Die Favoritin des Königs - Claudia Ziegler - E-Book

Die Favoritin des Königs E-Book

Claudia Ziegler

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Beschreibung

Der einzige Roman über die wahre Geschichte der Madame Pompadour

Versailles 1745: Louis XV. ernennt Madame de Pompadour zu seiner offiziellen Mätresse. Ein Skandal am Königshof – ein Mädchen aus dem Volk gelangt in dieser Position zu Macht und Einfluss! Intrigen, Hass und Demütigungen bestimmen ihr Leben im goldenen Käfig Versailles. Doch sie ist bereit, für die Liebe einen hohen Preis zu bezahlen …

• Die Geschichte einer starken Frau: vom Mädchen aus dem Volk zur berühmtesten Mätresse Frankreichs
• Ein großer historischer Roman über Macht, Intrigen und die wahre Liebe
• Jetzt mit Bonusmaterial: ein Spaziergang durch Paris auf den Spuren von Madame de Pompadour

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Seitenzahl: 988

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Prolog
 
Januar 1730 …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
 
Sieben Jahre später
Kapitel 64
 
Nachwort
Personenverzeichnis
Zeittafel
Anmerkungen
Eine kleine Sightseeing-Tour Auf den Spuren der Marquise de Pompadour
Copyright
Für Michael
»Wohl das schönste Geschöpf, das mir je im Leben begegnet ist, glitzernd wie ein Fels aus lauter Diamanten.«
 
The Honorable Augustus Hervey
Prolog
Die Bilder, von denen sie nicht einmal mehr sagen konnte, ob sie Erinnerungen waren oder sich nur in ihren immer wiederkehrenden Träumen in ihr Gedächtnis gebrannt hatten, waren stets die gleichen. Sie war vielleicht acht oder neun und rannte mit wehendem weißem Kleid in den Wald hinein, der vor dem Kloster lag. Tränen liefen über ihre Wangen, während sie an den rotgelben Blättern von Bäumen und Sträuchern vorbeihastete und das Laub an ihren Füßen hochwirbelte, ohne dass sie auf die Rufe der Nonnen achtete, die hinter ihr immer leiser wurden.
Sie lief und lief. Zweige und Äste schlugen ihr entgegen und zerkratzten ihr Gesicht und ihre Arme, doch sie merkte nichts davon, sondern stolperte über moosbedeckte Steine, abgebrochene Äste und Baumwurzeln immer weiter, vorbei an dichtem Gestrüpp und knorrigen alten Eichen, denen man die Jahrhunderte ansah und deren ausgehöhlte Astlöcher sie wie finstere gespenstische Augen anstarrten.
Eine Ewigkeit schien sie so gerannt zu sein, da blieb ihr Kleid auf einmal im Laufen an einem dornigen Strauch hängen, und sie wäre fast gefallen. Sie blieb stehen und versuchte sich zu befreien. Verzweifelt zerrte und riss sie an dem Stoff, der sich jäh löste, sodass sie taumelte. Zu spät merkte sie, dass es hinter ihr bergab ging. Sie rutschte, und während sie vergeblich versuchte, einen Halt an den Zweigen zu finden, stürzte sie rauschend durch ein Meer von Blättern, Ästen und Gestrüpp in die Tiefe und überschlug sich, bis sie am Fuße eines Abhangs liegen blieb.
Benommen wollte sie sich aufrichten – als sie plötzlich auf ein Paar alte, abgetragene Schuhe blickte und mit klopfendem Herzen sah, dass sie nicht allein war.
Im nächsten Moment wurde sie von einer braun gebrannten schmutzigen Hand unsanft auf die Füße gezogen, und sie schaute in zwei tiefschwarze Augen. Vor ihr stand eine Zigeunerin, die um die Hüften ein Tuch gebunden hatte, das ihr als Beutel diente und aus dem frisch gepflückte Kräuter herausragten. Ein sichelförmiges Messer steckte in ihrem Rockbund.
Die Frau musterte sie durchdringend. Ihr faltiges, wettergegerbtes Gesicht hatte etwas Furcht Einflößendes, und sie wollte fortlaufen, doch die Zigeunerin hielt sie mit eisernem Griff fest. Sie lachte heiser, als sie die Angst in ihrem Gesicht sah.
»Wohin so schnell, ma belle? Willst du nicht wissen, was dir die Zukunft bringt?«
Sie drehte ihre Hand grob zu sich – und noch heute konnte sie die schwieligen Finger spüren, wie sie über ihre Handflächen glitten -, als auf einmal ein merkwürdiger Ausdruck auf das Gesicht der Alten trat.
Sie schaute die Zigeunerin zaghaft an. »Wird die Oberin mich bestrafen, weil ich mich mit der Comtesse gestritten habe?«
Aber die Alte schien sie nicht zu hören. Sie sah durch sie hindurch, als erblickte sie etwas in der Ferne, bis sie schließlich laut und rau lachte. »Glaub mir«, sprach sie, »eines Tages wird sich die Comtesse – und nicht nur sie – vor dir verbeugen!« Und mit diesen Worten streckte sie ihre Hand aus und griff mit einer schnellen Bewegung nach ihrer Kette mit dem silbernen Kreuz. Mit einem Ruck riss sie sie ihr vom Hals.
»Ein kleines Pfand, damit Sie nicht vergessen, wer ich bin, Mademoiselle, wenn wir uns eines Tages wiedersehen!« Sie deutete eine übertriebene Verbeugung an, bevor sie erneut in ihr heiseres Lachen ausbrach, das gespenstisch durch den Wald hallte und später noch lange in ihren Ohren klang, als man sie schon längst wieder aufgegriffen und ins Kloster zurückgebracht hatte, wo sie für ihren Ungehorsam und ihren Streit mit der Comtesse mit zehn Stockhieben bestraft wurde.
»Es hätte dir nicht einmal zugestanden, die Tochter der Duchesse auch nur anzusprechen, und wenn, dann hättest du es als ungewöhnliche Ehre ansehen müssen, dass sie überhaupt mit dir spielt«, sagte die Äbtissin, die mit teilnahmsloser Miene zusah, wie der Stock der Mutter Oberin auf ihre Finger niedersauste.
Sie weinte nicht, aber vor Schmerz traten ihr die Tränen in die Augen. Ihre angeschwollenen Hände brannten, als man schließlich die Duchesse und ihre Tochter, die Comtesse, hereinbat. Seidenröcke raschelten, Absätze klapperten. Die Nonnen verbeugten sich tief.
Hoch erhobenen Hauptes legte die Duchesse ihren Arm, an dem mit einem leisen Klirren mehrere Armbänder herunterrutschten, um die Schulter der Comtesse und musterte sie mit gelangweilter Herablassung.
Sie schlug vor Scham die Augen nieder.
»Mademoiselle Poisson möchte untertänigst um Verzeihung für ihr Verhalten bitten«, erklärte die Äbtissin.
Sie sah zur Comtesse – hochmütiger Triumph blitzte ihr aus dem Gesicht des anderen Mädchens entgegen.
Sie zögerte – ein letzter Rest von Stolz bäumte sich in ihr auf -, doch der drohende Ausdruck in dem Gesicht der Äbtissin ließ sie schließlich den Kopf beugen.
»Verzeihung«, murmelte sie leise, und dieses eine Wort auszusprechen, obwohl nicht sie, sondern die Comtesse mit dem Streit angefangen hatte, war erniedrigender und schmerzhafter als jeder einzelne Hieb mit dem Stock.
»Haben Sie nicht etwas vergessen, Mademoiselle Poisson?«, fragte die Äbtissin schneidend.
Sie brauchte einen Augenblick, bis sie verstanden hatte, was die Äbtissin meinte, dann deutete sie eine Verbeugung an, doch als sie schnell wieder hochkommen wollte, spürte sie plötzlich den Stock der Mutter Oberin im Nacken, der sie zwang, den Kopf zu senken und sich tief nach unten zu beugen, bis sie den spitzenbesetzten Rocksaum der kleinen Comtesse vor Augen hatte – und ihr wurde bewusst, wie sich die Prophezeiung der alten Zigeunerin so auf demütigende Weise ins Gegenteil verkehrt hatte …
Januar 1730 …
1
Ein unerträglicher Lärm und Gestank weckte Jeanne. Benommen schreckte das Mädchen aus dem Schlaf. Sie war – den Kopf an das Fenster der Kutsche gelehnt – eingeschlafen, und es dauerte einen Moment, bis sie wieder wusste, wo sie war. Müde strich die Achtjährige sich eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars, die sich unter ihrem weißen Häubchen gelöst hatte, aus dem Gesicht und blickte dann mit großen Augen nach draußen.
Sie hatten bereits die Faubourgs von Paris erreicht. Der Wagen, der sich zwischen Menschen, Fuhrwagen und Droschken seinen Weg durch die Vorstadt bahnte, kam nur noch langsam vorwärts. Eine undefinierbare schlammige Schicht, Dreck, der von den Rädern bis zu den Fenstern hochspritzte, bedeckte den Boden. Armselige, halb verfallene Häuser und notdürftig zusammengezimmerte Schuppen säumten die engen Gassen, in denen ein ohrenbetäubendes Durcheinander von schrillen Rufen, Peitschenknallen und laut ausgetragenen Streitereien zu hören war. Es roch so stark nach Urin, Kot und verdorbenen Abfällen, dass Jeanne übel wurde.
Das Mädchen lehnte den Kopf gegen die Scheibe und spürte, wie sie dennoch eine Welle der Erleichterung ergriff. Sie hatten Paris erreicht, und das Kloster lag weit hinter ihnen! Noch immer konnte sie es nicht glauben, dass sie nach Hause zurückkehren durfte. Trotz der bangen Ungewissheit, was sie dort wohl erwartete, war sie unendlich glücklich, dass sie die Klosterschule von Poissy, in der sie drei lange Jahre verbracht hatte, verlassen konnte.
Eine Bewegung neben ihr ließ sie einen Blick zu ihrer Mutter werfen, die bis eben mit geschlossenen Augen vor sich hin gedöst hatte und nun aufgewacht war und mit einem leichten Seufzen nach ihrem Täschchen griff. Sie rümpfte aufgrund des Gestanks ungehalten die Nase.
»Hier, nimm das«, sagte sie und reichte Jeanne ein mit Parfüm getränktes Taschentuch. Doch selbst der starke Duft konnte den Geruch kaum überdecken.
Verstohlen sah sie über das Tuch hinweg zu ihrer Mutter. Als sie vor dem Kloster an der Kutsche stand, hatte sie sie im ersten Moment kaum wiedererkannt. In den letzten Jahren hatten sie sich nicht mehr als zwei-, dreimal zu den Feiertagen gesehen, und nun erschien sie ihr plötzlich wie eine Fremde. Im Gegensatz zu früher trug sie Rouge und Puder auf den Wangen, roch nach Parfüm und hatte ein elegantes Kleid aus einem seidigen Stoff an, in dessen tiefem Dekolleté ein winziges künstliches Blumenbouquet prangte.
Jeanne sah an sich selbst herunter und zog unauffällig an dem Rockansatz des verblichenen gelben Kleides, das sie unter ihrem verschlissenen Reiseumhang trug. Es war viel zu kurz geworden und spannte, sodass sie das Gefühl hatte, die Nähte müssten jeden Augenblick platzen, aber es war das einzige Kleid, das sie außer den zwei weißen, die sie in der Klosterschule getragen hatte, überhaupt noch besaß.
Die Kutsche passierte eine Kreuzung, und Jeanne blickte erneut nach draußen. Zwischen zwei Häusern brannte ein kleines Feuer, an dem sich zwei halb nackte Kinder und eine krumme Alte mit strähnigen Haaren wärmten. Auf den Straßen waren Bettler zu sehen und Menschen mit pockennarbigen blassen Gesichtern in zerlumpter Kleidung und Holzschuhen – einige von ihnen waren sogar barfuß. An einer Ecke drängte sich eine Gruppe von Frauen und Männern zeternd um einen Fuhrwagen, von dem aus ein wohlgenährter Händler aus Paris Lebensmittelreste verkaufte. Seine mit Degen bewaffneten Gehilfen mussten die Menge rigoros zurückhalten, damit sie nicht über den Wagen herfielen, während der Händler den hungrigen Leuten ihre letzten Deniers für ein Stückchen fast verdorbenen Fisch und steinhartes Brot abknöpfte.
Madame Poisson fächelte entnervt ihr Taschentuch. »Mon Dieu, wie ich es hasse, durch die Faubourgs zu fahren!«
Jeanne blickte sie scheu an. Ein unangenehmes Kratzen machte sich plötzlich in ihren Luftwegen bemerkbar, und im gleichen Moment wurde sie von einem der trockenen Hustenanfälle geschüttelt, die sie seit Wochen quälten und anschließend ein schmerzhaftes Brennen in der Brust hinterließen. Erschöpft lehnte sie sich zurück.
Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter.
»Höchste Zeit, dass ich dich aus diesem feuchten Gemäuer dort weggeholt habe«, sagte Madame Poisson. »Zu Hause päppeln wir dich erst einmal wieder auf, und dann wird dein Husten von ganz allein verschwinden.«
Sie strich Jeanne liebevoll übers Haar und musterte zufrieden die noch kindlichen, aber bereits vielversprechenden Gesichtszüge ihrer Tochter, die – trotz der blassen hohlen Wangen – allen Grund zu der Annahme gaben, dass aus ihr in einigen Jahren eine ansprechende attraktive Frau werden würde. Schöne Haare und gesunde Zähne hatte die Kleine Gott sei Dank auch. Etwas mager war sie, gut, aber das würde man schon hinbekommen.
Draußen knallte der Kutscher mit der Peitsche, damit sie schneller vorwärtskamen, doch eine andere Droschke versperrte ihnen den Weg.
Der Gestank wurde plötzlich unerträglich, etwas anderes, noch viel Beißenderes, Penetranteres kam hinzu. Jeanne spürte, wie ihr erneut entsetzlich übel wurde, und blickte ihre Mutter fragend an. »Was ist das?«
»Der Armenfriedhof! Sie beerdigen sie nicht immer sofort …«, erklärte Madame Poisson und verzog das Gesicht, während sie ein kleines Fläschchen Parfüm aus ihrer Tasche zog und hastig begann, ihr Taschentuch damit zu beträufeln und es Jeanne reichte. Das Mädchen schauderte.
»Atme durch das Tuch, das reinigt die Luft etwas«, sagte ihre Mutter.
Sie fuhren weiter, langsam ließ der süßlich-beißende Geruch nach, und sie kamen nach Paris hinein. Noch immer waren die Straßen schmutzig, doch die Häuser um sie herum wurden größer und imposanter. Von Weitem konnte man die Türme von Notre-Dame und die Silhouette des Palais du Louvre sehen.
Ihre Mutter legte lächelnd den Arm um sie. »Und bist du froh, von den Nonnen wegzukommen?«
Jeanne nickte stumm. Wie oft hatte sie sich abends, wenn sie auf der harten Liege unter der pieksenden Strohdecke lag, in den Schlaf geweint und sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich wieder nach Hause zu dürfen. Sie schämte sich zwar etwas dafür, aber im Grunde war sie froh und hatte alles dafür getan, dass der hartnäckige Husten immer schlimmer geworden war, bis die Nonnen ihrer Mutter schließlich rieten, sie nach Hause zu holen.
Jeanne drehte sich zu ihrer Mutter. Als sie ihr lächelndes Gesicht sah, traute sie sich endlich, die Frage zu stellen, die ihr auf den Lippen brannte, seitdem sie sich vor dem Kloster wiedergesehen hatten.
»Haben Sie etwas von Vater gehört?«, fragte sie leise. »Wird er zurückkommen?«
Madame Poisson zögerte einen Moment, bevor sie schließlich den Kopf schüttelte. »Nein, das Gnadengesuch, das Onkel Jean und Onkel Joseph eingereicht haben – es ist abgelehnt worden!« Sie seufzte und strich ihrer Tochter nachdenklich über den Kopf.
1727, also vor drei Jahren, war ihr Ehemann, der Lagerverwalter und Lebensmittellieferant François Poisson, der Veruntreuung von Staatsgeldern beschuldigt worden. Es waren Zeiten, an die sich Louise Poisson nur ungern erinnerte. Verschuldet, weil der französische Staat von ihr das angeblich veruntreute Geld – eine astronomische Summe von 232 430 Livre – zurückverlangte, hatte sie sich mit ihren beiden Kindern allein durchschlagen müssen. Sie hatte die Gütertrennung erwirkt, Jeanne war auf Geheiß des Vaters ins Kloster gekommen, und nur der kleine Abel durfte bei ihr bleiben.
»Sei nicht traurig, es geht ihm gut in Hamburg. Er kann dort für die Brüder Pâris arbeiten«, tröstete sie Jeanne, als sie ihr bedrücktes Gesicht sah. Was sollte sie dem Mädchen auch sagen? Dass ihr Vater zwar vielleicht irgendwann wieder nach Frankreich, aber nicht mehr zurück zu ihnen kommen würde? Das Leben hatte sich verändert.
Jeanne schwieg. Sie vermisste ihren Vater, und gleichgültig, was alle sagten, sie wusste, dass er unschuldig war.
Wortlos blickte sie aus dem kleinen Fenster der Kutsche und betrachtete die herrschaftlichen Villen und prachtvoll verzierten Palais.
Menschen, Kutschen und Sänften drängten sich durch die Gassen, je weiter sie in die Innenstadt kamen. Jeder schien es eilig zu haben. Ein wildes, buntes Gemisch von Kaufleuten, Handwerkern, eleganten Damen, Gauklern, Geistlichen, Marktweibern mit ihren Waren, königlichen Soldaten und Adligen, die von livrierten Dienern begleitet wurden oder hoheitsvoll aus ihren Sechsspännern stiegen, füllte die Straßen. Jeanne sog begierig jede Einzelheit dieses pulsierenden Lebens in sich auf.
Schließlich bog die Kutsche in eine Straße mit vornehmen Stadthäusern, und Madame Poisson wandte sich an ihre Tochter. Sie zupfte Jeannes Umhang gerade und schnippte einen imaginären Fussel fort. »Übrigens«, begann sie beiläufig, »das Haus, in dem wir wohnen, gehört Monsieur Le Normant de Tournehem. Sei nett zu ihm! Er hat uns sehr geholfen in der schweren Zeit ohne deinen Vater.«
Der Wagen hielt, und der Kutscher öffnete den Verschlag. Jeanne sah staunend zu der imposanten Villa.
»Hier wohnen wir?«, fragte sie ungläubig. Sie erinnerte sich noch gut an ihr früheres Zuhause – eine ganz normale große Wohnung.
»Ja, habe ich dir nicht geschrieben, dass das Haus wunderschön ist?«, fragte Madame Poisson.
Das hatte sie nicht. Aber Jeanne hielt es für unhöflich, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie überhaupt nur selten einen Brief von ihr erhalten hatte. Sie folgte ihrer Mutter die Stufen zum Eingang hinauf, wo ihnen ein Diener mit einer Verbeugung die Tür öffnete und ihnen die Sachen abnahm.
Eine große, breite Wendeltreppe führte in einem eleganten Schwung in das obere Stockwerk.
Jeanne starrte fasziniert zu der Wand, wo ein Maler auf halber Höhe zur Decke auf einer Schaukel saß, die in einem Gerüst befestigt war, und an einem Wandgemälde malte. Es zeigte mehrere griechische Götter, die auf den Wolken des Olymps schwebten. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen.
»Ich brauche ein anderes Blau, heller, strahlender!«, rief der Maler seinem Gehilfen, der unten stand, ungehalten zu und ließ die Schaukel dann mit einem quietschenden Ruck nach unten gleiten.
»Bonjour, Monsieur Boucher!«, rief Madame Poisson lächelnd. François Boucher drehte sich unwirsch um, verbeugte sich jedoch sofort mit vollendeter Höflichkeit, als er sie erkannte. »Ah, Madame Poisson! Bonjour!«
Madame Poisson deutete auf Jeanne. »Meine Tochter Jeanne!«
»Enchanté, Mademoiselle!«
Jeanne blickte noch immer zu dem Wandgemälde. Der Maler sah sie fragend an.
»Die Farben, sie sind so schön«, sagte sie schließlich schüchtern. Boucher musterte sie verblüfft. »Merci, Mademoiselle!« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und er sah ihr nach, wie sie mit Madame Poisson die Treppe nach oben stieg.
Jeanne folgte ihrer Mutter durch einen langen Flur und betrachtete staunend und verwirrt zugleich die goldgerahmten Gemälde an den Wänden, die wertvollen Vasen und vornehmen weißen Marmorstatuen, die in Nischen oder auf kleinen Tischen standen. Ein Dienstmädchen kam ihnen entgegen und machte einen Knicks, bevor sie an ihnen vorübereilte.
 
Charles Le Normant de Tournehem hatte Besuch – lebhafte Stimmen erfüllten den grünen Salon des Hauses, in dem der Generalsteuerpächter in einer Sesselgruppe mit vier Männern zusammensaß. Zwischen den buschigen Augenbrauen von Le Normant de Tournehem zeichneten sich zwei steile Falten ab, als er sich mit seinem Glas Cognac in der Hand zu dem Hofbankier Jean Pâris de Montmartel wandte, dessen Erscheinung in dem blaugrauen Rock wie immer wie aus dem Ei gepellt wirkte.
»Und Sie meinen, man sollte die Zinsen wirklich nicht senken?«, fragte der Generalsteuerpächter zweifelnd.
Bei seiner Frage unterbrachen die drei anderen Männer – der Staatssekretär Armand Le Blanc, der Bankier Samuel Bernard und Pâris de Montmartels Bruder, der Armeelieferant Joseph Pâris-Duverney – ihr Gespräch und warteten gespannt auf die Antwort des Hofbankiers.
Pâris de Montmartel, der einem verzierten Döschen etwas Schnupftabak entnommen hatte, zog in Seelenruhe seine Prise hoch. Dann schüttelte der Hofbankier, der nach langen Monaten der Ungnade gerade erst wieder in sein Amt berufen werden sollte, entschieden den Kopf. »Nein, wir bleiben dabei«, sagte er mit der ihm eigenen unaufdringlichen Autorität, »sie werden nicht gesenkt.«
Sein Bruder, dessen kräftige Statur den eleganten Sessel, auf dem er saß, wie einen zerbrechlichen Puppenstuhl wirken ließ, nickte. »Peyrenc und die anderen werden es sich nicht leisten können, die Anleihen weiter so hoch zu verzinsen wie wir. Ihre Mittel reichen dafür einfach nicht«, ein maliziöses Lächeln spielte um seine Lippen, »und damit werden sie ihre Kapitalgeber über kurz oder lang an uns verlieren.«
»Nun gut«, sagte Le Normant de Tournehem mit einem ergebenen Lächeln – durchaus nicht unzufrieden bei diesen Aussichten – und stellte sein Glas auf einem zierlich geschwungenen Tischchen ab. Er vertraute den Brüdern, in deren Unternehmungen er seit Jahren sein Geld investierte. Der Erfolg hatte diesen Männern, zu denen außer Montmartel und Duverney noch zwei weitere Brüder gehörten, bislang immer recht gegeben. Ein beispielloser Aufstieg lag hinter ihnen. Mit nichts als kaltblütiger Risikobereitschaft und ihrem Einfallsreichtum hatten die Söhne eines einfachen Wirtshausbesitzers aus der Dauphiné ihre Unternehmungen einst begonnen. In einer waghalsigen Aktion hatte Antoine, der Älteste, als Zwanzigjähriger sechstausend Sack Getreide über die Alpen zu der vom Verhungern bedrohten französischen Armee gebracht und damit den Grundstein ihres Vermögens gelegt. Seitdem waren die Brüder Pâris zu den großen Lebensmittellieferanten des Landes geworden, auf die die Minister und Generäle zählen konnten, und weiter zu mächtigen Finanziers aufgestiegen, die es bis nach Versailles geschafft hatten.
Vor vier Jahren hatten sie durch den Sturz des Duc de Bourbon, der ihr Gönner gewesen war, zwar vorübergehend alle ihre Ämter und Positionen verloren – und ihre Feinde frohlockten bereits über ihren Untergang, doch so weit war es nicht gekommen. Zu groß war ihr Einfluss, zu bedeutend ihre quer durch Europa reichenden Verbindungen und Beziehungen, die ihnen ermöglichten, innerhalb kürzester Frist Kredite in schwindelerregender Höhe zu beschaffen. Heute schienen sie mächtiger denn je und hatten in jedem großen Geldgeschäft und Handelsunternehmen des Landes wieder ihre Finger im Spiel.
»Man erzählt sich übrigens, dass der Duc d’Amboise tatsächlich bankrott sein soll!«, wechselte Le Blanc das Thema. Pâris de Montmartel nickte. »Ja, nach seinem Landgut soll jetzt auch sein Pariser Palais gepfändet werden.«
Hinter ihnen erklang ein Geräusch. Die schweren Flügeltüren des Salons wurden geöffnet. »Oh, ich wusste gar nicht, dass wir Besuch haben – und noch dazu von so vielen guten alten Bekannten«, flötete die helle Stimme von Madame Poisson, die mit Jeanne den Raum betrat, und in der Art, wie sie reihum mit fröhlicher Miene die Männer begrüße, die sich erhoben hatten und ihr mit einem Lächeln galant die Hand küssten, hatte sie etwas von einem bunten Schmetterling, der von einer Blüte zur nächsten flog.
Jeanne war verunsichert hinter ihr stehen geblieben. Sie kannte nur die beiden Brüder Pâris, denn sie waren die Arbeitgeber ihres Vaters gewesen, und Monsieur Pâris de Montmartel war sogar ihr Pate. Die anderen Männer aber hatte sie noch nie gesehen. Mit ihren gebauschten Spitzenhemden, ihren Schuhen mit den glänzenden Silberschnallen und den grau gepuderten Perücken hatten sie jedoch alle fünf etwas Einschüchterndes. Ihr Vater hatte nie eine Perücke getragen. Zu besonderen Anlässen war er manchmal zum Perückenmacher gegangen, bei dem die Leute Schlange standen, um sich ihre eigenen Haare pudern zu lassen, damit sie so aussahen wie die begehrte künstliche Pracht. Er hatte sie einmal mitgenommen, und sie hatte kaum atmen können in dem feinen Stärkenebel, der noch bis auf die Straße hinausgeweht war.
Louise Poisson trat auf ihren Geliebten zu, und Le Normant de Tournehem küsste sie. »Wie schön, dass Sie schon zurück sind«, begrüßte er sie erfreut.
Madame Poisson lächelte. »Und das ist Jeanne«, sagte sie und zog ihre Tochter sanft zu sich heran.
Le Normant tätschelte dem Mädchen gönnerhaft die Wange.
Jeanne machte einen Knicks und versuchte ihre Verwirrung zu verbergen.
Pâris de Montmartel sah das magere Mädchen mit dem hübschen Gesicht verblüfft an. »Die kleine Jeanne! Mein Gott, als ich dich das letzte Mal gesehen habe, da warst du erst …«
»Sechs, Monsieur Pâris«, erwiderte sie vorschnell und wich seinem Blick nicht aus, als er sie durchdringend und eine Spur amüsiert musterte. Der erwachsene Ernst in ihrem Blick überraschte ihn.
»Beim Leibhaftigen – was bist du hübsch geworden, Kleine!«, dröhnte Pâris-Duverney begeistert.
»Ganz die Schönheit der Mutter«, warf der Staatssekretär Le Blanc mit einem Blick auf Madame Poisson ein, die kokett lächelte.
Ein jubelnder Schrei hinter ihnen ließ sie plötzlich alle herumfahren.
»Jeanne?« Ein fünfjähriger Knabe war mit erwartungsvollem Blick in der Tür aufgetaucht. Trotz seiner etwas dunkleren Haare und Augenbrauen war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Geschwistern unübersehbar.
»Abel?«
»Jeanne! Du bist es wirklich«, jauchzte er.
Die Kinder rannten aufeinander zu und fielen sich lachend in die Arme. Fast zwei Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Jeanne strahlte.
Pâris de Montmartel, der sich gerade eine weitere Prise Schnupftabak genehmigen wollte, musterte das Mädchen erneut. Sie war plötzlich wie verwandelt, jede Befangenheit war von ihr gewichen, und ihre Augen leuchteten, während sie, vor Freude lachend, ihren Kopf in den Nacken warf.
Nachdenklich, ohne den Blick von Jeanne zu nehmen, zog Pâris de Montmartel seinen Tabak hoch.
»Messieurs, Sie bleiben doch zum Diner heute Abend, nicht wahr?«, unterbrach Madame Poisson seine Gedanken mit einem charmanten Blick in die Runde.
 
Jeanne schaute mit großen Augen ungläubig auf den langen, mit glänzendem Silber und zartem weißem Porzellan gedeckten Tisch, der in dem sogenannten Speisezimmer des Hauses stand.
Das Kerzenlicht zweier großer Kronleuchter tauchte den Raum in ein warmes, goldenes Licht, und die aufgetischten Köstlichkeiten verbreiteten einen Duft, der einen ganz schwindlig werden ließ. Es gab knusprige Täubchen, Forelle in Weißwein, zartes Rebhuhnfilet in Honigsoße und Eier in Kalbsbrühe mit verschiedenen Gemüsesorten.
Jeanne sah verstohlen zu den Männern. Wie Monsieur Pâris de Montmartel sie vorhin gemustert hatte! Als wenn er jeden ihrer Gedanken lesen könnte.
Sie blickte zu ihrem Bruder Abel, der ihr gegenübersaß. Vor Freude, dass sie wieder da war, stieß er sie so heftig unter dem Tisch an, dass sie fast vom Stuhl gerutscht wäre. Er grinste und rollte heimlich mit den Augen, als von den Männern am anderen Ende des Tisches Worte wie »Anleihen« und »Dividenden« zu ihnen herüberdrangen. Jeanne musste lächeln. Wenigstens er war ihr noch so vertraut wie früher. Sie bemerkte, dass ihre Serviette auf den Boden geglitten war, und bückte sich.
»Um noch einmal auf den Duc d’Amboise zurückzukommen, ich denke, man sollte ihm aus seiner misslichen Lage helfen«, ertönte jetzt Pâris de Montmartels Stimme am anderen Ende des Tisches.
Pâris-Duverney, der innerhalb kürzester Zeit mehrere Tauben, zwei Portionen Eier und große Stücke Rebhuhnfilet verputzt hatte, sah ihn zweifelnd an. »Wir müssten ihm mit über zweihunderttausend Livre aushelfen.«
Le Normant de Tournehems Blick streifte seine Geliebte. Louise Poisson lächelte.
Jeanne schaute mit rotem Kopf von den beiden zu Le Blanc. Als sie eben ihre Serviette vom Boden aufgehoben hatte, konnte sie beobachten, wie Le Blanc unter dem Tisch mit seinem Fuß zärtlich am Knöchel ihrer Mutter entlangfuhr, während Le Normant gleichzeitig ihren Oberschenkel streichelte. Ihre Mutter aber hatte die Berührungen der beiden nicht nur geschehen lassen, sondern sogar erwidert, indem sie ihrerseits mit dem Fuß am Knöchel von Le Blanc entlangstrich und mit der Hand die Finger von Le Normant auf ihrem Oberschenkel liebkoste.
Verwirrt blickte Jeanne auf ihren Teller.
Pâris de Montmartel hatte einen Schluck von seinem Wein genommen und wandte sich zu seinem Bruder. »Zweihunderttausend Livre sind eine lächerliche Summe dafür, dass uns jemand in Versailles einen großen Gefallen schuldet.«
»Da haben Sie wiederum recht«, gab Pâris-Duverney zu. »Sie fahren morgen an den Hof?«
Pâris de Montmartel nickte.
»Haben Sie in Versailles schon mal den König gesehen?«, platzte Abel neugierig heraus.
Pâris de Montmartel schmunzelte. »Einige Male, ja.«
»Er hat richtig mit Ihnen gesprochen?«, fragte Abel ehrfürchtig.
»Nun, ehrlich gesagt, nur einige Worte«, gab der Hofbankier zurück. »Normalerweise spricht er mit seinen Ministern, und die sprechen mit mir.«
Einige Worte. Abel stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
Le Blanc kam Pâris de Montmartel zu Hilfe. Er beugte sich zu den Kindern. »Wisst ihr, nur den höchsten Adligen ist es erlaubt, ihm zu dienen und mit ihm zu reden«, sagte er in väterlichem Tonfall. »Wenn der König tatsächlich mit einem Bürgerlichen spricht, dann ist das eine sehr, sehr hohe Auszeichnung.«
Jeanne schaute ihren Patenonkel an. »Und wofür wurden Sie ausgezeichnet, Onkel Jean?«
Ihre Augen trafen sich. Pâris de Montmartel wirkte belustigt. »Sagen wir einmal so – die Krone benötigte Geld und das hat sie bekommen.«
Jeanne blickte ihn neugierig an, doch bevor sie weiterfragen konnte, schritt Madame Poisson mit strenger Miene ein. »Kinder, was fällt euch ein, das ziemt sich nicht!«
Pâris de Montmartel betrachtete das Mädchen erneut nachdenklich und wandte sich unauffällig zu Le Normant de Tournehem. »Ich sage Ihnen, die Kleine hat etwas«, sagte er leise zu dem Generalsteuerpächter. »Sie verspricht hübsch zu werden – und sie ist intelligent! Man sollte sie im Auge behalten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Die Blicke der beiden Männer verweilten einen Moment auf ihr.
2
Leichtfüßig wie eine Elfe hüpfte Monsieur Guibaudet in eleganten Schritten zu den Cembaloklängen durch den Übungsraum, wobei er mit beneidenswerter Grazie bald nach rechts, bald nach links die dazu passenden Armbewegungen vollführte und so demonstrierte, wie man ein vollendetes Menuett tanzte.
Jeanne, die neben dem Cembalo stand, bemühte sich nervös, sich jede seiner Bewegungen genauestens einzuprägen, um ja keine zu vergessen, denn so herausragend Monsieur Guibaudets Talent war, so berüchtigt waren sein schwieriger Charakter und seine unerbittliche Strenge.
Er war ein begnadeter Tänzer, ganz Paris riss sich um ihn, und er hatte selbst schon vor dem König und seiner Familie getanzt. Diese Auszeichnung hatte den exzentrischen Künstler indessen nicht davor bewahrt, an bestimmten Vormittagen der Woche, wie auch an diesem Montag, Unterrichtsstunden geben zu müssen, und er hasste nichts mehr, als wenn dabei seine Zeit verschwendet wurde.
Mit einer Mischung aus Faszination und Angst sah Jeanne daher, wie er in einer eleganten Drehung seine Vorführung auf der anderen Seite des Raumes beendete und sich nun zu ihr wandte.
Der Unterricht bei ihm war Teil ihrer Ausbildung, die Charles Le Normant de Tournehem großzügig finanzierte.
»Et voilà, und nun du«, sagte Monsieur Guibaudet streng.
Jeanne spürte, wie ihr heiß wurde. Jacques, der Cembalist, setzte erneut ein, und sie begann, während sie im Geiste verzweifelt versuchte mitzuzählen, die vorgeschriebenen Schritte zu tanzen. Kaum hatte sie jedoch die Hälfte des Raums durchmessen, schlug Monsieur Guibaudet aufgebracht seinen Taktstock auf das Cembalo. Jacques hörte abrupt auf zu spielen, und Jeanne fuhr erschrocken zusammen.
»Non, non, non!«, schrie er außer sich und raufte sich in einer Geste der Verzweiflung seine Perücke. »Was machst du da? Deine Haltung! Deine Bewegungen! Du tanzt wie eine kranke Gans!«
Jeanne starrte ihn entgeistert an. Seine Haare standen ihm im wahrsten Sinne des Wortes zu Berge. Ihr ging in diesem Moment auf, dass seine Perücke nicht absichtlich so frisiert war, sondern die vordere Partie so merkwürdig hochstand, weil er sie sich ständig raufte.
»Das ist ein Menuett!«, fuhr er sie an. »Sieh her!«
Er vollführte erneut einige Schritte, so bewundernswert leicht und mühelos, dass Jeanne ihn neiderfüllt ansah. Was würde sie darum geben, so tanzen zu können.
»Hast du gesehen?«, fragte er streng.
Sie nickte betrübt. Die Cembalomusik setzte erneut ein, und Jeanne bemühte sich, die Schritte dieses Mal besser auszuführen. Doch wieder kam sie nicht weiter als bis zur Mitte des Raumes. Die aufgebrachte Stimme von Monsieur Guibaudet unterbrach sie erneut. »Mais non! Entsetzlich!«
Entmutigt blieb Jeanne stehen und drehte sich um. Er sah sie an, als wenn er sie für einen ganz besonders hoffnungslosen Fall hielte. Dreimal in der Woche ging sie zu ihm in den Unterricht, jedes Mal voller Angst, dass Monsieur Guibaudet sie diesmal endgültig hinauswerfen würde, wie er es mit den meisten seiner Schüler über kurz oder lang getan hatte.
Wie liebte sie dagegen den Unterricht bei Monsieur de Crébillon, dem Dramatiker und Dichter, der sie in Literatur und Philosophie unterrichtete. Vom ersten Moment an, als er mit einem großen Stapel Bücher unter dem Arm schnaufend die Treppe hochgekommen war, sich auf einen Stuhl fallen ließ und tief Luft holte, um sie dann freundlich anzulächeln, hatte sie ihn gemocht.
»Erzähl! Was hast du bisher gelesen?«, fragte er sie, und seine wachen, intelligenten Augen hatten sie aus seinem von Falten zerfurchten Gesicht neugierig angesehen.
»Bisher?«
Sie zögerte, bevor sie schließlich kleinlaut antwortete. »Nur die Bibel, Monsieur de Crébillon. Etwas anderes durften wir im Kloster nicht lesen.«
Crébillon blickte sie ungläubig an. »Die griechischen Tragödien … die Philosophen … Racine, Corneille, Molière …? Nichts?«
Sie schüttelte verlegen den Kopf. »N-nein, Monsieur de Crébillon.«
Er seufzte. »Nun, dann haben wir eine Menge, Menge Arbeit vor uns.«
Sie fingen mit einfachen Theaterstücken an, tasteten sich über die alten Griechen weiter zu den Klassikern der neueren Literatur vor. Crébillon animierte sie nicht nur zum Lesen, sondern schulte behutsam ihren Verstand, indem er sie immer wieder zum Fragen und Nachdenken animierte. Der Wissensdurst des Mädchens, dem er eigentlich nur etwas Allgemeinbildung beibringen sollte, damit es sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegen konnte, erfreute ihn.
Und Jeanne liebte das Lesen, den Geruch der in Leder gebundenen Bücher, das Rascheln, wenn sie Seite für Seite behutsam umblätterte. Es kam ihr wie ein Wunder vor, dass diese gedruckten Buchstaben so viele Dinge und Geschichten erzählen konnten. Infiziert von dieser neuen Welt, die Erfahrungen und Weisheiten schenkte, die kein Mensch in einem einzigen Leben allein sammeln konnte, verschlang sie alles, was ihr in die Hände kam.
Sie lachte, weinte und durchlebte die Gefühle der Figuren aus Romanen und Theaterstücken, nahm gleichermaßen Anteil an dem Leben von Königen und Fürsten wie dem von Zofen, Bauern und Lakaien.
»Wenn man liest, ist es egal, wer und wo man ist. Man erhält Zutritt zu Welten, die man im wirklichen Leben nur von Weitem oder gar nicht sehen kann, nicht wahr, Monsieur de Crébillon?«, sagte sie eines Tages begeistert in plapperndem Ton, und der alte Dichter, der sie mit einem merkwürdigen weisen Blick bedachte, nickte.
Dienstag und Donnerstag wurden ihre Lieblingstage. Vormittags hatte sie Unterrichtsstunden bei Crébillon, und am Nachmittag ging sie zu Monsieur Jélyotte, dem jungen Opernsänger, dessen Stern gerade am Pariser Opernhimmel aufgegangen war. Er unterrichtete sie in Gesang und Theaterspiel. Die Begeisterung und Leidenschaft, mit der sie spielte, brachte den Sänger mit den auffallend schönen, androgynen Gesichtszügen zum Lächeln.
Ihr wahres Talent aber war ihre Stimme, und Jélyotte erkannte das Potenzial, das in ihr lag. Um sie nicht zu verderben, verbot er Jeanne zu ihrer Enttäuschung zunächst, etwas anderes als nur Tonleitern und ganz einfache Kinderlieder zu singen. Als sie ihm daraufhin in einer der nächsten Unterrichtsstunden gelangweilt ein Wiegenlied vortrug, sah der Opernsänger sie ungehalten an. »Du musst fühlen, was du singst – nur dann bist du gut! Ob es ein Kinderlied oder eine Arie ist, ist von keinerlei Bedeutung! Nicht das, was du singst, sondern wie du es tust, entscheidet, ob etwas vollendet ist«, fügte er so eindringlich und voller Ernst hinzu, dass Jeanne beschämt zu Boden schaute.
 
Ihre Tage waren ausgefüllt mit Lesen und Lernen. Manchmal jedoch streunte Jeanne mit Abel nach dem Unterricht auch heimlich durch die Straßen von Paris. Am Ufer der Seine beobachteten sie dann die Wäscherinnen, die auf den weit in den Fluss gebauten Flößen und Stegen knieten und die Wäsche in dem dunkelgrünen Strom hin und her zogen, oder die Wasserträger, die ihre Eimer neu auffüllten, die sie an einem Holz auf ihrem gebeugten Rücken trugen.
Es war eine aufregende Welt. Marktfrauen boten laut rufend ihre Ware feil, Boote – beladen mit Fässern und Kisten – wurden am Quai festgemacht oder legten wieder ab. Einmal sahen sie sogar, wie die Leiche eines Ertrunkenen an Land gezogen wurde.
Weiter oben in den Straßen standen Ausbesserinnen, die für ein, zwei Deniers Strümpfe und Hemden von Passanten stopften, und Straßenverkäufer verkauften Tee und Melissenwasser. Hin und wieder sahen Jeanne und Abel auch den prunkvollen Beerdigungszug eines hohen Adligen, dem Offiziere, Garden und Chorknaben in langen weißen Hemden mit Fackeln zum Mausoleum folgten.
Es gab so unendlich viel in der Stadt zu sehen, und Jeanne liebte es, sich mit Abel durch die vollen, lärmenden Straßen zu drängen, immer nah genug an den Häuserwänden entlang, damit sie nicht versehentlich den Inhalt eines Nachttopfes abbekamen, den die Leute oft im hohen Bogen einfach aus dem Fenster schütteten – oder um nicht gar von einer der vielen Kutschen umgefahren zu werden.
Bisweilen stahlen sie sich bis zu den Tuilerien davon. Zwischen den sorgfältig beschnittenen Bäumen und Sträuchern hatten sie einen Durchgang entdeckt, wo man von den Schweizer Garden, die hier niemanden aus dem einfachen Volk hereinließen, nicht entdeckt wurde. Versteckt zwischen den Büschen, beobachteten sie, wie vornehme Damen mit zierlichen Sonnenschirmen und Herren mit Hut und Degen, gefolgt von ihren Lakaien und Zofen, im duftenden Grün spazieren gingen.
Ihre Ausflüge waren immer nur kurz, denn natürlich war es ihnen verboten, sich in der Stadt herumzutreiben, und auf dem Rückweg rannten sie so schnell, wie sie nur konnten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.
Gelegentlich spielte Jeanne auch mit Françoise, der jüngsten Schwester der Köchin. Sie trafen sich auf dem Dachboden, wo Françoise ihr half, für einige Momente das marternde Korsett abzulegen, das Jeanne neuerdings anziehen musste. Gleich nach ihrer Rückkehr aus dem Kloster hatte ihre Mutter – entsetzt darüber, dass sie bisher keinen Schnürleib getragen hatte – sie mit in den Laden eines Korsettmachers genommen. Mit Grauen erinnerte sich Jeanne daran, wie ihr der Schneider, ein buckliges Männchen mit spärlichem Haarwuchs, den neuen Schnürleib das erste Mal angelegt hatte.
Sie hatte sich vor ihm an der Stuhllehne abstützen müssen, um von den ruckartigen Bewegungen, mit denen er die Bänder festzerrte, nicht nach hinten gerissen zu werden. Ihre Rippen waren brutal zusammengequetscht worden, und sie hatte das sichere Gefühl gehabt, dass ihr Oberkörper gleich zerspringen würde. »Aber … aber ich kann gar nicht mehr atmen!«, stieß sie japsend hervor.
Ohne ihren Einwand zu beachten, hatte der Korsettmacher mit einem letzten kräftigen Ruck die Bänder, so fest er konnte, zusammengezogen und geschickt die Enden verschnürt.
»Enger geht es leider nicht«, meinte er bedauernd zu ihrer Mutter. »Erstaunlich, wo sie doch sonst so mager ist«, fügte er ungnädig hinzu und bedachte ihre Leibesmitte mit einem Blick, als wenn sie den Umfang eines Fasses hätte.
»Sie war im Kloster. Die Nonnen haben nicht darauf geachtet«, seufzte Madame Poisson.
»Unverantwortlich!« Er schüttelte entsetzt den Kopf. »Nun, der Schnürleib wird schon seine Dienste tun. Sie ist noch jung! Aber Sie müssen sie dreimal am Tag nachschnüren, und nachts muss sie ihn auf jeden Fall anbehalten!«
Jeanne, die immer noch verzweifelt nach Luft schnappte, sah ihn fassungslos an und hoffte inständig, dass sie sich gerade verhört hatte. Doch außer zum Waschen durfte Jeanne das grauenvolle Kleidungsstück, das aus einer unnachgiebigen, gut einen Finger breiten und ein Viertel Zoll starken Eisenschiene bestand, tatsächlich nicht mehr ausziehen. Ihre Mutter, die sonst nicht viel von strengen Prinzipien hielt, zeigte, was diesen Punkt anging, eine unbekannte Härte. »Nur der Anfang ist so schmerzhaft. Sieh, wenn du erwachsen bist, wirst du dafür auch so eine schmale Taille haben wie ich«, hatte sie gesagt und sich dabei anmutig über ihre eigene zarte Leibesmitte gestrichen, die den Männern so den Kopf verdrehte.
Angesichts ihres wund gescheuerten Oberkörpers tröstete Jeanne diese Aussicht zurzeit jedoch wenig. Seufzend betrachtete sie auf dem Dachboden die unschönen blauvioletten Flecken, die ihre Haut zierten, während Françoise sich ihr Korsett probeweise vor einem alten Spiegel an die Brust hielt.
»Ach, ich wünschte, ich hätte auch eines!«, stieß sie sehnsüchtig hervor.
»Wenn ich dürfte, ich würde es dir nur zu gerne geben«, meinte Jeanne mit düsterer Miene. Mit Freuden hätte sie ihr dieses Folterinstrument sofort geschenkt.
Bedauernd wandte sich Françoise vom Spiegel ab. »Ich hab Kuchen mitgebracht«, sagte sie schließlich und holte eine zugebundene Serviette aus ihrer Rocktasche, in der zwei zerquetschte Stücke Apfeltarte eingewickelt waren, die sie heimlich aus der Küche stibitzt hatte.
Jeanne griff sich ein Stück. Neugierig und erwartungsvoll zugleich sah sie Françoise an, denn sie hatte immer irgendeine schöne schaurige Geschichte zu erzählen – wer zum Beispiel am Place de Grève an den Pranger gestellt oder gerade öffentlich gehenkt worden war. Die Leute seien in Scharen gekommen, hatte Françoise, die dort oft am Sonntag mit ihrer älteren Schwester hinging, erst neulich berichtet, und Jeanne hatte fasziniert zugehört, wie sie in allen Details die Kleidung des Henkers beschrieb.
Noch besser aber war der herrliche Tratsch, den sie jedes Mal von den anderen Dienstboten erzählte.
»Stell dir vor, Marie hat ein Verhältnis mit Antoine und mit Lemartin! Die beiden wissen selbstverständlich nichts voneinander«, verkündete sie jetzt, als sie sich neben Jeanne auf dem Boden niederließ und auch ein Stück Kuchen nahm.
Marie war die Dienstmagd mit den rosigen Wangen. »Mit dem Sekretär und mit dem Kutscher?«, fragte Jeanne ungläubig.
»Ja, mit beiden!« Françoise sah Jeannes verblüfften Gesichtsausdruck und musste kichern.
»Warum wundert ausgerechnet dich das? Deine Mutter hat doch auch mehrere Liebhaber – und das, obwohl sie verheiratet ist«, fügte sie missbilligend hinzu. »Das ist übrigens eine echte Todsünde, sagt meine Schwester.«
»Meine Mutter hat nicht mehrere Liebhaber«, entgegnete Jeanne würdevoll, auch wenn sie natürlich wusste, dass Françoise recht hatte.
»Hat sie doch«, sagte Françoise lapidar und beugte sich dann mit geheimnisvoller Miene zu ihr herüber. »Und weißt du was?« Ihre Augen hatten einen verschwörerischen Ausdruck angenommen. »Meine Schwester sagt, dein Vater ist überhaupt nicht …«, sie hielt inne. »Ach nein, ich erzähl es dir lieber erst gar nicht«, meinte sie und lehnte sich in dem genussvollen Wissen um die brennende Neugierde in Jeannes Blick zurück.
»Nun sag schon! Was ist mein Vater überhaupt nicht …?«, fragte Jeanne ungeduldig.
»Willst du es wirklich wissen?« Françoise sah sie zweifelnd an und biss herzhaft in ihren Kuchen.
Jeanne nickte.
Françoise ließ eine wohlkalkulierte Pause verstreichen und beugte sich dann erneut zu ihr. »Also gut! Meine Schwester sagt, dein Vater ist gar nicht dein richtiger Vater, sondern Monsieur Le Normant de Tournehem ist das!«, verkündete sie triumphierend.
Jeanne sah sie entgeistert an. »Das stimmt nicht!«, rief sie.
»Doch«, plapperte Françoise weiter. »Du hast im Dezember Geburtstag, und Antoine, der Kutscher, hat erzählt, dass deine Mutter in dem Jahr vor deiner Geburt schon manchmal hier war. Und deshalb bezahlt Monsieur auch deinen ganzen Unterricht.«
Jeanne funkelte sie aufgebracht an. »Du lügst!«, stieß sie hervor. Sie griff ihr Korsett, sprang auf und rannte mit Tränen in den Augen weg.
Sie war sich sicher, dass sich Françoise nur aufspielen wollte, aber insgeheim ließ ihr der Gedanke keine Ruhe. War Abel dann gar nicht ihr richtiger Bruder?
Fortan ertappte sie sich dabei, wie sie Charles Le Normant ansah und sich mit ihm verglich. Sie konnte keine Ähnlichkeit feststellen, aber es stimmte, dass es auffallend war, wie sehr er sich um ihr Wohlergehen und ihre Ausbildung kümmerte. Andererseits tat er das auch für Abel, versuchte sie sich zu beruhigen und verdrängte jeden weiteren Gedanken daran, dass Françoise vielleicht doch die Wahrheit gesagt haben könnte. Aber es blieb das schale Gefühl, dass man sie nun auch noch ihrer letzten Wurzeln beraubt hatte.
3
Jacques, der Mann am Cembalo, musste sich bemühen, den Blick von dem Mädchen loszureißen. Als sie vor sechs Jahren hier angefangen hatte, Unterricht zu nehmen, war sie nur eine der vielen mehr oder weniger talentierten Schülerinnen gewesen, der Monsieur Guibaudet verzweifelt versucht hatte, eine anständige Haltung und einige Menuettschritte beizubringen – vielleicht etwas musikalischer, aber ansonsten ebenso mager und ungelenk wie die anderen. Sie hatte etwas Rührendes gehabt, wie sie verbissen versuchte, die komplizierten Schrittfolgen auszuführen, mit so ernster Miene, als wenn sie den Kampf eines Duells gewinnen müsste. Mit gesenktem Haupt stand sie da, wenn die vernichtende, unbarmherzige Kritik von Guibaudet auf sie niederging und sie die Schläge seines Stockes zu spüren bekam, ohne dass sie ahnte, wie viel härter und strenger er zu ihr als zu den anderen war.
Am Anfang hatte Jacques geglaubt, dass diese – selbst für Guibaudets Verhältnisse – strenge Behandlung die versteckte Rache dafür war, dass er die »Tochter der hergelaufenen Hure eines Steuerpächters«, wie er sie nannte, unterrichten musste. Er, der schon vor dem König und dem Hof von Versailles getanzt hatte. Getobt hatte er und wollte sich weigern, doch der Sekretär des Generalsteuerpächters hatte ihm wirkungsvoll zu drohen gewusst. Daraufhin hatte der Tänzer einfach das Doppelte für seinen ohnehin schon überteuerten Unterricht verlangt, in der Hoffnung, damit würde die Angelegenheit für ihn erledigt sein. Der Sekretär aber hatte ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, das Dreifache gezahlt. Mit den besten Empfehlungen seines Herrn! Selbst Guibaudet war beeindruckt gewesen. Es war ihm wohl noch gut in Erinnerung geblieben, dass er, als er vor dem König getanzt hatte, als Lohn nicht mehr als dessen Anerkennung bekommen hatte.
Was die Strenge des Tänzers gegen das Mädchen anging, hatte sich Jacques jedoch getäuscht. Nicht Rache, sondern das frühzeitige Erkennen ihrer Begabung war der Grund gewesen, weshalb Guibaudet sie so hart und fordernd unterrichtet hatte.
Und bei Gott, es hatte sich gelohnt, dachte Jacques. Über die Jahre waren ihre Bewegungen fließend und anmutig geworden, und wenn sie jetzt tanzte, glaubte man, sie hätte in ihrem Leben nie etwas anderes getan. Man konnte nicht anders, als ihr fasziniert zuzusehen.
Jacques blickte zu ihr hinüber, wie sie Guibaudet, der ihr gerade die Schritte einer Pirouette vorführte, konzentriert zusah, und betrachtete die weiche Linie ihres Profils. Wie alt mochte sie jetzt wohl sein? Vierzehn, fünfzehn vielleicht? Sie war schön geworden, aber in dem Alter waren die meisten Mädchen hübsch, jedenfalls für jemanden, der wie er fast ihr Großvater hätte sein können. Nein, es war noch etwas anderes an ihr. Er konnte es nicht erklären, aber wenn sie einen anlächelte und man ihr in die Augen sah, war man einfach verzaubert, ja fast verloren, und man hätte alles, wirklich alles getan, damit einem ihr Lächeln erhalten blieb. Gott, was gäbe er dafür, noch einmal zwanzig Jahre jünger zu sein, dachte er und seufzte.
»Monsieur Cassent, wenn Sie mit dem Träumen fertig sind, könnten wir dann vielleicht endlich wieder?«, unterbrach die schneidende Stimme von Monsieur Guibaudet seine schwärmerischen Anwandlungen. Schon zweimal hatte der Tänzer vergeblich mit dem Stock das Zeichen für den Musikeinsatz gegeben.
Jacques fuhr erschrocken zusammen, und seine Gesichtsfarbe nahm einen zartrosa Ton an. »Selbstverständlich«, gab er verlegen von sich, und Jeanne musste lächeln.
»Gut«, entgegnete Guibaudet kalt. »Fünf, sechs, sieben, acht …«
Die Musik setzte ein, und Jeanne begann zu tanzen. Es war eine schwierige Passage, die sie jeden Tag zu Hause geübt hatte, ohne dass sie ihr jemals fehlerfrei gelungen war, doch jetzt, zu den Klängen des Cembalos, spürte sie plötzlich, wie die Musik sie trug und sich mit ihren Schritten verband. Die schwierigen Pirouetten drehten sich auf einmal wie von selbst, und schließlich beendete sie mit einer eleganten Verbeugung den Tanz.
Guibaudet sah sie verblüfft an.
»Nicht schlecht! Nicht schlecht«, sagte er gedehnt, aber etwas argwöhnisch, als wenn er nicht recht glauben könnte, was er eben gesehen hatte.
Jeannes Gesicht wurde vor Freude flammenrot. Das hatte er noch nie zu ihr gesagt.
»Nur der Kopf. Gerade und noch ein winziges Stück nach hinten geneigt. Nur eine Nuance«, fügte der Tänzer hinzu, während er seinen Stock unter ihr Kinn hielt und ihren Kopf genau in die gewünschte Position schob. Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht.
 
Es war kurz vor Ostern, und der Pariser Frühlingshimmel war launisch. Der strahlende Sonnenschein, der eben noch die sandsteinfarbenen Gebäude hatte hell und licht schimmern lassen, war jetzt einer grauen, dunklen Wolkendecke gewichen.
Abel sah ungeduldig zu der Fassade des Opernhauses, zu einem Fenster des Seitenflügels, dorthin, wo Jeanne wahrscheinlich immer noch bei Monsieur Guibaudet ihre Pirouetten drehte, obwohl die Glocke des Kirchenturms schon längst vier geschlagen hatte. So war es jedes Mal, Abel konnte sich nicht erinnern, dass Jeanne je pünktlich aus ihrem Tanzunterricht entlassen worden war.
Er strich sich eine Strähne seines glänzenden schwarzen Haares aus dem Gesicht und betrachtete die silbernen Schnallen an seinen neuen Schuhen, während er sich seinen kleinen Violinenkoffer fest unter den Arm klemmte.
Über ihm zog sich der Himmel immer mehr zu. Vermutlich würde es gleich regnen, und sie würden klitschnass sein, bevor sie zu Hause waren. Er seufzte, als plötzlich die breite Tür des Opernhauses aufgestoßen wurde und Jeanne in ihrem hellblauen Kleid die Treppe heruntergesprungen kam.
»Na endlich«, sagte Abel vorwurfsvoll.
Jeanne ignorierte seinen Blick und fasste ihn, eine Melodie trällernd, übermütig am Arm.
»Komm, lass uns tanzen!« Sie lachte und vollführte vor Abels entgeistertem Gesicht einige Menuettschritte. Sie hüpfte nach rechts und links und riss ihn mit sich in eine Drehung, bei der ihr Rock nach oben stob.
Ein vorbeilaufender Händler mit einem Gemüsekarren drehte sich neugierig nach ihnen um.
»Bist du von Sinnen?«, fragte Abel. »Was ist denn mit dir los?«
Jeanne wirbelte ihn weiter mit sich herum. Schließlich blieb sie stehen und sah Abel triumphierend an.
»Ich kann’s!«
Abel blickte sie verständnislos an.
»Das erste Mal seit sechs Jahren, dass Monsieur Guibaudet mich nicht angeschrien hat! Ich kann wirklich Menuett tanzen!«
»Ich wünschte, ich könnte dasselbe vom Violinespielen sagen«, sagte Abel neiderfüllt.
Auf der anderen Straßenseite waren zwei Männer stehen geblieben und sahen interessiert zu dem augenfällig hübschen Geschwisterpaar herüber.
Abel zog Jeanne mit sich.
»Los, komm, lass uns sehen, dass wir nach Hause kommen, eh es zu regnen beginnt«, meinte er mit Blick auf den düster werdenden Himmel.
Einige Straßen weiter reihten sich Häuser mit kleinen Läden und Geschäften dicht an dicht. Die Gasse führte zu einem Marktplatz, auf dem reges Treiben herrschte. Das laute Geschrei der Marktverkäufer und Händler hallte Jeanne und Abel entgegen, als sie um die Ecke bogen.
Die bunten Stände bogen sich unter der Last von frischen Salat- und Kohlköpfen, von saftigen Melonen, Orangen, Zitronen und Bergen von Mohrrüben, Kohlrabi und Radieschen. In übereinandergestapelten Holzkäfigen wurden gackernde Hühner und schneeweiße Gänse zum Verkauf angeboten, und nur ein Stückchen weiter pries jemand geräucherte Makrelen und frischen Fisch aus der Seine an.
In diesem Moment kam auf der anderen Seite des Platzes eine alte, in Lumpen gekleidete Frau mit Krückstock aufgeregt um die Ecke gehumpelt. Sie war völlig außer sich, schrie, zerrte den Melonenhändler aufgelöst am Ärmel und stammelte etwas, das Jeanne und Abel durch den Lärm der Marktverkäufer hindurch nicht verstehen konnten.
Der Melonenverkäufer, ein dickbäuchiger Mann, der gerade mit hochrotem Kopf eine Ladung der schweren Früchte auf seinen Stand lud, hielt in seiner Arbeit inne und sah die Alte mit ungläubigem Blick an. Zwei Melonen kullerten ihm vom Arm, aber er kümmerte sich nicht darum, sondern wandte sich zu dem Händler am Stand neben sich, fasste ihn am Ärmel und rief ebenfalls etwas.
Die Menschen, die um die beiden Männer herumstanden, redeten wild gestikulierend miteinander.
 
Auf einmal begann eine Frau hysterisch zu kreischen und rannte wie von Sinnen in die Richtung, aus der die Alte gekommen war.
Bewegung kam in die Menge, und die Menschen rannten der Frau in Scharen hinterher. Ein Tumult entstand. Einige der Händler und Verkäufer ließen ihre Waren einfach stehen und liefen ebenfalls los. Stände wurden umgerissen, Obst und Gemüse ergossen sich über die Erde, Eier gingen entzwei. Die Holzkäfige mit den Hühnern und Gänsen gerieten, trotz der verzweifelten Bemühungen ihres Besitzers, gefährlich ins Wanken, kippten schließlich um, und in dem großen Durcheinander auf dem Boden, gelang es einigen der empört gackernden Tieren, sich aus ihren Gefängnissen zu befreien.
Abel rannte einige Schritte auf einen Gewürzhändler zu, der gerade dabei war, seine Sachen zusammenzuraffen, und sie sich samt seinem Tisch auf den Rücken schnallte. Er zupfte den Mann am Rockärmel.
»Was ist denn los? Wohin laufen die Menschen alle?«
Der Mann drehte sich im Weglaufen zu den Geschwistern herum.
»Der König!«, stieß er hervor. »Eine Prozession mit dem König …!«
»Der König?«, fragte Jeanne ungläubig und blieb stehen, doch der Mann war schon fort.
»Los, komm!«, rief Abel und zog Jeanne aufgeregt mit sich.
 
Sie folgten der Menge die Straße hinunter. Schon von Weitem konnten sie die Banner mit dem Zeichen der königlichen Lilie der Bourbonen sehen, die im Wind flatterten. Laute Trompeten- und Trommelklänge waren zu hören.
Jeanne und Abel drängelten sich aufgeregt zwischen den Menschen nach vorn. Für einen kurzen Moment gelang es ihnen, einen Blick auf den Prozessionszug zu werfen.
Es war ein atemberaubender Anblick. Herolde und Pagen, die mit Trompeten und Banner dem Zug vorausgingen; die Regimenter des Königs, die sich in ihren prächtigen Uniformen und mit glänzenden Degen präsentierten; kirchliche Würdenträger, die Kreuze vor sich hertrugen; und hoch zu Pferd, in kostbaren Roben, die Höflinge, die die königlichen Ämter bekleideten.
»Da vorn, da vorn, das muss der König sein!«, brüllte Abel Jeanne zu. Und tatsächlich, von Weitem konnte man sehen, wie sich die üppig mit Gold verzierte Sänfte von Louis XV. näherte.
Die Menge drängte raunend weiter nach vorne. Schultern und Ellbogen rammten sich in die Seiten von Jeanne und Abel, und die Leute, die größer waren als sie, versperrten ihnen wieder die Sicht.
Die Garden des Königs, die den Prozessionszug wie eine Schutzmauer umgaben, zogen Schwert und Degen, um das tosende Volk zurückzuhalten. Ihrem Hauptmann stand der Schweiß auf der Stirn.
Überall erschallten Rufe und Schreie.
»Louis! Louis!«
»Es lebe der König! Es lebe der König!«
Verzückt und hingerissen sahen die Leute zu der königlichen Sänfte. Einigen rannen Tränen über die Wangen, andere begannen hysterisch zu schreien.
»Kannst du was sehen?«, rief Jeanne außer Atem. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und hüpfte, um einen Blick zu erhaschen.
»Gar nichts!«, schrie Abel zurück.
Die beiden versuchten sich in die vorderste Reihe vorzukämpfen, doch der Strudel der wogenden Menge drängte sie immer wieder zurück. Eingeklemmt zwischen ihrem Vorderund Hintermann, versuchte Jeanne sich verzweifelt an ihrem Bruder festzuhalten – doch vergeblich, denn im selben Moment wurden sie auseinandergerissen.
»Abel! Abel!« Sie sah seinen blauen Rock in der Menge verschwinden. Der grobe Stoff eines Mantels drückte sich gegen ihr Gesicht, und sie griff panisch nach einem Arm neben sich, um nicht zu Boden zu stürzen. Von der Seite presste sich der üppige Busen eines Marktweibes, die nach Schweiß und Fisch stank, gegen sie, und auf einmal fühlte sie, wie ihr fremde Männerfinger von hinten an den Rock, zwischen ihre Oberschenkel griffen. Der unangenehme Geruch einer Schnapsfahne drang zu ihr. Aufgebracht versuchte sie sich wegzuwinden, doch sie konnte sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen und wurde mit der Welle der Menge weiter fortgerissen. So fest sie konnte, rammte sie ihren Ellbogen nach hinten und spürte erleichtert, wie die Finger von ihrem Rock abließen.
Einige Meter weiter lichteten sich die Reihen etwas, und es gelang Jeanne außer Atem, sich an einem Baum festzuhalten. Hinter ihr tauchte ein rotwangiger, pockennarbiger Kerl auf und grinste sie anzüglich an.
Jeanne blickte ihn angeekelt an. Gott sei Dank ging er weiter.
»Abel!«, rief sie laut. Sie hielt nach ihrem Bruder Ausschau, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt, und sie spürte einen ersten Regentropfen auf der Wange. Der Prozessionszug war fast vorüber, und sie hatte nichts vom König gesehen!
Enttäuscht ließ sie ihren Blick weiter über die Menge schweifen und stutzte, als sie bemerkte, dass eine alte Frau mit einem roten, schmutzigen Kopftuch sie von der anderen Straßenseite her fixierte. Die Haut ihres Gesichts war wettergegerbt. Mit einem breiten Grinsen, das eine Zahnlücke entblößte, schaute sie über die Menschen hinweg zu ihr herüber.
Jeanne glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Das konnte einfach nicht sein! Ganz sicher täuschte sie sich.
Doch gerade als sie ihren Blick abwenden wollte, sah sie, wie die Alte in ihr Dekolleté griff und eine silberne Kette mit einem Kreuz hervorzog, die sie spielerisch hin und her pendeln ließ.
Jeanne sah sie entgeistert an.
Im selben Moment deutete die Alte eine Verbeugung an, wandte sich ab und schickte sich an, in der Menge zu verschwinden.
»Nein!«, rief Jeanne. Die beiden Frauen, die neben ihr standen, sahen sie verdutzt an.
Jeanne kämpfte sich aufgebracht zwischen den eilig auseinander laufenden Menschen, die Schutz vor dem Regen suchten, auf die andere Straßenseite. Für einen Moment verlor sie die Zigeunerin aus dem Blick, dann sah sie einige Meter weiter vor sich das rote Kopftuch. Sie rannte, doch plötzlich war der rote Farbtupfer wieder verschwunden. Heftig atmend blieb sie stehen und sah sich um. Nichts! Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Hatte sie sich doch alles nur eingebildet? Um sie herum leerte sich die Straße. Ihr war kalt. Erst jetzt merkte sie, dass es in Strömen regnete und sie klitschnass war.
»Jeanne! Jeanne!«
Sie drehte sich langsam um. Vom anderen Ende der Straße kam Abel auf sie zugerannt.
»Gott sei Dank! Ich habe dich schon überall gesucht!«
Er holte tief Luft und blickte sie strahlend an.
»Ich habe ihn gesehen!«, stieß er jubelnd hervor.
»Wen?«, fragte sie abwesend.
»Na, den König«, erwiderte Abel triumphierend.
 
Madame Poisson sah Doktor Giuseppe besorgt an, als er aus dem Zimmer ihrer Tochter trat und leise die Tür hinter sich schloss.
»Der Husten ist diesmal nicht schlimm! Nur eine kleine Erkältung. Mit der Medizin wird sie sich schnell wieder erholen. Es wird wohl nicht zu sehr auf ihre Atemwege übergreifen«, sagte er und strich dabei mit seiner rechten Hand die überlangen spitzen Enden seines grauen Schnurrbartes nach unten.
Madame Poisson atmete erleichtert auf. Unmittelbar nachdem die beiden Kinder gestern völlig durchnässt nach Hause gekommen waren, hatte Jeanne heftig zu niesen und wenig später zu husten begonnen. Und als Madame Poisson heute Morgen den glasigen Blick ihrer Tochter sah, hatte sie sofort einen Boten zu Doktor Giuseppe schicken lassen.
Die Miene des Arztes war nachdenklich, als er sich jetzt erneut zu ihr wandte und dabei versuchte, ihr einladendes Dekolleté zu übersehen. »Dennoch, Madame Poisson, muss ich Ihnen sagen, dass ihre Tochter aufpassen muss! Ihre Bronchien sind schwach! Sie sollten dafür sorgen, dass das Mädchen vor Kälte und Zug geschützt ist und sich nicht überanstrengt. Sonst könnten ihre Lungen eines Tages ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen werden.«
»Natürlich!« Madame Poisson nickte besorgt. »Die beiden Kinder sind gestern leider in den Tumult des Prozessionszugs gekommen und dabei völlig durchnässt worden.«
»Die Prozession? Ah, wegen der königlichen Handauflegung, richtig!« Doktor Giuseppe nickte. »Ja, die Stadt ist voll von den Skrofulosekranken! Sie sind von überall her nach Paris gekommen – alle in der Hoffnung, dass ihnen die Gnade zuteilwird, dass der König sie an Ostern berühren und heilen wird«, sagte er mitleidig, während sie den Flur entlanggingen.
»Eine Aufgabe, um die man Seine Majestät wahrlich nicht beneidet«, erwiderte Madame Poisson mit leichtem Grauen.
»Da haben sie recht, Madame. Diese Hautveränderungen sind kein besonders schöner Anblick. Aber darin ähneln sie den meisten Krankheiten, nur wenige haben ein schönes Antlitz«, sagte Doktor Giuseppe auf seine eigentümlich philosophische Weise.
 
Das Gebräu hatte einfach grauenhaft geschmeckt. Bei dem Gedanken an den bitteren Geschmack der Medizin verzog Jeanne angewidert den Mund, bevor sie erneut niesen musste. Sie griff nach ihrem Taschentuch. Ihre Nase fühlte sich bereits ganz wund an und war bestimmt schon auf das Doppelte ihrer eigentlichen Größe angeschwollen. Sie musste noch immer an die alte Zigeunerin denken. Die ganze Nacht hatte sie von ihr geträumt. Nachdenklich sah sie aus dem Fenster. In all den Jahren hatte Jeanne die Alte nie vergessen.
Die Tür öffnete sich, und Abel steckte mit einem schüchternen Lächeln den Kopf durch die Tür.
»Geht’s dir besser?«
Sie nickte, und er betrachtete nachdenklich ihre rote Nase und ihre vom Niesen geäderten Augen, die ihr blasses Gesicht unvorteilhaft zierten.
»Na ja, du siehst wirklich grässlich aus«, meinte er mit herzloser Aufrichtigkeit, »aber Doktor Giuseppe sagt, mit der Medizin wird in ein paar Tagen alles überstanden sein.«
Abel ließ sich auf ihre Bettkante nieder.
»Maman hat mir eine furchtbare Strafpredigt gehalten, dass wir uns die Prozession angeguckt haben, anstatt direkt nach Hause zu kommen«, berichtete er kleinlaut. Er kramte in seiner Rocktasche und holte etwas hervor. »Ich habe dir was mitgebracht.«
Er reichte ihr mit feierlichem Gesicht ein kleines, in grobes Tuch gewickeltes Päckchen.
Jeanne löste neugierig das Band und entfernte den Stoff. Erstaunt erblickte sie den Miniaturkupferstich, der darin lag. Er war kaum größer als zwei Münzen. Der Abdruck eines Männerkopfes prangte darauf.
»Der König«, erklärte Abel eifrig, »weil du ihn doch nicht selbst gesehen hast.«
»Wo hast du das denn her?«
»Von einem Straßenverkäufer. Sie verkaufen die Stiche überall in der Stadt, wegen der Handauflegung des Königs.«
»Sieht er wirklich so aus?«, fragte sie ungläubig.
Abel nickte stolz – und ein bisschen so, als wenn der König dieses Aussehen ihm zu verdanken hätte.
Jeanne hielt den Stich ein Stück von sich weg und betrachtete fasziniert die markanten Linien des Männerkopfes, die sich reliefartig von dem Papier abzuheben schienen.
4
Es war Anfang Dezember, und der Winter war mit unerwarteter Heftigkeit über Paris hereingebrochen. Die Temperaturen lagen seit Tagen unter dem Gefrierpunkt, die Teiche, Bäche und Kanäle waren zugefroren, selbst auf der Seine begannen bereits Eisschollen zu treiben, und eine puderige Schneeschicht hatte sich in einem sanften Weiß über die Straßen und Dächer der ganzen Stadt gelegt. Paris bot einen märchenhaften Anblick, doch so ungewöhnlich schön das Ganze anzusehen war, die Menschen litten unter der Kälte. Es fehlte an Brennholz und Nahrung, und auf den Straßen, vor allem in den Faubourgs der Armen, in Saint-Antoine und Saint-Marcel, waren viele Menschen erfroren, so wurde berichtet.
Jeanne schauderte bei dem Gedanken an die Unglücklichen, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatten, und als sie sich wieder dem Spiegel zuwandte, war sie dankbar für das Feuer, das hinter ihr im Kamin prasselte und sie – obwohl sie nur mit Mieder und Unterrock bekleidet war – angenehm wärmte. Sie schlang ihre langen Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen und lockerte mit einigen geschickten Handgriffen ein paar Strähnen an den Seiten, sodass sie ihr Gesicht in den gewünschten weichen Wellen einrahmten. Zum Schluss befestigte sie ein glänzendes Band mit einer kleinen weißen Kunstblüte in ihrer Frisur und griff nach dem hellen Kleid, das sie sich bereits auf einem Stuhl für den Abend bereitgelegt hatte. Leise raschelnd glitt der Stoff über ihr Mieder und den Unterrock. Sie zog und strich alles zurecht und schloss die Knöpfe an der Seite.
Das Kleid war dekolletiert, nicht zu tief, das wäre für den Salonabend bei Madame de Tencin zu übertrieben gewesen, aber dennoch so, dass man die Wölbung ihrer Brüste erahnen konnte, die durch das Korsett und das Mieder nach oben gehoben wurden. Der Stoff schmiegte sich eng an ihren Körper, betonte ihre Taille, die dank der sieben leidvollen Jahre, in denen sie das unnachgiebige Korsett hatte ertragen müssen, inzwischen ungewöhnlich schlank und grazil geworden war, und ergoss sich nach unten zum Rock hin in einem ausladenden Faltenwurf.