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East London, Herbst 2023. Emmett, ein Schwarzer Jugendlicher, wird wegen Mordes an einem weißen Krankenpfleger verhaftet. Die Beweise gegen ihn sind erdrückend: Zwei Leute haben gesehen, wie er in einem Park über einer Leiche stand, das Messer noch in der Hand.
Angesichts der Vorverurteilung der Presse, einer blütenweißen Jury und eines weitgehend weißen Justizsystems stehen seine Chancen schlecht. Aber seine aufstrebende Anwältin Rosa weiß, dass die Leute zu vorschnellen Urteilen neigen, und vor allem ahnt sie, dass hier etwas nicht stimmen kann. Emmett kommt aus ihrem Viertel. Aus einer guten Familie. Also beginnt sie nachzuforschen und kommt einer Aussage näher, die den Fall gewinnen ‒ oder das ganze Establishment gegen sie aufbringen könnte.
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alexandra Wilson
Die feindliche Zeugin
Thriller
Aus dem Englischen von Karin Diemerling
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel The Witness bei Sphere/Little, Brown Book Group, London.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5486.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025Copyright © Alexandra Wilson 2024
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Umschlagabbildungen: FinePic®, unter Zuhilfenahme von Shutterstock KI
eISBN 978-3-518-78245-3
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Die feindliche Zeugin
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Danksagung
Informationen zum Buch
Die feindliche Zeugin
Für Aisosa, meinen Partner, meinen besten Freund, meinen größten Unterstützer.
Für Mum, Dad, Lew, Soph und Dee, die immer an mich geglaubt haben.
Und für meine Nanny Jan, die jetzt bei den Sternen wohnt. Möge diese Geschichte dich erreichen.
Die Männer stießen sich rhythmisch voneinander ab, es wirkte wie ein einstudierter Tanz. Grunzen und Stöhnen war zu hören, Fäuste und Ellbogen wurden geschwungen. Der kleinere der beiden dunkelhäutigen Schwarzen, Tyrone, stolperte rückwärts, fluchte laut und ging wieder auf die anderen zu, die Fäuste vors Gesicht gehalten wie ein Boxer im Ring. Emmett, der hellhäutigste der Schwarzen Jungen, wollte ihn an seinem T-Shirt fortziehen, aber Tyrone schlug seine Hand weg, sah ihn finster an. Emmett wusste, was der Blick bedeutete: Wenn er in so einer Situation nicht bereit war, seinen Freunden zu helfen, war er kein »Echter«.
Emmett holte tief Luft und hob ebenfalls die Fäuste, mischte sich wieder unter die Kämpfenden. Einer der beiden Weißen hielt sich knurrend die Wade. Er schwankte, streckte sein Bein und strich sich den Schweiß auf der Stirn durch seine rötlichen Haare, bevor er wieder im Getümmel abtauchte. Etwas Metallisches blitzte auf, und der zweite Weiße, ein Dunkelhaariger, stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.
Ein Messer fiel zu Boden.
Alle stoben auseinander wie die Tauben, als der dunkelhaarige Weiße dumpf aufschlagend in die Knie ging und sich die Brust hielt. Seine bleichen Hände überzogen sich nach und nach mit Rot, während Blut aus seiner Kleidung sickerte. Einen Moment hielt er sich noch auf den Knien, dann kippte er um. Scharlachrote Spritzer verteilten sich auf dem grünen Gras, wurden schließlich zu einem Strom, der alles in einem dunkleren Rotton färbte.
Emmett starrte schnaufend auf den Mann auf dem Boden, sah sich dann um. Der Rothaarige humpelte davon. Tyrone und Jayden waren schon am Parkausgang und winkten und riefen, dass er sich beeilen solle. Ihre Gesichter konnte er kaum erkennen, nur ihre dunkelbraune Haut, die sich von ihren farbigen Trainingsanzügen abhob. Er stellte sich die Verzweiflung und Furcht in ihren Mienen vor, ehe er wieder auf den im Gras verblutenden Mann blickte.
Noch nie hatte er so viel Blut gesehen, er wusste nicht, was er tun sollte. Leute kamen herbeigelaufen, er hörte eine Frau schreien, eine Frau mit einem Baby. Schnell entschlossen zog er seinen Pullover aus, knüllte ihn zusammen und presste ihn auf den Mann, auf die Stelle, wo das Blut herauszuströmen schien, übte Druck aus, wie er es im Fernsehen gesehen hatte.
Er beugte sich über den Verletzten und hob seinen schweren Kopf an, hielt ihn in der linken Hand wie den eines Neugeborenen. Mit der rechten packte er ihn an der Schulter und schüttelte ihn, als wollte er ihn aus tiefem Schlaf wecken. Das Gesicht des Mannes wurde ausdruckslos, sein Kinn hing schief herab.
»Komm schon, Bro«, flüsterte er. »Ich bin bei dir. Komm schon.« Seine Stimme zitterte, doch er redete weiter auf ihn ein.
»Bleib wach, Mann, b-bitte.« Seine Worte fanden ihr Ziel nicht, schienen in der Luft zu verfliegen.
Er merkte, wie ihm eine Träne über die Wange lief, und wischte sie mit dem Handrücken ab. Es fühlte sich warm und klebrig an – seine Hände waren voll Blut.
Auf einmal wimmelte es von Leuten um ihn herum. Ein paar weinten, andere telefonierten. Manche zeigten auf ihn. Emmett sah wieder nach unten und stellte fest, dass sein weißer Pulli jetzt tiefrot war.
Eine untersetzte Frau in einer grellen Leuchtjacke forderte ihn auf, beiseitezugehen, während sie sich mit einem Kollegen dem jetzt schlaffen Verletzten näherte. Emmett konnte sich nicht rühren, gelähmt vor Schock. Jemand zog ihn an den Schultern hinter die Menschenmenge, die nach und nach aufgelöst wurde. Ein Gesicht beugte sich zu ihm und fragte ihn nach seinem Namen, eine männliche Stimme. Er antwortete mit schwerer Zunge, betonte das harte T am Ende.
Der Mann sah ihn an und packte ihn fester um die Schulter.
»Emmett, Sie haben das Recht zu schweigen …«
Langsam ließ Emmett seinen Blick über den Mann wandern, bemerkte erst jetzt die Polizeiuniform, die am Körper getragene Kamera, die schweren schwarzen Einsatzstiefel. Er starrte auf seine eigenen blutbefleckten Finger, die er hektisch an seiner Hose abwischte.
»Aber es kann Ihrer Verteidigung schaden, wenn Sie bei der Befragung etwas verschweigen, auf das Sie sich später vor Gericht berufen. Alles, was Sie sagen, kann als Beweismittel verwendet werden.«
Rosa schrubbte sich mit einem verfärbten pinkfarbenen Luffaschwamm. Als sie ihn aus der Nähe inspizierte, sah sie lauter Härchen in den Fasern, wusste aber, dass sie jetzt keine Zeit hatte, ihn zu säubern. Sie legte ihn auf die Ablage in der Dusche und verteilte Duschgel in ihren Händen, seifte sich von Kopf bis Fuß ein. In ihrem breitzinkigen Kamm hingen kleine Haarknötchen, Shampooreste klebten zwischen den Zinken. Sie zog die Haare mit den Fingernägeln heraus und hielt den Kamm einen Moment lang unters Wasser. Dann setzte sie ihn an der Kopfhaut an und versuchte, ihn durch ihre Haare zu ziehen, um die verfilzten Knoten herauszukämmen, aber bei dem reißenden Geräusch um die verhedderten Nester warf sie den Kamm schnaubend beiseite. Das heiße Wasser verbrühte sie allmählich. Sie stellte es ab und stieg aus der Dusche auf die flauschige weiße Badematte.
Ein passendes schneeweißes Handtuch hing über dem Heizkörper, das sie heranzog, um sich darin einzuwickeln. Sie tippte auf den exakt über dem Waschbecken angebrachten Spiegel, der daraufhin aufleuchtete. Ihre Fingerabdrücke blieben auf dem Glas zurück, und sie bemerkte andere Schmierflecken, die nicht richtig abgewischt worden waren. Ihr eigener Badezimmerspiegel in Nanas Wohnung war alt und schief, aber immer perfekt poliert. Nana hielt alles tadellos in Schuss.
Rosa angelte nach ihrem weißen T-Shirt-BH, der am Türgriff hing, und zog ihn an. Er saß etwas zu eng, so dass sie ihn auf die weitesten Häkchen verstellte. Das Handtuch noch um die Hüften gewickelt, tapste sie hinüber in Tristans Schlafzimmer.
Sie tauschten die Plätze, Tristan ging unter die Dusche. Rosa betrachtete sich in seinem Ganzkörperspiegel und war entsetzt. Ihr Gesicht sah narbig und uneben aus, sie hatte vor Müdigkeit Pandaringe unter den Augen, ihre Lippen waren trocken und rissig.
In den letzten Tagen hatte sie in ihrer Eigenschaft als Junioranwältin bis absurd spätabends an einem Berufungsantrag in einem Betrugsprozess gearbeitet, der von der Kronanwältin Gillian Folkestone KC vor Gericht vertreten wurde. Gillian trug im Prinzip nur vor, was Rosa bis tief in die Nacht für die Verteidigung ausgearbeitet hatte, und bei dieser Berufung war das nicht anders. Sie hatte Gillian lange Zeit bewundert und war überglücklich gewesen, mit ihrem Vorbild zusammenarbeiten zu dürfen, doch bis jetzt war das alles eine einzige Enttäuschung. Gillian hatte nie Zeit, mit ihr zu sprechen, weil sie den größten Teil des Tages damit zubrachte, sich beschäftigter zu geben, als sie war. Sie ging zum Brunch mit Anwaltskollegen, die sie seit Jahren kannte, und traf sich mit anderen nach den Gerichtsterminen auf einen Drink. Schlimmer noch als ihre ständige Trunkenheit war ihre Ungeduld und dass sie wild herumschrie wie ein verwöhntes Kind, wenn sie unzufrieden war. Sie erwartete, dass alles mindestens eine Woche vor dem von ihr selbst gesetzten Termin erledigt wurde, so dass Rosa ihre Arbeit immer nur verspätet abliefern konnte.
Rosa drückte einen dicken Klecks Feuchtigkeitslotion in die Handfläche und rieb sich damit ein. Sie stellte die Flasche beiseite, steckte sie dann jedoch in ihre Handtasche, weil ihr einfiel, dass sie die Lotion im Laufe des Tages noch brauchen könnte. Sobald sie unter Stress stand, flammte ihre Dermatitis auf, und es gab nichts Schlimmeres als Juckreiz und schuppende Haut, wenn sie sich im Gerichtssaal konzentrieren musste. Als Nächstes das Haaröl. Sie goss eine großzügige Menge in ihre schon glitschigen Hände und massierte es in ihre Kopfhaut ein.
Alles in allem legte sie nicht so viel Wert auf ihr Äußeres wie ihre Großmutter, was Nana immer ärgerte. Als Teenager, erinnerte sie sich, hatte sie das Duschen meist schnell hinter sich bringen wollen, nur Katzenwäsche gemacht und vergessen, sich einzucremen, weshalb sich schließlich eine aschgraue Schicht aus abgestorbenen Zellen auf ihrer braunen Haut gezeigt hatte. Worauf Nana murmelte: »Was die Ziege macht, macht’s Zicklein nach.« Damals hatte sie das nicht verstanden, hatte sich naiv gefragt, was das mit Ziegen und deren Nachwuchs zu tun haben sollte, wenn sie sich nicht eincremte oder ihre Haare nicht flocht. Jetzt als Erwachsene aber begriff sie den Spruch. Sie wollte auf keinen Fall wie ihre Mutter werden.
Mit flinken Fingern teilte sie ihre Haare in der Mitte und flocht sie aus dem Gesicht nach hinten. Zwar waren sie immer noch knotig, aber auf den ersten Blick sahen sie einigermaßen ordentlich aus. Sie tupfte Concealer unter ihre Augen, um die dunklen Ringe zu kaschieren, dann auch auf die Pickel im Gesicht. Pinselte etwas kastanienbraunen Puder auf ihre Wangen. Besser. Ihre Aknenarben waren fast verdeckt.
Anschließend hob sie die Fernbedienung vom Boden neben dem Bett auf und machte die Morgennachrichten an. Der Sprecher saß ernst an seinem Pult, während die Erkennungsmelodie abgespielt wurde und die Kameras langsam auf ihn zufuhren. Rosa nahm eine Feinstrumpfhose aus ihrer Handtasche und streifte sie über ihre Füße, zog sie bis zu den Knien hoch.
»Die Metropolitan Police ermittelt in einem schwerwiegenden Vorfall in einem Park in Walthamstow, bei dem ein Mann niedergestochen wurde.« Der Moderator sprach langsam und in gemessenem Ton, artikulierte jedes Wort deutlich.
Walthamstow? Sie starrte zum Fernseher hinauf, während sie die Strumpfhose immer noch mit beiden Händen hielt.
»Den Berichten zufolge ist der Mann, angeblich ein Weißer von Mitte zwanzig, schwer verletzt.«
Rosa zog die Strumpfhose ganz hoch, bog ihren Fuß durch und zupfte das dunklere Gewebe um die Zehen zurecht. Tristan hatte die Dusche nebenan schon abgestellt, so dass jedes Mal eine lastende Stille entstand, wenn der Nachrichtensprecher eine Pause einlegte.
»Die Polizei hat einen Mann namens Emmett Hamilton im Zusammenhang mit dem Messerangriff festgenommen.«
Das Foto eines jungen Schwarzen wurde eingeblendet. Er trug einen kurzen, strubbeligen Afro und einen grauen Pulli, der frappierenderweise an Gefängniskluft erinnerte. Außerdem ertrank er fast darin, wie ein Kind, das Sachen tragen musste, in die es reinwachsen sollte. Das Foto war sichtlich beschnitten worden, der Kontext, in dem es entstanden war, nicht zu erkennen. Abgesehen von einer anderen schwarzen Hand auf der Schulter des Jungen war der Hintergrund verschwommen. Vielleicht eine Gruppenaufnahme mit Freunden und Familie, vielleicht auch nicht. Es spielte im Grunde keine Rolle. Bestimmt war ein besseres Foto verfügbar gewesen – auf diesem kniff er die Augen zusammen wie gegen einen zu grellen Blitz, seine Hautfarbe, die vermutlich ihrer eigenen entsprach, wirkte aschbraun. Die Person, die es gemacht hatte, hatte offensichtlich nicht auf das Licht geachtet. Schlimmer noch war, dass der Junge darauf Zeige- und Mittelfinger hochhielt, mit der Handfläche zur Kamera. Auch wenn diese Geste weithin als Friedenszeichen bekannt war, würde sie doch von einem jungen Schwarzen möglicherweise missverstanden werden.
Ihr Handy klingelte laut. Es war ihre Kanzlei.
»Hallo …«, meldete sie sich, ein wenig geistesabwesend. »Oh, hallo Steve, ja, mir geht es gut, danke.«
Steve sprach schnell, sagte, ein Solicitor, Rechtsberater, namens Craig Rowling habe angerufen und darum gebeten, dass sie heute eine Verhandlung für ihn übernahm.
»Craig Rowling?«, fragte sie etwas erstaunt. Sie kannte Rowling, war ihm schon ein paarmal persönlich begegnet, hatte aber noch nie einen Auftrag von ihm bekommen. Wie es der Zufall wollte, hatte Nana früher, als sie noch arbeitete, bei ihm geputzt, er war der letzte Kunde gewesen, den sie aufgegeben hatte.
Steve bestätigte den Namen und betonte, dass er ausdrücklich um sie als Barrister, als Prozessanwältin, gebeten hatte. Er könne gern jemand anders fragen, fügte er hinzu, würde Craig nur gern seine erste Wahl lassen. Offenbar verschaffte der Solicitor der Kanzlei jede Menge Prozesse und revanchierte sich stets bei Leuten, die ihm einen Gefallen getan hatten.
»Äh, ich würde ja gerne, aber ich habe eine Vorverhandlung in Snaresbrook …«
Steve unterbrach sie, er habe schon eine Vertretung für sie gefunden. Er brauche sofort eine Antwort, der Fall würde im Harlesden Crown Court verhandelt, Beginn 10 Uhr.
»Ja, äh, gut, natürlich. Kannst du mir die Unterlagen schicken?« Sie würde sie auf dem Weg zum Gericht lesen müssen.
Er dankte ihr und verabschiedete sich.
Tristan kam zurück ins Schlafzimmer und sah zum Fernseher hin. Er hatte noch die Zahnbürste im Mund, verteilte beim Sprechen winzige Spucketröpfchen um sich.
»Ist das nicht da, wo du aufgewachsen bist, Rose?«
Sie konnte es nicht leiden, wenn er sie Rose nannte, nickte aber stumm, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Mitfühlend klopfte er ihr auf die Schulter, ging dann zu seiner Kommode hinüber.
»Kennst du ihn?«, fragte er. »Schrecklich, nicht wahr. So viel Gewalt unter Schwarzen heutzutage. Wirklich traurig.« Seine Stimme klang dumpfer, als er sich bückte, um in seine Boxershorts zu steigen.
Rosa schüttelte den Kopf, bevor sie merkte, dass Tristan nicht in ihre Richtung sah. Sie kannte keinen von beiden, weder das weiße Opfer noch den Schwarzen Verdächtigen. Fairerweise musste sie zugestehen, dass Tristan den Anfang des Berichts nicht mitbekommen hatte, aber warum ging er davon aus, dass beide Männer Schwarz waren? Für jemanden, der sich etwas auf seine Intelligenz einbildete, war er manchmal verdammt ignorant.
»Nein, ich kenne beide nicht. Außerdem, Tristan …« Sie atmete tief ein, dehnte ihr Zwerchfell und gab zugleich ihrem Selbstbewusstsein Auftrieb. »Das Opfer war weiß. Du kannst nicht einfach annehmen, dass es ein Verbrechen unter Schwarzen war, nur weil es um eine Messerstecherei geht«, tadelte sie.
»Babe, Rose. Ich habe nichts über seine Hautfarbe gesagt. Hör bitte zu, es ist deine Gegend, also habe ich gedacht, dass du ihn vielleicht kennst.« Er trat von einem Fuß auf den anderen, stand ungelenk und folgsam da wie ein Hund, der auf einen Befehl wartet.
Es war ihm so herausgerutscht, er hatte es nicht böse gemeint. Rosa blickte in seine aufgerissenen Augen und konnte sich aus irgendeinem Grund plötzlich in ihn einfühlen. Schließlich wurden sie ständig mit Medienberichten überschwemmt, die junge Schwarze Männer kriminalisierten. Wenn sie nicht den ganzen Beitrag gesehen hätte, hätte sie vielleicht auch automatisch angenommen, dass beide Beteiligte Schwarz waren. Tristan war eigentlich kein schlechter Kerl. Früher, in ihren Zwanzigern, während des Jurastudiums und ihrer Anwältinnen-Ausbildung, hatte sie sich oft mit »schlechten« Typen eingelassen. Tristan dagegen, auch ohne offiziell ihr Partner zu sein, behandelte sie jetzt schon deutlich besser als viele von ihren Exfreunden. Er war auch nur ein Produkt seiner Erziehung, konnte genauso wenig etwas dafür, wie sie etwas dafürkonnte, dass ihre Großmutter sie und Toby hatte allein aufziehen müssen. Allerdings war sie sich des Unterschieds wenigstens bewusst, während Tristan manchmal wenig Einsicht zeigte, wenn es darum ging, wie privilegiert er war.
Er schien ihre Gedanken zu lesen oder jedenfalls die zunehmende Gereiztheit zwischen ihnen zu spüren und streckte die Arme nach ihr aus. Rosa ging zu ihm, dankbar für die Zärtlichkeit. Sie legte den Kopf an seine nackte Brust, ließ sich von den weichen krausen Haaren die Wange kitzeln. Einen Moment lang hielten sie sich so, dann hob Tristan sanft ihr Kinn und küsste sie. Sie lächelte.
»Jetzt sieh uns beide an!«, gluckste er. »Vertragen wir uns wieder, Rose? Du weißt, dass ich Streitereien hasse. Das wollen wir nicht, wir wollen einfach nur Spaß haben, stimmt’s?«
Seine kleine Spöttelei über ihr Verhältnis gab ihr einen Stich, aber sie rief sich in Erinnerung, dass sie es selbst so gewollt hatte. Keine Verpflichtungen. Sie hatte keine Zeit für eine ernsthafte Beziehung, sie hatte kaum Zeit für ihre Freunde.
»Natürlich«, sagte sie. »Aber im Ernst, Tristan, hör bitte auf, meinen Namen abzukürzen. Ich heiße Ro-sa, zwei Silben.« Wie würde er es finden, wenn sie ihn »Trist« nennen würde oder einfach »T«? Kaum gedacht, wurde ihr klar, dass ihm das wahrscheinlich nichts ausmachen würde. Seine Freunde nannten ihn alle Hughes, bei seinem Nachnamen. Es schien geradezu ein Muster zu sein in seinem Freundeskreis, dass sie jeweils nur eine Silbe zustande brachten und niemanden mit seinem richtigen Vornamen ansprachen.
»Entschuldige, Ro-sa!« Lächelnd hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich wusste nicht, dass du das so hasst. Ich mach’s nie wieder, versprochen. Du bist eben so schön wie eine Rose, meine kleine Rose.«
So abgedroschen das Kompliment war, brachte es sie doch zum Lachen.
»Ich habe Croissants zum Frühstück gekauft, falls du mir dann eher verzeihst«, fügte er hinzu. Seine blauen Augen schillerten in der Morgensonne, die sich jetzt durch die Jalousien stahl. »Und zwar nicht irgendwelche, sondern die von Marks und Spencer, weil du die am liebsten hast!«
Sie versuchte, sich ein zufriedenes Grinsen zu verkneifen.
Der Inhalt ihrer Reisetasche war über das Wohnzimmersofa verstreut. Sie knüllte ihren getragenen Slip zusammen und stopfte ihn zu der restlichen Kleidung von gestern in die Tasche. Hoffentlich verlangte das Sicherheitspersonal im Gerichtsgebäude nicht, dass sie all ihre Sachen auf ein Tablett legte. Wie peinlich wäre das denn. Sie malte sich aus, wie sie jedes einzelne Teil herauszog, ihre schmutzige Unterwäsche vorführte, um zu zeigen, dass sich nichts darin verbarg.
Grazil schlüpfte sie in ihre hochhackigen Pumps und ging zur Wohnungstür, vergaß beinahe, tschüss zu sagen, drehte sich dann aber noch einmal um.
»Trist, T, Tristy …«, sagte sie, dann fiel ihr keine Abkürzung mehr ein. »Ich muss los.«
»Ha, ha, sehr witzig«, rief er. »Bis bald, meine liebliche Rose.«
Unwillkürlich musste sie lächeln und verspürte ein kleines, warmes Glücksgefühl. Sie war eigentlich zu alt, um sich so zu fühlen.
Rosa klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Es war 9.30 Uhr, und die Warteschlange vor der Sicherheitskontrolle zog sich vom Eingang des Harlesden Crown Court die Treppe hinunter bis auf die Straße.
Ihr rhythmisches Tappen hatte keinerlei Auswirkung auf das Vorankommen der Schlange. Resigniert versuchte sie weiter, die Unterlagen für den in letzter Minute übernommenen Fall dieses Mr Adebayo auf dem Handy zu lesen, als zwei Nachrichten eingingen, beide von Orissa. Die erste war ein Foto von Michelle Obama mit einer weißen Kalligraphie-Schrift darüber. Sie tippte darauf, um es zu vergrößern.
Auf die starken Frauen. Die wir kennen wollen. Die wir sein wollen. Die wir großziehen wollen.
Für eine einunddreißigjährige, erfolgreiche und extrem geschäftige Geschäftsfrau konnte Orissa manchmal oberpeinlich sein. Es war süß von ihr, aber Rosa war nicht in der Stimmung dafür, Zitate auszutauschen wie Teenager. Die Person vor ihr nachahmend, machte sie zwei große Schritte vorwärts und doppelklickte dabei auf das Foto, um zurück zu den Textnachrichten zu kommen.
Dabei musste ich an dich denken. Du hast das Beste verdient. Vermisse dich.
Rosa bekam ein schlechtes Gewissen. Orissa wollte nur nett sein. Schnell tippte sie eine Antwort.
Ich vermisse dich auch. Lass uns am Wochenende mal treffen.
Das war zu viel versprochen, wusste sie, aber es kam ihr angemessen vor. Sie hatte viel zu viel Arbeit an diesem Wochenende, um ein klatschlastiges Treffen mit einer Freundin unterzubringen. Vielleicht nächste Woche? Es kam sicher nicht darauf an, der gute Wille zählte. Rosa rückte weiter mit den Leuten vor ihr auf.
Ja, unbedingt! Ich hab dir jede Menge zu erzählen. Hast du mal wieder eine Verabredung gehabt, seit du dich von G., dessen Namen wir nicht nennen wollen, getrennt hast?
Die Frage löste ein Schnauben bei ihr aus. Sie hatte vergessen, dass sie Orissa noch nicht auf den neuesten Stand gebracht hatte. Das eilte jedoch nicht. Klar, sie war ihre beste Freundin, aber sie waren schließlich erwachsen. Sie hatten beide ihr Privatleben und brauchten sich nicht jedes Detail zu erzählen.
Noch nicht. Lass mir ein bisschen Zeit! Bin bei der Arbeit, wir sprechen uns am Wochenende. X
Das Küsschen sollte das Ende des Austauschs unterstreichen. Die Schlange kroch ein Stück voran, und sie wollte gerade ihr Handy einstecken, als es wieder brummte.
Es ist WOCHEN her, Rosa! Das sieht dir nicht ähnlich. Lass uns Cocktails trinken gehen am Wochenende! XXX
Die Schlange bewegte sich weiter, schneller jetzt. Sie stieg die Stufen zu der hohen Bogentür hinauf, wo sie wieder warten musste. Der Mann vor ihr trug einen schwarzen Gummireif um den Fußknöchel, verziert mit einem grauen Plastikteil an der Außenseite. Er gab sich keine Mühe, die elektronische Fußfessel unter seiner Trainingshose zu verbergen, die knapp über den Knöcheln endete. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, aber als er sich am Kopf kratzte, rieselten kleine Schuppenflocken herab wie Schnee.
Als sie endlich durch die Sicherheitskontrolle war, eilte sie in den Ankleideraum, wo sie ihren blauen Beutel mit der Anwaltstracht auskippte. Eine andere weibliche Barrister drehte sich zu ihr um und lächelte freundlich. Sie hatte glatte, glänzende blonde Haare, zu einem perfekten Knoten aufgesteckt. Ihre Augenbrauen waren zu feinen Bögen modelliert, ihre Augen mit dunkler Wimperntusche und honigfarbenem Lidschatten betont. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Falten oder Unreinheiten, aber sie war auch deutlich jünger. Vielleicht eine Berufsanfängerin, die noch nicht viel Stress hinter sich hatte oder sogar noch in der Ausbildung war. Jedenfalls sah die Kollegin sehr viel gepflegter aus als sie, fand Rosa und merkte, dass ihre Wangen brannten. Sie erwiderte das Lächeln und legte schnell ihren Latzkragen an. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Brust, so dass der Latz daran festklebte, als sie ihn hektisch in den Ausschnitt ihres Kleids steckte. Alle Bemühungen, ihn glattzustreichen, schlugen fehl. Sie zog und zupfte, aber ihr Kleid war ein bisschen zu eng, und sie bereute die Trostesserei der letzten Wochen. Es war nicht möglich, den Latz ordentlich anzulegen, ohne das Kleid ganz auszuziehen.
»Verdammter Mist«, fluchte sie vor sich hin.
Entnervt griff sie nach ihrer Robe, die wenigstens ihren Bauch einigermaßen verhüllen würde, und dann nach der verzierten Dose mit ihrer Perücke, auf der in Goldbuchstaben ihr Name stand. Sie öffnete den Deckel und nahm das aus Pferdehaar gemachte ringellockige Requisit heraus. Während sie es vorsichtig aufsetzte, ging sie zum Spiegel, doch eine andere Anwältin, die sie zwar kannte, deren Name ihr aber gerade nicht einfiel, war näher dran und stand im selben Moment auf. Es war ein Wettlauf zum Spiegel, und sie hatte an diesem Tag keine Zeit dafür. Sie benutzte ihre Handykamera als Handspiegel und schob damit ihre Perücke so gut es ging zurecht. Müdigkeit stieg in ihr auf. Sie kroch von ihren geschwollenen Füßen in den drückenden Schuhen die Beine hinauf und breitete sich in ihrem Oberkörper aus, bewirkte, dass sie sich nach dem ausgelassenen Frühstück sehnte, und sickerte in ihren Kopf, worauf sie blinzelte und ihn schüttelte, als könnte sie sie durch die Ohren loswerden.
Rosa setzte sich einen Moment, um Atem zu schöpfen, ertappte sich gleich darauf dabei, wie sie automatisch durch die Nachrichten-Websites auf ihrem Handy scrollte. Ihre lackierten Fingernägel kratzten über die Display-Schutzfolie, ihr Daumen glitt wiederholt von oben nach unten, als sie die Flut der Artikel bis zum Ende überflog. Die Überschriften wiederholten sich, als hätten die Journalisten darum gewetteifert, dieselbe Aussage auf möglichst verschiedene Weise zu formulieren.
Mann in einem Park in Walthamstow niedergestochen.
Messerstecherei in Walthamstow: Polizei nimmt Achtzehnjährigen fest.
Rettungseinsatz am Tatort eines Messerangriffs im Londoner Osten.
Die Berichte waren vor einigen Stunden veröffentlicht worden. Rosa aktualisierte die Seite, woraufhin die Schlagzeilen in einem weißen Feld verschwanden und ein kleiner Kreis aus Punkten in der Bildschirmmitte tanzte. Ungeduldig rieb sie mit dem Daumen über die glatte schwarze Silikonhülle ihres Telefons, während die fetten schwarzen Lettern langsam wieder erschienen. Ein neuer Artikel poppte auf. Unter der Titelzeile stand in kleiner grauer Schrift: »Vor einer Minute.«
Eilmeldung: Mann als tot bestätigt nach brutaler Messerattacke in einem Park in East London.
Ihr Blick zuckte mehrfach über die Zeile, blieb jedes Mal bei einem Wort am Anfang hängen: tot. Das war also jetzt ein Mordfall. In den Bericht war ein kleines Bild von einem Reporter eingefügt, darüber schwebte ein graues Dreieck, das zum Abspielen des Videos aufforderte. Sie schaltete den Ton stumm und klickte darauf.
Das Bild ruckte, dann sah man den von der Polizei abgesperrten Park, leerer, als Rosa ihn je erlebt hatte. Gruppen von Neugierigen standen hinter der Absperrung, wollten offenbar herausfinden, was passiert war. Plötzlich stoppte das Video, sie tippte auf den Bildschirm, um es wieder zum Laufen zu bringen, jedoch vergebens. Sie wartete einen Moment, ob das Signal aufholte, aber nichts passierte. Ein rotierender Pfeil am oberen Rand bot die Möglichkeit, die Seite zu aktualisieren, was sie bereitwillig tat. Wieder wartete sie, die Seite lud neu, dann klickte sie auf die Stelle, an der das Video angehalten hatte. Nach weiterem Ruckeln erschien Nanas Wohnblock im Bild, ein unansehnliches, tristes Hochhaus aus rotem und braunem Klinker, das schroff zwischen den umliegenden Häusern in den Himmel ragte. Gleichförmige kastenartige Balkone und blaue Wohnungstüren zierten die Gebäudefront in einem zweckmäßigen Design. Man hatte sich keinerlei Mühe gegeben, den Komplex irgendwie ansprechend zu gestalten, und doch wurde Rosa ein wenig warm ums Herz bei seinem Anblick, selbst unter diesen Umständen. Nanas Wohnung war ihr Zuhause, und Nana war wie eine Mutter für sie – mehr als ihre wirkliche Mutter.
Sie schloss abrupt die Nachrichten-App, öffnete die für Textnachrichten und tippte »Nan …«, bis ihr einfiel, wie sehr ihre Großmutter es hasste, auf dem Handy zu tippen.
»Mir ist’s immer lieber, wenn du mich anrufen tust«, sagte sie gern in ihrem heftigen Patois. Obwohl sie perfekt Englisch sprach, bevorzugte sie das Kreol des Landes, in dem sie aufgewachsen war. Auf diese Weise verfügte sie über eine zweite Sprache, eine Möglichkeit, mit Verwandten und Freunden ganz privat zu kommunizieren.
Rosa tippte auf Nanas Festnetznummer, die immer dieselbe war, seit sie sich erinnern konnte, klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und verließ den Ankleideraum, ging eilig durch den langen, dunklen Flur, um besseren Empfang zu bekommen. Eine kleine zierliche Frau im Kostüm humpelte mit unbequem hohen Schuhen vorbei. Ihre Perücke hing leicht schief, so dass die dicken gerollten Locken auf beiden Seiten asymmetrisch wirkten. Die wallende schwarze Wollrobe, die ihr eigentlich eine gewisse Eleganz hätte verleihen sollen, war ihr von den Schultern gerutscht und schlackerte um sie wie ein Karnevalsumhang. Die Frau lächelte sie herzlich an, wobei Rosa bemerkte, dass ihr flamingorosa Lippenstift auf ihre Zähne abgefärbt hatte.
Die Architektur dieses Gebäudes zielte offensichtlich darauf ab, den Menschen das Sonnenlicht zu nehmen, eine grausame Bauweise, die es einem erschwerte, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Die spärlichen Fenster saßen so hoch oben, dass man nicht hinausschauen konnte. Ein schlaksiger Sicherheitsbeamter, den Rosa auf über eins neunzig schätzte, nickte ihr zu, als sie an ihm vorbeiging. Selbst wenn dieser Mann sich auf Zehenspitzen stellte, würde er nicht an die Fenstergriffe heranreichen, um ein wenig frische Luft in die stickigen Korridore zu lassen.
Endlich zeigte ihr Handy zwei Balken an, und ihr Anruf an Nana ging durch. Sie lehnte sich an die Wand, ihre dunkle Aufmachung ein starker Kontrast zu der verblichenen, zitronengelben Tapete. Die Wandleiste drückte in ihre Wirbelsäule. Sie verlagerte ihre Haltung, grub die Absätze in den Teppichboden für einen festeren Stand. Nana nahm beinahe sofort ab.
»Mercedes, mein Schatz, mein Pickney, geht’s dir gut?«
Rosa hasste ihren amtlichen ersten Vornamen, nur ihre Großmutter durfte ihn verwenden. Trotzdem war sie froh, ihre sanfte Stimme zu hören. Sie war ihr »Pickney«, ihr Kind. Selbst jetzt noch, mit dreißig, stand Nana ihr näher als sonst irgendjemand.
»Ja, Nana, mir geht’s gut.«
Nana sprach leiser, und Rosa spürte ihr Unbehagen.
»Ist so, ich bräucht bisschen Geld von dir. Muss Toby seine neue Schuluniform kaufen.«
Rosa bekam einen trockenen Mund, ihre Kehle fühlte sich an wie mit Sand gefüllt. »Natürlich, Nana. Tut mir leid, dass du überhaupt fragen musst«, sagte sie beschämt.
»Haste die Nachrichten gesehen?«, wechselte Nana schnell das Thema. Ihr Stolz brachte jeden Funken von Dankbarkeit immer schnell zum Erlöschen. Rosa verdrehte die Augen, musste aber zugleich lächeln, gerade als ihr jemand auf die Schulter tippte und sie Albert vor sich sah, einen anderen Barrister aus ihrer Kanzlei. Das Lächeln verging ihr.
»Du hier, Rosa! Lange nicht gesehen! Gut zu wissen, dass du immer noch am Staatsgericht praktizierst, ein paar von uns hatten schon befürchtet, du wärst auf die dunkle Seite gewechselt.«
Die Anwaltsfirmen der Solicitors als »dunkle Seite« zu bezeichnen, war dämlich, und Rosa wusste, dass die Vermutung nur kursierte, weil sie im gebärfähigen Alter war. Der Männerclub in ihrer Firma ging davon aus, dass sie bald ihre Selbständigkeit als Barrister aufgeben würde, um als Angestellte das Mutterschaftsgeld zu kassieren. Sie deutete auf ihr Handy und zog eine Grimasse, wie um zu sagen, dass sie liebend gern mit ihm plaudern würde, wenn dieses Telefonat nicht wäre.
»Ups, ich hatte nicht gesehen, dass du telefonierst. Anweisungen in letzter Minute?« Eine rhetorische Frage, denn er wartete die Antwort nicht ab. »Dann will ich nicht weiter stören.« Sein Ton war nicht mehr ganz so überlegen, und er verzog sich, schritt auf die Tür zum Anwaltszimmer zu, wo er einen Code eintippte.
Rosa seufzte erleichtert. Peinlich, sie hatte keine Ahnung, wie lange er schon neben ihr gestanden hatte, bevor er ihr dreist den Finger in die Schulter bohrte, während sie mit Nana über Geld sprach. Sie sah zu, wie er Ziffern in die kleine Tastatur hämmerte und dann den Knauf drehte, energisch gegen die Tür drückte. Sie ging nicht auf, weshalb er noch fester drückte. Ein weißes A4-Blatt, das außen angebracht war und, soweit sie sich erinnerte, die Rechtsanwälte daran gemahnte, die Tür richtig hinter sich zuzumachen, fiel herunter und landete mit der Schriftseite nach unten auf dem braungefliesten Boden, ein kleiner Klumpen Blu-Tack hinten drauf. Er stieß zum dritten Mal gegen die dünne Holztür, die den Eindruck machte, als würde sie gleich einbrechen, ihn mit Knauf und Tastatur in der Hand davor stehen lassen.
»Rosa, hast du die Nachrichten gesehen?« Nanas Stimme tönte aus dem Handy, und Rosa antwortete gedämpft, damit Albert sie nicht hörte.
»Ja, das ist wirklich schlimm. Bist du okay, Nana?« Die Frage war ehrlich gemeint, aber sie bereute sie sofort, weil sie wusste, dass sie der Einladung zu einem Vortrag gleichkam.
»Mach dir mal keine Sorgen um mich! Mach dir Sorgen um dein klein Bruda. Dein kleiner Bruda is leicht beeinflussbar.« Nana unterbrach sich hustend, wollte wieder ansetzen, wurde aber von ihrem Geröchel daran gehindert. Albert hatte endlich die Tür aufbekommen und knallte sie entnervt hinter sich zu. Rosa nahm das Handy vom Ohr und warf einen Blick auf die Zeitanzeige oben in der Ecke. Sie musste Schluss machen.
»Nana …« Sie versuchte, sich den Hustenanfall zunutze zu machen, wurde aber sofort zum Schweigen gebracht.
»Wo war ich? Dein kleiner Bruda is leicht verführbar.«
»Ja, Nana.«
»Du weißt, dass die dummen klein Jungs da ihn in ihr großes tolles Gangsta-Leben mitreinziehn wolln.«
»Ja, Nana. Entschuldige, dass ich dich unterbreche«, sagte Rosa lauter, »aber ich muss Schluss machen, tut mir leid.« Das würde nicht gut ankommen, deshalb redete sie schnell weiter. »Ich bin auf dem Weg in den Gerichtssaal, wir sprechen uns heute Abend. Pass bitte auf dich auf und glaub nicht alles, was du in den Nachrichten siehst.« Sie hatte nicht die Absicht, Nana zu bevormunden, aber in der Eile kam es ungeschickt heraus. »Hab dich ganz doll lieb.«
Nana schnaubte nur. Der überlegene Ton war nicht unbemerkt geblieben.
»Mercedes Rosa Higgins, ich für mein Teil weiß besser als die meisten Leute, wie gefährlich die Gegend hier is. Sag mir nicht, was ich glaum soll.« Rosa wartete einen Augenblick ab, wusste, dass sie noch nicht auflegen konnte. Nana sprach ungerührt weiter.
»Wir sehn uns heut Abend, falls du’s für nötig hältst, nach Hause zu kommen.« Der sarkastische Seitenhieb kündigte noch nicht das Ende an.
»Ich bin’s nämlich, die losmuss, weil ich deim kleinen Bruda seinen Inhalator in der Schule vorbeibringen muss.« Na klar, Nana würde das letzte Wort behalten. »Auch wenn ich ganz andere Sorgen haben tu.«
Rosa wollte unwillkürlich protestieren, aber Nana legte einfach auf. Kurz überlegte sie, was diese »anderen Sorgen« sein mochten, verbannte den Gedanken dann aber rasch in den Hinterkopf.
Rosa klingelte am Zellentrakt des Gerichts, blickte in die Kamera und wartete auf den Summer. Die Tür wurde entriegelt, und sie stemmte sich mit ganzem Gewicht dagegen, um sie aufzudrücken. Eine Justizangestellte, eine dralle Frau, deren hochbundige Hose sich über ihren Bauch spannte, nahm sie im Korridor in Empfang. Sie hatte kurze graue Haare mit einer violetten Strähne darin und mehrere Ohrstecker im linken Ohr. Das rechte Ohr sah entstellt aus. Rosa wandte den Blick ab und lächelte höflich. Die Frau verschwendete keine Zeit mit Nettigkeiten, sondern konzentrierte sich darauf, einen kleinen schwarzen Kasten an der Wand mit einem Code zu öffnen. Sie entnahm ihm einen Schlüssel und schloss damit die nächste Tür auf, die besonders hoch war und ohne Fenster oder Spion. Rosa trat vorsichtig hindurch, was die Aufseherin irgendwie zu reizen schien. Schnaufend schloss sie den Kasten und anschließend die Tür hinter ihnen beiden ab.
Aus der Nähe roch Rosa säuerlichen Kaffeegeruch in ihrem Atem. Ihr Namensschild war jetzt sichtbar, Kelly Bolan stand in kleinen Blocklettern darauf. Daneben das Foto einer viel schlankeren Frau mit längeren Haaren. Zwischen dem Passbild und der Justizangestellten bestand so wenig Ähnlichkeit, dass Rosa überlegte, ob sie sich vielleicht den falschen Dienstausweis gegriffen hatte.
Die vorgebliche Kelly ließ sie in dem zweiten Gang stehen und stampfte an ihren Schreibtisch, sank mit einem schweren Seufzer auf den Stuhl. Der Schreibtisch war unordentlich, zerfledderte weiße Stapel von vertraulichen Unterlagen bedeckten ihn wie vergossene Milch. In die Ecke des engen Büros gezwängt, saß eine zweite Frau, die sich den Tisch mit Kelly teilte und über ihr Handy gebeugt Videos guckte. Keine der beiden schenkte ihr weiter Beachtung.
»Ähem. Hallo«, sagte Rosa halblaut.
Die zweite Angestellte tippte auf ein Klemmbrett neben sich, ohne von ihrem Handy aufzusehen. Rosa näherte sich auf Zehenspitzen und nahm den Stift.
Name. Sie kritzelte »Rosa Higgins« in das Feld.
Kanzlei. »3 Straw Court.«
»Zu wem wollen Sie, Miss?« Die näher bei ihr sitzende Frau blickte endlich auf.
Leicht erschrocken sah Rosa sie an.
»Zu Oluwafemi Adebayo. Ist er hier?«, sagte sie.
»Ja. Kleinen Moment. Das genügt, wir füllen den Rest aus.«
Die Aufseherin nahm das Klemmbrett und kreuzte ein Kästchen an zur Bestätigung, dass sie ihren Ausweis vorgezeigt hatte, was nicht der Fall war. Die Perücke und die Robe genügten offenbar.
Rosa wurde durch eine weitere schwere, gut gesicherte Tür geführt. Diese war hellblau mit braunen, abgeblätterten Stellen. Wieder wartete sie in einem Gang darauf, dass hinter ihr abgeschlossen wurde. Die einstmals weißen Wände waren fleckig und verfärbt, der Boden war mit schäbigem Linoleum ausgelegt. Auf der rechten Seite gab es eine Reihe von Türen, jeweils zu einem kleinen Besprechungsraum. Sie wurde zu dem zweiten dirigiert, sah im Vorbeigehen die wippende Perücke eines anderen Barristers im ersten, der gerade mit seinem Mandanten sprach.
Der Raum war eng und ungleichmäßig gestrichen, eine mit Alarmauslöser versehene Wandleiste der einzige Schmuck. Decke, Wände und Fußboden gingen praktisch ineinander über. Es gab einen rechteckigen Tisch, der am Boden verschraubt war, und zwei ebenso gesicherte Hocker an den beiden Längsseiten. Rosa setzte sich und streckte ihre Beine aus. Unwillkürlich trommelte sie mit den Fingern auf den Tisch, wischte die Hand jedoch nach kurzer Überlegung schnell an ihrer Robe ab. Jemand hatte den Namen »Mazza« in die Tischkante geritzt, was sie an aus Langeweile verunzierte Schulpulte erinnerte.
Mr Adebayo wurde ohne Handschellen hereingebracht und zu dem freien Platz nahe der Tür gewiesen. Die Aufseherin murmelte Rosa zu, dass sie an das kleine Kunststofffenster klopfen solle, wenn sie fertig war, und schloss, ohne eine Antwort abzuwarten, von außen ab.
Rosa fühlte sich flüchtig darin erinnert, welche Gefahren ihr Beruf mit sich brachte. Sollte sie Hilfe brauchen, konnte es eine ganze Weile dauern, bevor jemand auf sie aufmerksam wurde.
Beruhigenderweise war ihr heutiger Mandant kein mutmaßlicher Gewalttäter. Er saß in diesen schwach beleuchteten, tristen Zellen, weil ihm vorgeworfen wurde, mit Drogen gehandelt zu haben. Wie viele andere junge Schwarze Männer, die sie vertrat, war er seit der Festnahme in Untersuchungshaft behalten worden, und ihre Aufgabe würde es sein, eine Freilassung auf Kaution zu erwirken. Normalerweise übernahm sie solche Fälle nicht, aber Craig rückte vielleicht mehr Arbeit herüber, wenn sie das gewünschte Ergebnis erzielte, und sie brauchte das Geld – auch wenn sie heute nicht viel verdienen würde. Nach ihrer Erfahrung lief es so in der Anwaltschaft, dass die Solicitors von den Barristers erwarteten, die gering bezahlten, unsexy Rechtsfälle für sie zu übernehmen, und sich dann erkenntlich zeigten, indem sie ihnen nach und nach bessere Fälle zuwiesen. Noch hatte sie durch diesen Handel keine wirklich großen Prozesse bekommen, aber immerhin ein paar gute und gelegentlich auch einen »klasse« Fall. Ihre Clerks, die Kanzleisekretäre, die dafür zuständig waren, die Verbindung zu den Solicitors herzustellen und ihr Arbeit zu sichern, versprachen jedoch, dass das bald kommen würde.
Mr Adebayo saß ihr mit großen Augen gegenüber, bereit, ihren juristischen Rat anzunehmen. Sie stellte sich mit Vornamen vor.
»Ich bin Femi. Schön, Sie kennenzulernen, Miss Rosa«, sagte er. Seine Stimme hatte etwas kindlich Weiches. Sie lächelte freundlich. »Miss Rosa« war okay.
Die Zeit, um mit Femi zu sprechen, war knapp. Die Gerichtszellen wurden erst um 9.30 Uhr geöffnet, und es gab immer eine Warteschlange.
»Leider können wir uns nicht lange besprechen«, sagte sie entschuldigend. Femi saß ruhig da und hörte zu.
Sie hätte ihm das Prozedere bei der Kautionsverhandlung gern genau beschrieben, aber die Uhr tickte. Also ließ sie sich nur die Informationen des Solicitors darüber bestätigen, wo der Mandant bei einer Freilassung wohnen würde und an welche Auflagen er sich zu halten gewillt war.
»Jedenfalls, wie das heute auch ausgeht, ich komme hinterher wieder hier herunter zu den Zellen, damit wir das weitere Vorgehen besprechen können. Entweder gehen Sie dann nach Hause, oder wir werden unsere Möglichkeiten neu überdenken.« Rosa holte Atem.
»Sie meinen also, Miss Rosa, dass meine Chancen, auf Kaution rauszukommen, fünfzig-fünfzig stehen?«
»Na ja, nein, nicht ganz«, sagte sie mit einem beschwichtigenden Lächeln, aber ihr Gesicht verriet sie. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht.«
Er zog einen Flunsch, wirkte verwirrt.
»Wie gesagt, es steht nicht ganz fünfzig-fünfzig, es hängt viel von dem Richter ab.«
»Wie ist der Richter denn so?«
»Leider kenne ich Richter Robinson nicht.« Rosa wusste, dass es im Grunde keine Rolle spielte, wer der Richter oder die Richterin war. Das hier war ein aussichtsloser Antrag, die Chancen standen gleich null.
Mr Adebayo sah noch perplexer drein, als verstünde er überhaupt nichts mehr.
»Sehen Sie, Ihr Kautionsantrag, also der, den wir für Sie stellen, ist eine recht schwierige Sache. Ich denke, dass viele Richter Bedenken haben, Ihnen eine Freilassung auf Kaution zu gewähren. Das Gericht wird vor allem wegen der Fluchtgefahr besorgt sein, also, dass Sie sich dem Verfahren entziehen könnten. Man wird sich Ihre Vorstrafen ansehen, und da gibt es offenbar in Ihrem Strafregister ein paar Verurteilungen wegen vorsätzlichen Fernbleibens. Das ist das größte Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht wahr?« Eine rhetorische Frage, aber sie wartete, bis er nickte, um sicherzugehen, dass er ihr folgen konnte. »Sie stellen keine Gefahr für sich oder andere dar.« Rosa merkte, dass sie ihm wenig Mut machte, indem sie nur die möglichen Einwände gegen eine Freilassung auf Kaution aufzählte.
»Also, komme ich heute nach Hause oder nicht?« Der Junge klang jetzt verletzlicher als anfangs, er war kaum erwachsen.
Rosa sah sich seine Verurteilungen wegen Fernbleibens an: 2018, 2019, 2019 erneut. Sie lagen zwar eine Weile zurück, aber manchen Richtern genügte schon eine einzige solche Verurteilung, um die Aussetzung der Untersuchungshaft gegen Kaution abzulehnen.
»Äh … ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich, aber ich kann nichts versprechen. Die Richterin oder der Richter sieht hoffentlich ein, dass Sie nicht bis zu Ihrer Verhandlung in Haft bleiben müssen. Ich werde alles tun, um sie oder ihn davon zu überzeugen, okay?«
»Aber was ist mit meiner Tante? Sie hat versprochen, dass ich bei ihr wohnen kann. Hat Craig Ihnen das gesagt?«
Rosa nickte. »Ja, Susan Adebayo, richtig?«
»Genau. Hat er mit ihr gesprochen?«
»Ich bin nicht sicher, aus seinen Aufzeichnungen geht es nicht klar hervor …«
»Haben Sie sie angerufen?«, unterbrach er sie.
»Nein, aber ich habe die Bestätigung Ihres Solicitors, dass Ihre Tante ihr Haus als Bleibe für Sie angeboten hat. Für mich als Ihren Barrister wäre es unüblich, sie anzurufen.«
Mr Adebayo senkte den Kopf und rang die Hände auf dem Tisch.
»Soll also heißen, Sie haben schon aufgegeben? Sie glauben nicht, dass ich eine Chance habe?«, murmelte er. Auf einmal hatte sie das Gefühl, keine Luft zu bekommen, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Nanas Stimme hallte durch ihren Kopf. »Gib nie jemand nich auf. Hab ich auch nie gemacht.«
Es wurde Zeit. Sie stand auf, um zu gehen, seine Frage zu übergehen. Er blieb sitzen, starrte durch sie hindurch auf die kahle Wand. Rosa klopfte an die Plastikscheibe in der Tür, drehte sich noch einmal um und sah ihn immer noch ins Leere starren.
»Wir sehen uns oben«, flüsterte sie, bevor sie die Zelle verließ.
Rosa betrat den Gerichtssaal und stahl sich nach hinten, nachdem sie respektvoll den Kopf vor der Richterin geneigt hatte. Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, klappte sie den Klappsitz am Ende der hintersten Reihe herunter. Er knarrte leicht, und sie hielt ihn mit der linken Hand fest, damit er nicht wieder hochschnellte und krachend den ganzen Saal auf sie aufmerksam machte. Dann setzte sie sich langsam, stellte ihre Handtasche auf dem Boden ab.
Sie hörte aufmerksam zu, um ein Gefühl für den Stil der Richterin zu bekommen. Bei manchen beeilte sie sich mit ihren Ausführungen, weil sie wusste, dass ein Satz zu viel sie gegen sich einnehmen konnte. Bei anderen dagegen ließ sie sich Zeit. Sie hob ihre besten Argumente hervor, vernachlässigte aber auch die schwächeren nicht, um durch eine Anhäufung von relevanten Gesichtspunkten zu überzeugen.
»Also, Mr Davenport, was ist Ihre Erklärung dafür, dass die Staatsanwaltschaft nach wie vor die Einzelverbindungsnachweise nicht offengelegt hat? Warum liegen sie uns immer noch nicht vor?« Die schrille Stimme der Richterin beherrschte den Saal.
Der Staatsanwalt vorne stand auf und zog seine schwarze Robe über den Schultern zurecht. Sein bleicher Nacken färbte sich zusehends schwitzig-rot, als er die Frage der Richterin beantwortete. Von ihrem Platz aus konnte sie sein Gesicht nicht erkennen, so dass er sich kaum von den anderen Barristers in diesem Gerichtsgebäude unterschied. Seine einst weiße Perücke hatte sich mit der Zeit verfärbt, die gelbstichigen Locken schienen sich mit letzter Kraft aneinanderzuklammern.
Rosa beobachtete und registrierte. Diese Richterin wirkte reizbar und ungeduldig. In den fünf Minuten, die sie die Frau bisher erlebt hatte, hatte sie den Staatsanwalt keinen einzigen Satz beenden lassen, ihn ständig unterbrochen. Sie hatte eine spitze Nase, die im Gegensatz zu ihren sanften Augen stand, teilweise verdeckt von dem unter ihrer silberfarbenen Perücke hervorlugenden dünnen braunen Pony. Ihre reich verzierte Robe war frisch gebügelt, der weiße Kragen saß perfekt um ihren etwas pummeligen Hals.
Rosa zog ihr Handy aus der Tasche, um sich zu vergewissern, dass es stumm geschaltet war. Gewohnheitsmäßig klickte sie durch ihre Social-Media-Kanäle, indem sie das Telefon hinter dem Sitz vor sich verbarg. Großes Thema war überall der gestrige Mord.
Sarah Lawrence, eine ehemalige Schulkameradin, jetzt Influencerin, hatte ein Foto des Opfers mit »RIP« und einem Herzchen daneben gepostet. Es hatte schon über 10000 Likes. Rosa überflog die Kommentare. Der Tote hieß Thomas, erfuhr sie, und war Krankenpfleger gewesen. Eine Frau schrieb, dass er erst vor ein paar Monaten geholfen hatte, ihr Kind auf die Welt zu bringen.
Peter Mann, ein anderer Schulkamerad, hatte dasselbe Foto geteilt, allerdings mit dem Zusatz: Ein gefallener Bruder, ein gefallener Soldat. RIP Bro. Jo Collins, den sie nicht hatte ausstehen können, nachdem er im Französischunterricht damit angegeben hatte, dass seine Eltern die British National Party unterstützten, hatte einen Status gepostet.
Es wird Zeit, dass wir uns unser Land von diesen Gangstern zurückholen. Die Verbrechen unter Schwarzen richten Großbritannien zugrunde. Daumen hoch, wenn du derselben Meinung bist.
Sie klickte auf sein Profil. Ein Foto von sich mit einem England-Shirt und einem hohen Bierglas, albern grinsend. Sie tippte auf den Button daneben: Als Freund entfernen. Ob sie sicher war? Sie tippte erneut zur Bestätigung.
Es überraschte sie wenig, dass die Hautfarbe des Angeklagten sofort Thema bei dieser Tat war. In fast all ihren Fällen mit Schwarzen Mandanten wurde die ethnische Zugehörigkeit in irgendeiner Form erwähnt. Es fing schon damit an, dass Schwarze Beschuldigte in Polizeiberichten wenig subtil entmenschlicht wurden. Viele Officer sprachen von einem »männlichen IC3« oder »einer Gruppe von IC3«, ein Code für Schwarze Menschen. Im Gegensatz dazu wurde die Hautfarbe von weißen Mandanten nur selten angegeben, abgesehen von dem entsprechenden Kästchen auf den Formularen. Weiß zu sein war nach wie vor die Norm, alles andere machte einen zu etwas »anderem«. Wie oft hatte sie schon Richter oder Staatsanwältinnen verbessern müssen, die leichtfertig den Begriff »Gang« verwendeten, wenn sie sich auf eine beliebige Gruppe von männlichen Schwarzen bezogen, während eine Freundesgruppe von Weißen nicht derart abfällig bezeichnet wurde. Auch außerhalb des Strafjustizsystems, in den Nachrichten, den sozialen Medien, wirkte sich Schwarzsein oder nicht darauf aus, ob ein Mord als Tragödie galt, die das Mitgefühl der Öffentlichkeit verdiente, oder Erklärungen der Regierung befeuerte, die ein »härteres Vorgehen gegen Kriminalität« versprachen.
Die Barristers vor Rosa erhoben sich, um den Saal zu verlassen, worauf sie ihr Telefon schnell in die Handtasche stopfte und einen Platz in der vordersten Reihe einnahm, bereit, das Wort zu ergreifen. Sie platzierte ihren Laptop auf dem Schreibtisch neben sich und legte ihr blaues Notizbuch auf das Lesepult aus Acryl. Zwei Kulis und einen Marker ordentlich wie Soldaten daneben, dann setzte sie sich. Die Staatsanwältin war auf ihrem Platz geblieben und sah nicht zu ihr hin. Ihre Perücke saß schief, und Rosa bemerkte, dass sie ihre Schuhe unter dem Tisch abgestreift hatte. Im Gerichtssaal war es still geworden, die Richterin nutzte die Pause, um ihre handschriftlichen Notizen zu der vorigen Verhandlung zu Ende zu bringen. Die Anklagebank war noch leer, der Wärter unterwegs, um Oluwafemi Adebayo aus dem Zellentrakt heraufzubringen.
Rosa atmete bewusst und genoss die momentane Ruhe, konzentrierte sich auf das kunstvoll ziselierte königliche Wappen über dem Richterstuhl. Ein weißes Einhorn gegenüber einem goldenen königlichen Löwen, beide auf den Hinterbeinen. Die Bildsprache vermittelte einen falschen Eindruck vom britischen Strafjustizsystem, dachte sie. Es war nichts Magisches daran. Der Stuhl, auf dem sie saß, wackelte, auch wenn jemand versucht hatte, das mit einem untergeschobenen Papierkeil zu beheben. Der Tisch hinter ihr war mit gelbem Klebeband versehen, weil er vor einigen Monaten kaputtgegangen war und es offenbar bislang keine Mittel gegeben hatte, um ihn zu ersetzen oder zu reparieren.
Das Schlüsselklappern des Wärters war zu hören und wurde zunehmend lauter, als er die Tür an der hinteren Saalseite aufschloss und Femi hereinführte, der sich hinter dem Panzerglas der Anklagebank niederließ.
»Euer Ehren, wenn es Euch beliebt, ich bin hier, um die Krone zu vertreten, und meine geschätzte Kollegin … äh …« Die Staatsanwältin stockte, merkte, dass sie Rosa nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.
»Ms Higgins«, flüsterte Rosa ihr zu.
»Äh … Ms Higgins. Ja, meine geschätzte Kollegin Ms Higgins vertritt den Angeklagten.«
Rosa erhob sich halb und nickte der Richterin achtungsvoll zu.
Die Staatsanwältin, eine Ms Gayle, wie Rosa wenig später erfuhr, eröffnete die Verhandlung, indem sie die Fakten darlegte. Wie Rosa vorhergesehen hatte, führte sie danach ins Feld, dass Mr Adebayo in Verbindung mit örtlichen Gangs stehe, und behauptete, es sei eine Zunahme von Gewalttaten in seinem Stadtteil zu verzeichnen. Rosa fragte sich, ob sie ihr Wissen aus erster Hand hatte oder kritiklos irgendwelche Formulierungen der Staatsanwaltschaft übernahm.
»Euer Ehren, das Gericht möge außerdem in Betracht ziehen, dass Mr Adebayo schon mehrfach vorsätzlich einem Verhandlungstermin ferngeblieben ist«, schloss Ms Gayle ihre Ausführungen.
Femi war dreizehn und vierzehn gewesen, als er nicht zu besagten Gerichtsterminen erschienen war, hatte Rosa ausgerechnet. Es war ärgerlich, dass die Anklage sich auf so etwas stützte, um ein hohes Risiko für ein Nichterscheinen bei dem jetzigen bevorstehenden Verfahren geltend zu machen.
Sie stand auf, strich ihren Latzkragen glatt und wandte sich an die Richterin.