Die Fassade - Robert Hichens - E-Book

Die Fassade E-Book

Robert Hichens

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Beschreibung

Die Fassade ist eine Satire auf den Londoner Theaterbetrieb des beginnenden 20. Jahrhunderts. Der Autor erzählt aus der Perspektive des intellektuell-snobistischen Theaterpublikums, das sich gegen die Proletarisierung von Theaterstücken und gegen deren Besucher zu wehren versucht. Ein Lesevergnügen des zu Unrecht in Vergessenheit geratenen britischen Autors, der im englischen Sprachraum gerade wiederentdeckt wird.

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Für

Franz Pelizäus und Hans Langenbach

Dietmar Such (Jahrgang 1949) arbeitete lange Jahre als Sozialarbeiter im Strafvollzug. Die Übersetzung von „Die Fassade“ ist seine erste literarische Arbeit.

Editorische Notiz

In der Novelle „Die Fassade“ zeichnet Robert Hichens ein Sittenbild der englischen Gesellschaft um 1900. Die snobistischen, bornierten Einstellungen gegenüber allem „Plebejischem“, „Primitivem“ „Körperlichem“, auch gegenüber dem „Israelitischen“, werden im Duktus der damaligen Zeit wiedergegeben. Die stellenweise angeführten antisemitischen Stereotypen geben lediglich die Einstellung des Ich-Erzählers als Repräsentantem der gesellschaftlichen Elite, nicht aber die des Autors wieder, der als Homosexueller selbst einer gesellschaftlichen Minderheit angehörte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

I

Als ich Ariadne Marshall das erste Mal traf, war sie vermutlich auf dem Höhepunkt ihrer ungewöhnlichen Karriere, die sie so bekannt gemacht hatte. Jeder in London, der einigermaßen informiert war, wusste - neben den vielen, die nichts über sie wussten - alles über sie. Sie war berühmt für ihre Großzügigkeit. Ihr Geschmack Kleidung betreffend war entschieden außergewöhnlich: Sie folgte keinen Moden, sondern stand über solchen Dingen. Neben ihrer Schönheit – wenn es tatsächlich Schönheit warsollte alles außergewöhnlicher sein, als es die Schneider, Modisten und die Haarspezialisten einfacher Art hätten kreieren können. Es bedurfte einer sehr speziellen Handhabung und besonderem Geschick, ihrem Stil gerecht zu werden, den einige „byzantinisch“ nannten, während er von anderen dem frühen Ägypten zugeordnet wurde. Jedenfalls wären die Kreationen durch toupierte Haare, ein zu kurzes Jackett, Fischgrätmuster, Pullover oder einfaches Schneiderhandwerk ruiniert worden. Ganz abgesehen von den Hüten, die Ariadne selbst mit Hilfe von, wie man sagte, einigen Cambridgeprofessoren kreierte.

Ariadne kannte viele dieser Professoren. All diese Männer, die nie von einer Delysia gehört und zuvor nichts von einem „Das Vergnügen“ genannten Londoner Theater gewusst hatten, waren bei ihren „ersten Nächten“, den Premieren, zu sehen und frequentierten ihr schmuckes kleines Haus in der Marmion Street, Westminster. Ein Haus voller ausgesuchter Schätze, spärlich möbliert, mit einer Kollektion von Jade und einer anderen von Bernstein, der das Sonnenlicht einfing, falls es zu sehen war. Es gab nur ein Gemälde, aber immerhin einen Leonardo da Vinci. Mir ist entfallen, wer mir all dies berichtete. Ich glaube, es war ein von Experten anerkannter Kunstkenner aus Korfu, der mehr über Leonardo wusste als jeder andere innerhalb und außerhalb Korfus.

In diesem kleinen, geradezu mysteriösen Haus mit seinem schwarzvioletten Speiseraum, blaugrün gefärbtem Wohnzimmer (oben), großen orangefarbenem Schlafgemach (unten) und seinem kleinen Garten lebte sie. Sie hatte kein Bett, sondern schlief auf einem Diwan. Ariadnes Kreis nannte den Garten den „hängenden Garten von Westminster“. Ariadne lebte wie eine Priesterin und wurde von zwei respektierten Frauen unterstützt, die immer pfirsichfarben gekleidet waren und einen schottischen Akzent hatten.

Sie lebte schon eine ganze Zeit als Witwe, obwohl sie erst Anfang dreißig war. Sie hatte sehr früh geheiratet, wie sie sagte, lange bevor sie überhaupt wusste, wer oder was sie ist. Wen? Niemand wusste es sicher. Aber es war überliefert, dass ihr Ehemann das Schrecklichste alles Erschaffenen gewesen sein musste, ein Barbar, ein Kunstverächter. Falls je eine Frage an sie gestellt wurde, wie: „Was hat er gemacht?“, lautete die Antwort stets: „Er war ein Barbar.“ Oder: „Verstand er Sie, war er unfreundlich zu Ihnen?“, wurde immer erwidert: „Er war doch ein Barbar.“ Lange bevor Ariadne sich entschieden oder auch nur daran gedacht hatte, zur Bühne zu gehen, hatte sich das Grab über ihm verschlossen, und er schlief nun bei seinen Vätern im Barbarenland. Nicht einmal Ariadnes Kreis kannte seinen Namen. Er war auf keinen Fall Marshall, soviel war sicher. Johnnie Dean, ein devoter Verehrer Ariadnes, sprach immer von dem Verschiedenen als dem Mann, der auf gar keinen Fall Marshall war. Der Rest war Ariadnes Geheimnis. Sie war eben mit einem Barbaren verheiratet gewesen und hatte sich in das gewandelt, was sie heute ist, unberührt, unverdorben und von keinem Barbaren behindert. Ihre Heirat muss ein einziges Melodrama gewesen sein, an das man nicht mehr erinnert werden möchte und das im Orkus der Zeit verschwunden ist. Ariadne aber war schließlich zu der geworden, die sie heute ist.

Ariadne - ich spreche von der Zeit, da ich sie kennen lernte - war „ im Geschäft“; sie hatte das Sagen über ein zum Theater umgebautes Haus, das den Namen „Parthenon Theater“ trug und von Intellektuellen und Freunden des guten Geschmacks aus London, Oxford, Cambridge und anderen Orten besucht wurde. Über dem Eingang dieses Kunsttempels hing ihr rot leuchtender Name „ Ariadne Marshall“. In der Werbung hieß es immer: „Sole Lessee und Direktorin Ariadne Marshall.“ Was auch immer gegeben wurde, es lautete stets: „Das Stück wurde produziert von Ariadne Marshall.“ Und etwas weiter unten: „Die Kostüme wurden designed von Ariadne Marshall“.

Sie war zweifellos die Herrscherin über das Parthenon. Oder, wie es Johnnie Dean nicht treffender hätte ausdrücken können: „Das Theater ist Ariadne und Ariadne ist das Theater.“ (Und diese Erklärung sagte alles aus.)

Das Parthenon Theater lag in einer Nebenstraße - Sam Hartlebury, ein primitiv sprechender Kerl, sprach immer von der Witwe aus der Nebenstraße - aber nah am Zentrum des Geschehens.

Zu dieser Zeit erfreute ich mich an einem kleinen intellektuellen Erfolg mit einem kleinen Stück von Ezra Green, genannt: „Realistische und Idealistische Liebe“, in dem Ariadne brillierte. Sie war allein, als sich der Vorhang öffnete und sie war allein, als sich der Vorhang auf der kleinen, nach einem Moskauer Vorbild gestalteten Bühne schloss. Das Stück lief auch in anderen Häusern erfolgreich, aber Ariadne wollte bald ein neues Stück. Professor Simeon Jenkins hatte eine von Ariadne in Auftrag gegebene Übersetzung eines holländischen Stückes jedoch noch nicht beendet, sodass sie nun auf der Such nach etwas „Passendem“ war. Ich hatte gerade die Arbeit an einem Stück abgeschlossen. Die Frage war jedoch, ob es etwas „Passendes“ war. Ariadne allein würde das entscheiden.

Wir kannten uns noch nicht, aber Johnnie Dean überbrachte mir eine Einladung, sodass ich sie bald kennen lernen sollte.

Auf Ariadnes Anweisung nahm er mich an einem Sonntagnachmittag gegen drei Uhr mit zur Marmion Street. Ich nahm mein Stück mit.

„Sie wird es nach einmaligem Lesen beurteilen“, sagte Johnnie mit einem weisen Lächeln. „Ariadne ist außergewöhnlich schnell, keine Zweifel, kein Wenn und Aber. Ihr Intellekt kommt direkt auf den Punkt.“

„Das ist mehr, als man von den meisten Schauspielerinnen sagen kann“, bemerkte ich und versuchte Bitterkeit mit Zynismus zu überdecken.

„Oh, Ariadne ist viel mehr als eine einfache Schauspielerin. Sie ist eine hoch intellektuelle Frau mit einem ungewöhnlichen Kunstgeschmack. Wir sind da.“

Die Eingangstür war schwarz und besaß einen silbernen Türklopfer, den Kopf eines Dryaden. Einen Briefkasten gab es übrigens nicht.

„Der Briefträger muss schellen und die Briefe herein geben“, bemerkte Johnnie mit Bestimmtheit.

„Ach du meine Güte“, erwiderte ich schwach.

Eine schottische Frau in Pfirsichfarben öffnete die Tür.

„Das Wohnzimmer ist unten“, sagte Johnnie.

„Ach du meine Güte“, sagte ich wieder, meinen Hut auf eine schwarze Hochzeitsbüste hängend, die in der Mitte der quadratischen Halle stand.

„Und das Speisezimmer ist im ersten Stock.“

„Aha.“

In diesem Moment wurde Ariadne von der Schottin, welche die Tür zum Speisezimmer geöffnet hatte, herein begleitet. Meine Aufmerksamkeit galt ihr allein.

Ariadne stand aufrecht bei einem hölzernen Kaminrahmen mit Panelen und dünnen, geriffelten Säulen. Ein Holzfeuer brannte hinter ihr und sie sah sehr groß vor den Flammen aus. Sie trug ein schwarzes Samtkleid mit sehr langen Ärmeln. Ihr rotbraunes Haar, in das ein roter Juwel in einer goldenen Fassung geradezu mysteriös eingearbeitet war, erschien mir ausgesprochen fest. Ich fühlte sofort, dass dies die Idee eines Ägyptologen sein musste. Sie hatte eine ziemlich spitze Nase mit gebogenen Nüstern, einen breiten, volllippigen Mund, ein schmales Kinn und kleine grüne Augen, die unter den dünnen, schräg gestellten Augenbrauen ebenso schräg nach unten und entschieden ernst wie die einer Muse schauten, die tief und ruhig nachdachte. In ihrer rechten Hand, an der sich ein ungewöhnlicher Ring befand, den ich ebenfalls einer Statue oder Mumie zuordnete, hielt sie ein in Gold gebundenes Buch, ein griechisches Testament, „crib“, ein Nachdruck wie ich später erfuhr. Bei ihr saß in einem verschwommen-blauen Armstuhl ein kleiner alter Mann, trocken wie eine Saharaeidechse, mit ausdruckslosen blauen Augen, einem Mund wie eine leere Geldbörse und großen hellroten Händen.

Als Johnnie mich Ariadne vorgestellt hatte, schaute sie mich unbewegt an, nicht ablehnend, aber mit großem Ernst und schüttelte meine Hand mit einer Art ruhiger Autorität. Dann legte sie ihr Buch auf einen schmalen antiken Tisch, der aus einer Sakristei einer alten Kathedrale entnommen wirkte. Sie stellte mich dem kleinen alten Mann vor, Mr. Murryan war sein eindrucksvoller Name. (Mich erinnerte der Name eher an eine Krankheit.) Während ich mich verbeugte, fragte ich mich, warum er da sei, und ob er wohl bleiben würde. Mr. Murryan nickte, fasste plötzlich an seine Nase, sodass es schien, er würde sie schütteln und drehte seinen sehr langen Fuß körperwärts, was wirkte, als nähme er die erste Position einer Yogaübung ein.

„Haben sie das Stück mitgebracht?“, fragte Ariadne mit tiefer sonorer Stimme, mich immer noch ernst und konzentriert ansehend.

Ich sagte: „Ja.“

„Nun dann, danke John.“

Und zu meiner Überraschung verschwand Johnnie, während Mr. Murryan blieb.

„Murryan hinter ihm her!“, erinnere ich mich gedacht zu haben.

Nachdem Johnnie gegangen war, nahm Ariadne einen langen, tiefblauen Kerzenständer und zündete drei ebenso blaue Wachskerzen an. Über dem Kerzenständer hing der Leonardo mit einer langgesichtigen Frau, von der sich nicht so genau sagen ließ, ob sie nun lächelte oder nicht.

„Bitte setzen Sie sich in diesen Stuhl“, sagte sie, auf einen hohen Stuhl vor ihnen zeigend. „Ich gebe Ihnen meine ganze Aufmerksamkeit.“

Ich schaute kurz zu Mr. Murryan, der eines seiner Ohren mit seinen brilliantenen, rosigen Fingern zur Seite drückte. Wer war er? Ich konnte ihn nicht einordnen. Jedenfalls war er da. Dann setzte ich mich und hielt mein Stück in der Hand. Während ich das tat, sank Ariadne vor dem Kaminfeuer auf eine flache, kissenbedeckte Couch nieder, legte ihre Hände über ihre Knie und sah mich auf fast orientalische Weise beinahe fixierend an.

„Das Parthenon Theater“, dachte ich, „Sie ist auf der Höhe des Parthenon Theaters. Sie muss außergewöhnlich intellektuell sein.“

Als ich anfing zu lesen, schien mir mein Stück lediglich großer Mist zu sein.

Dieser Eindruck verfestigte sich, als ich die gesamten drei Akte meines Stückes vorlas. Nach jedem Akt pausierte ich kurz und schaute erst zu Ariadne, dann zu Mr. Murryan. Letzterer schien in einen tiefen, tranceartigen Schlaf gesunken zu sein. Seine Augen waren geschlossen, kein Atem war wahrnehmbar. Ariadne selbst verharrte in tiefen Gedanken und ungestörter Kontemplation. Sie bewegte sich, so wie ich es beobachten konnte, in keinster Weise und nahm ihre Augen keine Sekunde von meinem Gesicht. Da war etwas enorm Beeindruckendes in ihrer Konzentration auf den „Fall“ in meiner Hand. Sie schien sich über mein Stück und meine Person klar werden zu wollen. Ich musste erneut an einen Tempelthron denken. Schließlich hatte ich das letzte Wort gelesen und rollte das Papier in meinen nervösen Händen zusammen. Eine tiefe Stille machte sich breit.

„Das wär’s“, sagte ich.

Hinzufügend korrigierte ich mich:

„Das ist das Ende.“

Mr. Murryan stand auf, schüttelte seine Nase und schlurfte, mir schien wie auf Sand, aus dem Raum.

Ich war mit Ariadne allein.

Als die Tür von ihrem Freund geschlossen worden war, dachte ich, dass sie nun sprechen werde. Aber sie tat es nicht. Weiterhin in ihre Gedanken vertieft saß sie da. Sicherlich klopfte sie mein Stück auf Stärken und Schwachstellen ab. Ich stellte mir vor, dass ihr starker Verstand an einer Formulierung arbeitete, mit der sie mich ihr Urteil wissen ließ.

„Nun“, sagte ich schließlich, fühlend, dass irgendjemand sprechen sollte, „Nun, Mrs. Marshall, was denken Sie über das Stück?“

Sie bewegte sich und lächelte ein wenig. „Ich habe alles in mir aufgenommen“, sagte sie leise.

„Das hab’ ich weiß Gott bemerkt.“