmacht,« brummte Engels.

»Die sollen Sie auch haben,« erwiderte Dolores. »Sogar eine Generalvollmacht, wie sich's für den großen Besitz schickt. Apropos, Sie waren ja Jurist, lieber Engels, und können mir eine Frage beantworten, die in das Fach schlägt.«

»Gern. Aber ich fürchte, ich habe mein corpus juris längst vergessen und pfusche mit meinem Rat unserem Justizrat bloß ins Handwerk –«

»O bewahre – der müßte ja überdies noch gefragt werden. Also setzen wir einmal den Fall, daß ich den Falkenhof verschenken wollte – sagen wir, an den nächsten männlichen Agnaten –«

»Der ihn nicht genommen hat,« unterbrach Engels trocken.

»Nein. Nun aber nehmen wir weiter an, daß dieser Agnat sich verheiratet –«

»Mit Ihnen? Hurra!« schrie Engels, rot vor Freude.

»Nein, nicht mit mir,« unterbrach Dolores den Enthusiasmus des guten alten Menschen etwas scharf. Sie war blaß geworden.

»Nicht mit Ihnen?« meinte Engels kleinlaut. »Na, dann ist's ja egal – dann mag er wegen mir Teufels Großmutter heiraten.«

»Ich hoffe, er wird einen besseren Geschmack entwickeln,« sagte Dolores und lächelte etwas gezwungen. »Auf alle Fälle aber möchte ich der künftigen Frau von Falkner den Falkenhof als Morgengabe verschreiben. Geht das an, lieber Engels?«

»Nee, das geht gottlob nicht,« war die prompte Erwiderung. »Das hieße ja den Agnaten schädigen.«

»Schädigen, Engels? Schädigen, wenn ich seiner Frau verschreibe, was er bloß aus – aus eigenen Gründen nicht zurücknimmt, trotzdem es ihm doch besser zukommt als mir, der Frau, die doch nur ein dürrer Ast ist an dem Stammbaum?«

»Ich werde Ihnen mal was sagen, Fräulein Dolores,« meinte Engels gemütlich. »Wie Sie, hab' ich ja anfangs auch gedacht. Das wissen Sie. Aber schließlich habe ich doch noch Einsicht genug bewahrt, um mir zu sagen, daß das alles Unsinn ist, Unsinn, der in Ihren vom Falkenhof unabhängigen Mitteln seinen Ursprung hat. Sie sind reich – gut für Sie! Aber nehmen Sie an, Sie wären's nicht, da wäre der lebenslängliche Besitz des Lehens doch ein Segen für Sie, trotz der ideal-verrückten Ansicht, daß Reichtum nicht glücklich macht. Warum sollen Söhne alles, Töchter nichts haben? Nein, die Primogenitur im Falkenhof ist nur eine Gerechtigkeit. Aber davon wollten wir eigentlich nicht reden, sondern von der Verschreibung des Besitzes an die Frau des Agnaten. Deswegen brauchen Sie den Justizrat nicht erst zu belästigen, denn es liegt ja klar am Tage, daß diese Idee sich zwar bei jedem ixbeliebigen Privatbesitz, nicht aber beim Falkenhof realisieren läßt.«

»Ich sehe den Grund, der dagegen spricht, noch nicht ein.«

»Aber Fräulein Dolores, Sie haben doch sonst ein so helles Köpfchen,« meinte Engels sanft tadelnd. »Nehmen Sie also mal an, daß der Falkenhof wirklich der jungen Frau verschrieben wird. Nehmen Sie weiter an, daß das junge Paar sich trennt, sich scheiden läßt –«

»Unmöglich bei Katholiken,« unterbrach Dolores.

»Gott, man hat schon erlebt, daß Religionen aus diesen Gründen gewechselt wurden wie die Handschuhe,« entgegnete Engels achselzuckend. »Außerdem – wissen Sie's denn schon so genau, daß Baron Falkner auch eine Katholikin wählen wird?«

Dolores verneinte nur stumm, denn es war ihr eingefallen, daß Prinzeß Lolo Protestantin war.

»Na also!« fragte Engels. »Also lassen Sie die Sache mal schief gehen und die Ehe sich lösen, dann zieht die junge Frau ohne Schwierigkeit mit einem anderen Mann ein in den Falkenhof, und der der nächste dazu ist, hat das Nachsehen für immer. Auf diesen Eventualitäten basiert sich die Unmöglichkeit, ein Lehen zu verschenken.«

»Damit muß ich mich wohl bescheiden, Sie Unglück, Scheidung und andere schreckliche Dinge krächzender Rabe,« versetzte Dolores scherzend. »Wer denkt denn überhaupt an solche Dinge, wenn zwei sich heiraten sollen?«

»Natürlich nur der Jurist, wenn man von den bösen Zungen von Profession einmal absehen will,« gab Engels zurück, und da die Geschäfte für heut' erledigt waren, so empfahl er sich auch. In der Thür machte er noch einmal kehrt.

»Hören Sie, Fräulein Dolores,« sagte er unsicher, »das war alles ganz gut und schön mit mir, als ich unter meines Freundes und Brotherrn stets wachsamen Augen dem Falkenhof als Verwalter vorstand. Aber ob ich zum Generalbevollmächtigten tauge, weiß niemand und Sie am allerletzten. Können Sie keinen Besseren finden?«

»Nein, keinen Besseren,« erwiderte Dolores mit solch' überzeugender Freundlichkeit, daß Engels mit leuchtenden Augen ihre kleine Hand ergriff und sie sogar küßte. Und er sagte dann auch weiter nichts als: »Bon! Mein Schaden ist's ja nicht!« – und verließ mit dieser originellen Danksagung »das Lokal,« wie er sich ausdrückte, das brave Herz innen aber geschwellt von Dankbarkeit und dem gerechten Stolze eines redlichen Mannes, der sein Brot lange in oft nicht gerade süßer Abhängigkeit gegessen und sich dafür endlich in einer Stellung sieht, die dem Schiffbrüchigen des Lebens als ersehntes Ziel stets vor Augen geschwebt.

Der Abend brachte dann die Gäste aus Monrepos und Arnsdorf, und Dolores empfing sie an der Seite des Rußschen Ehepaares, das sich dem kleinen Kreise vollkommen anpaßte, wenn ihm ja auch durch jahrelange Einsamkeit der leichtere Konversationston abhanden gekommen war. Zwar fand sich Doktor Ruß, der ganz ausgezeichnet gut und bedeutend aussah, ohne Übergang leicht in den Ton hinein, der ihm von Jugend an fremd gewesen, aber er gehörte eben zu den selten begabten Menschen, welche instinktiv gesellige Formen und Allüren finden, sobald sie deren bedürfen, im Gegensatz zu denen, welche neben mühsam errungener geistiger Bildung in ihrem Auftreten stets ungeschliffen und unbeholfen bleiben. Fräulein von Drusen, die Hofdame, welche stets sehr scharf gegen Mesalliancen eiferte und der früheren Freifrau von Falkner die ihrige nie vergeben und vergessen hatte, war nach einer halben Stunde entzückt von ihrem Tischnachbarn, dem »simplen« Doktor Ruß, der nicht nur wie ein Gentleman aussah und sprach, sondern es auch war. Und wie das Herz der alten Hofdame, so gewann er sich auch zweifellos nicht nur die Zustimmung, sondern auch die entschiedene Approbation der anderen. Frau Ruß sah sehr stattlich aus in der von Theresa verfertigten schwarzen Schleierhaube, sie sprach wenig und fühlte sich ausrangiert, trotzdem sie bei Tisch neben dem Herzog saß. Der Herzog suchte sich viel mit ihr zu unterhalten, sie blieb aber einsilbig, beobachtete dafür aber scharf und ihre kalten Augen schienen sich jedermann in die Seele bohren zu wollen.

Nach Tisch begann Lolo dann eine ziemlich ungenierte Inspektion der von Dolores bewohnten Räume, in welche man nach aufgehobener Tafel hinaufgestiegen war. Sie fand das Erkerzimmer »reizend,« den Rokokosalon »himmlisch,« erklärte den Ahnensaal für »bezaubernd aber gruselig, der vielen Augen wegen, die einen aus den Rahmen ansehen,« und meinte, den zwischen dem Saal und dem Schlafzimmer liegenden, getäfelten Raum, den Dolores sich als Bücherei und abendliches Arbeitszimmer eingerichtet, würde sie sicher nicht viel benutzen.

»Denn Sie wissen, ich sehe mir alles schon so genau an, weil es ja doch mein Hochzeitsgeschenk ist,« flüsterte sie Dolores übermütig zu, doch als letztere ihr erklärte, daß sie mehr versprochen, als sie halten könne und den Falkenhof nicht verschenken dürfe, that dies der guten Laune der Prinzessin keinen Eintrag.

»Er, der herrlichste von allen, ist ja doch der Erbe,« tröstete sie sich.

»Nach meinem Tode erst,« warf Dolores ein.

»So?« machte das Prinzeßchen mit großen Augen und setzte mit dem ihr eigenen Optimismus hinzu: »Schadet nichts! Sie können ja sterben oder früher abdanken, wie Papa es thun will – und wenn Sie keins von beiden thun, so bleiben Sie unsere Erbtante und verziehen unsere Kinder. Abgemacht?«

»Natürlich,« sagte Dolores, wider Willen zum Lachen gezwungen durch die starke Naivetät des Herzogstöchterleins, das bei seinem weiten Blick in die Zukunft noch nicht einmal wußte, ob »der herrlichste von allen« ihr sein Herz überhaupt geschenkt.

Im Ahnensaal standen indes der Erbprinz und Falkner vor dem schönen Bilde der unglücklichen Freifrau Dolorosa.

»Das ist ja eine stupende Ähnlichkeit mit unserer liebenswürdigen Wirtin,« meinte ersterer, der sich von dem Bilde nicht trennen konnte.

»Es ist in der That eine wunderbare Laune der Natur, der Enkelin die Züge der Ahne zu geben,« sagte Falkner. »Doch zum Glück fehlt meiner Cousine der Zug von Schmerz, der auf dem Antlitz der ›bösen Freifrau‹ liegt.«

»Finden Sie?« fragte der Erbprinz leise. »Ich meine, diesen Ausdruck schon in den Augen der Freiin Dolores gesehen zu haben.«

»Hoheit sind ein scharfer Beobachter,« erwiderte Falkner wider Willen gereizt. »Ich habe davon noch nichts bemerkt – wie käme auch Schmerz in den Blick der Satanella?« setzte er fragend hinzu, doch ohne die scharfe Bitterkeit von früher.

Der Erbprinz hörte den Unterschied aber nicht heraus.

»Die arme Satanella!« rief er spöttisch. »Falkner, Falkner, wie kann man sich nur so in ein Vorurteil verbeißen!«

Aber Falkner zuckte mit den Schultern. Er hatte seine Frage anders gemeint; daß sie anders aufgefaßt wurde, ließ ihn kalt. Die anderen traten nun auch hinzu, und auf die Erklärung, daß dies wunderbare Ebenbild der Schloßherrin auch des Schlosses Irrgeist sei, ruhte Prinzeß Lolo nicht eher, bis sie die Geschichte der »bösen Freifrau« erfahren hatte. Nun blühte Doktor Ruß' Weizen, denn Dolores mußte ihm den Band der Familienchronik jener Zeit reichen – man gruppierte sich um das Bild, und er trug mit seinem weichen, leisen, musikalischen Organ den still und erschüttert Lauschenden die todestraurige Geschichte vor, die wir schon kennen.

»Die Arme! Was muß sie gelitten haben,« sagte Prinzeß Alexandra leise, als die Tragödie voriger Tage verklungen war. Dies erste Wort war für Graf Schinga das Signal, sich zu schneuzen, daß es im Saal ein vielfaches Echo erweckte.

»Ich kann solch' trauriges Zeug gar nicht hören,« versicherte er mit übergehenden Augen, wie einer, der niesen will und nicht darf. »In ›Maria Stuart‹ habe ich mal so heulen müssen – wie ein Schloßhund, wahrhaftig, daß das andere Publikum schon Mitleid mit mir hatte und der Logenschließer mich hinausbugsieren wollte. Seitdem sehe ich mir nur noch Lustspiele an und höchstens mal eine Oper, denn wenn der Tenor schmettert:

Ja du bist meine Seligkeit,
Doch er – er sei dem Tod gewei–heit –

oder die Primadonna trillert:

Ich lächle unter Thrä–ää–äää–äääänen –

das ist ja kolossal rührend, aber doch nicht so steinerweichend.«

Nach dieser Erklärung kam Doktor Ruß wieder auf die Freifrau Dolorosa zurück, und er schilderte ihr traurig Ende.

»Sie soll aber noch einmal zu klarem Bewußtsein gelangt sein,« schloß er. »Denn es wird in der Chronik berichtet, daß Gott den Schleier des Wahnsinns kurz vor ihrem Tode von ihrer Seele nahm und ihr die Gabe des Hellsehens verliehen habe. In diesem Zustande, in welchem sie von allem wußte, nach allem fragte und Anordnungen traf für ihr letztes Stündlein, in diesem Zustande soll sie dem Geschlechte der Falkner eine Prophezeiung hinterlassen und sogar aufgezeichnet haben.«

»Eine Prophezeiung?« fragte man unwillkürlich, Falkner mit inbegriffen, der so gesessen hatte, daß er während der ganzen Geschichte der Freifrau Dolorosa fortwährend das Profil von Dolores sehen mußte, welches sich von dem rubinroten Plüsch ihres Sessels klar und bleich abhob wie eine antike Kamee.

»Und wie lautet diese Prophezeiung?« fragte Gräfin Schinga interessiert.

»Sie mag wohl verloren gegangen sein,« antwortete Doktor Ruß. »Ich habe sie wenigstens beim Ordnen des Archivs und der Bibliothek nicht finden können.«

»Oder sie ist überhaupt eine Fabel,« meinte der Herzog. »Und wenn sie's ist, so wär's das beste, denn meist erwecken solche Prophezeiungen, selbst wenn sie nachträglich gemacht werden, nur den Aberglauben und seine traurigsten Folgen. Ich halte nicht viel davon, denn etwas Humbug ist immer dabei im Spiel.«

»Da möchte ich zu widersprechen wagen, Hoheit,« entgegnete Doktor Ruß. »Was wir gemeinhin Hellseherei und als deren Produkt Prophezeiung nennen, ist ein hypnotischer Zustand, der für uns zwar heutzutage noch viel Unerklärtes in sich schließt, wissenschaftlich beleuchtet aber immer verständlicher wird. Und warum sollen die Leute dazumal dem Hypnotismus weniger zugänglich gewesen sein, als heut' die vielen ›Medien‹ von Profession? Die Prophezeiungen alter Tage sind in hypnotischem Zustand abgegebene Erklärungen – Reisefrüchte einer Seele in jenes ferne Land, das wir die Zukunft nennen.«

»Hm! Hm! Ich bin hierin etwas skeptisch, lieber Doktor,« erwiderte der Herzog, während der Erbprinz ausrief:

»Ah, also ein Bundesgenosse! Du siehst daraus, lieber Papa, daß ich nicht allein stehe mit dem, was du gemeinhin unter die Rubrik ›Blödsinn‹ rangierst.«

»Kinder, laßt mich in Ruhe,« meinte der Herzog mit behaglichem Lächeln. »Zu meiner Zeit, da wußte man nichts von Hypnotismus und solchem Zeug, womit die Leute nur verrückt gemacht werden. Da ließ man die Menschen wahrsagen und träumen, was sie Lust hatten, und man brauchte es nicht zu glauben, wenn man nicht wollte. Aber jetzt möchte man sich abends schon mit Angst ins Bett legen bei dem Gedanken, daß die Seele einen kleinen Abstecher macht, Gott weiß wohin, und am Ende das Wiederkommen gar vergißt. Denn nach meinem Herrn Sohn sind Träume auch hypnotische Produkte, zu welcher Ansicht ich mich leider so lange nicht bekennen kann, als ich noch jedesmal vor feierlichen Gelegenheiten träume, daß mir bei Staatsakten allemal die notwendigsten Kleidungsstücke fehlen. Prophetisch können die Angstträume nicht sein, denn so lange ich noch bei Verstande bin, werde ich voraussichtlich Landtage und Ausstellungen nicht in einem Kostüm eröffnen, das für meine afrikanischen Kollegen ganz praktisch, bei uns aber ganz ungewöhnlich ist.«

»Papa ist eben ganz unüberzeugbar,« sagte der Erbprinz, wider Willen einstimmend in das lustige Lachen, das die herzogliche Traumdeutung hervorrief durch die ruhige, trockene Art, wie der hohe Herr sie vortrug.

Falkner, der nicht lachte, weil er gar nichts von des Herzogs Rede gehört hatte, sah nur das feine bleiche Profil an der Stuhllehne ihm gegenüber sich wenden und den schönen Mund lachen – eigentlich nur lächeln, um sofort wieder ernst zu werden.

»Trotz der entschieden unprophetischen Träume Eurer Hoheit gehöre ich aber auch zu den Frondeuren gegen Ihre Ansicht,« sagte Dolores. »Darf ich meine Beweise vorbringen, daß Träume kein bedeutungsloser Unsinn sind, oder sein können?«

»Ich bitte darum, und bin ganz Ohr,« erwiderte der Herzog, und alles lauschte gespannt, als Dolores begann:

»O, ich werde kurz sein. Mir träumte also von der bösen Freifrau, und ich sah sie naturgemäß, genau in derselben Kleidung, wie hier vor uns auf dem Bilde!«

»Hu! Wie graulich,« machte Prinzeß Lolo mit kokettem Erschauern.

»Nein, mir war es nicht zum Fürchten,« fuhr Dolores fort, »denn sie sprach sehr freundlich und liebevoll mit mir. Und mir träumte weiter, daß sie mir ein Geheimfach zeigte, und ich sah deutlich, wie es zu öffnen war. Daran wäre nun nichts Wunderbares – Bedeutung erhält der Traum aber durch den Umstand, daß ich später das Geheimfach wirklich fand und es öffnen konnte durch den Mechanismus, welchen mir die Ahnfrau im Traume gezeigt.«

Ein allgemeines »Ah« des Staunens durchlief den kleinen Kreis bei dieser Erzählung, und der Herzog meinte schmunzelnd:

»Hoffentlich hat der allerdings ganz wunderbare Traum auch seine praktische Seite, denn ich vermute, daß Sie in dem Geheimfache einen Schatz gefunden haben.«

»Einen Schatz fand ich zwar nicht darin, wohl aber die Prophezeiung, deren Doktor Ruß vorhin erwähnte!«

Ein plötzliches, wunderbares Naturereignis hätte den kleinen Kreis nicht in stupenderes Staunen, in größere Aufregung versetzen können, als die einfachen, ruhig gesprochenen Worte Dolores Falkners es thaten. Namentlich der Erbprinz war ganz Feuer und Flamme geworden und wollte von der Erzählerin alle Details des Traumes wissen, was sie während desselben gefühlt, was nachher empfunden.

»O, wenn ich die Wahrheit bekennen soll, so muß ich eingestehen, daß ich heut' noch darauf schwören möchte, alles im wachenden Zustande erlebt, nicht geträumt zu haben,« erwiderte Dolores. »Doch das ist ja natürlich Unsinn – es war ein Traum, das beweist die Unfähigkeit, mich zu regen, welche ich während desselben empfand.«

»Hypnotismus!« rief der Erbprinz triumphierend. »Gnädiges Fräulein, Sie ahnen nicht, welchen Wert Ihr Zeugnis für meine Studien hat!« –

»Ach liebes, liebes Fräulein Dolores, bitte, geben Sie uns doch diese Prophezeiung zum besten,« schmeichelte Prinzeß Lolo und gespannt blickte Doktor Ruß nach der Angeredeten hinüber. Sie aber schüttelte nur mit dem Kopfe.

»Es steht nichts darin von Gift und Dolch, Mord und Totschlag – ist also gar nicht pikant,« sagte sie.

»Ja, aber irgend etwas muß doch darin stehen, wenn es eine Prophezeiung ist,« beharrte die Prinzeß auf ihrem Wunsche. »Ich meine, irgend etwas Interessantes für die Familie.«

»Es scheint so,« erwiderte Dolores kühl. »Durchlaucht werden mich aber trotzdem entschuldigen, wenn ich es als gegenwärtige Lehnsherrin ablehnen muß, ein Dokument zu zeigen, das ich als ›sekret‹ betrachte.«

»Wenn dies mit Grund geschieht, so kann ich Ihnen nur zustimmen, Cousine,« sagte Falkner fest.

»Nun hetzen Sie auch noch,« schmollte die Prinzeß, der wohl noch selten eine Bitte versagt worden war, doch Prinzeß Alexandra sagte verweisend:

»Unsere liebenswürdige Wirtin ist im Recht, Lolo, und wir haben keines, aus bloßer Neugier oder zum Spaß Familienangelegenheiten zu durchstöbern!«

»Meinetwegen kann die ganze, dumme Prophezeiung auch eingepökelt werden,« sagte die junge, fürstliche Dame schmollend mit dem ganzen Trotz eines ungezogenen Backfisches, der für gleichgültig erklärt, was ihm verboten worden ist, und als Prinzeß Alexandra ein leis ermahnendes »Aber Lolo« hören ließ, spannte der kleine reizende Übermut die niedlichen Hände mit den rosigen Fingern Tandem vor ihr Näschen als Antwort, d. h. sie machte der entthronten Autorität ihrer Schwester eine ganz unfürstliche, schusterjungenmäßige »lange Nase.«

Als sie diese Heldenthat vollbracht, sprang der stets bizarre Sprünge machende Geist Prinzeß Lolos sofort auf eine andere Idee über.

»Famos, solch' ein Familiengespenst,« rief sie und betrachtete das Bild der bösen Freifrau. »Wir haben ja natürlich auch unsere graue Dame, aber ich hab' sie leider noch nicht gesehen, auch nicht von ihr geträumt, wie Sie! Sie geht immer die Korridore im Schlosse lang bis in die Kapelle und steigt dann zur Ahnengruft hinab. Apropos, Baroneß, haben Sie auch eine Ahnengruft? Und ist die Freifrau Dolorosa dort beigesetzt?«

»Ich habe wirklich noch nicht danach gefragt,« sagte Dolores.

»Da kann ich Auskunft geben,« warf Doktor Ruß ein. »Der Sarg der Freifrau Dolorosa steht in dem verschlossenen Raum der Gruftkapelle zwischen den Särgen der beiden Brüder Falkner, welche ihre Gatten gewesen sind.«

»In der sogenannten Bleikammer,« ergänzte Falkner.

»Ach, gehen wir doch hinein – bei Fackellicht! Es ist schon ganz finster,« rief Prinzeß Lolo aufspringend.

»Unsinn, Lolo,« sagte der Erbprinz.

»Na, ich dächte, das wäre doch ein unschuldiges Vergnügen,« erwiderte sie empört.

»Unschuldig – ja! Vergnügen – nein!«

»Das ist Geschmacksache,« entgegnete das blonde Prinzeßchen weise. »Mir zum Beispiel macht es ein wonnevoll grausiges Vergnügen, nachts in eine Ahnengruft zu steigen, um den Sarg einer spukenden Ahnfrau zu sehen. Und die Baronin Dolores wohnt sogar in ihren Zimmern und schläft in ihrem Bett. Aber ihr gönnt mir nichts. Nicht wahr, Baronin, ich darf in die Ahnengruft?!«

»Natürlich,« lächelte Dolores ergötzt.

»Ach, da kommen wir gleich,« rief Prinzeß Lolo und sprang auf.

»Heut' noch, Durchlaucht? Ein andermal –« –

»Nein, nein, gleich!« beharrte die Prinzeß. »Sascha würde zu Haus bloß predigen und mir haarklein beweisen, daß einer Prinzeß von Nordland nicht Extrawürste, wie andere Sterbliche sie speisen, gebraten werden dürfen. Das kenne ich schon!«

»Nun denn, vorwärts, wenn Seine Hoheit nichts dagegen hat,« sagte Dolores resigniert und amüsiert zugleich, während Prinzeß Alexandra ihrem Bruder zuflüsterte:

»Wenn ich nur wüßte, wo Eleonore diese Ausdrücke her hat!« –

Der Herzog hatte natürlich gar nichts dagegen, und nachdem Dolores an Ramo die nötigen Befehle gegeben hatte, brach man auf zu der alten Gruftkapelle, welche, in einem fernen Parkwinkel gelegen, unter hohen, uralten Eichen ein engbegrenztes, aber sehr stimmungsvolles Bild gab. In einem früheren Stil als der Falkenhof erbaut, hatte die Gruftkapelle schon Geschlechtern zur letzten Ruhestätte gedient, welche dahingegangen und erloschen waren, und durch die Eichenallee, durch welche nun die kleine Tafelrunde der Lehnsherrin Dolores lachend und plaudernd dahinschritt, war manch' ein Falkner hinausgetragen worden zum letzten langen Schlafe.

Alfred Falkner mußte unwillkürlich an seinen letzten Gang durch diese Eichenallee denken – als er dem Sarge des Onkels folgte, ein entthronter Erbe, ein bloßer Agnat im Gefolge der »Theaterprinzeß«! Auch heut' schritt sie ihm voran, aber an der Seite eines regierenden Herzogs, und er konnte nicht anders, als hinblicken auf sie, auf diese leicht schreitende, schlanke Gestalt, in deren goldnem Haar sich mitunter ein Mondenstrahl fing, der durch eine Lichtung im Gezweig huschte. Und dann glänzte dies Haar auf und sprühte wie Feuer und leuchtete metallisch wie poliertes Kupfer – dies Haar, dessen »Satansfarbe« er so gehaßt hatte. Nun freilich wußte er, daß dieser Haß Selbstbetrug gewesen – –

Da hing sich leicht ein Arm in den seinen, und ein reizendes Gesichtchen blickte auf zu ihm mit thränengefüllten Augen – Prinzeß Lolo.

»Sehen Sie nicht immer nur hin nach ihr,« flüsterte sie mit erstickter Stimme, »sie macht sich doch nichts aus Ihnen – gar nichts!«

»Das wußt' ich eher, wie Sie, Prinzeß,« erwiderte er in der Bitterkeit seines Herzens, und dann ärgerte ihn das rasche Wort. Was brauchte dies kleine Schoßkind des Glückes davon zu wissen?

»Das wissen Sie? Gott sei Dank!« flüsterte es an seinem Arme zurück.

»Wie meinten Durchlaucht?« fragte er steif.

»Ich sagte: Gott sei Dank, daß Sie es wissen,« kam es trotzig zurück, aber etwas lauter. »Ich will nicht so laut sprechen – was brauchen es die andern zu hören?«

»Was hören?«

»Daß Sie umsonst den Toggenburg spielen vor dem Falkenhof:

Ritter, treue Schwesterliebe
Widmet Euch dies Herz –
Fordert keine andre Liebe,
Denn es macht mir Schmerz –«

deklamierte die kleine Prinzeß.

»Durchlaucht belieben starke Ausdrücke,« gab er hochmütig zurück. »Denn wenn ich zu etwas nicht Anlage habe, so ist es zum Toggenburg.«

»Dazu wären Sie auch zu schade –« –

»O wirklich –?«

»Ja, denn Sie sollen siegen, aber nicht schmachten. Schmachten ist für einen Mann etwas Gräßliches – Jämmerliches. Wenn man Sie als Prometheus an einen Felsen schmiedete, und die Geier an Ihrem Herzen hackten –« –

»Es war die Leber, Durchlaucht!« – unterbrach er sie ironisch.

»Und die Geier an Ihrem Herzen hackten,« fuhr sie unbeirrt fort, »dann würde ich so viel glühende Thränen weinen auf Ihre Fesseln, bis sie schmölzen. Aber für einen Gefangenen im Bagno mit der Kugel am Fuß rühre ich keinen Finger!«

Die kleine, leidenschaftliche Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Falkner führte gerührt und geschmeichelt – vielleicht letzteres noch mehr, das reizende kleine Händchen, das auf seinem Arm lag, an die Lippen.

»O, Prinzeß Lolo!« murmelte er.

»Nennen Sie mich doch nicht auch mit diesem schrecklichen Namen,« bat sie leise mit schmeichelnder Stimme.

»Eleonore!« sagte er da, ohne Titel, ohne Prädikat.

»Alfred!« jauchzte es noch leiser zurück, aber mit solchem Herzensjubel, daß er davor erschrak. Was war geschehen? Was hatte er gethan? Doch zum Überlegen war keine Zeit – man war an Ort und Stelle.

Vor der Kapelle, die grau und verwittert unter dem dichten Blätterdach der sie umgebenden Eichen lag, standen zwei Diener mit Fackeln – sie hatten einen näheren Weg genommen, um die Herrschaften zu erwarten.

Der Herzog setzte sich sogleich auf eine Steinbank vor der Pforte. »So! Nun macht, was ihr wollt, ich bleibe hier,« erklärte er behaglich; die Lust in die Gruft hinabzusteigen, war übrigens auch bei den anderen nichts weniger als groß und man zögerte vor der nun geöffneten Pforte, bis Dolores zu Prinzeß Lolo sagte:

»Nun denn, so muß ich Ihnen allein die Honneurs dort unten machen, Durchlaucht!«

Aber der kleinen Durchlaucht war längst die Lust vergangen – sie hatte durchgesetzt, was sie sich eingebildet hatte, mehr wollte sie eigentlich nicht, und ihr Hasenherzchen fing merkwürdig an zu zittern und zu klopfen vor der Kapellenthür, auf welcher das Fackellicht unheimlich flackerte.

»Gehen Sie mit?« fragte sie zaghaft, zu Falkner emporsehend.

»Gewiß,« sagte dieser. »Dort unten habe ich sogar Repräsentationspflichten und größere Rechte, als meine Cousine, die Lehnsherrin!«

»Ein bitterer und grausiger Humor,« meinte Dolores ernst und gelassen.

»Ich schließe mich gleichfalls an,« erklärte Doktor Ruß sehr zum Mißfallen seiner Frau, und die Vier betraten die Kapelle, gefolgt von Ramo, der eine Stocklaterne entzündet hatte und mit derselben leuchtete.

Im Kapellenraum brannte hinter rotem Glase eine ewige Lampe, deren herrliche Form in schwerem Silber von der Decke herabhing. Der Altar, darin an bestimmten Tagen ein Priester Seelenmessen las für die ewige Ruhe der hier beigesetzten Falkner, war reich und prächtig bestellt – fromme Gaben Hinterbliebener, welche all diese gold- und silberstrotzenden Antependien, Leuchter, Vasen, Evangelien- und Episteltafeln als Opfer niedergelegt hatten für die dahingeschiedenen Geliebten.

Dolores, Falkner und Ramo neigten sich bekreuzend vor dem geschlossenen Tabernakel – dann öffneten sie ein Gitter, das eine steile aber breite Treppe abschloß und sie schritten, Ramo voran, dieselbe herab, hinter der Prinzeß, welche nur zaghaft den ihr zukommenden Vortritt nahm. Die Treppe mündete in einen hallenartigen Keller, in dessen gewölbten Nischen Särge standen von allen Größen, viele bedeckt mit verdorrten Kränzen.

»Hu, wie schrecklich!« flüsterte die Prinzeß halb weinend.

»Das sind neuere Generationen,« erklärte Falkner. »Die eigentliche Gruft liegt hinter jener Thür, und dieser Raum wurde ehedem als Kapelle benutzt, ehe es da drinnen zu enge wurde und man die Vorhalle droben als Kapelle einrichten mußte. Tempus fugit,« setzte er bedeutungsvoll hinzu.

»Tempus fugit,« wiederholte Doktor Ruß. »Künftige Geschlechter werden sich eine neue Stätte für ihren letzten Schlaf errichten müssen.«

»Es ist noch Platz hier für die beiden letzten Falkner,« erwiderte Dolores, seltsam bewegt. »Die Nischen sind gefüllt – hier aber, mitten im Raum, sind zwei aufgemauerte Postamente für die Särge, und hier trifft sie früh die Morgensonne durch das Gitterfenster, und frei kann die Waldluft sie umwehen. Es sind die besten Plätze, und niemand kann sie ›dem letzten Falkenpaare‹ wehren, denn wenn der letzte hinabgetragen ist, dann wird die Thür oben zugemauert, und die ewige Lampe erlischt –«

»Wer aber wird das letzte Falkenpaar sein?« fragte Prinzeß Lolo beklommen, und als niemand antwortete, stieß sie einen leisen Schrei aus. »Sie beiden?« flüsterte sie scheu, auf Alfred und Dolores deutend.

»Wer weiß es?« sagte ersterer und schritt der verschlossenen Thür zu, sie zu öffnen, während Dolores die prophetischen Worte der Ahnfrau einfielen:

Kann sich das Edelfalkenpaar nicht finden,
Dann wird der Stamm erlöschen und verschwinden.

»Verschwinden,« schien das Echo zu sagen, welches das gedachte Wort gar nicht erweckt hatte.

Der Raum, den sie jetzt betraten, war bedeutend kleiner, und die feuchte Grabesluft des großen Gruftgewölbes fehlte ihm, denn die Wände waren mit Blei bedeckt, von dessen blinden Flächen noch schwarze Tuchfetzen herabhingen, mit denen die Wände ehedem zum »pompe funèbre« behangen waren.

»Der Luxus unserer Vorväter hatte dieselben mehr konserviert als es jede Einbalsamierung thun konnte,« sagte Doktor Ruß, indem er auf die Bleiwände deutete. »Deshalb können wir auch heute noch beurteilen, ob der Maler der ›bösen Freifrau‹ geschmeichelt hat oder nicht.«

Er winkte Ramo, und dieser beleuchtete drei nebeneinander stehende reichbeschlagene, mit Samt bekleidete Prachtsärge, auf deren mittelsten eine Tafel angebracht war zu Füßen des Kruzifixes, auf welcher man deutlich den Namen: »Dolorosa, Freifrau von Falknerin« lesen konnte. Doktor Ruß und Falkner faßten den Deckel bei den Handhaben, hoben ihn herab und enthüllten einen zweiten Bleisarg, der in dem Prunksarg eingelassen war. Auch dessen Deckel wich und Dolores sah mit einem Ausruf höchster Überraschung eine Gestalt in dem Sarge liegen, von deren Haupt das Haar zwar glanzlos, aber genau so kupferrot leuchtete, wie auf dem ihren, und näher tretend konnte sie die von der Zeit zwar vergilbten, aber wunderbar erhaltenen Züge der »bösen Freifrau« erkennen, wie sie hier so friedlich zu schlafen schien im silbergestickten, weißen Damastkleide, das sich über einem goldgestickten, mattgrünen Unterkleide von Atlas öffnete. Die schmalen, schlanken Hände, welche aus den übergeschlagenen Spitzenmanschetten der hochgepufften Ärmel hervorragten und nun wie vergilbtes Elfenbein aussahen, waren über der Brust gefaltet, welche ein tiefer Ausschnitt des Kleides halb entblößte, der feingestickte, spitzenbesetzte mächtige Kragen aber leicht bedeckte. Um den Hals lag ein dünnes Goldkettlein, die rotgoldenen Haare waren dicht gekräuselt und in den leichten Federlöckchen lag im seltsamen Gegensatze zu dem grünen Unterkleide, eine spitze, lange, schwarze Witwenschneppe.

Mächtig erschüttert sah Dolores auf die Ahne herab, deren Züge sie trug, diese Züge, auf denen die Bleibekleidung der Wände und der bleierne Sarg dies Wunder der Erhaltung ihrer irdischen Reste bewirkt – sie hatte unwillkürlich die Hände gefaltet, und ihre Augen wurden feucht, als sie den Körper der Unglücklichen vor sich sah, die im Leben so heiß geliebt, so schwer gelitten hatte –

Da tönte ein gellender Schrei durch die stille Gruft –

»Die Augen – sie hat die Augen aufgemacht –« kam es in Tönen des Entsetzens von Prinzeß Lolos Lippen, und die Arme wild emporgereckt, die Augen stier und die Lippen blaß, flog sie auf Falkner zu und brach zu seinen Füßen zusammen.

»Das ist die Folge, wenn Backfische das Gruseln lernen wollen,« murmelte Doktor Ruß vor sich hin, während Dolores sagte:

»Schnell – schaffen Sie sie hinauf, Alfred! Das arme Kind kann Krämpfe davon tragen von ihrer Angst –«

Falkner hatte sich schon gebückt und hob die Prinzeß empor, welche krampfhaft schluchzend die Arme um seinen Hals schlang und das blonde Köpfchen an seine Wange drückte wie ein kleines Kind, das man mit dem schwarzen Mann in Schrecken gejagt. Der gellende Schrei hatte auch die vor der Kapelle Zurückgebliebenen aufgeschreckt.

»Das war Lolo –! O, ich dachte es wohl!« rief Prinzeß Alexandra und trat in die Kapelle. Doch da erschien schon Falkner oben an der Treppe mit seiner Bürde, die sich schluchzend fest an seinen Hals klammerte.

»Sie wird sich in der frischen Luft bald erholen,« sagte er auf den fragenden Blick der älteren Schwester.

Aber Prinzeß Lolo erholte sich nicht so schnell. Sie war von Falkners Halse nicht loszureißen und weinte Ströme von Thränen.

»Sie hat die Augen aufgemacht und mir gewinkt,« schluchzte sie, »aber ich will nicht sterben, Alfred, ich lasse dich nicht – laß du mich auch nicht – du bist mir gut – nicht wahr? Laß mich nicht sterben – nicht sterben – nicht sterben!«

Jetzt riß dem Erbprinzen die Geduld.

»Eleonore!« sagte er streng und scharf, daß das Schluchzen sofort nachließ, wie oft bei grundlos weinenden Kindern. »Eleonore, was soll das? Schäme dich!«

Langsam lösten sich die runden, weichen Arme von Falkners Hals, aber das verweinte Gesichtchen blieb an seine Brust gelehnt, bis der Herzog hinzutrat und, seine Tochter an der Hand fassend, diese hinwegzog.

»Fräulein von Drusen,« sagte er, »haben Sie die Güte, die Prinzeß nach Hause zu begleiten und dort zu Bett bringen zu lassen!«

»Papa!« schrie sie empört auf.

»Du weißt, ich liebe Scenen nicht,« entgegnete der Herzog ärgerlich. »Außerdem wünsche ich nicht, mir den schönen Abend weiter zu verderben. – Sie werden uns nämlich noch nicht los,« wandte er sich an Dolores, »denn Sie haben uns ein Lied versprochen.«

»Und ich hoffe, meine Schuld mit Zinsen einlösen zu können, Hoheit,« erwiderte Dolores liebenswürdig, und nur ein feiner Kenner hätte in ihrer Stimme ein leises Schwanken wahrnehmen können. Und so ging es die Allee zurück nach dem Falkenhof – fast in der alten Ordnung – Dolores voran mit dem Herzog, Ruß mit Fräulein von Drusen, der Kammerherr mit Frau Ruß, welche leichenblaß war und vor Aufregung zitterte infolge der Scene vor der Kapelle. Dem ersten Paare hatte sich Gräfin Schinga, dem zweiten ihr Gatte zugesellt, Prinzeß Alexandra folgte, den Arm um ihre Schwester geschlungen und leise mit dieser flüsternd, zuletzt, etwas weiter zurück, folgten der Erbprinz und Falkner.

Nach einer Pause ergriff ersterer das Wort.

»Baron Falkner,« sagte er, »wie soll ich mir diese Scene mit meiner Schwester deuten?«

»Genau wie Hoheit sie sahen. Es liegt nichts dahinter,« erwiderte Falkner ruhig. Daß man eine Erklärung fordern würde, dessen hatte er von Anbeginn sicher sein können, und er sah ihr gefaßt entgegen mit dem Gefühl eines Mannes, dem das hingebende Anschmiegen, das rückhaltlose Hervorbrechen der Zuneigung eines reizenden Weibes wohlgethan hatte, nachdem die Zärtlichkeit einer Mutter für ihn unter Kontrolle stand, und er verscherzt glaubte, was niemals sein gewesen.

»Es liegt nichts dahinter?« wiederholte der Erbprinz. »Meinen Sie damit, daß die Reden meiner Schwester spontane Eingebungen waren, welche Sie selbst überraschten?«

»Zum Teil thaten sie dies allerdings, Hoheit,« war die ebenso ruhige und sichere Antwort.