Die falsche Schwester - Verschließ die Augen vor der Lüge - Rose Klay - E-Book

Die falsche Schwester - Verschließ die Augen vor der Lüge E-Book

Rose Klay

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Beschreibung

Eine Familie. Zwei verschwundene Kinder. Zu viele Lügen.

Eine Tragödie überschattet Effies Leben: Vor 25 Jahren wurde ihre damals fünfjährige Schwester entführt - bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihr. Dennoch hat Effie mittlerweile selbst eine Familie gegründet. Doch nun befindet sie sich in einem Sorgerechtsstreit um die vierjährige Lulu. Dann geschieht das Unfassbare: Lulu wird aus dem Kindergarten entführt, just als eine winzig kleine, neue Spur zu Effies verschwundener Schwester auftaucht. Wiederholt sich hier die Geschichte? Gibt es einen Zusammenhang? Effie macht sich fieberhaft auf die Suche - und entdeckt die unfassbare Wahrheit über ihre Familie ...

Der neue Thriller von der Autorin von "Die Tochter" und "Was nebenan passiert ist": psychologische Spannung, die man nicht mehr aus der Hand legen kann!

Das sagen Leserinnen und Leser über "Was nebenan passiert ist":

"Brillant bis zum Schluss!" (Hei_Ho, Lesejury)

"Richtig gut ... Es fiel mir schwer, das Buch zur Seite zu legen." (Nitsrek, Lesejury)

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Danksagung

1

2

3

Das Kind

4

5

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Das Kind

7

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Das Kind

10

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Das Kind

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Das Kind

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18

Das Kind

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Das Kind

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Das Kind

24

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Leseprobe

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Über dieses Buch

Eine Familie. Zwei verschwundene Kinder. Zu viele Lügen.

Eine Tragödie überschattet Effies Leben: Vor 25 Jahren wurde ihre damals sechsjährige Schwester entführt – bis heute gibt es kein Lebenszeichen von ihr. Dennoch hat Effie mittlerweile selbst eine Familie gegründet. Doch nun befindet sie sich in einem Sorgerechtsstreit um die vierjährige Lulu. Dann geschieht das Unfassbare: Lulu wird aus dem Kindergarten entführt, just als eine winzig kleine, neue Spur zu Effies verschwundener Schwester auftaucht. Wiederholt sich hier die Geschichte? Gibt es einen Zusammenhang? Effie macht sich fieberhaft auf die Suche – und entdeckt die unfassbare Wahrheit über ihre Familie ...

Der neue Thriller von der Autorin von „Die Tochter“ und „Was nebenan passiert ist“ – psychologische Spannung, die man nicht mehr aus der Hand legen kann!

ROSE KLAY

DIE FALSCHE SCHWESTER

Verschließ die Augen vor der Lüge

THRILLER

Für meine liebsten Männer:

Linus, Liam und Lasse

Und die unersetzliche Barbara

1

Ich fuhr mit dem Finger über das iPad und spulte zum x-ten Mal die Zeit zurück.

Wenn ich den Regler langsam nach links schob, öffnete sich der Fahrstuhl, und Mila trat rückwärts über die Schwelle in den Gang zurück. Lautlos glitt die Stahltür zu und bewahrte sie vor ihrem Schicksal. Aber sobald ich losließ, nahm alles seinen Lauf.

Die ursprüngliche Qualität der Aufnahmen war miserabel. Alles war von einem gelblichen Schleier bedeckt, als hätten die Überwachungskameras mit verstauben Linsen gefilmt. Die grobkörnigen Bilder mit den verschwommenen Konturen hatten es der Polizei damals unmöglich gemacht, irgendwelche versteckten Hinweise zu finden.

Aber jetzt, nach all diesen Jahren, gab es dank moderner Computertechnik endlich eine Spur. Eine kleine nur, aber sie hatte uns alle in Aufregung versetzt. Die Hoffnung meiner Eltern, Mila vielleicht doch noch zu finden, war mit alter Wucht wieder aufgebrochen.

Mehrfach wiederholte ich das Spiel, öffnete und schloss die Aufzugtür. Da war Mila. Und im nächsten Moment war sie verschwunden. Es war genau in dieser Sekunde, ab der meine Schwester nur noch in unserer Erinnerung zu existieren begann und für immer ein kleines Mädchen in kurzem Sommerkleidchen blieb.

Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass wir wieder eine vollständige Familie wären, mit drei Kindern statt zweien. Meine Mutter wäre nicht zerbrochen und mein Vater nicht dazu verdammt, ihr Korsett zu sein, ohne das sie einfach zusammenklappen würde. Ich hätte meine Kindheit nicht einsam in der Villa zubringen müssen, nur allzu bereit, der Ersatz für die Lücke zu sein, die Mila hinterlassen hatte. Und Tilda, die trotz identischer DNA kaum unterschiedlicher hätte sein können als ich – nun, Tilda wäre nicht so, wie sie nun mal war.

Als Mila verschwand, hatten meine Eltern auf gewisse Weise auch Tilda verloren. Vielleicht, weil Mila immer im Mittelpunkt der Familie stand, obwohl sie gar nicht mehr da war.

Meine Mutter konnte Mila nicht aufgeben. »Sie lebt. Ich würde es spüren, wenn es anders wäre«, war immer ihr Mantra gewesen. »Wir werden sie finden. Ich bin ganz sicher!«

Und ich tat alles, um sie dabei zu unterstützen, auch wenn ich mittlerweile Milas Rückkehr sogar ein wenig fürchtete. Denn falls sie tatsächlich noch lebte, wusste niemand, was für ein Mensch aus ihr geworden war. Dieses Kind, das mit fünf Jahren gewaltsam von ihrer Familie getrennt worden war, war vielleicht heute ein Pulverfass.

Sie könnte die mühsam errichtete Normalität in unserem Haus ganz einfach zerstören, ob sie wollte oder nicht.

Der bröckelige Boden, auf dem wir standen, würde nicht viele Erschütterungen abfangen, ohne dass jemand in die Tiefe stürzte.

Die jahrelange Suche hatte meine Mutter zermürbt. Peu à peu hatte ich ihr deshalb sämtliche Aufgaben abgenommen. Ich wollte sie nicht allein lassen, würde es wahrscheinlich nie über mich bringen, aus der Familienvilla auszuziehen, obwohl ich mittlerweile selbst Mutter war. Tilda hatte es sich leichter gemacht und war schon vor Ewigkeiten ausgezogen. Für eineiige Zwillinge waren wir erstaunlich verschieden.

Ich war die ganze Woche im Stress gewesen. Der Tod meines Großvaters und die Vorbereitungen für die Beerdigung hatte alle eingespielten Abläufe auf den Kopf gestellt.

In der Nacht hatte ich kaum geschlafen. Oma war wieder durchs Haus geschlichen und hatte nach Opa gerufen. Sie verstand nicht, dass er nie mehr wiederkommen würde. Ihre Demenz hatte sich noch verschlimmert. Tagsüber kam jetzt eine Krankenschwester, um auf sie aufzupassen, aber nachts übernahm ich die Rolle, weil meine Eltern nicht gerne rund um die Uhr Fremde im Haus hatten. Also hatte ich einen Monitor mit Bewegungsmelder in Omas Schlafzimmer installieren lassen, der mich weckte, wenn sie aus dem Zimmer schlich.

Mehrfach hatte ich sie letzte Nacht ins Bett zurückbringen müssen. Und Tilda, die versprochen hatte, am Abend zuvor vorbeizukommen und Lulu zu beschäftigen, war einfach nicht aufgetaucht und hatte mir statt der erhofften Hilfe noch zusätzlich eine enttäuschte Tochter beschert, die den Abend über in der Einfahrt hin und her gelaufen war und auf ihre Tante gewartet hatte.

Ich war gerädert und sah auch so aus. Und ausgerechnet heute war die Pressekonferenz.

Lulu erschien im Nachthemd in der Küche. Sie hatte den Daumen im Mund, die dunklen Locken zerzaust.

Rasch schloss ich das Video auf dem iPad, bevor sie Fragen stellte, für deren Antworten sie noch zu klein war.

»Morgen, mein Schatz«, sagte ich.

Barfuß tapste sie über das Parkett, kletterte auf meinen Schoß.

»Tante Tilda ist nicht mehr gekommen«, sagte sie. In ihren Augen schwammen Tränen. »Sie hat es doch versprochen.«

Ich drückte sie an mich.

»Sie hat gestern ganz spät Abend noch geschrieben«, log ich. »Sie musste arbeiten, es tut ihr unheimlich leid.«

»Wir wollten Memory spielen. Ich hatte schon alles aufgebaut«, sagte Lulu.

»Sie kommt ganz bestimmt bald vorbei und spielt mit dir.«

Auch wenn ich Tilda liebte, ich ärgerte mich über sie. Lulu hatte genug durchgemacht in der letzten Zeit. Ihr Vater war ausgezogen, der Urgroßvater gestorben. Sie hatte angefangen, wieder am Daumen zu lutschen. Da könnte wenigstens die Tante sich als zuverlässig erweisen.

»Was möchtest du frühstücken?«, fragte ich, um vom Thema abzulenken.

»Hab keinen Hunger«, nuschelte Lulu an ihrem Daumen vorbei.

»Du musst etwas essen. Wenigstens eine Kleinigkeit.«

»Ravioli«, sagte sie.

»Zum Frühstück?« Ich tat entsetzt, war aber wenig glaubwürdig.

»Isst du doch auch immer.«

Ich aß vor allem dann Dosenravioli, wenn ich nervös war. Einen Moment überlegte ich, ob Lulu spürte, wie angespannt ich war und mir einen Gefallen tun wollte.

»Aber niemandem verraten«, sagte ich und legte den Finger an die Lippen. Natürlich meinte ich vor allem, dass Lulu ihrem Vater nichts sagen sollte. Wahrscheinlich würde er eine ungesunde Ernährungsweise im Allgemeinen daraus machen.

Wegen seiner ständigen Anschuldigungen musste ich jetzt vorsichtig und kompromissbereit sein. Wenn ich ihm den Umgang mit Lulu komplett verweigerte, könnte sich das ungünstig auswirken, hatte die Anwältin mir erklärt. »Schlau ist das zwar nicht von ihm, auf dem alleinigen Sorgerecht zu bestehen. Gemeinsame Sorge hätte er viel besser durchdrücken können. Aber die Stimmung bei der Justiz hat sich Vätern gegenüber geändert. Es bleibt ein Restrisiko. Seien Sie deshalb bis zum Prozess vor allem eins: die perfekte Mutter. Dann haben wir wesentlich bessere Chancen, dass er seinen Anspruch verlieren wird.«

Ich beschloss, dass ich für meinen geräderten Zustand heute perfekt genug war, holte eine Dose aus der Vorratskammer und verteilte die glitschigen Nudeltaschen in zwei Schüsseln. Wir aßen, ohne sie aufzuwärmen, an der Küchentheke und grinsten uns verschwörerisch an, während wir die Ravioli in uns hineinschaufelten.

»Früher hat deine Uroma mir die manchmal heimlich gemacht«, erzählte ich, »als ich so alt war die du.«

Ich verschwieg, dass ich fast meine gesamte Kindheit allein gewesen war. Die Ravioli von Oma waren mir Trost gewesen. Die Suche nach Mila hatte meine Eltern völlig in Anspruch genommen. Tatsächlich hatte es sich als Problem herausgestellt, dass unsere Eltern in ihrer Panik eine viel zu hohe Belohnung ausgesetzt hatten. In der Folge wollte jeder an den Kuchen. Es waren Tausende und Abertausende von Hinweisen eingegangen. Selbst in Chile wollte jemand Mila gesichtet haben.

Unterdessen hatten meine Großeltern weiter den Erfolg des Boskamp-Konzerns sichern müssen, sodass sie auch nur selten verfügbar waren.

Tilda hatte sich bald eine Ersatzfamilie gesucht. Ständig war sie weggelaufen, durch den Wald, rüber zu den van Akens, den ältesten Freunden der Familie.

Dass vor allem Linda und Peer van Aken Tilda so gerne bei sich hatten, lag sicher daran, dass Tilda ihre Interessen teilte, was man mir nicht behaupten konnte. Tante Linda brachte ihr das Reiten bei, und Onkel Peer nahm sie mit zur Jagd.

Nur ich war allein in der Villa zurückgeblieben, der letzte Beweis, dass wir einmal eine Familie gewesen waren.

Lulu hatte einen Bart aus Tomatensoße rund um den Mund. Sie hielt den Löffel wieder mit der ganzen Hand, wie früher, als sie gerade gelernt hatte, mit Besteck zu essen. Als wenn sie Rückschritte machen würde. Vielleicht war es nach zwei so einschneidenden Erlebnissen ja normal, aber ich begann langsam, mir Sorgen zu machen. Ich wischte meiner Tochter den Mund ab, während sie auf dem iPad herumspielte.

»Tante Tilda hat gesagt, ich kann mal bei ihr übernachten, wenn ich will«, sagte Lulu.

»Vielleicht, wenn du ein bisschen älter bist«, sagte ich ausweichend. »Komm, wir gehen Haare kämmen!«

Ich witterte die nächste Enttäuschung für Lulu. Tilda war nicht zuverlässig. Wenn ihr etwas dazwischenkam, würde sie Lulu einfach vergessen. Nicht aus Bosheit. Einfach, weil sie so war.

»Wie alt denn, Mama?«

»Mindestens fünf«, antwortete ich, während ich ihre Locken zu einem Zopf bürstete.

»Wann werde ich fünf?«

»Im Februar, mein Schatz. Dann reden wir noch mal darüber.«

»Ist das vor Weihnachten?«

»Nein. Danach.«

»Kann ich mir ein neues Memory vom Weihnachtsmann wünschen?«, fragte Lulu. »Mit Elefanten. Tante Tilda sagt, das sind ihre Lieblingstiere.«

»Wünschen kann man sich alles«, sagte ich und war froh, als sie endlich mit dem Thema aufhörte. Tilda wusste nicht einmal zu würdigen, dass Lulu ihr Herz an sie verschenkt hatte.

Im Rausgehen stopfte ich rasch die leere Konservendose in den Mülleimer. Die Vorstellung, dass meine Mutter mich bei einer schlechten Angewohnheit erwischte, war mir unangenehm.

Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel und trat zusammen mit Lulu auf die Galerie.

Von hier oben konnte man nach unten in den Empfangsbereich des Haupthauses schauen. Zwischen den beiden Flügeln wand sich schwungvoll eine breite Treppe bis in die Eingangshalle.

Die alte Villa, die meine Großeltern einst gekauft hatten und in der wir mit nunmehr vier Generationen unter einem Dach lebten, war in unterschiedliche Bereiche eingeteilt. Im oberen Stockwerk bewohnten Lulu und ich den rechten Flügel. Links lagen unsere alten Kinderzimmer: ganz hinten meins, daneben Tildas und vorne Milas. Ich nannte ihn den »verbotenen Trakt«, weil ihn so gut wie nie jemand betrat. Er war schon vor langer Zeit zu einem Museum erstarrt.

Lulu hüpfte auf einem Bein die Treppe hinunter, und ich beeilte mich, hinter ihr herzukommen.

Im Auto spielten wir »Ich packe meinen Koffer«, aber ich war unkonzentriert, weil ich über die Pressekonferenz nachdachte und wie ich meine Mutter beruhigen könnte, falls Tilda überhaupt nicht auftauchte, sodass Lulu schnell keine Lust mehr auf das Spiel hatte. Auch die Verabschiedung im Kindergarten fiel knapp aus.

»Denk dran, Papa holt dich heute nach dem Mittagessen ab«, sagte ich noch, bevor Lulu hinter ihrer Gruppentür verschwand.

Auf dem Rückweg kam eine Nachricht von Tilda, dass sie direkt zur Agentur von Tante Linda kommen würde, wo die Pressekonferenz stattfinden würde. Kein Wort, warum sie Lulu und mich am Abend vorher versetzt hatte. Trotzdem fiel mir ein Stein vom Herzen. Es machte einfach in der Öffentlichkeit einen besseren Eindruck, wenn die Familie Boskamp geschlossen auftauchte.

Zu Hause schaute ich noch kurz bei meiner Oma ins Zimmer. Die Krankenschwester war inzwischen gekommen und legte den Finger an die Lippen, als ich den Kopf zur Tür reinsteckte. Oma schlief noch, nach der durchwanderten Nacht wunderte mich das nicht.

Meine Mutter fand ich im Park. Sie saß auf der verwitterten Steinbank, auf der mit schnörkeligen Buchstaben Milas Name eingraviert war.

Sie war fertig angezogen. Dunkles Etuikleid. Nicht in Schwarz, das wäre zu viel. Dunkelblau. Pumps mit niedrigem Absatz. Genau richtig. Wahrscheinlich hatte mein Vater ihr die Sachen am Morgen herausgelegt.

Ich setzte mich neben sie, bemerkte aber an ihrer kerzengeraden Haltung, dass sie ungehalten war.

»Tilda hat sich noch nicht gemeldet«, sagte sie, ohne mich anzusehen.

»Sie kommt. Keine Sorge. Sie wollte erst nicht, aber hat sich dann umentschieden.«

Meine Mutter seufzte. »Ich verstehe sie. Eigentlich mag ich selbst nicht hingehen.«

Dass sie Tilda verstand, kam nicht so oft vor. Ich wertete es als gutes Zeichen – hoffentlich war auch meine Schwester in einer friedlichen Stimmung.

»Das schaffst du schon.« Ich drückte meiner Mutter die Hand. »Das ist ja nicht dein erstes Rodeo.«

»Im Internet sind ein paar Videos aufgetaucht. Von einer Journalistin, die über Milas Fall berichtet. Aber sie stellt ganz komische Fragen. Zum Beispiel, wie es passieren könne, dass man mitten in der Stadt einfach so ein Kind verlieren kann, am helllichten Tag. Sie sagt es nicht direkt, aber es hört sich so an, als ob es in Wirklichkeit meine Schuld gewesen wäre. Und es gibt tatsächlich Kommentare darunter, wo ich als verantwortungslos bezeichnet werde. Dass ich falsch reagiert habe.«

»Schmutz ist das, Mama. Nichts als Schmutz. Im Internet kann sich jeder zu allem äußern, ob es berechtigt ist oder nicht. «

Meine Mutter seufzte tief.

»Vielleicht haben diese Leute ja recht. Ich hätte besser aufpassen sollen.«

»Du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Keine Mutter der Welt kann jede Sekunde ihres Lebens auf ihr Kind aufpassen. Keine!« Wer wüsste das besser als ich. »Du musst dir endlich selbst verzeihen, Mama. Niemand von uns macht dir Vorwürfe.«

Sie zupfte an ihrem Kragen. »Tilda schon.«

»Nicht einmal Tilda.«

Das stimmte nur halb. Die beiden machten sich gegenseitig Vorwürfe. Meine Mutter fühlte sich in ihrer Trauer unverstanden, während Tilda ihr vorwarf, dass sie ihre verbleibenden Kinder vernachlässigt hatte, statt irgendwann einmal Mila loszulassen. Tilda hatte eben keine Kinder. Sie wusste nicht, dass man sie nicht loslassen konnte. Niemals.

Ich strich meiner Mutter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Mach dir keine Sorgen, Mama. Die van Akens sind ja auch noch da, und wer kennt sich mit der Presse besser aus als sie? Denk daran, dass es heute nur darum geht, ein neues Puzzlestück zu präsentieren, damit wir Mila irgendwann wiederfinden, um sonst nichts.«

Und weil sie immer noch besorgt aussah, fügte ich hinzu: »Und um Tilda kümmere ich mich schon.«

2

Die Werbeagentur Van Aken, in der die Pressekonferenz stattfand, lag im Düsseldorfer Medienhafen und war nicht zu übersehen: zu auffällig, zu glitzernd, zu mondän. Die Fassade sah aus, als hätte man sie mit Quecksilber übergossen. Sie hatte eine Struktur wie grob gehämmertes Metall und bot dem Licht unzählige Möglichkeiten, sich zu brechen. Wenn man sich näherte, huschte es in quirligen silbernen Perlen an der Oberfläche umher, immer in Bewegung.

Meiner Familie war das Gebäude fast so vertraut wie die Besitzer.

Die Agentur war ein Hochzeitsgeschenk von Peer an seine Frau Linda gewesen, die Werbegrafikerin und die beste Freundin meiner Mutter war. Außerdem war sie Milas Patentante.

Die van Akens waren nicht nur unsere nächsten Nachbarn, sie waren seit Jahrzehnten die besten Freunde der Familie. Die Freundschaft ging bis auf meine Großeltern zurück und hatte sich in der nächsten Generation fortgesetzt.

Zu Anfang hatte sich hier der Krisenstab versammelt, waren die Suchtrupps ein- und ausgegangen, während meine Eltern sämtlichen Hinweisen gefolgt waren, die irgendwo aufgeploppt waren. Alle hatten sich am Ende als falsch herausgestellt. Verschiedene Detektivbüros hatten sich die Taschen gefüllt, aber keine Ergebnisse gebracht.

Von der Polizei war der Fall Mila Boskamp schon vor vielen Jahren zwischen den Aktendeckeln wegsortiert worden. Da hatten irgendwann auch die guten Beziehungen unserer Familie zur Staatsanwaltschaft nichts mehr genutzt. Der Fall war nicht nur kalt, er war tiefgefroren.

Die Öffentlichkeit dagegen ließ sich immer noch mobilisieren. Nebenan strömten massenhaft Menschen in den Saal. Ich hörte das Klappern der Stative, die aufgebaut wurden.

Meine Mutter sah alle drei Sekunden auf die Uhr, Tilda war immer noch nicht aufgetaucht.

»Sie ist bestimmt schon auf dem Weg. Ich warte am Eingang auf sie«, sagte ich.

Der riesige Empfangsbereich war komplett in Weiß eingerichtet, was die verschiedenen Materialien betonte, die verwendet worden waren. Glänzend weißer Steinboden, weiß lackierte Holztische, weiße Acrylstühle neben weißen Ledersofas. Weiße Glaslampen, die in unterschiedlichen Größen und Formen von der meterhohen Decke hingen. In einer Ecke stand eine riesige Metallskulptur, die an den Todesstern von Star Wars erinnerte. Es gab sogar weiße Pflanzen. Es waren echte, speziell präparierte Pflanzen, lebendig begraben unter einer weißen, pulverigen Lackschicht. Inmitten von all dem blendenden Weiß schlenderte mir Tilda entgegen.

»Hey, Sis«, sagte sie.

Sie hatte Springerstiefel an, löchrige Jeans und ein grellrosa T-Shirt mit der Aufschrift: I'm just here to make some trouble.

Es war nicht die passendste Kleidung für eine Pressekonferenz, aber immerhin besser als die Overkneestiefel und der Minirock beim letzten Mal. Ich wunderte mich wieder einmal, wie man exakt gleich und doch komplett unterschiedlich aussehen konnte. Ich trug einen teuren, olivfarbenen Leinenanzug mit einer hellen Bluse, dazu hochhackige Riemchensandaletten und hatte das Haar zusammengebunden, während Tildas in alle Richtungen abstand.

»Du bist spät«, sagte ich. »Beeil dich.«

Tilda zuckte die Achseln.

»Lulu war enttäuscht, dass du sie gestern nicht mal angerufen hast«, sagte ich, während ich sie Richtung Pressesaal zog. »Sie hatte schon ein Spiel aufgebaut, das sie mit dir spielen wollte.«

»Ach? Ich hatte doch gar nicht fest zugesagt. Vielleicht, habe ich gesagt.«

»Stimmt nicht. Du hast gesagt, du kommst und kümmerst dich um Lulu, damit ich mehr Zeit für Oma habe.«

»Tut mir leid. Es kam was dazwischen. Ich mach‘s wieder gut. Schau, ich habe ihr was mitgebracht.«

Sie kramte in ihrer Umhängetasche und holte ein kleines Päckchen heraus.

»Ist das dein Ernst? Es gibt immer noch Polly Pockets?«

»Neunziger-Revival, Sis! Die sind wieder voll im Trend. Mittlerweile sind das kleine Schatztruhen, die steigen im Wert.«

»Ja, sicher.«

Ich besaß Dutzende von den Dingern, allesamt Zeichen von Tildas schlechtem Gewissen. Sie hatte mir früher oft welche geschenkt, wenn sie von Onkel Peer und Tante Linda wieder nach Hause kam, wo man sie verwöhnt hatte, während ich allein zurückgeblieben war. Tilda war dem Trend der Zeit gefolgt, als sie anfing, sie zu sammeln – fast jedes Mädchen in der Schule hatte das getan –, aber ich fragte mich, ob sie damit unbewusst an die letzte Erinnerung an Mila anknüpfte.

»Mama ist schon fix und fertig, weil du so spät kommst«, sagte ich.

»Immer mit der Ruhe. Konstanze wird es überleben.«

»Nenn Mama bitte nicht Konstanze. Das ist respektlos.«

Tilda wollte zu einer Widerrede ansetzen, aber ich hob die Hand. »Bitte nicht heute, Tilda. Hab etwas Mitgefühl.«

Ich steckte Tildas Geschenk rasch in meine Handtasche, damit meine Mutter sich nicht noch mehr aufregte, und schob Tilda in den Vorraum des Pressesaals.

»Tilda! Na endlich!«, rief meine Mutter. »Dass du uns immer bis zur letzten Sekunde warten lassen musst!«

Tilda antwortete nicht, aber die Art, wie sie ihre Augenbrauen zusammenzog, machte mich nervös.

»Hauptsache, sie ist jetzt da«, sagte ich rasch.

Es lag eine Spannung in der Luft, wenn die beiden sich begegneten, die ich schlecht aushielt.

»Wir gehen vor und lassen die Leute erst mal ihre Fotos machen«, sagte mein Vater und nahm Mama bei der Hand. »Wartet einfach ein paar Minuten, dann könnt ihr unauffällig auf eure Plätze gehen. Es reicht ja, wenn wir ins Feuer geraten.«

»Hast du dein Handy ausgeschaltet? Nicht, dass es gleich klingelt«, fragte Mama und sah Tilda streng an.

»Yup«, antwortete sie.

»Warte, du hast da was.« Ehe Tilda sich versah, rieb sie mit dem Daumen über Tildas Gesicht. Es war eine harmlose Geste, aber meine Schwester sah regelrecht entsetzt aus. Da sie mit dem Rücken zur Wand stand, konnte sie der Berührung nicht entkommen. Einen Moment befürchtete ich, sie würde nach unserer Mutter schlagen.

»Ihr müsst raus! Linda winkt!«, rief ich schnell, und meine Mutter ließ von Tilda ab.

Sekunden später hörten wir die Unruhe, die nebenan ausbrach. Im Saal flammten Blitzlichter auf.

Meine Eltern nahmen ihre Plätze ein und wurden nun von den Fotoapparaten abgeschossen wie Rebhühner bei der Treibjagd. Tilda und ich sahen durch den Spalt in der Tür und folgten ihnen mit Blicken.

Da saßen in einer Reihe fünf Menschen, die ein Schicksalstag vor fünfundzwanzig Jahren endgültig zusammengeschweißt hatte.

Meine Eltern und drei der verbliebenen Mitglieder der Familie van Aken, denn neben Peer und Linda war auch der alte Armin van Aken gekommen, um uns zu unterstützen.

Bei uns fehlten inzwischen Oma und Opa, was meinem Vater aber guttat, wie man an seinem sicheren Auftreten bemerkte. Das Leben mit vielen Generationen unter einem Dach war nicht immer einfach. Mein Großvater hatte meinen Vater, der seine Lebensaufgabe vor allem darin sah, meine Mutter zu stützen, als schwach angesehen.

»Du bist ein Keiler ohne Hauer, Reinhard«, hatte Opa gerne gesagt. »Hast dir eine gute Rotte gesucht und rennst der Leitbache zu den besten Futterplätzen nach. Aber zu mehr wirst du es nicht bringen.«

Als Kind hatte ich das gemein gefunden, aber ganz falsch war es nicht gewesen. Mein Vater hatte zeit seines Lebens nur meinem Großvater zugearbeitet.

Auch der Vergleich unserer Familie mit einer Wildschweinrotte hatte sich bei mir eingebrannt, weil er ebenfalls recht passend war. So gesehen war mein Großvater ein Keiler mit vollem Gewaff gewesen. Die Führung übernehmen hatte er gekonnt.

Und wenn wir eine Wildschweinrotte waren, dann waren die van Akens edles Rotwild, mit dem alten Armin van Aken als Platzhirsch des Waldes.

Der Vergleich unserer Familien mit Schwarz- und Rotwild passte auf eine Art, die uns nicht schmeichelte. Die van Akens waren edleren Geblüts als wir. Sie stammten von europäischem Landadel ab, während meine Großeltern sich aus einer Plattenbausiedlung nach oben gearbeitet hatten.

Armin van Aken, der trotz seiner achtzig Jahre immer noch ein Medienimperium leitete, hatte seine Herrschaft nie abgegeben. Peer, mit Mitte fünfzig nicht minder mit den Qualitäten eines kapitalen Hirschs ausgestattet, hatte ein Kräftemessen mit seinem Vater seit jeher unterlassen. Vater und Sohn schritten vielmehr seit Jahren in fast feierlicher Weise nebeneinanderher, ohne sich in Quere zu kommen. Und Tante Linda hatte tatsächlich das zarte Aussehen und den Augenaufschlag eines scheuen Rehs, ganz ähnlich wie ihre Schwiegermutter Marlies auf alten Fotos. Mittlerweile lebte diese den Großteil des Jahres aus gesundheitlichen Gründen auf Mallorca, wo ihr das Klima besser bekam.

Tilda warf einen Blick auf ihr Handy. Es war natürlich nicht ausgeschaltet.

»Stell es wenigstens leise«, sagte ich.

»Keine Sorge.« Tilda grinste. »Peer schaltet bei Pressekonferenzen immer einen Störsender ein. Die Handys im Pressesaal sind alle lahmgelegt.«

»Warum das denn?«

»Kontrolle. Er mag nicht, wenn die Leute Sachen rausschicken, die er noch nicht abgenickt hat.«

Sie musste mir immer unter die Nase reiben, dass sie Onkel Peer und Tante Linda besser kannte als ich.

Tilda steckte das Handy wieder weg.

»Sag mal.« Ich starrte Tilda ins Gesicht. »Hast du ein blaues Auge?«

Dort, wo meine Mutter mit dem Daumen über ihr Gesicht gerieben hatte, war ein dunkler Fleck auf ihrer weißen Haut zu sehen.

Tilda tastete mit dem Finger über ihr Gesicht. »Berufsunfall.«

»Arbeitest du denn nicht mehr als ... Postbotin?« Ich stockte. Diesen Job hatte Tilda nur deshalb angenommen, weil sie meiner Mutter eins auswischen wollte, da war ich sicher. Die Boskamp-Erbin trägt Post aus, statt sich um die Weiterführung der Geschäfte zu kümmern, das war einigen Boulevardblättern eine Schlagzeile gewesen.

»Doch. Macht wirklich Spaß. Ich bin den ganzen Tag an der frischen Luft.«

»Und wie kriegt man dabei ein blaues Auge? Ärgern sich die Leute, weil du nur noch Rechnungen bringst?«

»Haha. Ich habe ein Paket aus dem Regal geholt, und das ist mir aus der Hand gerutscht. War echt schwer, das Ding.«

»Aha.« Ich hoffte, dass es die Wahrheit war. Vor Kurzem hatte ich Tilda in einem Café mit einem Typen gesehen, der mir gar nicht gefallen hatte. Vollbart, zurückgekämmtes Haar, Tätowierungen bis zum Hals. Außerdem doppelt so alt wie sie. Überhaupt ein Typ, den man auf keinen Fall mit in den Golfclub bringen konnte, was ihn aus Tildas Sicht wahrscheinlich automatisch in die engere Wahl rücken ließ.

Nebenan verebbten die Blitzlichter langsam.

Linda kam zur Tür und winkte uns heran.

Ich versuchte, nicht zu blinzeln, als wir den Saal betraten und tastete mich an den weißen Resopaltischen entlang bis zum äußersten Stuhl. Die Tische waren unser Schutzschild, sie schirmten uns von der Presse ab.

Mein Vater wirkte entspannter als meine Mutter. Er hatte es natürlich einfacher als sie. Er war nicht dabei gewesen. Bei meiner Mutter schwang die Schuldfrage mit. Hatte sie nicht richtig aufgepasst? Hätte sie etwas anders machen müssen? Das gehörte dazu, wenn man Kinder bekam. Die Schuld. Müttern gab man gerne an allem Möglichem die Schuld, vor allem, wenn etwas schiefging. Das hatte ich mittlerweile am eigenen Leib erfahren. Man brauchte nur Lulus Vater Jonas zu fragen.

Das Blitzlichtgewitter verebbte langsam und ein geschäftiges Stühlerücken begann.

Die Mikrofone der unterschiedlichen Sender streckten unseren Eltern die bunten Schaumstoffköpfe entgegen, bereit, ihnen jedes Wort direkt aus den Mündern zu saugen.

An eines der Mikrofone gelehnt saß mit hängenden Ohren Hoppel, Milas Stoffhase. Das heißt, eine Kopie davon. Hoppel selbst war vor langer Zeit zusammen mit Mila verschwunden. Der Hase war eines der wenigen Dinge, von denen man mit Sicherheit sagen konnte, dass Mila ihn bei sich gehabt hatte.

Leider war ausgerechnet Hoppel einer der größten Verkaufsschlager unserer Firma gewesen und maßgeblich für den Erfolg der Boskamp-Spielwaren verantwortlich. Dementsprechend viele gab es davon.

Armin van Aken tätschelte mir kurz die Hand, als ich neben ihm Platz nahm. Seit Opa tot war, tat er sein Bestes, ihn zu ersetzen.

Mein Vater ergriff jetzt das Wort.

»Bevor wir Ihnen gleich eine Neuigkeit auf dem Überwachungsfilm zeigen werden, möchte ich Ihnen kurz deutlich machen, wie viele Jahre mit unserer Tochter wir bereits verloren haben.«

Über unseren Köpfen erschien ein riesengroßes Foto, auf dem Mila als Fünfjährige zu sehen war. Es war die bekannteste Aufnahme von ihr, sie war auf den Fahndungsplakaten gewesen. Sie lächelte genau in die Kamera. Die dunklen Locken umrahmten das feine Gesicht, ihre Augen waren sehr groß und sehr blau.

Auf einmal begann sich das Bild zu verändern. Vor uns alterte Mila im Zeitraffer.

Als der Film stoppte, schaute eine einunddreißigjährige Mila auf uns herunter.

Auch als Erwachsene zeigten sich nur die positiven Aspekte der Boskamp-Gene. Mila war schön. Die hellblauen Augen meiner Mutter, die vollen Lippen meiner Großmutter, die dunklen Locken meines Vaters. Ich sah zu Tilda hinüber, ob Milas Lockenpracht auf dem Foto unangenehme Erinnerungen in ihr auslöste, vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen, doch zwischen ihren Augenbrauen erschien nur eine steile Falte, die sie eher zornig wirken ließ.

Mein Vater deutete auf das Foto. »So sieht Mila heute aus. Wenn irgendjemand diese Frau erkennt, möglicherweise auch sich selbst, bitten wir Sie, sich unter der eingeblendeten Nummer zu melden.«

»Sich selbst?«, kam ein Zwischenruf aus dem Publikum.

Mein Vater nickte. »Es ist durchaus möglich, dass sie gar nicht mehr weiß, wer sie ist. Wenn man ihr etwas anderes erzählt hat. Kinder sind leicht zu manipulieren.«

Wieder blitzte es vereinzelt.

»Sie brauchen nichts abzufotografieren, Sie bekommen sämtliches Material später zugeschickt«, sagte Peer van Aken. »Gleichzeitig bitten wir Sie dringend, uns unverzüglich alles mitzuteilen, was Ihnen bezüglich des Falls zugetragen wird. Nur mit neuen Hinweisen können wir die Staatsanwaltschaft dazu bewegen, wieder tätig zu werden.«

Schweigen. Was sollte man auch sagen, wenn in einem Fall wie diesem die Staatsanwaltschaft seit Jahren die Hände in den Schoß legte.

»Ich denke, wir können jetzt auch langsam starten«, fuhr Peer fort und warf Linda ein Lächeln zu. »Meine Frau hat sich bei der Überarbeitung des Films selbst übertroffen.«

Er gab einem Assistenten im Hintergrund ein Zeichen. Die Verdunkelungsrollos setzten sich surrend in Bewegung und verschlossen die bodentiefen Fenster. Einen Moment wurde es mir eng um die Brust. Ich war nicht gerne in dunklen, abgeschlossenen Räumen. Doch dann schaltete Peer den Beamer an, und ich starrte mit allen anderen wie gebannt auf die Wand hinter uns.

Gemeinsam mit dem übrigen Publikum machte ich einen Sprung in die Vergangenheit, die sich nun in neuer Klarheit vor uns ausbreitete.

Obwohl ich den Film in- und auswendig kannte, wirkte er allein durch die frischen Farben und die gestochen scharfen Bilder vollkommen anders.

Die jüngere Ausgabe meiner Mutter trat mit Mila an der Hand durch den weit geöffneten Haupteingang des Kaufhauses.

Das Kaufhaus hatte erst seit wenigen Minuten geöffnet, und so war das Erdgeschoss menschenleer, bis auf zwei schwatzende Verkäuferinnen hinter einer Glasvitrine, in der Parfümflakons ausgestellt waren wie wertvolle Schmuckstücke.

Als meine Mutter den warmen Luftstrom im Eingangsbereich durchschritt, geriet das blonde Haar kurz in Unordnung, und sie zog ein wenig die Mundwinkel nach unten. In ihrer schmalen Hose mit Pepita-Muster, dem hellen Poloshirt und den Mokassins sah sie aus, als käme sie gerade vom Golfplatz.

Mila hatte ein blaues, mit Sternen bedrucktes Kleidchen und Sandalen an. Auf dem Kopf trug sie einen weichen Sonnenhut, der ringsum einen breiten Rand angenäht hatte, um zusätzlichen Schatten zu spenden, aber das war nicht der Grund gewesen. In ihrem Arm hielt sie Hoppel.

Die nächste Filmsequenz zeigte die beiden auf der Rolltreppe. Sie fuhren bis in den zweiten Stock, wo neben Kindermode und Sportartikeln auch Spielwaren angeboten wurden. Als Mila von der Treppe springen wollte, stolperte sie über die letzte Stufe, und meine Mutter zog sie rasch am Arm in die Höhe, damit sie nicht stürzte, eine Geste, die mir auf einmal Gänsehaut bereitete. Dies war das letzte Mal gewesen, dass ihr Mutterinstinkt Mila hatte beschützen können.

Die zwei marschierten geradewegs zur Spielwarenabteilung, bis sie schließlich vor einem Regal mit Plastikspielzeug stehen blieben. Die Überwachungskamera dort hing in einem ungünstigen Winkel und zeigte Mila nur noch am Bildrand. Sie streckte den Finger aus, deutete auf etwas. Der Arm meiner Mutter erschien im Bild und klaubte ein rosafarbenes Ding aus dem Fach.

Es war, wie sich später herausstellte, das »Dreamhouse« von Polly Pocket, ganz ähnlich dem, das Tilda Lulu als Entschuldigung mitgebracht hatte, ein Mini-Puppenhaus versteckt in einer aufklappbaren Dose in Herzform. Die Polizei hatte es eine Weile in der Asservatenkammer aufbewahrt, bis meine Mutter es irgendwann abgeholt und in Milas Kinderzimmer auf die Kommode gestellt hatte, wo es sich bis heute noch befand, unberührt, wie der ganze Raum seitdem.

Mila trug das Plastikherz fest an sich gedrückt bis zu der klobigen Registrierkasse, wo die Kassiererin es zusammen mit dem Kassenbon in eine blaue Plastiktüte packte und meiner Mutter über die Theke reichte.

Direkt nach dem Bezahlen fuhren sie in den ersten Stock hinunter und verließen das Kaufhaus durch eine gläserne Überführung, die von dort Richtung Parkhaus führte. Meine Mutter ging schnell, Mila musste ab und zu ein paar Laufschritte einlegen, um ihr folgen zu können.

Die nächste Kamera erfasste die beiden vor dem Parkautomaten. Meine Mutter drückte Mila die blaue Tüte in die Hand, damit sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche holen und das Parkticket in den Automaten stecken konnte. Während sie mit dem Kleingeld und dem Ticket beschäftigt war, hüpfte Mila mitsamt Tüte und Hoppel über die grauen Bodenfliesen. Wahrscheinlich versuchte sie, dabei nicht auf den Rand zu treten. Das war einer der Momente, an denen ich mich meiner Schwester besonders nah fühlte. Als Kind hatte ich das auch immer gemacht.

Im Treppenhaus befanden sich zwei nebeneinanderliegende Fahrstühle mit Glastüren.

Doch es gab noch einen ehemaligen Lastenaufzug, den man nach einem Umbau irgendwann zusätzlich für den Kundenverkehr freigegeben hatte.

Man konnte ihn vom Treppenhaus aus nicht direkt sehen, da er in einer schmalen Sackgasse um die Ecke lag. Wahrscheinlich wussten viele Kunden gar nicht, dass dieser Fahrstuhl mittlerweile auch benutzt werden durfte.

Aber Mila wusste es, denn sie war schon oft mit meiner Mutter hier gewesen. Sie hüpfte um die Ecke. Meine Mutter, das Parkticket zwischen die Lippen geklemmt, lief nicht hinter ihr her, sondern hantierte immer noch mit dem Portemonnaie herum. Der Reißverschluss des Kleingeldfachs hatte sich verklemmt und ließ sich nicht schließen.

Mila erreichte unterdessen den Lastenaufzug. Mit einer Renovierung des Korridors hatte man sich nie aufgehalten, und dieser war alles andere als anheimelnd. Die vordere Wand war mit schmutzig weißen Fliesen verkleidet, die an Kacheln in einer Bahnhofstoilette erinnerten. Eine Neonröhre mit über Putz verlegtem Kabel hing an der Decke. Gegenüber dem Aufzug war eine Wand, die unten aus beige lackiertem Stahl und zur oberen Hälfte aus buckeligem Milchglas bestand.

Von hier gab es nur eine Richtung: abwärts. Das Parkhaus war unterirdisch gebaut. Mila drückte den Knopf, und beinahe augenblicklich öffnete sich die Tür. Milas Kopf bewegte sich nach oben, als wenn sie jemanden in der Kabine entdeckt hätte, der sehr viel größer war als sie selbst. Vielleicht sagte die Person etwas, vielleicht sprach auch Mila selbst, durch den Kamerawinkel konnte man das nicht erkennen, man sah lediglich ihre kleine Gestalt von der Seite, die nach oben blickte. Der vermaledeite Hut verbarg ihr Gesicht.

Unterdessen zerrte meine Mutter so fest am Reißverschluss ihres Portemonnaies, dass Kleingeld auf den Boden kullerte. Während sie die Münzen vom Boden aufklaubte, betrat Mila den Lastenaufzug. Die Tür glitt hinter ihr zu.

Weg war sie, verschluckt von einem Monstrum aus Stahl. Genau das trieb mich seit jeher um: Warum war Mila überhaupt in diesen Fahrstuhl eingestiegen? Der schmuddelige Lastenaufzug war kein vertrauenserweckender Ort für eine Fünfjährige.

Viel, viel später hatte ich selbst dort gestanden und die Atmosphäre in mich aufgenommen. Ich hatte mich so viel damit beschäftigt, dass mir bereits alles seltsam bekannt vorkam. Der Dreck an den mit stumpfem Edelstahl ausgekleideten Wänden der Kabine, die schwarzen Schlieren von abgeriebenem Gummi, die mit weißem Edding hingeschmierte Axt neben einem halb abgerissenen Aufkleber, der davor warnte, bei einem Feuer den Aufzug zu benutzen. Selbst der Geruch schien mir vertraut, diese Mischung aus Öl, nassen Schuhen, Schweiß und Urin. Das war kein neuer Geruch, er steckte in jeder Pore der Kabine.

In den nächsten fünfeinhalb Sekunden sahen wir einen bedrückend leeren Korridor. Auf einmal tauchte meine Mutter auf, stürzte durch den Flur und versuchte panisch, den Lastenaufzug zurückzuholen, indem sie immer wieder gegen den Knopf schlug. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er endlich wieder oben ankam.

Die Tür öffnete sich quälend langsam. Meine Mutter bückte sich, hob etwas vom Boden auf.

Die nächste Einstellung zeigte, wie sie durch die gläserne Überführung zurück ins Kaufhaus rannte. In ihrer Hand hielt sie die kleine blaue Tüte mit dem Polly-Pocket-Dreamhouse.

Hier stoppte Linda den Film.

Spulte zurück zu dem Moment, zu dem ich bereits Hunderte von Malen zurückgespult hatte: wie Mila den Fahrstuhl betrat. Die Kamera hatte sie von rechts oben erfasst. Der Winkel war so eingestellt, dass man den vordersten Bereich der Kabine gerade noch erkennen konnte, genauer gesagt bis zu dem Punkt, wo man von festem Boden auf bewegliches Terrain trat.

Und noch etwas sah man jetzt, etwas, das man in den früheren, unscharfen Aufnahmen nur hatte erahnen können.

Linda vergrößerte den Ausschnitt der Aufnahme. Vor der Bearbeitung wäre das komplett sinnlos gewesen: Das Bild war immer verschwommener geworden, je näher man ein Fragment herangezoomt hatte. Die Polizei hatte bereits gemutmaßt, dass es sich bei dem hellen Schatten, der sich an der Tür vorbeischob, um einen Arm gehandelt hatte.

Nun wurden die Vermutungen Gewissheit. Glasklar und messerscharf war die Hand des Entführers zu sehen. Sie umklammerte die Aufzugtür, sicherlich, damit sie nicht zuging, bevor er Mila in den Fahrstuhl gelockt hatte. An seinem Handgelenk trug der Mann eine Uhr. Das Armband war schwarz und wirkte wie eines aus Kautschuk. Linda holte die Uhr immer näher heran, ohne dass Bildschärfe verloren ging. Es handelte sich um ein digitales Modell. Unterhalb der Zeitanzeige befand sich ein kleiner Taschenrechner. Auf der Anzeige war es neun Uhr und sechsundvierzig Minuten. Ganze sechzehn Minuten hatte der Aufenthalt im Kaufhaus gedauert, von dem meine Schwester nie zurückkehren sollte.

Die Lamellen der Verdunkelungsrollos drehten sich so weit nach oben, bis Tageslicht hereinströmte. Sofort checkte ich die Reaktionen im Publikum. Fast alle Arme schnellten nach oben.

Peer erteilte einem der Reporter in den vorderen Reihen das Wort.

»Ist das jetzt tatsächlich die Uhr, die der Entführer getragen hat?«

»Nun, das wissen wir nicht mit hundertprozentiger Gewissheit. Das Programm berechnet nur die wahrscheinlichste Variante.«

»Aber wir sehen ja hier sogar die Uhrzeit! Das ist ja beinahe ... unglaublich!«

»Da die Videokameras mit einem Zeitstempel versehen sind, wissen wir exakt, wann Mila Boskamp den Fahrstuhl betreten hat. Wir sind also davon ausgegangen, dass die Armbanduhr die Zeit korrekt angezeigt hat und hatten so weitere Anhaltspunkte für die Berechnung. Jeder Fixpunkt ist eine Möglichkeit für das Programm, das Ergebnis zu verfeinern.«

»Wie genau funktioniert dieses Programm?«, fragte eine Frau weiter hinten.

»Vielen Dank für diese wichtige Frage, auf die ich ehrlich gesagt sogar gehofft hatte.« Peer lächelte die Fragestellerin über den Rand seiner Lesebrille an. »Die Korrektur, wenn Sie so wollen, funktioniert eigentlich ganz einfach. Sehen Sie, ein digitalisiertes Bild ist in viele kleine Quadrate unterteilt, sogenannte Pixel. Ich denke, das wissen die meisten von Ihnen bereits, nicht wahr? Grob gesagt, ist die Bildschärfe umso größer, je mehr Pixel auf einer bestimmten Fläche dargestellt werden. Aber was tun, wenn die Pixelanzahl so gering ist, dass man kaum etwas erkennen kann? Nun, die Lösung sind Programme, die berechnen können, wie das nächste wahrscheinlichste Pixel in unmittelbarer Umgebung eines tatsächlich vorhandenen einzelnen Pixels aussehen könnte. Diesen fügt er dann hinzu. Zudem kann man auch die Originalfarben berechnen, indem man zum Beispiel bestimmte Farben wie Reinweiß und Tiefschwarz auf einer Skala als Orientierungspunkte festlegt und die anderen Farben daran misst. So ergibt sich am Ende ein scharfes Bild.«

»Aber ist eine solche Bearbeitung nicht streng genommen eine Fälschung?« Die Fragestellerin saß ganz in meiner Nähe. Sie war etwa Anfang vierzig und hatte langes graublondes Haar.

»Das kommt drauf an, wie sehr Sie an Mathematik glauben. Die Pixel sind nach Wahrscheinlichkeitsrechnungen erstellt worden.«

Vereinzeltes Gelächter.

»Was versprechen Sie sich denn davon zu schätzen, welche Uhr der angebliche Täter vielleicht getragen hat? Nach all dieser Zeit?«, fragte einer.

»Wir erhoffen uns genau das, was wir schon seit vielen Jahren tun: dass jemand etwas gesehen hat. Vielleicht erkennt jemand diese Uhr.«

Die Lamellen des Rollos kippten kurz nach unten und machten den Raum wieder dunkel. Wie von Zauberhand vergrößerte sich gleichzeitig das eckige Gehäuse mit dem eingebauten Taschenrechner, bis man jede Einzelheit erkennen konnte.

»Glauben Sie denn, dass Mila noch lebt, Frau Boskamp?«, fragte ein Mann.

Mein Vater meldete sich zu Wort. »Natürlich hoffen wir das. Das ist, was uns aufrecht hält, seit fünfundzwanzig Jahren.«

Er rückte näher an meine Mutter heran, der die Trauer wie ein Stempel ins Gesicht geschrieben stand. Und die Selbstvorwürfe. Schließlich war sie es gewesen, die ihr Kind verloren hatte. Die nicht richtig aufgepasst hatte. Die Mila in diesem Korridor allein gelassen hatte, wenn auch nur für wenige Sekunden. Es hatte gereicht.

»Das ist aber nicht sehr realistisch«, entgegnete die langhaarige Frau vor mir. Sie beugte sich beim Sprechen nach vorne. »Bei Vermisstenfällen von kleinen Kindern steigt mit jeder vergangenen Stunde die Wahrscheinlichkeit, dass man nach einem toten Kind sucht. So zumindest sagt es die Statistik. In diesem Fall aber geht es nicht um Stunden, sondern um mehr als zwei Jahrzehnte.«

Mir wurde mulmig. Langsam fürchtete ich, dass diese Frau eine von denen war, vor denen meine Mutter sich gefürchtet hatte.

»Sehen Sie, Frau ...«, fing Tante Linda an.

»Kottula. Mareike.«

»Sagen Ihnen die Namen Natascha Kampusch, Jaycee Dugard oder Gina DeJesus etwas, Frau Kottula?«

»Soweit ich weiß, sind sie alle im Kindesalter entführt worden.«

»Ganz genau. Aber sie sind außerdem nach vielen Jahren Gefangenschaft wieder aufgetaucht. Es gibt keinen Grund für uns, nicht zu hoffen, dass Mila ebenfalls wieder zurückkehrt.«

»Keine von ihnen war so lange verschwunden.«

Unruhe verbreitete sich im Saal. Ich überlegte, wie ich verhindern konnte, dass sie meine Mutter direkt angriff, als Linda das für mich übernahm.

»Nun, Elisabeth Fritzl ist nach vierundzwanzig Jahren Gefangenschaft befreit worden.« Linda drehte sich demonstrativ von Mareike Kottula weg. Sie schien die Diskussion damit für beendet zu erklären.

»Eine Frage noch«, sagte Mareike Kottula und wandte sich an meine Mutter. »Frau Boskamp, unmittelbar nach dem Verschwinden Ihrer Tochter warteten Sie zusammen mit einer Verkäuferin namens ... « Sie blätterte in einem zerknitterten Collegeblock »... mit einer Verkäuferin namens Jutta Schenk in der Spielwarenabteilung auf das Eintreffen der Polizei.«

Meine Mutter nickte.

»Warum sind Sie eigentlich ins Kaufhaus zurückgelaufen, statt ins Parkhaus hinunter?«

Da war er, der offene Angriff. Die Schuld der Mutter, die, vollkommen unabhängig davon, was sie tat, auf jeden Fall kritisiert wurde.

Ich steckte vor Aufregung ein Pfefferminzbonbon in den Mund. Es klang so, als wüsste die Fragestellerin genau, was man zu tun hatte, wenn das eigene Kind auf einmal im Fahrstuhl verschwand.

Für einen Moment war es mucksmäuschenstill im Saal.

»Natürlich habe ich darüber nachgedacht«, sagte meine Mutter langsam. »Aber der Fahrstuhl war bis ins vierte Untergeschoss des Parkhauses gefahren. Mila hätte in jedem einzelnen Stockwerk aussteigen können, ohne dass ich gewusst hätte, in welchem. Ich hätte jede Etage durchsuchen müssen, das hätte eine Ewigkeit gedauert. Und im Erdgeschoss ist ein Ausgang zur Straße hin. Es schien mir schneller zu gehen, eine Verkäuferin dazu zu bringen, alle Ausgänge zu sperren. So zumindest habe ich mir das vorgestellt. Dass man alle Ausgänge mit einem Knopfdruck sperren kann, auch das Parkhaus. Natürlich ging das nicht so einfach, das habe ich dann auch gelernt, und ...«

Mein Vater unterbrach sie. »Niemand stellt sich vor, wie man handeln muss, wenn das eigene Kind verschwindet. Im Nachhinein kann man sich eine Taktik überlegen, aber in dem Moment haben Sie nur Sekundenbruchteile.«

»Aber Ihre Frau ist quer durch zwei Etagen gelaufen, bevor sie um Hilfe gebeten hat«, fuhr Mareike Kottula fort. »Erst in der Spielzeugabteilung hat sie jemanden gefragt, ob die Ausgänge gesperrt werden können. Zu dem Zeitpunkt befand sie sich im zweiten Stockwerk. Mila verschwand im ersten.«

Die Frau hatte ihren unverfrorenen Angriff vorbereitet.

»Offensichtlich haben Sie die alten Aufnahmen sorgfältig studiert«, sagte Peer kühl. »Dann haben Sie sicher auch bemerkt, dass man, wenn man das Kaufhaus durch die Überführung im ersten Stock betritt, in der Unterwäscheabteilung landet. Und dort war um diese Uhrzeit weit und breit keine Verkäuferin anzutreffen. Im Übrigen steht es auch in den Zeugenaussagen der Polizeiakten, wo sich die jeweils zuständigen Damen gerade aufhielten. Leider nicht dort, wo Frau Boskamp in kompletter Panik hinrannte.«

»Aber sie ist mit der Rolltreppe bis ins zweite Stockwerk gefahren, statt in die nächste Abteilung zu laufen.«

»Weil sie sicher wusste, dass in der Spielzeugabteilung eine Verkäuferin war. Sie hatte dort etwas gekauft. Es war noch früh, das Kaufhaus beinahe leer, wie sie überall sehen können. Die Verkäuferinnen sind um diese Zeit überall mit dem Einräumen, Dekorieren und Ordnen von Ware beschäftigt, da der Hauptkundenverkehr üblicherweise erst ab 11.00 Uhr beginnt. Frau Boskamp hat einfach keine Verkäuferin gefunden, so bedauerlich dies war.«

»Hatten Sie noch kein Handy, Frau Boskamp? Warum haben Sie nicht sofort die Polizei gerufen?«

»Doch, sie hatte ein Handy, wobei ich betonen möchte, dass der Umgang damit dem heutigen in keiner Weise entspricht. Man hatte es nicht zu jeder Zeit griffbereit, noch dachte man ständig daran. Es war auch kein Smartphone, mit dem man Fotos und Filme machen kann, denn die gab es praktisch noch gar nicht.«

»Was hätte das auch genutzt?«, fragte meine Mutter, und ihre Stimme zitterte. »Bis ich der Polizei die Lage erklärt hätte und sie die ersten Maßnahmen hätte treffen können, wäre es auf jeden Fall zu spät gewesen. In meinem Kopf war nur der Gedanke: Sperrt die Ausgänge! Sperrt das Parkhaus!«

»Warum sind Sie nicht nach draußen gelaufen, um Ihre Tochter zu suchen?«

Linda, verlässlich wie immer, zog einen Schlussstrich.

»Liebe Frau Kottula, ich verstehe den Hintergrund Ihrer Frage nicht. Allein in der Düsseldorfer Innenstadt, also um das Kaufhaus herum, gibt es über achttausend Wohnungen. Wo bitte soll man da anfangen? Außerdem sind wir hier, um nach Mila Boskamp zu suchen, von der wir selbstverständlich hoffen, dass sie noch lebt. Und nicht, um – in höchst unangebrachtem Maße, wie ich betonen möchte – die Verhaltensweise der Mutter zu kritisieren. Sie ist seit diesem Tag im schlimmsten Albtraum gefangen, den man sich nur vorstellen kann. Und nun lassen Sie bitte auch den anderen Anwesenden noch Zeit für Fragen.«

Neben mir machte sich Armin van Aken ganz altmodisch auf einem Blatt Papier eine Notiz. Überprüfung. Mareike Kottula. Welche Zeitung? stand da.

Er war alt, aber er war blitzgescheit und kannte in der Stadt jeden, der Rang und Namen hatte. Diese Mareike Kottula würde ihren Ton schon bald bedauern, da war ich sicher. Dankbar legte ich meine Hand auf seinen Arm.

Kurz darauf beendete Peer die Pressekonferenz.

Alle eilten nach draußen. Im Nebenraum nahm ich zuallererst mein Handy aus der Handtasche. Kaum, dass ich wieder Empfang hatte, pingte es. Mehrere Nachrichten und verpasste Anrufe leuchteten auf. Während ich in mein Handy starrte, um es mittels der Gesichtserkennung zu entsperren, klingelte es bereits. Ich wischte über den Bildschirm.

»Ist Lulu bei dir?«, fragte Jonas ohne Begrüßung.

Ich stöhnte. »Sag bitte nicht, dass du vergessen hast, dass du sie abholen wolltest!«

Schweigen.

»Ich habe ihr versprochen, dass du direkt nach dem Mittagessen kommst. Sie wartet schon seit mindestens einer Stunde.«

Innerlich machte ich mir eine Notiz für die Anwältin. Punkt für mich. Ein unzuverlässiger Vater war nicht das, was ein Gericht als Vaterliebe honorieren würde.

»Effie ... Ich bin im Kindergarten. Sie ist nicht hier.«

»Natürlich ist sie da. Ich habe sie heute Morgen selbst abgegeben.«

»Wir können sie nicht finden. Wir haben den ganzen Kindergarten durchsucht. Und du warst nicht zu erreichen.«

»Was ist das denn für ein Unsinn? Schaut mal in der Toilette nach.«

»Sie ist nicht hier. Ich hatte gehofft, dass du sie abgeholt hast ... ohne Bescheid zu geben ...« Seine Stimme brach.

»Das kann doch nicht wahr sein, dass ihr nicht in der Lage seid, sie zu finden. Habt ihr in der Kuschelecke geschaut? Vielleicht schläft sie unter einem Kissen.«

»Effie! Sie ist nicht hier!«

Es konnte sich nur um einen Handstreich von Jonas handeln, dessen Sinn ich noch nicht durchschaute. Seelische Grausamkeit des Vaters gegenüber der Mutter. Brachte ihm das irgendeinen Vorteil? Ich kam nicht drauf.

»Soll das jetzt ein Scherz sein? Eine Anspielung auf meine verschwundene Schwester? Was hast du davon?«

Ich weigerte mich, eine andere Erklärung zu akzeptieren, als dass Jonas log.

»Effie! Wie kannst du nur glauben, dass ich ... Die Polizei ist schon hier. Sie durchsuchen die Nachbarschaft. Es sind bereits Beamte auf dem Weg zu dir.«

Ich starrte auf die geöffnete Flügeltür. Tatsächlich. Im Foyer redeten zwei uniformierte Beamte auf Tilda ein, deren rotes Haar in der blendend weißen Umgebung wie ein Stoppschild leuchtete, doch es hielt niemanden auf. Ganz langsam hob Tilda die Hand und zeigte in meine Richtung, sodass ich unwillkürlich einen Schritt rückwärtsging. Mir wurde schwindelig. Aus dem Hörer rief Jonas etwas, das ich nicht verstand, weil es in meinen Ohren rauschte. Die Polizisten bewegten sich wie in Zeitlupe in meine Richtung. Ich ließ das Handy sinken. Tildas sonst so streitbarer Gesichtsausdruck änderte sich für einen schrecklichen Moment, als sie mich ansah. Ich erkannte etwas in ihrem Blick, das neu war und von dem ich auf einmal wusste, dass ich sie normalerweise genauso anblickte.

Es war Mitleid.