Die fehlenden Worte unserer Herzen - Marius Schaefers - E-Book

Die fehlenden Worte unserer Herzen E-Book

Marius Schaefers

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Beschreibung

Über Vergebung und neue Chancen Rics zweite Chance scheint gekommen, als seine ehemalige beste Freundin zurück in die schottische Heimat zieht, um am Theater in Glasgow zu tanzen. Damals hat er einen schrecklichen Fehler begangen und hofft nun, alles wieder gutmachen zu können und sie um Verzeihung zu bitten. Dazu gehört auch, Eliza endlich seine Liebe zu gestehen. Zwar ist Ric inzwischen als trans* geoutet und lebt nun als Mann, hat aber keine Ahnung, wie er ihr gegenübertreten soll, denn seine lässig-coole Art ist bloß aufgesetzt. In dem charmanten Davie findet er den perfekten Wingman, um ihm bei der erträumten Lovestory zu helfen. Love-Triangle im rauen Schottland Fortan verbringen die beiden viel Zeit miteinander und plötzlich erkennt Ric sich selbst kaum wieder und weiß nicht mehr, für wen sein Herz eigentlich schlägt – für Eliza, die Ballerina, oder den angehenden Schriftsteller Davie … Own-Voices-Geschichte von @derunbekannteheld Marius Schafers tritt öffentlich als Botschafter für Trans*-Themen auf und weiß, über sensible Themen zu schreiben. Mit dieser authentischen Geschichte über die Suche nach sich selbst und das Finden von Liebe zieht er seine Leser*innen erneut in den Bann und überzeugt mit einem spannenden Plot.

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Seitenzahl: 547

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MARIUS SCHAEFERS

Die fehlenden Worte unserer Herzen

MARIUS SCHAEFERS

Die fehlenden Worte unserer Herzen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2023

© 2023 by LAGO Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Nina Krönes

Umschlaggestaltung: Manuela Amode Umschlagabbildung: Katharina Borgs

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-235-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-360-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-361-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

TRIGGERWARNUNG

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

EPILOG

GLOSSAR

DANKSAGUNG

TRIGGERWARNUNG

(Achtung: Spoiler für das gesamte Buch!)

Liebe Leser*innen,

in dieser Geschichte kommen folgende Themen vor, die triggernd sein können. Diese sind:

(Internalisierter) Rassismus

(Internalisierte) Transfeindlichkeit

(Internalisierte) Queerfeindlichkeit, Homofeindlichkeit

Queerfeindliche und rassistisch motivierte Gewalt

Deadnaming (nicht ausgeschrieben), Misgendering

Geschlechtsdysphorie

Struggle mit dem eigenen Körper(-gewicht)

Fat-Shaming

Mobbing

Trauma

Alkoholkonsum, Erwähnung von Drogen

Bitte passt beim Lesen gut auf euch auf.

PROLOG

RIC

ZWEI WOCHEN ZUVOR

Sie ist wieder da. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich Eliza aus dem Auto ihrer Eltern steigen sehe, das vor jenem Haus parkt, in dem ich mit ihr als Kind unzählige Stunden verbracht habe. Flintstone Cottage erweckt den Anschein, die Zeit sei stehengeblieben. Nur einer der beiden Schornsteine wurde irgendwann erneuert. Ansonsten sind da der dunkle Sandstein, die grauen Schindeln, der Erker mit den tiefen weißgerahmten Fenstern, in dem noch die Papiergirlande hängt, die wir in der Primary School zum Thema Waldtiere gebastelt haben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Eliza jemals wiedertreffen würde, nachdem sie für ihre Ausbildung weggezogen war, und hatte mir längst eingeredet, dass es besser so wäre, aber hier ist sie. Das Mädchen, dem ich vor Jahren entgegen jeder Vernunft verfallen bin.

Vermutlich sollte ich nicht wie ein Creep hinter dieser Mauer herumlungern, die den Vorgarten an einer Seite vom Nachbargrundstück trennt, sondern meinen Hintern in Bewegung setzen und ihr »Hallo« sagen. Nur ist mein Mund wie ausgetrocknet und meine Beine verweigern mir den Dienst.

Bei Elizas bisherigen Besuchen in Norriesford habe ich alles darangesetzt, ihr aus dem Weg zu gehen. Das war eine Herausforderung bei nur etwa 5000 Einwohnenden, zwei Supermärkten und einem winzigen Stadtkern, doch es war mir gelungen. Zu sehr hatte ich mich geschämt, weil ich es damals richtig verbockt habe. Meine Angst vor ihrer Reaktion war groß. Aufgrund der räumlichen Distanz wäre es sowieso fruchtlos gewesen, auf sie zuzugehen. Warum auch? Sie wäre nach den Ferien zur Akademie zurückgekehrt. Diesmal bleibt sie. Wofür der Anhänger mit den Umzugskartons spricht, den ihr Vater soeben öffnet.

Glaubt man ihren Posts auf Social Media und den Gerüchten, die in unserem Städtchen die Runde machen, wird Eliza ab Herbst ihre erste größere Rolle tanzen. Am Theatre Royal Glasgow. Ihr freudestrahlendes Selfie mit der schriftlichen Zusage für die kommende Saison, auf dem ihre unzähligen mir altbekannten Sommersprossen deutlich sichtbar waren, habe ich noch gut in Erinnerung. Das heißt, wir könnten eine zweite Chance bekommen. Hoffentlich gelingt es mir, sie zu nutzen. Ich kann mein scheußliches Verhalten wiedergutmachen. Der erste Schritt dazu ist es, über meinen Schatten zu springen und die Funkstille zu beenden.

Elizas Vater hebt einen der Umzugskartons aus dem Hänger und trägt ihn Richtung Eingangstür. Stirnrunzelnd verfolge ich, wie seine Tochter sich ihm mit einem kleineren anschließt. Laden sie direkt aus? Oder muss ich sofort handeln, bevor sie erst mal im Haus verschwinden und verschnaufen? Na ja, offen herumstehen lassen, werden sie das restliche Gepäck kaum. Es muss mindestens noch mal jemand rauskommen, um den Laderaum abzuschließen.

Okay, dann mal los, sporne ich mich an. Solange sie dir den Rücken zukehren.

Was für einen Eindruck würde es machen, wenn Eliza mich bei dieser Stalking-Aktion erwischt? Positiv ausgedrückt: kein Wiedersehen, wie ich es mir wünsche. Es wird seltsam genug werden, ihr das erste Mal seit dem Beginn meiner Hormontherapie unmittelbar gegenüberzutreten, auch wenn ich weiß, dass sie weiß, wie ich mittlerweile aussehe.

Ich streiche mein kariertes Hemd glatt und hoffe, dass ich immerhin annähernd an jenen Mann heranreiche, den meine bearbeiteten und mit Bedacht inszenierten Instagram-Fotos zeigen. Von denen hat Eliza vor einer Weile mal eines gelikt, was mir einen halben Herzstillstand bescherte. Sogar meine Jeans sind gebügelt, wofür ich von meiner Mutter schief angeguckt worden bin.

Abrupt richte ich mich auf, stolpere etwas unbeholfen aus meinem Versteck heraus und laufe möglichst unauffällig und cool die Straße entlang. Als hätte ich mich spontan und zufällig dazu entschieden, hier einen Spaziergang zu machen. Nicht etwa, weil ich anhand ihres Auf-geht’s-nach-Hause-Status-Updates ausgerechnet habe, wie lange sie von London nach Schottland brauchen würde. Selbstverständlich nicht.

Sie muss nach der Reise völlig fertig sein. South Lanarkshire liegt zwar im Süden Schottlands, aber mindestens sieben Stunden Autofahrt wird sie unterwegs gewesen sein. Solche Strecken können sich ewig ziehen, doch als Eliza wieder aus dem Haus tritt, ist ihr von der Anstrengung nichts anzumerken. Ihren Bewegungen wohnt jene elegante Leichtigkeit inne, die ich schmerzlich vermisst habe. Diesen Gang würde ich immer und überall erkennen.

Als sie mich erblickt, passiert ein Wunder. Ihre blauen Augen weiten sich und sie lächelt, so als würde sie sich freuen, mich zu sehen. Trotz allem, was war, und was für ein beschissener bester Freund ich gewesen bin. Mir wird heiß und kalt gleichzeitig. Wohin mit meinen Händen? Und überhaupt.

»Ric?«, fragt Eliza.

Mir fällt ein, dass sie es war, die mich als Erste so genannt hat, weil sie meinen Deadname so unpassend für mich fand. Nach meinem Coming-out habe ich die drei Buchstaben offiziell für mich beansprucht, da der Name etwas Vertrautes hatte und sich gleichzeitig deutlich von meinem alten und allem unterschied, was damit verknüpft war.

Eliza klingt bedächtig. Auf der Hut. Nicht wütend. Das ist schon mal etwas, oder?

»Hi«, stoße ich hervor. »Ist ewig her, was?«

Sie schüttelt den Kopf, wodurch ihre fuchsrot gefärbten Locken um ihre Wangen herumspringen. In echt leuchten sie noch stärker als auf ihren Bildern. Ich halte die Luft an, mache mich auf das Schlimmste gefasst, denn wie könnte sie auch ruhig bleiben? Das war sicher nur der erste Schock unserer Begegnung und gar kein glückliches Lächeln, sondern eine Grimasse. Da fängt sie an zu lachen. »Ich fass es nicht. Ja!«

»Ja?«, wiederhole ich perplex.

Was meint sie? Lacht Eliza über mich und meine Naivität, zu glauben, wir könnten wieder befreundet sein?

»Viel zu lange.« Sie macht eine auffordernde Geste. Was geschieht hier bitte? Ich verliere den Anschluss. Will sie … »Na, komm her!«, ruft sie.

Im nächsten Moment fällt sie mir um den Hals. Intuitiv breite ich die Arme aus. Unerwartete Freude sprudelt in mir hoch und vertreibt sofort die Frage, wie sich mein durch das Testosteron veränderter Körper für sie anfühlen mag. Träume ich? Nein, ich bin wach. Ihr Fliedergeruch hüllt mich ein, macht mich innerlich ganz weich, und als ich sie ebenso fest an mich drücke wie sie mich, werden mir drei Dinge klar. In der Aufregung habe ich meinen Pfefferminzkaugummi verschluckt. Ich bin in Eliza verliebt, noch immer. Und unter keinen Umständen darf ich das mit uns erneut vermasseln.

Nicht schon wieder.

KAPITEL 1

DAVIE

Keine Ahnung, wie lange ich bereits die edel aussehende, verschlossene Tür aus dunklem Eichenholz anstarre, in der Hoffnung, dass sie sich öffnet. Zwanzig Minuten, hieß es, als man mich auf den Gang geschickt hat, um sich zu beraten. Zwanzig Minuten, bis man mir die Entscheidung mitteilen wollte. Zwanzig Minuten, bis ich wissen würde, ob ich dieses Jahr mein Wunschstudium anfangen darf. Kreatives Schreiben ist immer eine große Leidenschaft von mir gewesen und die Vorstellung, das Handwerk von Grund auf zu erlernen und mich in eben diesem Bereich auch während meiner Ausbildung und später beruflich austoben zu dürfen, löst ein Kribbeln in meiner Magengegend aus. Nach dem Eignungsgespräch habe ich mich erschöpft auf den Stuhl an der gegenüberliegenden Wand des Büros fallen lassen und hier sitze ich nun. Meine anfängliche Erleichterung darüber, es hinter mir zu haben, ist mittlerweile verpufft und meine Gedanken rotieren wieder.

Mein rechtes Bein wippt auf und ab, sämtliche meiner Nerven summen vor Strom. Wird man mich jetzt noch ablehnen, wo ich es so weit geschafft habe? Wie oft ich im Selfservice-Portal für Bewerber*innen in den vergangenen Monaten den Status aktualisiert habe, ist rekordverdächtig. Als ich Ende Juli noch keine Rückmeldung hatte, fürchtete ich, es müsste ein technischer Fehler vorliegen oder meine Bewerbung wäre aus irgendwelchen Gründen durchgerutscht. Bevor ich vollends in Panik verfallen konnte, war ich zu einem persönlichen Kennenlernen eingeladen worden. Zu einem persönlichen Kennenlernen! Heute – der sechzehnte August – könnte der Tag werden, an dem meine Autorenkarriere ihren Anfang nimmt.

Auch wenn das Hauptgebäude der University of Glasgow ein Traum für alle Dark Academia-Fans ist, zu denen ich mich zähle, habe ich mich an der Architektur fürs Erste sattgesehen. Ich will nicht mehr warten. Seufzend über mein Versäumnis, im richtigen Moment die Zeit zu checken, als ich den Raum verlassen habe, reibe ich mit dem Daumen über eine Macke im Glas meiner goldenen Armbanduhr. Dabei habe ich sie extra zu diesem besonderen Anlass angelegt. Die Uhr ist von meiner Mutter, die ebenfalls Autorin und mein größtes Idol ist. Der Gedanke daran, wie stolz sie auf mich sein wird, hat mich zusätzlich angespornt, Vollgas zu geben. Ich bin zufrieden mit meinem Auftritt, auch wenn der Einstieg etwas holprig war. Ich will das nicht alles durchanalysieren und infrage stellen. Nun kann ich sowieso nichts mehr daran ändern.

Als ich ein Dielenknarren aus dem Büro vernehme, springe ich sofort auf. Die Tür öffnet sich und die Frau in dem grauen Hosenanzug tritt heraus. Sie war während des Interviews die Wortführerin. Ein Adrenalinschub schießt durch meine Adern und die Härchen auf meinen Armen richten sich auf. Ich schlucke ein paar Mal, um meine trockene Kehle zu befeuchten.

»Mr Baker«, sagt sie zu mir, obwohl Becker korrekt wäre. Auf diesen kleinen, aber feinen Versprecher hatte ich sie gleich bei unserer Begrüßung mit einem freundlichen Lächeln und einem »Meine Familie kommt aus Deutschland« hingewiesen.

»Oh, tatsächlich?«, fragte der jüngere der beiden Männer nach.

Ich nickte bloß, nachdrücklich, um die Spekulationen über meine Wurzeln nicht zusätzlich anzufachen und verkneife es mir auch diesmal, das Gesicht zu verziehen. Offensichtlich ist meine Bitte um Korrektur nicht hängengeblieben. Leider kenne ich das in- und auswendig.

Viele haben Schwierigkeiten mit der richtigen Aussprache, wobei ich mir inzwischen sicher bin, dass nicht nur mein Nachname, sondern die Kombination mit meinem Aussehen ein gewisses Maß an Überforderung auslöst. Oft werde ich insbesondere von weißen Menschen als Afroamerikaner eingeordnet, was immerhin nicht völlig daneben ist. Mal abgesehen von meinem schottischen Akzent. Meist aber sorge ich als Schotte mit deutsch-brasilianischem Background für Verwirrung.

»Treten Sie wieder ein«, bittet mich die Frau jetzt.

Ich tue wie geheißen, verzichte darauf, mich erneut zu beschweren. Wenn es beim ersten Mal nichts gebracht hat, schätze ich die Wahrscheinlichkeit hoch ein, dass man mich sonst als »überempfindlich« oder »rechthaberisch« abstempelt. Würde mein Verhalten auf diese Weise interpretiert, wäre das zwar weiße Zerbrechlichkeit at it’s best, aber ich ziehe hier den Kürzeren. Als ob so eine Bewerbungssituation nicht unangenehm genug wäre.

Kaum habe ich vor dem Schreibtisch Platz genommen und in die Gesichter der zwei anderen Anwesenden geblickt, verstärkt sich mein Magengrummeln. Auf einmal komme ich mir angreifbar und winzig vor, als würde mich das verblasste lila Poloshirt, das mir eine Nummer zu groß ist, verschlucken. Dafür eignet es sich perfekt, um es in den Hosenbund zu stecken. Als ich am Morgen vor dem Spiegel stand, war mir nach einem gay kind of day, was ich nun bereue. Mittlerweile gehe ich da in der Regel mit dem Flow. Ähnlich wie bei meinem Begehren. Genau dieser Flow ist mein bisexueller Vibe, wie ihn Julia Shaw in ihrem Sachbuch über Bi+ Lebensweisen so treffend beschreibt.

Der Professor übernimmt. »David«, beginnt er und spricht es richtig aus. Fast hätte er mich mit dieser Aufmerksamkeit von seinem Wohlwollen überzeugt, nur um mir gleich darauf den Boden unter den Füßen wegzuziehen. »Nachdem wir das Für und Wider sorgfältig abgewogen haben, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir Sie nicht in den Studiengang aufnehmen können.«

Ab da höre ich nur noch Bruchstücke von dem, was er mir erklärt. »Massen an Bewerbungen«, »vielversprechendes, aber ausbaufähiges Talent«, »etwas zu oberflächlich und ausgelutscht«. Mein Schädel dröhnt. Ich verstehe nicht, wieso ich überhaupt hergebeten wurde, wenn ich angeblich so mies schreibe und meine Ideen so schlecht sind, dass man mit mir nicht weiterarbeiten kann. Sie kannten den Brief, in dem ich meine Motivation erläutert habe, und die Leseprobe aus meinem neuen Roman längst, weil diese Teile meiner Bewerbungsunterlagen waren. Das Manuskript mag nicht makellos sein, aber mein ganzes Herzblut steckt darin, und Lernen ist der Sinn eines Studiums? Das will ich und möglichst früh damit anfangen! Vor Schock bringe ich keinen Ton heraus, was mir nicht ähnlich sieht. Wodurch habe ich das Eignungsgespräch in den Sand gesetzt?

»Versuchen Sie es gern im kommenden Jahr wieder«, schlägt mir der andere Mann vor.

Im nächsten Jahr? Das kann nur ein Albtraum sein! Das hier war mein zweiter Anlauf. Noch mal zwölf Monate an meinen Texten feilen, hoffen, bangen … Und die Zeit überbrücken. Das halte ich nicht durch.

»Grundsätzlich hätten wir jemanden wie Sie gern dabei«, versichert er mir.

Der letzte Satz reißt mich aus meinem Verzweiflungsstrudel. »Wie meinen Sie das?«

»Wählen Sie bei Ihrem nächsten Projekt einen anderen Ansatz. Etwas, das die Leute emotional packt. Sie könnten sich zum Beispiel mit einem gesellschaftskritischen Thema auseinandersetzen«, führt der Typ weiter aus und macht eine Handbewegung, wie um meine Erscheinung zu erfassen. »Das könnte besser funktionieren als … nun ja, Ihre Arbeit über einen dämonischen Auftragsmörder. Diversität ist doch so im Trend.«

Ich zucke zusammen und bin wie vor den Kopf geschlagen. »Ich schreibe Fiktion, keine Zeitungsartikel«, zische ich und fokussiere den Typ schließlich meinerseits, statt mich unter seiner unangenehm intensiven Musterung zu winden. Ich bin kein Objekt, das er nach Lust und Laune oder weil »es in ist«, wie er meint, begaffen kann. Zumindest nicht, ohne eine Reaktion zu kassieren. »Vielleicht sollten Sie sich mehr auf meine Texte konzentrieren. Um die geht es hier schließlich. Ich will Menschen mit meinen Geschichten unterhalten und ihnen für eine Weile eine Pause vom Alltag gönnen und keine Aufklärungsarbeit leisten.«

Kurz fürchte ich, zu weit gegangen zu sein, hätte mir am liebsten die Hand vor den Mund geschlagen. Shit, Shit, Shit. Ich wollte mich zusammenreißen, nicht alles aussprechen, was ich denke. Dabei sind die anderen es, die angefangen haben, die sachliche Ebene zu verlassen.

Die Frau lächelt beschwichtigend, statt mich zurechtzuweisen. »Ziehen Sie mal einen Genrewechsel in Erwägung«, schließt sie sich ihrem Kollegen an. »Wenn Sie Bücher veröffentlichen wollen, müssen Sie strategischer denken und den Markt beachten. Wir sehen Sie nicht in diesem Bereich. Nutzen Sie Ihre Stärken, um ihre Schreibstimme zu finden. Persönliche Bezüge erzeugen oftmals mehr Tiefe in Texten. Sicher haben Sie rassistische Diskriminierung bereits erlebt und etwas dazu zu sagen. Sie könnten über veraltete Männlichkeitsideale schreiben. Oder waren Sie schon mal in eine Person des eigenen Geschlechts verliebt?«

Meine Kehle schnürt sich zu und mir wird heiß. Fast wünschte ich mir, ich hätte weiter an das Versagen meiner schriftstellerischen Fähigkeiten geglaubt. Sie klingt so gutmütig, wodurch mich ihre Argumentation nur noch mehr aufregt. Merkt sie nicht, wie unsensibel sie agiert?

»Was wollen Sie mir hier vermitteln?«, erkundige ich mich heiser.

»Sie sind noch nicht soweit«, betont der Professor. »Was und wen wir hier fördern, muss etwas Besonderes sein. Da zählt das Gesamtpaket.«

»Probieren Sie sich etwas aus und bewerben Sie sich wieder«, ermuntert mich die Frau. »Wagen Sie ruhig mal was.«

Zum Abschluss nicken sie alle einvernehmlich.

Vermutlich sind sie der Überzeugung, mir mit ihrem Rat einen Gefallen zu tun, indem sie mich vor weiteren Enttäuschungen bewahren und meine Chancen auf eine Veröffentlichung erhöhen. Was, wenn ich übertreibe und womöglich wegen früherer ähnlicher Erfahrungen alles in den falschen Hals bekommen habe?

Bin ich als Schwarzer queerer Mann nur zu vermarkten, wenn ich in irgendeiner Form die Merkmale meiner Identität in meinen Geschichten aufgreife? Möchte etwa niemand Fantasy von queeren Schwarzen Menschen lesen? Hätte ich ihnen genauso gut Tagebucheinträge als Trauma-Porn vorsetzen können statt das Ergebnis meiner harten Arbeit?

Mit jeder Frage, die ich mir stelle, klopft mein Herz lauter und schneller. Das mag alles stimmen. Eben deswegen muss sich etwas ändern!

»Okay«, lenke ich ein, nehme eine aufrechtere Position ein, straffe die Schultern. »Aber lassen Sie mich Ihnen auch noch etwas mitgeben. Zum einen: Ich und mein Leben sind weit mehr als ein trendiger Trope in einem Buch. Zum anderen: Solange Sie mich für einen weißen hetero Typen gehalten haben, war mein Werk in Ihren Augen einer Förderung würdig. Denken Sie mal darüber nach.«

Das muss reichen. Ich habe nicht die Kraft, um eine flammende Rede über Rassismus und Queerfeindlichkeit zu halten. Es hat seine Gründe, wieso ich in meinen Projekten von meiner Realität Abstand nehme und die Figuren mit anderen Problemen konfrontiere. Die Scheiße, die ich oft genug erlebe, muss ich nicht auch noch in meinem Kopfkino durchspielen.

»Mr Baker, wir wollten nicht –«

»Ich bitte um Verzeihung«, wische ich den Protest der Frau beiseite, »aber ich werde jetzt gehen.«

Meine Augen brennen. Bevor man mich mit halbgaren Entschuldigungen und übertriebenem Bedauern, dass ich das alles falsch aufgefasst habe, bestürmen kann, erhebe ich mich wie ein Roboter, bedanke mich für die Einladung und verlasse den Raum.

Wie durch ein Wunder gelingt es mir, die Tränen lang genug zu unterdrücken, bis ich im Flur stehe. Ich fange an zu heulen, als nicht nur der ungeschönte Schmerz über die Ablehnung meines Schaffens in mich sickert, sondern auch die Konsequenzen, die mein erneutes Scheitern mit sich bringt. So sollte es nicht laufen. Habe ich nicht exakt das getan, was immer gepredigt wird? Ich bin meinen Träumen gefolgt, entgegen vernunftgeleiteten Stimmen. Nur was ist, wenn diese Träume sich nicht erfüllen, sondern in ein Schreckensszenario der Variante leidend und in Geldnot verwandeln? Der Studienplatz hätte erst mal nichts Konkretes verändert, aber er wäre ein Schritt Richtung Ziel gewesen und hätte mir bewiesen, dass ich es zumindest irgendwie draufhabe. Womöglich habe ich mich in etwas verrannt. Wie soll ich es jemals ertragen, mit meinem Buch auf Verlagssuche zu gehen oder kritische Leserstimmen zu meinen Storys zu sehen, wenn ich jetzt schon so am Boden bin? Das Leben als artsy Schreiberling habe ich mir alles in allem erstrebenswerter ausgemalt. Möglicherweise sollte ich erst mal etwas anderes studieren. Wäre meine Sorge nur nicht so groß, dass ich da dann einmal drinstecke und am Ende völlig woanders lande, als ich ursprünglich vorhatte.

Meine Tränen versiegen nur langsam. Mit einem Taschentuch, das ich, Gott sei Dank, in meiner Hosentasche finde, wische ich mir zittrig das Gesicht trocken. Ich atme tief durch – nur um überstürzt aufs Geratewohl loszulaufen, als das bekannte leise Dielenknarzen an meine Ohren dringt. Das fehlt mir noch, dass das Gremium mich doch noch so aufgelöst erlebt!

Ohne mich erneut nach dem Büro umzudrehen, behalte ich unbeirrt, aber mit rasendem Herzen mein Tempo bei, auch wenn ich, wie mir auffällt, im Weggehen einen anderen Weg eingeschlagen habe als jenen, den ich zum Eignungsgespräch gekommen bin. Na super.

Bevor ich mich nach diesen Ereignissen noch länger als nötig in der Universität aufhalte und weiter durch die Flure irre, beschließe ich kurzerhand, den nächsten Notausgang zu nehmen. Eben will ich die Tür mit dem grünen Schild darüber aufreißen, da schwingt sie bereits von allein zurück.

Verdutzt lasse ich die ausgestreckte Hand sinken. Kurze braune Haare, die nach hinten gegelt sind, ein rundes Gesicht mit weichen Konturen und ein hüpfender Adamsapfel fallen mir zuerst ins Auge. Ich schätze den vermutlich weißen Typ in Trainingsanzug auf Anfang zwanzig, also etwas älter als ich mit meinen neunzehn Jahren. Natürlich könnte ich mit meiner Zuschreibung ebenso danebenliegen, er lediglich als weiß durchgehen oder weder weiß noch Schwarz sein. Mir ist bewusst, dass es weit mehr Nuancen gibt. Wobei der gesellschaftliche Space, in dem ich mich vorwiegend bewege, Menschen recht strikt in diese Kategorien unterteilt, wie ich es ja leider immer wieder am eigenen Leib erfahre. Von daher ist es für mich bei der Begegnung mit anderen hilfreich, mir solche Gedanken zu machen.

»Sorry«, sagen wir beide gleichzeitig.

Der steinerne Treppenvorsprung, auf dem der Fremde steht, ist zu schmal, um aneinander vorbeizugehen. Ein paar Sekunden schauen wir uns unschlüssig an. Ob man erkennt, dass ich geweint habe? Dezent unangenehm. Allerdings wirkt auch er nicht wie die pure Lebensfreude und seine Haltung ist steif und angespannt.

»Alles okay?«, erkundige ich mich, weil ich nicht anders kann. Mein Helfersyndrom schlägt gnadenlos zu, selbst gegenüber Leuten, die ich nicht mal kenne.

In meiner eigenen Verlorenheit würde es mich erleichtern, wenn mich das mal jemand fragt. Ein Unbeteiligter, dem ich ehrlich antworten kann. Nicht wie beim Small Talk mit meinem Mitbewohner, der dazu mein Vermieter ist, oder vor den Kolleg*innen in meinem Nebenjob oder während eines Telefonats mit meinen Eltern. In all diesen Momenten muss ich wie ein rundlaufender Mensch dastehen.

»Klar«, entgegnet er. Ein Stirnrunzeln huscht über seine Züge und ich realisiere meinen Fehler. »Wieso auch nicht? Was geht dich das an?«

Als er das Kinn vorreckt, bin ich beinah eingeschüchtert und weiche minimal zurück.

»Nichts«, sage ich schnell.

»Dann lass mich gefälligst in Ruhe«, verlangt er.

Ein Schauder durchläuft mich. In Abwehr hebe ich die Hände. »Ja, klar, schon gut.«

Wieso kann ich nicht mal die Klappe halten? Mich in heikle Situationen zu bringen ist noch so ein ungewollter Nebeneffekt dieser Angewohnheit. Mein Gegenüber ist zwar kleiner als ich, aber seine breiten Schultern führen mich zu der Vermutung, dass er das Sportzeug nicht nur aus modischen oder Chill-Faktor-Gründen trägt. Meine Sorge scheint ihn brüskiert zu haben. Welch ein Verbrechen, dass mir meine Mitmenschen nicht egal sind.

Zur Stimmungsauflockerung zeige ich hinter ihm ins Freie. »Es ist nur, das hier ist zwar ein lauschiges Plätzchen«, witzele ich, »aber wenn ich mir dein Gesicht anschaue, macht so eine Solonummer keinen Spaß.«

Darauf werde ich einer abschätzigen Musterung unterzogen. Nicht mal seine Mundwinkel zucken. Okay, okay, zum Comedian tauge ich nicht! Ernsthaft, hätte mir nichts einfallen können, was weniger zweideutig ist? Wie dem auch sei, aus Nettigkeit hätte der Kerl auf meinen Versuch, die Lage aufzulockern, eingehen können, finde ich.

»Möchtest du damit irgendetwas andeuten?«, fragt er tonlos.

»War ein Scherz«, winke ich ab. Im Stillen füge ich hinzu: Das sollte kein Flirt werden, mach dir nicht in die Sweatpants. Du hast mich erfolgreich verschreckt.

»Ach. Ist das so?«

Ich möchte unvoreingenommen sein, aber sein kalter, nahezu herablassender Gesichtsausdruck erschwert es mir, ihn nicht als Exemplar der Gattung »aufgeblasenes Ego«, »emotionslos wie ein Stein« und »Wozu brauchen wir Feminismus?« einzuordnen. Meiner Meinung nach habe ich nichts getan, was diese ruppige Behandlung rechtfertigen würde. Bedauernswert, denn auf den ersten Blick fand ich ihn rein optisch gar nicht übel. Zu meinem Ärger interessiert es mich, wie sein Urteil über mich ausfällt.

»Lässt du mich durch oder willst du zuerst?«, beende ich dieses unrühmliche Zwischenspiel. »Ich muss weiter.«

»Nach dir«, räuspert er sich und gewährt mir den Vortritt.

Mit einem »Danke« schiebe ich mich an ihm vorbei nach draußen, wobei ich tunlichst darauf achte, ihn nicht zu berühren. Er bewegt sich währenddessen keinen Millimeter. Sein Unwohlsein springt auf mich über. Ich frage mich, wobei ich ihn ertappt habe. Wie ich benutzt er in diesem Moment den Notausgang. Das ist verboten, solange kein Notfall vorliegt. Außerdem betritt er die Uni, statt sie zu verlassen.

Ich rechne damit, dass er mir noch irgendwas Abfälliges über mein feminin angehauchtes Auftreten an den Kopf werfen wird. Nur um sicher zu gehen, dass er sich seine eigene Maskulinität bewahrt, oder welcher Logik auch immer so ein Machogehabe folgen mag. Netterweise verschont er mich mit einem ätzenden Kommentar und ich schaffe es unbehelligt die Treppe hinunter.

Von dort fällt mir die Orientierung leicht. Immerhin eine gute Sache heute, abgesehen vom Wetter, welches sich angemessen sommerlich präsentiert. Hinter dem Flügel, in dem mein Eignungsgespräch stattgefunden hat, blitzt eine Ecke des Rasens auf, der die Fläche zwischen den majestätisch anmutenden Gebäuden und Türmchen begrünt. Zielstrebig überquere ich den Innenhof und halte auf einen der vier Torbögen zu, um das Gelände zu verlassen. Angesichts der vielen jungen Leute, die überall in Gruppen beisammenstehen, die Pfade entlangschlendern oder auf den gusseisernen Bänken sitzen, gebe ich mein Bestes, nicht daran zu denken, wie ich mir erst vor wenigen Stunden vorgestellt habe, dass ich bald einer von ihnen sein würde.

Ob Fitness-Boy Student ist? Wieso hat er keinen offiziellen Eingang benutzt? Wo mag er hergekommen sein?

Einmal mehr beschleunige ich meine Schritte.

Ist doch egal, was er am Notausgang getrieben hat! Ich werde diesen Typ nie wiedersehen, weil ich nicht hier studiere. Sowieso ist es hirnrissig, mehr über ihn erfahren zu wollen. Als würde ich etwas verpassen oder als hätte er im Gegenzug auch nur einen Hauch Interesse an mir gezeigt.

Die nächste Subway-Station befindet sich keine fünf Minuten von der Uni entfernt. Selten war ich so froh, den Nachhauseweg anzutreten, als ich mich in die enge orangene Röhre quetsche. Für den Augenblick stört es mich kaum, wie voll es ist und dass ich stehen muss. Saurer Schweißgeruch und andere Ausdünstungen dringen mir in die Nase.

Was soll’s, dass das hier gerade mal die erste Etappe meines Pendlerschicksals darstellt. Von Glasgows Zentrum aus werde ich den Zug nach Hamilton nehmen und dann weiter mit dem Bus nach Norriesford fahren. Die pittoreske Kleinstadt etwas südlich von Glasgow hat keinen Bahnhof, mir dafür aber vor einem Jahr ein WG-Zimmer beschert. Weil die Wohnungssuche sich so anstrengend gestaltet hat und ich gestresst genug davon war, in der Fremde meinen Alltag zu bewältigen, bin ich da hängengeblieben. Zwei Stationen später ergattere ich einen freien Sitzplatz.

Erst bemerke ich das zerknickte Papierstück gar nicht, bis ich wiederholt von Unruhe ergriffen werde, das Gewicht verlagere und es unter meinem Hintern raschelt. Ich ziehe den Zettel hervor und lasse ihn zwischen meinen Fingern hin und her wandern, um ihnen etwas zu tun zu geben.

Was, wenn ich die Qualität meiner Texte tatsächlich erst weiter aufpolieren muss, bevor ich es würdig bin, in Kreatives Schreiben aufgenommen zu werden? Was, wenn mein Urban Fantasy-Roman belanglos und sinnfrei ist und ich den Genrewechsel in Erwägung ziehen sollte? Seit ich nicht mehr bei Mama und Papa in Inverness wohne, hat mein kreativer Output durchaus gelitten, obwohl ich mir das Gegenteil erhofft hatte. Zunächst mal bin ich nicht halb so viel dazu gekommen, an meinem Buch zu schreiben, wie ich es bis dato gewohnt war.

Etwas Dunkles regt sich in mir, das ich sonst gekonnt in Schach halte. Es frustriert mich, dass mein Autorendasein immer mehr zurückgestellt werden muss. Dabei ist mir das am wichtigsten. Ich möchte schreien, so sehr brodelt es in mir. Wie oft habe ich die Fertigstellung des Manuskripts nach hinten verschoben, wegen Extraschichten im Laden und zu knapp angesetzten Deadlines bei meiner Freelancer-Arbeit als Texter? Wann hatte ich das letzte Mal Spaß daran, in meiner Geschichte zu versinken? Den habe ich irgendwann verloren. Diese Erkenntnis trifft mich eiskalt.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich zerknülle das aufgelesene Papier.

Das darf nicht sein. Ich muss es schaffen, das Schreiben zu priorisieren! Hänge ich mich nicht richtig rein? Würde ich, wenn ich es wirklich wollte, nicht um fünf Uhr morgens aufstehen, um meinen Soll zu tippen und von Kaffee gedopt wahre Meisterwerke wie am Fließband produzieren? Dann bräuchte ich diesen Studienplatz gar nicht und die Verlage würden sich darum reißen, meine Werke zu publizieren.

Stopp!, rufe ich mich zur Räson, beruhige meinen Atem. Indem ich mich fertigmache, wird es nicht besser.

An der St. Enoch Station steige ich aus und verlasse die Subway, um von dort zum Hauptbahnhof zu laufen. Im Gehen falte ich die Papierkugel auseinander, die ich als Flyer identifiziere, und lese die geschwungene Überschrift. Die Worte setzen sich in meinem Kopf zusammen und entlocken mir ein ungläubiges Auflachen.

Emotional Support Group für verzweifelte Autor*innen in der Hidden Lane

Ja, sicher! Wo ist die versteckte Kamera?

Ich drehe mich einmal in der Station im Kreis und beäuge meine Mitmenschen, ehe ich die Rolltreppe nach oben nehme. Niemand beobachtet mich.

Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, als ich es in Erwägung ziehe, da vorbeizuschauen.

KAPITEL 2

RIC

»Endlich! Wo warst du denn?«, ruft meine Mutter leicht verärgert, kaum dass ich zu ihr, Dad und Samuel in der Gewölbehalle stoße. Die hat sie sich, wie zuvor mehrmals angekündigt, in ihrer Pracht als krönenden Abschluss der Universitätsführung aufgehoben.

»Entschuldigt«, sage ich und schlucke die Bitterkeit hinunter.

Ursprünglich hatte ich darauf gepokert, es würde nicht auffallen, wenn ich mich zwischendrin ausklinke, solange ich am Ende da bin. Dann hatte das bockige Kind in mir protestiert. Meine Eltern rütteln es jedes Mal auf, wenn wir uns sehen. Strenggenommen ist meine Anwesenheit nicht vonnöten und man hat mich auch nicht gerne dabei. Ich bin hier nur pro forma, weil wir miteinander verwandt sind und eine Einheit hübscher aussieht. Insbesondere bei gesellschaftlichen Anlässen wie diesem. Wieso also sollte ich mich beeilen, nachdem ich aufgehalten wurde, oder bei dieser Farce mitmachen? Meine Motivation dazu hält sich ehrlich gesagt in Grenzen.

Jetzt muss ich die alberne Rebellion ausbaden. Praktisch, dass ich darin geübt bin.

»Ich habe jemanden gesehen, den ich kenne«, lüge ich, »und Hallo gesagt.«

Das stimmt Mum, wie erwartet, milder. »Ach, schön.«

Kontakte zu pflegen und allzeit einen hervorragenden Eindruck zu machen, stehen bei ihr als Norriesfords Bürgermeisterin hoch im Kurs. Dass ich den jungen Mann, der mir beim Notausgang begegnet ist, nie zuvor gesehen habe, muss sie nicht wissen. Auch nicht, wie unfreundlich ich gewesen bin, obwohl er echt nett und lustig war. Aber was war das bitte für ein peinliches Aufeinandertreffen? Ich auf diesem Treppenvorsprung, wie ich mich vor meiner Familie verstecke.

Die Führung ist für meinen Bruder, weil Mum unglaublich begeistert davon ist, dass ihr Vorzeigekind in ihre Fußstapfen tritt und ab September Politik studiert. Als ich hier vor fünf Jahren mit Sportwissenschaften angefangen habe, habe ich keine solche Führung wie er heute erhalten. Mit achtzehn wäre ich vor Verlegenheit im Erdboden versunken, hätte ich mit meinen Eltern über den Campus streifen müssen und so hatte es auch etwas Gutes, dass sie sich bei mir nicht reinhängen. Seither genoss ich es, dass dieser bislang eine weitgehend Cecelia und James MacInnes freie-Zone war. Gekränkt bin ich dennoch.

»Wie dem auch sei«, fährt Mum fort. »Machst du bitte ein Foto von uns für meine Social Media-Kanäle?«

Sie zeigt auf sich, Dad und Samuel.

Das versetzt mir einen Stich. Ich beiße mir auf die Zunge. Ich bin nicht ihr persönlicher Fotograf! Als ihr ältester Sohn sollte ich auch auf diesem Foto sein.

»Ric«, sagt mein Vater mit einem warnenden Unterton, bevor ich irgendetwas davon überhaupt ausspreche. »Musst du immer herumzicken?«

Zischend ziehe ich die Luft ein. Damit provoziert er mich nicht nur, sondern trifft einen tieferliegenden Nerv. Vielleicht ist das die Gewohnheit. Für mich bedeuten solche und ähnliche Spitzen, dass er mich kritisieren möchte. Als würde er andeuten, dass ich mich gefälligst wie ein Mann benehmen soll, wenn ich schon einer sein will. Oder vermittelt er mir gar durch die Blume, mich nach wie vor als Frau zu betrachten, indem er typisch misogyne Begriffe auf mich abfeuert?

Sam hält sich wie üblich raus. Nie steht er mir bei. Bisher habe ich nicht durchschaut, ob er nicht kapiert, was abgeht, mir dieselbe Geringschätzung entgegenbringt wie Mum und Dad oder davor zurückscheut, sein eigenes Image als ihr Liebling zu beschmutzen. Klar könnte ich ihn fragen. Aber ich will es lieber nicht wissen, weil ich insgeheim befürchte, die Antwort wird mir nur mehr Bauchschmerzen bereiten.

»Sicher«, erwidere ich langsam, weise meinen Frust in die Schranken und nehme das Handy, das meine Mutter mir hinhält, entgegen. »Dann stellt euch mal auf.«

Einerseits würde ich am liebsten nichts mit diesen Menschen zu schaffen haben, andererseits bringt es mir einige Vorteile. Die finanzielle Sicherheit, die sie mir bieten, ist zentraler Bestandteil jener Annehmlichkeiten, für die ich weiter meinen Platz an ihrem Tisch und im Gefüge unserer Familie einnehme. Zu behaupten, dass es mich nicht erleichtert, von unserem Ansehen innerhalb der Dorfgemeinschaft zu profitieren, wäre außerdem eine Lüge. Womöglich verzehre ich mich insgeheim immer noch nach ihrer Liebe. Eine Abhängigkeit, von der ich mich bisher nicht befreien konnte.

Die drei positionieren sich. Dad legt Samuel einen Arm um die Schultern und Mum neigt voller Zuneigung den Kopf in seine Richtung. Ihre Haare fallen dabei weich um ihr dezent geschminktes Gesicht. Sie trägt ein schickes blaues Kostüm, mein Vater einen seiner legeren Beamtenanzüge, den sie farblich abgestimmt dazu ausgesucht haben. Mein Bruder, in seinem dunkelgrünen Kapuzenpullover mit dem gelben Uni-Schriftzug (est. 1451), lächelt breit.

Es ist zum Kotzen, auch wenn ich bis zu einem gewissen Grad an meiner Isolation selbst schuld bin. Dass ich mich die meiste Zeit mindestens zwei Meter hinter ihnen gehalten habe, könnte dazu beigetragen haben. Oder meine Klamottenwahl, wobei ich mich als Sportler gut rausreden konnte. Ich nehme mein Studium und meine Gesundheit eben ernst und protze mit diesem Lifestyle. Nichts anderes tun meine Eltern mit ihren Jobs und Statussymbolen. Ihre Sprache zu sprechen ist elementar, will man in ihrem Dunstkreis überleben.

Ich drücke den Auslöser für die Aufnahme mehrere Male und lasse das, was sich vor der Kameralinse befindet, vor meinen Augen verschwimmen, damit es weniger wehtut. Vor mir steht eine glückliche Familie. Meine Familie, nur bin ich kein Teil davon.

Leider stellt sich danach heraus, dass Mum und Samuel noch mit einem ihrer früheren Studienkollegen verabredet sind. Das bedeutet, dass ich weitere zehn Minuten aushalten muss, bevor ich mich empfehlen kann, ohne dass es unverschämt rüberkommt. Ich möchte mir die Haare raufen. Eventuell ist der Kerl früher dran? Bitte!

»Wie geht es Eliza?«, erkundigt Sam sich unvermittelt bei mir und rückt effektvoll seine Brille zurecht, wie um mich ins Visier zu nehmen. »Du warst letztens bei ihr, oder?«

Ich zucke zusammen. Er spricht mich selten direkt an. Wir nennen es höfliche gegenseitige Ignoranz und Toleranz. Unausgesprochenerweise, versteht sich. Und jetzt fragt er mich ausgerechnet über sie aus? Noch so ein wunder Punkt.

»Aye«, bestätige ich, muss mich räuspern. »Ich habe sie besucht.«

Weil mein Bruder das garantiert nicht von mir hat, muss das der Kleinstadttratsch an ihn herangetragen haben. Gern würde ich ihm zugutehalten, dass er mich miteinbeziehen wollte. Doch vor diesem Hintergrund, unserem Verhältnis und Elizas Ruf aus Schulzeiten, könnte es sich um Sensationsgier handeln. Ich muss vorsichtig sein.

»Alles prima«, halte ich es knapp.

Zumindest ist das der Stand von vor zwei Wochen.

Mittlerweile ist es vierzehn Tage her, dass ich Eliza nach ihrer Rückkehr in Norriesford abgefangen und mit ihr und ihren Eltern bei Tee und Shortbread auf der Terrasse zusammengesessen habe.

Vierzehn Tage.

Seitdem hat sie nur kurz angebunden auf meine Instagram-Nachrichten und Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu setzen, reagiert.

»Ihr habt demnach wieder Kontakt?«

Okay, ich sollte definitiv misstrauisch werden.

»Der Besuch hat sich eher spontan ergeben«, weiche ich Samuel aus und hoffe, dass ihn das davon abhalten wird, weiter nachzubohren.

»Sie hat sich wirklich gemacht«, klinkt Mum sich in unseren Wortwechsel ein. »Wer hätte gedacht, dass aus dieser kleinen grauen Maus mal eine Profi-Ballerina werden würde, die auf so einer großen Bühne auftritt?«

»Du weißt, wie gut sie damals war«, werfe ich ein, auch wenn ich aktuell keine Lust habe, Eliza zu verteidigen.

Wir haben jahrelang zusammen Ballett getanzt und selbstverständlich waren meine Eltern, wie es sich gehört, regelmäßig bei unseren Auftritten. Es stimmt, dass Eliza vor allem beim Tanzen aufgeblüht ist, aber bei mir war sie nie schüchtern. Ich habe es geliebt, etwas Besonderes für sie zu sein und letztens da … da hat es sich wie früher angefühlt. Wenn auch nur für ein einziges Treffen.

Mein Magen verkrampft bei der schönen Erinnerung vor Wehmut.

Wir schwelgten in alten Zeiten, als hätte es die Jahre dazwischen nicht gegeben. Ich wurde nicht mal versehentlich misgendert oder mit meinem abgelegten alten Namen angesprochen. Weder von ihr noch von ihren Eltern. Dabei passiert das mit höherer Wahrscheinlichkeit, wenn Leute kaum Gelegenheit hatten, die neuen Bezeichnungen aktiv zu üben. Es war so wundervoll. Eliza erzählte von der Brighton Academy und London, der Audition, bei der sie sich einen Platz im Ensemble des Theatre Royal Glasgow erkämpft hatte, und dass sie den Beginn der Proben kaum erwarten konnte. Ich gab ein paar Einblicke in mein Studium, schilderte, wie es sich in meiner ersten eigenen Bude lebt, die meine Eltern mir gekauft haben, und was gemeinsame frühere Mitschüler*innen von uns so treiben.

Zum Abschied umarmte sie mich noch mal. »Es war so cool, dich zu sehen«, flüsterte sie mir dabei ins Ohr.

»Ich bin froh, dass es dir gut geht«, erwiderte ich. Ihr Atem an meinem Hals bescherte mir eine Gänsehaut und ihre Worte fühlten sich für mich ähnlich bedeutsam an wie ein Heirate mich!. Ich hüpfte förmlich vor Freude durch den Stadtpark an der Kirche vorbei nach Hause, so happy war ich, und voller Hoffnung. Bis sie anfing, mich zu ghosten, die Ernüchterung eintrat und ich die Welt nicht mehr verstand.

Elizas und meinen Best-Friends-Forever-Relaunch hatte ich mir nach diesem gelungenen Start anders vorgestellt. Hegt sie doch einen Groll gegen mich? Hat sie mir etwas vorgemacht oder es sich anders überlegt?

»Thomas und Beth müssen sehr stolz auf sie sein«, sagt Dad, womit er recht hat. Seine Worte ziehen mich in die Gegenwart zurück.

»Ach ja«, seufzt Mum. »So ein talentiertes Mädchen.«

Sie bedenkt mich mit einem stechenden Blick. Auch wenn der nur Sekunden dauert, die unterschwellige Botschaft kommt bei mir an und Kälte breitet sich in mir aus. Vielen Dank auch! Tut mir leid, dass ich ihr keine Tochter sein konnte.

Das Auftauchen von Mums Kontakt bewahrt mich davor, dass sich das unbehagliche Schweigen, das daraufhin eintritt, ausdehnt. Der Mann hat inzwischen einen Lehrstuhl inne und Sam überschlägt sich so dabei, sich bei seinem potenziellen Dozenten einzuschleimen, dass ich gelacht hätte, wäre ich besserer Laune.

Nach ein wenig versnobtem Geplänkel, bei dem deutlich wird, dass der Typ keinen Plan hat, wer ich bin, eise ich mich erfolgreich und endgültig los. Offenbar dachte er, dass meine Mutter nur einen Sohn hat.

Das Stück zum Fitnessstudio renne ich förmlich über den Campus. Mein Nacken kribbelt vor unterdrückter Wut und ich fasse immer wieder hin, weil es mich beruhigt, über die frisch ausrasierten Stellen zu fahren. Zwei Personen, die ich als Frauen lese und wegen ihrer Wanderrucksäcke für Touristinnen halte, weichen mir aus und auch ein Hipster macht mir auf dem Bürgersteig Platz. Mein düsterer Gesichtsausdruck in Kombination mit meiner muskulösen Gestalt wirkt in der gläsernen Eingangstür des Stevenson Building zugegebenermaßen so, als ob ich auf Krawall gebürstet wäre.

Normalerweise erfüllt mich das mit Genugtuung. Also nicht die verängstigten Leute, sondern ohne jeden Zweifel als besonders maskulin wahrgenommen zu werden. Vor allem, weil ich bisher keine Mastektomie hatte. Das ist auch der Grund, aus dem ich mich vor anderen aus Prinzip nicht umziehe und die Sportkleidung wie üblich vor einer Trainingseinheit bereits anhabe. Nach der vorangegangenen Konversation beschleunigt sich mein Puls leider nur noch mehr. Der Sport-BH, der sich um meinen Oberkörper schlingt – nein, das, was er verdeckt – rückt wie ein Schandmal stellvertretend für mein Geburtsgeschlecht in mein Bewusstsein. Dabei gehört dieser Körperteil zu mir, nur dass ihm von der Gesellschaft der Weiblichkeitsstempel aufgedrückt ist.

Da ich nun schon aufgewärmt bin, fange ich gleich an der Rudermaschine an. Die routinierten Bewegungsabläufe, die mich sonst erden und mein Gehirn auf Stand-by schalten, erfüllen ihre Funktion allerdings nur mäßig. Wofür das alles, wenn ich sowieso nie akzeptiert werde? Mein Atem beschleunigt sich nicht bloß vor Anstrengung. Eindringlich erinnere ich mich daran, dass ich mich nicht darum zu sorgen brauche, ob jemand meine Brüste erahnt. Verstandesmäßig weiß ich, dass sich das harte Training auszahlt und mir eine nahezu einwandfrei männliche Silhouette verleiht, mich meine Brust nicht zu stören braucht, nur weil andere sie als unpassend betrachten. Die Dysphorie überwältigt mich trotzdem.

Abrupt stoppe ich die Übung und schlage mir die Hände vors Gesicht. Plötzlich sehe ich Tänzerinnen vor meinem inneren Auge, die sich in rosa Bodys, schwarzen Strumpfhosen und grauen Stulpen an einer Stange in einem Spiegelsaal aufreihen. Ich kann die sanften Klavierklänge sowie die vertrauten französischen Anweisungen der Lehrerin beinahe hören.

Die Hände senkend starre ich angestrengt durch die große Fensterfront auf eines jener Uni-Gebäude, die keinesfalls eine magische Aura umgibt. Es ist potthässlich. Der Kontrast durchbricht den seltsamen Zauber, den die Erinnerung auf mich ausgeübt hat. Das ist besser! Wobei da neben dem Unwohlsein etwas anderes in mir vor sich hin schwelt. Seit ich mitten in meiner letzten Unterrichtsstunde einen divamäßigen Abgang hingelegt habe, habe ich keine Ballettluft mehr geschnuppert. Nicht mal ein Stück habe ich besucht. Etwas ziept hinter meinen Rippen. Diese Phase meines Lebens war ja nicht nur schlecht …

Wo kommt das auf einmal her? Dieses Ziehen, die Sehnsucht?

Wäre Eliza nur mal in London geblieben!

Nein, sie ist nicht schuld daran. Ich will, dass sie sich meldet.

Ruckartig beuge ich mich vor, um nach meiner Hüfttasche zu greifen, die ich auf dem gummierten Boden neben dem Trainingsgerät abgelegt habe. Der Reißverschluss klemmt mal wieder. Erst nach einigen Anläufen schaffe ich es, mein Smartphone herauszufischen, bevor ich mir die Tasche schwungvoll über die Schulter hänge, mein Handtuch schnappe und zur nächsten Station laufe. Im Gehen entsperre ich den Bildschirm voller Erwartung auf eine Benachrichtigung … Leider werde ich erneut enttäuscht. Eliza hat überhaupt nicht auf mein »Ich liebe diesen Song!«, welchen sie in ihrer Instagram-Story geteilt hat, reagiert. Nicht mal ein Like.

Nun, ruft mir eine fiese Stimme in meinem Kopf erbarmungslos ins Gedächtnis, nichts anderes hast du verdient.

KAPITEL 3

DAVIE

»Haben Sie das auch in einer anderen Farbe?« Die Frau in dem Trenchcoat rümpft die Nase und hält mir das Objekt ihres Missfallens entgegen: ein rosa Notenheft.

Zuerst checke ich nicht, was sie meint, aber sobald es mir dämmert, bereue ich es, meine Hilfe angeboten zu haben. Allerdings arbeite ich in diesem Schreibwarenladen und es ist nur noch eine Viertelstunde bis Feierabend – theoretisch. Ich hatte gehofft, sie auf diese Weise schneller loszuwerden und demnach keine Wahl.

»Das ist für meinen Sohn«, betont sie, als würde das die Dringlichkeit hinter ihrer Nachfrage erklären, womit sie meine Vermutung bestätigt.

»Ich fürchte nicht«, sage ich, lächele entschuldigend und verkneife es mir, darüber zu diskutieren, inwiefern sie es für unzumutbar hält, dass Jungen rosa Hefte benutzen. Was würde sie erst über mein Vorhaben denken, mir die Haare lang wachsen zu lassen?

Ich weiß, was die Frau meint und worum es ihr geht. Nur hatte ich vorübergehend vergessen, wie tiefgreifend solche Geschlechterstereotype eingebrannt sein können, dass sie nicht mal vor neutralem Schulbedarf haltmachen. Ginge es um ein Etui mit Prinzessinnen drauf, würde ich’s verstehen, oder zumindest den Druck, der von allen Seiten ausgeübt wird, sich in diese klischeehaften Vorstellungen von Männern und Frauen zu fügen und das von Kindesbeinen an. Aber das Notenheft wurde nicht in diesem Ton gestaltet, um eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen, sondern um sich von anderen Heftgattungen zu unterscheiden. So haben auch linierte und karierte Hefte jeweils unterschiedliche, aber immer dieselben Farben.

Ich muss hier weg, durchzuckt es mich. Die Regale scheinen von beiden Seiten auf mich zuzukommen und mich erdrücken zu wollen. Das denke ich ständig, wenn ich im Writing Stuffbin. Jetzt meine ich damit nicht nur den Job, sondern etwas Elementareres.

Vehement dränge ich das ungute Gefühl zurück und konzentriere mich lieber voll auf meine Kundin. Gegen meine berufliche Unzufriedenheit werde ich gleich etwas unternehmen. Sofern ich irgendwann schließen kann, wonach es aktuell nicht aussieht.

»Sie könnten einen bunten Umschlag dazu kaufen«, schlage ich vor. »Dann sieht man das Rosa nicht.«

Die Frau seufzt. »Ja, bitte. Einen blauen.« Sie legt das Notenheft zu den übrigen Waren in den Einkaufskorb, der über ihrem Arm hängt, und zückt eine Liste, um den nächsten Punkt anzugehen.

Ich hole den Umschlag. Als ich wieder zu ihr stoße, kleben ihre Augen immer noch an ihrem Zettel. Angespannt trete ich auf der Stelle. Erneut kann ich sie schlecht auf den Ladenschluss hinweisen. Der Beginn des neuen Schuljahrs ist mit die umsatzstärkste Zeit in dieser Branche und da gehört es dazu, mal länger zu bleiben, wenn Kund*innen Großeinkäufe tätigen, wie meine Chefin uns im letzten Mitarbeitermeeting eingeschärft hat.

»Darf ich mal sehen?«, biete ich stattdessen zuvorkommend an, als ich es nicht mehr aushalte, wie sie seelenruhig die Liste studiert.

Zu meiner Erleichterung übergibt die Kundin mir diese, sodass ich fix den Rest zusammensuchen kann. Gott sei Dank ist nichts Komplizierteres dabei wie beispielsweise ein Füller, was eine intensive Beratung erfordern könnte. Check, check, check, setze ich Haken um Haken hinter Bastelschere, Klebestift und Radiergummi sowie verschiedene Pinsel und einen Anspitzer. Wenn ich nur auch so konsequent wäre, sobald es um andere Dinge geht. Aber in dieser Rolle funktioniere ich.

Nachdem ich die Frau abkassiert, die Grußkartenständer von draußen in Rekordgeschwindigkeit hereingeholt und die Ladentür verriegelt habe, atme ich ungefähr zwei Wimpernschläge durch, ehe ich das Radio ausschalte und mich an den Kassenabschluss mache. Die Unmengen an zwei Pence-Stücken kosten mich beim Zählen den letzten Nerv.

Grundsätzlich bin ich kein ungeduldiger Mensch und verquatsche mich gern, wenn Leute mich nicht ausgerechnet nach vorzugsweise blauen Notenheften für ihre Söhne fragen oder ohne jeden Kontext wissen wollen, »was für ein Landsmann ich bin«. Nur habe ich mir nach einigem Hin und Her in der vergangenen Woche fest vorgenommen, heute zu dieser Schreibgruppe zu gehen.

Und nun komme ich zu spät zum ersten Treffen, was mein Stresslevel ungemein steigert. Ob ich das als Zeichen des Schicksals deuten sollte? Die Teilnahme ist eine schlechte Idee. Oder bin ich bloß zu feige, meinem Versagen und dem Fakt ins Gesicht zu blicken, dass meine Texte grauenhaft sind?

Irgendwann bin ich fertig mit Zählen und die Geldbeträge in der Kassenschublade und im System stimmen überein. Ich stopfe die Einnahmen in einen Umschlag und verstaue ihn mit dem Wechselgeld im Safe im Hinterzimmer. In der Umkleide schlüpfe ich rasch aus meinen Arbeitsklamotten. Einer meiner Ohrringe verfängt sich in der Eile im Kragen meines Langarmshirts, aber ich befreie mich ohne größeren Schaden. Nur Augenblicke später hetze ich über die vom Regen glänzenden Wege durch den Kelvingrove Park.

Feierabend!, jubiliere ich.

Es ist fast September. Als mir der frische Wind unter die Kleidung fährt, verbuche ich das als sicheres Zeichen, dass der Spätsommer endet und der Herbst anbricht.

Dem neogotischen, reich ornamentierten Brunnen, der von Touris belagert wird, werfe ich im Vorbeirennen lediglich einen flüchtigen Blick zu. Dann muss ich meine Schritte verlangsamen, weil ich am Ziel nicht japsend zusammenbrechen will.

Meine Lungen brennen. Weit kann es nicht mehr sein. Ich überprüfe meinen Standort auf dem Handy, während ich in einen Stechschritt verfalle.

Finnieston ist eine dieser hippen, alternativ angehauchten Ecken mit unzähligen entsprechenden Shops, Pubs und Restaurants, für die ich Glasgow feiere, weil ich das so aus Inverness nicht kenne. Gespannt halte ich Ausschau nach der Hidden Lane, die ihrem Namen alle Ehre erweist. Fast laufe ich vorbei, obwohl der Straßenname in großen Buchstaben über dem Durchgang zwischen einem Spirituosengeschäft und einer Bäckerei prangt.

Das heftige Pochen in meiner Brust und die Zweifel weiterhin ignorierend, ob mein Erscheinen bei dieser Zusammenkunft von Schreiberlingen überhaupt notwendig ist, betrete ich die Gasse. Am Ende komme ich auf einem Hinterhof heraus und halte trotz der mir davonrennenden Zeit staunend inne. Überall lauter kleine niedliche Häuser, Schuppen mit Wellblechdächern und Garagen mit knallbunten Fassaden und Türen. Der Kontrast zur geschäftigen und menschengefüllten Argyle Street könnte kaum größer sein. Wärme breitet sich in mir aus, ich verliebe mich auf der Stelle. Das passt so perfekt zu einer wahren Fundgrube an schöpferischem Outlet wie Schmuck, Gemälde, Fashion oder schlichtweg einer Tasse feinsten Tees. All dies hat die Hidden Lane zu bieten, wie mir das Internet im Vorfeld meines Besuchs verraten hat.

Als ich neu in Glasgow und Umgebung war, hatte ich mir vorgenommen, jeden Winkel meines neuen Zuhauses zu erkunden und seitenlange Worddokumente mit meinen Eindrücken zu füllen. Wie wenig mir sogar das Vorhaben, Inspiration zu sammeln, gelungen ist, stimmt mich traurig.

Ich gebe mir einen Ruck und schaue mich nach dem richtigen Haus um. Vielleicht ist der Austausch mit anderen Wortakrobat*innen aufbauend und motivierend. Das rechteckige Ziegelsteingebäude wirkt beinahe unauffällig, wäre da nicht die stählerne Feuerschutztreppe voller Blumentöpfe. Sie sieht aus wie die Zeichnung auf dem Flyer, den ich in der Subway gefunden habe. Darunter die Tür, einladend geöffnet.

Bevor ich einen Rückzieher mache, trete ich ein und widme mich den verschlossenen Kursräumen im Inneren und ihrer Beschilderung. Es wundert mich, dass ich niemandem sonst begegne. Jede*r mit genügend finanziellen Mitteln kann hier ein Zimmer für sich oder Zusammenkünfte mieten und sich künstlerisch, spirituell oder sportlich austoben, solange Kapazitäten vorhanden sind. Das finde ich cool. Die Person, die meine Veranstaltung initiiert hat, besitzt wohl Geld oder wird gesponsert, da sie nicht mal Teilnahmegebühren verlangt.

Erst am Ende des unverputzten Flurs, gegenüber eines Treppenhauses, stoße ich auf den gesuchten Raum. Neben dem offiziellen Plan mit den Belegungszeiten klebt ein DINA4-Zettel mit der Abbildung einer steinernen Zwergentür. Es handelt sich um das Sternentor zu Moria aus dem Herr der Ringe-Universum und dazu der entsprechende Willkommensspruch auf Elbisch. Die literarische Anspielung bringt mich sofort zum Lächeln, nur damit mir der Magen als Nächstes in die Kniekehlen sackt.

Ich habe mir die Uhrzeit falsch gemerkt. Die Gruppe für Autor*innen startet erst in einer Stunde. Deshalb ist hier nichts los! Ich stöhne über meine Verpeiltheit und dass ich definitiv mit zu vielen Bällen auf einmal jongliere. Vor kurzem habe ich erst einen Videocall für eine Parfüm-Werbeanzeige verschwitzt, für deren Texte ich zuständig bin. Im Vergleich dazu ist das hier zwar super, weil ich pünktlich sein werde, aber es bedeutet, dass ich mich umsonst beeilt habe und zuschauen muss, in der Zwischenzeit bis zum Beginn des Kurses keinen Nervenzusammenbruch zu erleiden.

Ich kaue auf meiner Unterlippe.

Meine bisherigen Versuche, mich mit anderen Schreibenden zu vernetzen, sind jedes Mal im Sande verlaufen. Ich bin gut darin, Kontakte zu knüpfen, doch es fällt mir schwer, dabei die richtigen Leute zu finden, um tiefere Bindungen aufzubauen. Das ist mit jeder weiteren Enttäuschung nur schlimmer geworden.

Bleibe ich? Der Abgabetermin für den Werbetext ist morgen Mittag und wenn ich die Auftraggebenden noch mal enttäusche … Mich umzudrehen und zu gehen, kommt mir verlockend vor.

KAPITEL 4

RIC

Es war ein spontaner Entschluss, zu Elizas und meinem alten Ballettstudio zu fahren und das Training zu schwänzen. Mangelnde Impulskontrolle oder was weiß ich. Wobei es gar nicht abwegig ist, dass es mich in meiner Ruhelosigkeit hierhergezogen hat anstatt zum Fußball mit den Jungs wie sonst jeden Donnerstag um diese Zeit.

Grundsätzlich liebe ich meine Heimatstadt in ihrer idyllischen Beschaulichkeit. Ich liebe die Natur und die Ruhe, mit der das Leben dort vor sich hinfließt, und würde es nicht anders wollen. Trotzdem atmet es sich außerhalb von Norriesford immer leichter, da dort niemand meine komplette Lebensgeschichte kennt. Mich in unmittelbarer Reichweite meiner Mutter aufzuhalten, ist wiederum eine zweischneidige Sache. Ich glaube, die Abwechslung macht es, die Möglichkeit, zwischenzeitlich rauszukommen.

So finde ich mich acht Tage nach der Uniführung für meinen Bruder erneut in Glasgow wieder.

Wie um mein Wohlbefinden als vorgeschobene Ausrede für mein Handeln zu enttarnen, gerate ich ins Schwitzen, als ich in die Hidden Lane einbiege. Die Wände zu beiden Seiten der Gasse sind wie früher mit Plakaten für Konzerte behangen: Girl in Red, YUNGBLUD, Harry Styles. Ich spiele am Reißverschluss meiner Sweatshirtjacke und versuche zu fassen, dass ich gleich nicht nur auf demselben gebohnerten Parkett stehen werde wie zuletzt vor acht Jahren, sondern an einer Ballettstunde teilnehmen kann. Meine Schultern heben und senken sich heftig, dabei hat der Unterricht nicht mal angefangen.

Als ich aufbrach, hatte mein »Plan« lediglich daraus bestanden, durch die Studiotür in den Spiegelsaal zu spähen. Auf dem Parkplatz angekommen, war ich aber schlau genug gewesen, Google zu befragen, bevor ich mich ins West End aufmachte. Der stattfindende Hobbykurs für Erwachsene, bei dem ein Quereinstieg mit Vorwissen kein Problem darstellt, hätte mich fast abgeschreckt. Aber nun, da ich den Weg und den Ärger mit Arch, meinem Fußballtrainer, extra auf mich genommen habe …

Lass es nicht umsonst gewesen sein, ermuntere ich mich wie zuvor. Lass dir die Tour nicht vermasseln.

Die Frage ist nur, wird man mir überhaupt abkaufen, dass ich richtig bin? Ich kann nicht abstreiten, dass ich mir selbst nicht glaube, es ernst zu meinen. Gleichzeitig ist die Versuchung zu groß.

Mir schwirrt der Kopf.

Bin ich hergekommen, weil ich Ballett vermisse? Oder will ich mich Eliza näher fühlen, obwohl sie mich noch immer auf Abstand hält? Als ich als Teenager zehn Jahre Unterricht hingeschmissen habe, war ich zorn- und hasserfüllt. Allerdings nicht nur auf das Tanzen, mitten in der Pubertät und dann auch noch der falschen. Dass mir mir nichts dir nichts wieder danach sein soll, ist absurd. Wäre da nicht dieses innere Ziehen, dem ich gefolgt bin. Hätte ich es mehr hinterfragen sollen?

Als wäre ich nicht ausreichend verwirrt oder mit Bullshit beladen, erwartet mich im Hinterhof auf einer Holzbank ein Kerl. Er kommt mir unwahrscheinlich bekannt vor.

Wie angewurzelt bleibe ich stehen.

Das ist doch der Typ vom Notausgang, oder? Spielt mir mein gestresstes Gehirn einen Streich?

Die Beine in der lockeren Cargohose überschlagen, liest er in einem Buch, was es mir erlaubt, ihn unbemerkt zu mustern und mich zu versichern, dass ich mich nicht irre. Hellbraune Haut, spitz zulaufendes Kinn, eine breite Nase. Die pinke Wollmütze, unter der schwarze glatte Strähnen hervorblitzen, ist ein weiterer bunter Farbtupfer vor dem Graffiti auf der Ziegelsteinwand in seinem Rücken.

Er ist es, definitiv.

Mein Herz schaltet mindestens drei Gänge hoch und donnert gegen meine Rippen.

Als könnte ich vergessen, dass er mich in einem schwachen Moment erwischt und trotz meiner Bemühungen bemerkt hat, dass ich aufgewühlt war. Und jetzt muss ich ihm nach dieser Blamage unter die Augen treten.

Vermutlich sollte ich knapp grüßen und danach reingehen. Schließlich wartet der Typ nicht auf mich, sondern er möchte zu einem Kurs. Kein Grund, den Rest meiner Contenance zu verlieren.

Mein Körper will nichts davon hören und sendet weiter Alarmsignale. Unvermittelt überkommt mich dazu das Bedürfnis, mich für mein abweisendes Auftreten bei unserer ersten Begegnung zu entschuldigen. Vorausgesetzt, er weiß noch, wer ich bin.

Bevor ich in den Selbstzerfleischungsmodus schalte oder, was sinnvoller wäre, die Beine in die Hand nehme, um nicht als Letzter zu der Ballettstunde aufzukreuzen, hebt der junge Mann auf der Bank den Blick.

»Hi«, sagt er, vollkommen gelassen, obwohl ich ihn anstarre. »So sieht man sich wieder.«

Fuck.

Meine Wangen erhitzen sich. »Hi«, gebe ich möglichst locker zurück.

Nun könnte ich etwas sagen wie: Sorry, dass ich letztens so neben der Spur war. Die Worte bleiben mir im Halse stecken. Schwer genug, mir selbst gegenüber einzugestehen, dass etwas nicht stimmt, das muss ich nicht auch noch vor jemandem ausbreiten.

Mir wird übel. Nur mit Mühe halte ich mich davon ab, mir eine Hand auf den Bauch zu legen und fische zumindest nach einer Erklärung für meinen Auftritt als glotzende Salzsäule. »Kann mir Gesichter so schlecht merken … Aber ich wusste, dich kenne ich irgendwoher.«

Er nickt, schlägt das Buch zu und scheint nicht sonderlich überzeugt. »Danke.«

»Wofür?«, wundere ich mich. War das nicht eher so was wie das Gegenteil eines Kompliments?

»In der Regel bleibe ich leicht im Gedächtnis.« Die Gewissheit, mit der er das behauptet, wirkt entwaffnend und zugleich wie eine Kampfansage.

Ich blinzele.

Vermutlich hat er recht. Das ist mit ein Grund, wieso er mich so unglaublich nervös macht. Er gibt sich völlig anders als die Kerle, die ich kenne und die ihn mutmaßlich als Weichei oder Schlimmeres bezeichnet hätten. Dabei strahlt er eine Selbstsicherheit aus, die ich allenfalls fake. Ob er schwul ist, so wie er sich verhält? Sollte uns das miteinander verbinden?

»Also vielen Dank«, wiederholt er. Sekunde. Meint er das ironisch? »Dafür, dass du mich nicht als der komische Schwarze Typ oder so abgespeichert hast. In einem mehrheitlich weißen Umfeld steche ich halt immer raus.«

»Oh«, ist alles, was mir dazu einfällt. Über sensible Themen wie diese zu reden ist für mich Neuland. Dabei kann ich das Gefühl bis zu einem gewissen Grad verstehen. Oft bin ich in einer Gruppe die einzige trans* Person. Wenn ich nur von cis Menschen umgeben bin, sei es in meiner Familie oder im Freundeskreis, geht es mir trotz Passing in diesen Situationen ähnlich. Anders ist es, wenn niemand um mein Transsein weiß wie an der Uni. Mein Gegenüber wird dagegen wahrscheinlich immer als Schwarz eingeordnet. »Ich habe dich wirklich nicht sofort erkannt«, beteuere ich.

Diese Überlegungen sind mir zu viel on top.

Was bitte tue ich hier?

Ich sollte in Norriesford auf dem Fußballfeld stehen, während Arch die anderen und mich zu Höchstleistungen anspornt, obwohl wir nicht besonders gut sind. Aber egal. Mein Platz ist dort oder im Gym. Ich bin nie eine Ballerina gewesen! Und werde kaum noch eine werden. Will ich ja auch gar nicht. Damit habe ich vor Ewigkeiten abgeschlossen.

»Wie ist es mit Namen?«

»Was?« Angestrengt fokussiere ich mich auf meinen Gesprächspartner, den zu verstehen sich über das anschwellende Rauschen in meinen Ohren schwierig gestaltet.

»Sind die mehr dein Ding?«

Keine Ahnung, wovon er redet und wieso ich so schlecht Luft bekomme. Alles dreht sich, sodass ich mich in meiner Not neben ihn auf die Bank fallen lasse.

»Ich bin Davie.«

Da klickt es. So heißt er. Und es hilft, weil es diesen Moment realer macht, wofür ich ihm im Stillen danke. Die Welt kommt, wenn auch rumpelnd, zum Stehen, als wäre sie nie aus den Fugen geraten.

»Ric«, krächze ich, als sich das beklemmende Gefühl um meinen Brustkorb langsam löst.

»Freut mich.« Bei den meisten Menschen hätte ich das als Floskel abgetan, aber Davie macht auf mich einen aufrichtigen Eindruck. Diese herzliche Ausstrahlung, die ihn auch heute umgibt, scheint Teil seiner Persönlichkeit zu sein.

Vielleicht hätte ich mich ebenfalls gefreut, wenn ich nicht immer noch ein bisschen neben mir stehen würde.

Bemüht unauffällig nehme ich einen tiefen Atemzug, während Davie in seinem Jutebeutel herumkramt.

»Rick wie Rick Riordan?«, hakt er nach, sobald er fündig geworden ist, und trinkt einen Schluck Wasser aus einer Glasflasche. Anschließend wischt er sich mit dem Handrücken über den Mund, verstaut auch sein Buch und steht auf. Rasch tue ich es ihm nach, vertraue meinen Beinen wieder.

Dadurch muss ich jetzt zu ihm aufschauen. Entgegen der landläufigen Vorstellung von trans* Männern bin ich nicht klein. Trotzdem überragt er mich um gut zehn Zentimeter. Wobei seine Größe nicht so auffällt, weil seine Statur ansonsten recht durchschnittlich ist. Er ist weder besonders schlank noch breiter gebaut.

Der Name, den er eben erwähnt hat, sagt mir nichts. Ich habe keine Ahnung, von wem Davie spricht. Meist verbinden Menschen meinen Namen mit der Zeichentrickserie Rick and Morty. Weil ich es auf den Tod nicht ausstehen kann, mir eine Blöße zu geben, rate ich. »Mit C. Also nur mit C.«

»Ah.« Er funkelt mich an. »Und was geht so, Ric nur mit C?«