Die Feuer - Claire Thomas - E-Book

Die Feuer E-Book

Claire Thomas

0,0

Beschreibung

Drei Frauen, ein Abend im Theater, „ein betörendes Spiel im Spiel“. (O, The Oprah Magazine) – Ein intimer und ungewöhnlicher Roman von Claire Thomas

Während in den Bergen Buschfeuer wüten, sehen drei Frauen in Melbourne ein Beckett-Stück. Die Literaturprofessorin Margot hadert mit der Entfremdung von ihrem Sohn und ihrer Ehe mit dem dementen John. Ivy, Kunstmäzenin und Margots ehemalige Studentin, wird von den Verlusten in ihrer Vergangenheit eingeholt. Und Summer, Schauspielschülerin und Platzanweiserin im Theater, schwankt zwischen der Sorge um ihre Geliebte in der Feuerzone und Fragen zu ihrer Herkunft. Als sich die drei in der Pause begegnen, wird dies ihre Sicht auf sich selbst und auf ihre Umwelt für immer verändern. Voller Dringlichkeit und Feingefühl blickt Claire Thomas in das Innerste dreier Frauen unserer erschütterten Gegenwart.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 260

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Während in den Bergen Buschfeuer wüten, sehen drei Frauen in Melbourne ein Beckett-Stück. Die Literaturprofessorin Margot hadert mit der Entfremdung von ihrem Sohn und ihrer Ehe mit dem dementen John. Ivy, Kunstmäzenin und Margots ehemalige Studentin, wird von den Verlusten in ihrer Vergangenheit eingeholt. Und Summer, Schauspielschülerin und Platzanweiserin im Theater, schwankt zwischen der Sorge um ihre Geliebte in der Feuerzone und Fragen zu ihrer Herkunft. Als sich die drei in der Pause begegnen, wird dies ihre Sicht auf sich selbst und auf ihre Umwelt für immer verändern. Voller Dringlichkeit und Feingefühl blickt Claire Thomas in das Innerste dreier Frauen unserer erschütterten Gegenwart.

CLAIRE THOMAS

DIE FEUER

Roman

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Hanser

Katie Ridsdale und Annabelle Roxon gewidmet, den zwei Besten von uns dreien

Ich kann keinen einzigen vollständigen Satz über sie schreiben, denn sie war an sich schon ein vollständiger Satz, und dieser Satz über sie selbst war besser, als jeder andere es hätte sein können, weil sie ihn aussprach, ohne nachzudenken, und gleichzeitig dachte sie zu viel nach; ich kann dir gar nicht sagen, wie ungewöhnlich das heutzutage ist in einer Welt, wo niemand ohne irgendeine Art von Drehbuch das Haus verlässt.

Hilton Als, »White Girls«

Wie sie alles genoß! Wie gern sie hier saß und zusah! Es war wie im Theater. Wer hätte behaupten können, der Himmel im Hintergrund sei keine gemalte Kulisse?

Katherine Mansfield, »Miss Brill«

EINS

MARGOT DREHT DIE FÜSSE nach außen wie bei der ersten Ballettposition und schiebt sich über den schmalen Teppichstreifen zwischen den Rückenlehnen der Vorderreihe und den Knien der wartenden Theatergäste. Sie ist spät dran, nicht alle Beine bewegen sich seitwärts, um sie durchzulassen.

Entschuldigung, sagt Margot zu niemand Bestimmtem. Entschuldigen Sie vielmals.

Sie hält ihre Handtasche von sich gestreckt und balanciert sie über die Reihe aus Köpfen. Fest entschlossen, niemanden mit ihrer Tasche oder ihrem Körper zu berühren, hält sie den Blick auf ihre Sandalen und den Teppichboden gerichtet, Schritt für Schritt für Schritt.

Erst in der Mitte der Reihe hebt sie den Kopf. Auf dem Platz vor ihrem sitzt ein junger Mann. Er steht auf und nickt ebenso geduldig wie galant.

Danke, sagt sie und zwängt sich an ihm vorbei. Sehr freundlich.

Margot setzt sich und lässt sich die Tasche auf den Schoß fallen.

Der junge Mann setzt sich ebenfalls und schiebt den Unterarm auf die rote Samtlehne zwischen ihnen. Die Muskeln liegen breit auf, der Arm bedeckt die komplette Lehne, die Finger hängen vornüber und zeigen zu Boden.

Margot erwägt, aufdringlich zu werden und ihre Ansprüche mit ihrem Arm durchzusetzen, doch sie möchte den Mann nicht berühren. Seine Haut ist von Tattoos und rotblonden Härchen bedeckt und er hat eine Gänsehaut von der Klimaanlage. In seinen Unterarm ist ein Papagei eingestochen, in Primärfarben und mit scharf konturiertem Schnabel. Denkt er gerade an Piraten?

Normalerweise sind Sie freitagabends nicht hier, sagt Margot.

Er runzelt die Stirn, zwischen den Augen erscheint ein kleiner Pfeil.

Ich habe ein Abo, erklärt sie. Da kennt man irgendwann seine Sitznachbarn. Sie wollte nicht überheblich klingen. Er wirkt genervt.

Aber er antwortet sogar im ganzen Satz. Wir lesen an der Uni gerade was von Beckett.

Beckett, sagt Margot. Ich wusste bis eben nicht, was heute gespielt wird. Ich habe einfach die Karte eingesteckt und bin los. Aus Angst, mich zu verspäten. Bei dieser Hitze ist der Verkehr wirklich schrecklich, finden Sie nicht? Die Leute fahren irgendwie seltsam, wenn es heiß ist. Und dazu noch der Rauch von den Feuern … Zuerst dachte ich, die Autoscheiben wären schmutzig, aber nach einer Weile habe ich gemerkt, dass es am Rauch lag.

Ich bin mit der Straßenbahn gekommen, sagt der junge Mann. Keine Klimaanlage. Das war wirklich schrecklich.

Verstehe, sagt Margot und schaut geradeaus. Sie hat einen teuren, freien Blick auf die Bühne.

Margot hustet, lauter, als ihr lieb ist. Sie räuspert sich.

Sie trägt ein Etuikleid und wird sich ihrer nackten Arme bewusst, und auch ihrer nackten Füße in den Sandalen. Ihre Zehennägel sind nicht lackiert. Vor vielen Jahren, als ihr Vater noch am Leben war und sie noch nicht alt, hatte er zu ihr gesagt, sie solle ihre Ellbogen nur entblößen, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Faltige Ellbogen machen Frauen alt, hatte er gesagt. Seit Jahrzehnten trägt Margot lange Ärmel. In letzter Zeit haben sie sich als praktisch erwiesen, wegen der Blutergüsse. Aber in diesem Sommer — einem ungewöhnlich drückenden, stinkenden Sommer — hatte sie genug von den langen Ärmeln. Sie hatte das Zupfen und Zerren satt. Von nun an werden ihre Arme bei Hitze nackt sein. Und heute ist tatsächlich ein sehr heißer Tag — 19 Uhr und immer noch vierzig Grad.

Die künstliche Kälte des Theatersaals erschwert jeden Gedanken an den starken Wind draußen in der Welt, an die ascheflockige Luft, die von den nahen Bergen, wo sich die Buschfeuer festgefressen haben, auf die Stadt drückt.

Margot lockert das Armband an ihrer abgekühlten Haut und dreht die Uhr auf dem Handgelenk hin und her. Ihre Beine sind ausgestreckt, die Knöchel unter dem Sitz des Vordermanns gekreuzt.

Das Saallicht wird gedimmt.

Das Publikum sitzt erwartungsvoll in der Dunkelheit.

Margot hustet abermals.

Der junge Mann neben ihr wird unruhig. Ihr Husten, der ruckartig durch die gespannte Stille des wartenden Theatersaals stößt, irritiert ihn.

Doch dann ertönt eine Klingel! Schrill und offiziell.

Das Stück beginnt.

Das Schrillen scheint aus allen Richtungen zu kommen. Ein Schaudern geht durchs Publikum, die Leute verarbeiten den Schreck und richten sich neu auf ihren Sitzen ein.

Das Schrillen — unglaublich laut — hört abrupt auf.

Hebt wieder an! Hört auf.

Grelles Licht.

Eine Frau steckt hüfttief in einem von verdorrtem Gras bedeckten Hügel. Das gedämpfte Grün fällt um sie herum sanft ab und geht dann in die ebene Bühne über.

Der Torso über dem Gras bewegt sich. Anscheinend wacht die Frau gerade auf. Über ihren Brüsten spannt sich das blaugrüne Mieder eines Ballkleids. Sie trägt eine kurze Perlenkette, das Haar türmt sich lässig auf ihrem Kopf.

Sie lächelt. Sie lächelt viel. Seltsam viel, angesichts ihrer Lage.

Vielleicht ist die untere Körperhälfte im Hügel nackt. Vielleicht trägt die Frau Leggings oder einen kratzigen Tüllrock.

Sie spricht ein hastiges Gebet, mit aneinandergelegten Handflächen und gesenktem Kopf. In alle Ewigkeit Amen.

Auf sie ist ein grelles Licht gerichtet.

Das Licht erzeugt auf dem Scheitel der Frau eine schüttere Stelle.

Die Frau legt sich beide Hände an die Hochsteckfrisur. Das grelle Licht färbt ihre Finger kalkweiß.

Sie beugt sich zu einem schwarzen Sack, der auf dem Grashügel liegt. Sie zieht ihn zu sich heran, macht ihn weit auf und wühlt darin herum. Sie wühlt auf manierliche, zielstrebige Weise.

Margot sieht auf ihren Schoß. Ihre Handtasche liegt dort unten im Dunkeln, ihre gefalteten Hände ruhen auf dem Verschluss.

Sie spürt ein Kribbeln im Hals, will den Hustenreiz unterdrücken, doch ihr Mund prustet los. Das ist nicht gut. Es muss an der Klimaanlage liegen, am plötzlichen Wechsel aus der Hitze draußen in diese trockene Kälte. Margot hat den ganzen Tag nicht gehustet, weder zu Hause noch im Büro, nicht einmal während der zweistündigen Besprechung mit dem Dekan, vor der sie sich ihre halbe Karriere lang gefürchtet hat.

Die Frage nach dem Ruhestand, laut ausgesprochen.

Sie blieb standhaft und würdevoll. Sie blieb vernünftig. Sie hatte Mühe, sich loszueisen — Ich darf nicht zu spät ins Theater kommen! —, zum Abschied gaben beide sich demonstrativ kollegial. Sie hatte den glänzenden Museumskatalog auf seinem Schreibtisch bemerkt, Matisse oder Chagall, irgendwas in leuchtenden Farben, und sich nach seinem Urlaub in Südfrankreich erkundigt. Er fragte nach ihrer neugeborenen Enkelin und machte eine unpassende Bemerkung über ihre Erfahrung beim Windelwechseln.

Sie verließ sein Büro, und noch während sie durch den langen, von farbigem Licht erfüllten Korridor mit den Buntglasfenstern lief, versuchte sie, über seinen schlechten Witz zu lachen.

Aus dem Parkhaus zu fahren, war gar nicht so einfach. Für diesen Abend war eine Abschlussfeier angesetzt, ein Auto nach dem anderen kam just zu dem Zeitpunkt herein, zu dem Margot normalerweise ihren Audi mit viel Schwung die leeren Betonrampen hochlenkt. Zwischen den Ebenen 3 und 2 wäre sie fast frontal mit einem SUV zusammengestoßen. Quietschende Bremsen. Der Fahrer hatte gerade mit der Frau auf dem Beifahrersitz herumgealbert, der Blumenstrauß auf ihrem Schoß war so riesig, dass man ihn durch die Windschutzscheibe sehen konnte.

Fahrer und Beifahrerin verzogen entschuldigend das Gesicht, der Fahrer wich auf seine Seite der Rampe aus.

Margots Herz raste. Sie beschimpfte den SUV nicht, obwohl sie Übung darin hatte. Sie ließ die Hände am Lenkrad und wartete, bis die Rampe frei war.

Seit sie den Campus verlassen hat, war Margot nicht einmal Zeit geblieben (wie ihre liebe verstorbene Mutter es ausgedrückt hätte), sich zu kratzen. Schon gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken, was der Vorschlag des Dekans bedeutete. Er hatte ihr lächelnd die Hand geschüttelt und gesagt, es wäre großartig, den Ball Anfang nächster Woche noch einmal aufzunehmen.

Anfang nächster Woche? Den Ball? Was sollte das überhaupt heißen?

Wollte er andeuten, ihr nächstes Treffen sei die Fortsetzung eines Spiels und sein Büro eine gemütliche Umkleide, von der aus sie alle — Lehrkräfte, Verwaltungsangestellte — ausströmten, um ihren jeweiligen Aufgaben auf dem Campus nachzugehen?

Oder bezog er sich darauf, dass ihre Unterhaltung unweigerlich in einer Art Endstand münden wird?

First Base — der Vorschlag.

Second Base — das zweite Treffen.

Third Base — weitere Details und konkrete Planung.

Und die Home Base ist erreicht, wenn sie endlich weg ist?

Welcher Jargon auch immer gerade gilt — Margot versteht die Absicht dahinter, und Margot kann es nicht fassen.

Die Frau auf der Bühne putzt sich die Zähne. Die Zahnpasta schäumt, energisch wechselt die schrubbende Hand den Winkel. Margot hasst es, zur Zeugin dieser Art von Körperpflege gemacht zu werden. Sie fragt sich, ob so etwas unbedingt auf die Bühne gehört. Womöglich ist die abstoßende Wirkung beabsichtigt?

Erst heute Morgen hat sie mit John geschimpft, weil er sich die Zähne putzen wollte, noch bevor sie im Badezimmer fertig war. Seine Technik macht sie wütend. Die Zahnpastamenge. Der Zustand der Borsten seiner Zahnbürste. Die Höhe, aus der er ins Waschbecken spuckt. Seine Eile. Die zu kurzen Intervalle zwischen dem Ausspucken. Das letzte, nachlässige Ausspülen. Seine Angewohnheit, nach dem Gästehandtuch zu greifen statt nach seinem eigenen. Wie er sich damit den Mund abwischt. Später findet sie Krusten aus Zahnpasta im Frottee.

Sie sind seit über vierzig Jahren verheiratet. Es wäre leichter, ein kleines bisschen leichter, wenn er warten könnte, bis sie das Bad verlassen hat. Vor allem an Tagen wie heute. Er hätte sich denken können, wie angespannt sie ist.

Margot hatte nicht gezögert, ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Erst später, auf dem Weg zur Arbeit, ließ die Wahrheit ihren Magen zusammenkrampfen. Ab jetzt müsste sie vorsichtiger sein. Sehr viel vorsichtiger.

Hu-huu! Die Frau auf der Bühne bemüht sich um die Aufmerksamkeit eines unsichtbaren Mannes. Armer Willie.

Margot hatte ihn ganz vergessen. Sie hatte eine Laieninszenierung des Stücks gesehen, als sie mit Adam schwanger war, und konnte sich nur an die Frau im Hügel und an das Licht erinnern. Hauptsächlich an das Licht.

Aber natürlich war da auch ein Mann. Der abwesende, nutzlose Mann. Keinen Mumm — zu nichts Lust — kein Interesse — am Leben.

Die Genitalien der Frau sind unerreichbar. Vielleicht ignoriert er sie deswegen. Er kommt nicht an die einst bevorzugte Körperöffnung heran. Oder vielleicht sollte man den Plural wählen, Körperöffnungen, falls er zur besonders anspruchsvollen Sorte gehört.

Anscheinend ist er ein hervorragender Schläfer. Ewig schlafen — wunderbare Gabe.

Der Glückspilz. Was würde Margot nicht dafür geben: stundenlanger Schlaf, ohne vorher stundenlang zu trinken. Nüchtern kommt sie dieser Tage nicht mehr zur Ruhe.

Ob John sich an den Mann erinnern würde? Weiß John überhaupt noch, dass sie damals an dem Abend im Theater waren? Es ist — wie lange ist es her? Zweiundvierzig, dreiundvierzig Jahre. Ja. Adam ist jetzt zweiundvierzig. Wird Margot auf die Tatsache, dass sie jetzt die Mutter eines mittelalten Mannes ist, jemals anders reagieren als mit Erschrecken?

Sie versucht, sich an den Abend zu erinnern, als sie das Stück zusammen mit John sah, in diesem kleinen Studiotheater in einer Seitenstraße im Süden der Stadt. Sie konzentriert sich darauf, alle Einzelheiten des Abends abzurufen, als wäre ihr Gedächtnis ein Aktenschrank. Sie stellt sich weiße Karteikarten vor, die eine nach der anderen in ihre Richtung fallen.

Das bewusste Erinnern ist neu für Margot. Eine neue Technik. Oder ein neues Verfahren, wie gewisse Kollegen aus ihrem Fachbereich sagen würden. Margot weigert sich, von Sudokus oder kryptischen Kreuzworträtseln bevormundet zu werden — wer für so was zum Stift greift, enttarnt sich als leichtgläubige Seniorin — und hat sich stattdessen für eine gründliche Aufarbeitung ihrer Vergangenheit entschieden. Neulich hat sie den Fehler gemacht, einer alten Freundin davon zu erzählen. Sehr Proustianisch, Frau Professorin, hatte die Freundin gespottet.

Margot kannte den Regisseur, nur deshalb waren sie vor all den Jahren ins Theater gegangen. Ein eingebildeter Privatschüler, der sich im letzten Jahr ihres Kunststudiums einen eingebildeten Privatschulspitznamen zugelegt hatte. War es Monty? Jonty? Rossco? Xander? — Es war Rossco. Sein Name war Ross, und er hatte sich ein -co angehängt, als taufe er einen Hengst oder eine Jacht.

Räudiger Rossco! Genau! Er hatte einen ziemlichen Ruf. Mehr als einmal hatte er Margot angemacht, als sie im Abschlussjahr vor der mündlichen Französischprüfung in dieselbe Lerngruppe eingeteilt wurden. Zu der Zeit war sie bereits mit John zusammen, was sehr hilfreich war, denn der Räudige Rossco war der Typ Mann, der nur lockerlässt, wenn eine Frau in seinen Augen besetzt ist. Ein absoluter Charmeur.

Trotzdem blieben Margot und Ross auch nach dem Abschluss in Kontakt. Sie hatte Mitleid mit ihm — vielleicht, weil er sehr klein war, außerdem kursierten Gerüchte über ein verstorbenes Geschwisterkind, was ihm eine tragische Aura verlieh — und John in das kleine Studiotheater in der Seitenstraße geschleppt, um Ross’ anlaufende Regiekarriere zu unterstützen.

Die Sitze waren sehr unbequem. John zog seine Lederjacke aus, knüllte sie zusammen und stopfte sie in Margots Rücken, um die Lendenwirbel ihres schwangeren Körpers zusätzlich zu stützen. Es nützte nichts, aber sie freute sich darüber, dass ihr frisch angetrauter Ehemann so besorgt um ihr Wohlbefinden war.

Sie war sechs Wochen nach der Hochzeit mit John schwanger geworden und hatte sich maßlos darüber geärgert. Sie hatte immer geglaubt, ein Kind zu zeugen würde Monate, vielleicht Jahre dauern. Mit ihren Exfreunden hatte sie nie befürchtet, schwanger zu werden, dabei hatten sie sich allein auf Margots Zyklus und aufs rechtzeitige Herausziehen verlassen. Bemerkenswert, dass sie sich nichts eingefangen hatte — wenn schon nicht ein Kind, dann zumindest eine Infektion. In ihren Zwanzigern hatte sie mehr als eine Freundin in die neue Abtreibungsklinik in der alten weißen Villa am Botanischen Garten begleitet. Für sie hatte Sex nie unerwünschte Folgen gehabt, nicht einmal einen peinlichen Juckreiz. Dieses Glück hatte ihr ein falsches Gefühl von Unbesiegbarkeit gegeben, und eine falsche Vorstellung von der eigenen Fruchtbarkeit.

Die plötzliche Schwangerschaft nach der Eheschließung, diese vermeintlich glücklichste aller Folgen, war ihr wie ein perverser Verrat des Körpers erschienen. Vielleicht hätte sie sicherheitshalber die Pille nehmen sollen, dann wiederum ertrug sie nicht, was die Pille ihren Brüsten und ihrem Charakter antat — sie vergrößerte beides auf eine unangenehme, schwer zu handhabende Art und Weise.

Sie waren erst vor Kurzem von Cambridge nach Melbourne zurückgekehrt. Margot war stolz auf den neuen Doktortitel und die Stelle an ihrer Alma Mater. John würde als Assistenzarzt im führenden Forschungskrankenhaus der Stadt anfangen. An jenem Abend in dem kleinen Studiotheater in der Seitenstraße war sie im fünften Monat schwanger und immer noch dabei, ihr Schicksal zu akzeptieren.

Vor der Aufführung standen sie in der warmen Herbstdämmerung auf dem Gehweg und tranken Shiraz aus großen Bechergläsern — damals bei der Bohème sehr beliebt und in großer Stückzahl billig zu haben —, als Margot etwas Wein auf ihrem Babybauch verschüttete. Die rote Flüssigkeit lief an ihrer geblümten Tunika hinunter wie Blut oder Speichel.

Auf seinem Weg durch das wartende Publikum hatte der Räudige Rossco etwas Furchtbares gerufen — Margot hat einen Braten in der Röhre! Seht euch den Koch an! —, und John war ein Stückchen näher an seine Frau herangerückt; ob aus Stolz oder Beschützerinstinkt oder irgendeinem anderen männlichen Impuls heraus, konnte sie nicht sagen, damals so wenig wie heute.

Die Frau auf der Bühne redet immer noch, lächelt immer noch. Darf nicht klagen.

Ihr Lächeln ist eine das Zahnfleisch entblößende Grimasse. Sie rückt sich die Brille zurecht und sieht hindurch, um die Zahnbürste zu untersuchen. Sie nimmt die Brille ab und setzt sie wieder auf, haucht die Gläser an und poliert sie mit einem Taschentuch. Anscheinend hilft ihr die Brille nicht zu entziffern, was auf der Zahnbürste steht. Echte … reine … was?

Was würde Adam von dieser Brille halten, wäre er jetzt hier? Adam hätte sicherlich eine Meinung. Ihr selbstbewusster Optikersohn. Er würde Marke und Modell der Brille erkennen. Er würde die unhygienische Reinigungsmethode missbilligen, ts! Er würde der Frau eine Sehschwäche attestieren, oder er würde beurteilen, wie glaubhaft die Schauspielerin eine Sehschwäche darstellt. Während der Pause würde er über all das dozieren. Er würde auf Margot einreden, während sie am Champagner nippt, und vergessen, dass seine Mutter eine Literaturprofessorin mit Verständnis für eine verdammte Metapher ist, eine Frau, die die Bedeutung der unbrauchbaren Brille weitaus besser erklären könnte als er. Oh, es wäre eine Qual.

Adam, früher ein so lieber kleiner Junge, hat sich in letzter Zeit zu einem wenig liebenswerten Menschen entwickelt. Sie weiß nicht genau, warum es so gekommen ist.

Vielleicht ahnt er, was zwischen seinen Eltern vor sich geht, und gibt ihr die Schuld daran. Immer ist die Frau schuld. Die Mutter. So läuft das nun mal, nicht wahr?

Trotz seiner überlegenen Fähigkeiten als Optiker nimmt Adam den eigenen, heldenhaften Vater nur unscharf wahr. Als Teenager hat er sich John zur menschlichen Vorlage genommen und sich an ihn geklammert, seine Interessen und seinen Habitus übernommen. Das betraf die üblichen Klischees — sie waren Fans derselben Fußballmannschaft und derselben Serien —, erstreckte sich aber auch auf Vorlieben für bestimmte Nahrungsmittel, Wetterlagen, Konversationsstile und Kleidungsstücke. Manchmal fand Margot es niedlich — ihr hochgewachsener Sohn und sein Vater, beide in Chinos und marineblauem Button-Down-Hemd, saßen auf der Veranda, teilten sich einen Teller Antipasti, beobachteten den Regen und wetteiferten darum, der Schlagfertigere zu sein und den anderen zum Lachen zu bringen —, aber sie machte sich auch Sorgen, die Charakterbildung ihres Sohnes könnte fantasielos sein, gerade so, als hätte er nicht gemerkt, dass man sein Leben auf unzählige Weisen führen kann. Wenn man Adam so beobachtete, könnte man meinen, es sei genug, einfach nur älter und zum eigenen Vater zu werden. Als Adam entschied, Optometrie zu studieren — John war Augenchirurg —, fand Margot sich endgültig damit ab, dass ihr einziger Sohn sie nicht mehr überraschen würde.

Und auch damit, dass sie im häuslichen Trio die Außenseiterin war. Der weniger wichtige Elternteil. Sie akzeptierte die seltsame Freiheit, die mit dem Status einherging. Ihrer Karriere hatte es jedenfalls nicht geschadet.

Doch Adams zwiespältige Gefühle für seine Mutter haben sich neuerdings zugespitzt. Ständig ist er enttäuscht von Margot. Ständig weist er sie zurecht. Sie trennt den Müll nicht richtig. Sie kauft in den falschen Läden ein. Sie gibt zu viel Geld beim Friseur aus. Sie kauft die falschen Lebensmittel. Sie mag die falschen Fernsehstars. Sie macht seinem Baby die falschen Geschenke. Sie kümmert sich falsch um John. Es ist ermüdend.

Irgendwie wünscht sie sich, sie wäre liebenswerter. Sie wünscht sich, er würde sie einfach nur umarmen und liebhaben.

Vielleicht wird er es eines Tages gut sein lassen mit dem ständigen Bewerten.

Die Frau auf der Bühne hat Zahnbürste und Brille beiseitegelegt. Alte Dinge. Alte Augen.

Margot wechselt ihre Haltung und schlägt die alten Beine übereinander, deren Umrisse sie im Dunkeln gerade noch ausmachen kann. Sie ist froh, dass ihre Knöchel im Alter nicht dick geworden und verschwunden sind. Schlanke Fesseln sind ein Qualitätsmerkmal für Jung und Alt. Darüber wohlgeformte Waden und zierliche Knie — früher pflegte John zu sagen, ihre Beine wären wie gedrechselt. Wie mit Hammer und Meißel modelliert.

Das Kribbeln im Hals ist zurück. Ein sehr hartnäckiges Kribbeln.

Margot hustet wieder.

Der junge Mann neben ihr wird unruhig. Sein Arm hält weiterhin die Lehne in Beschlag. Soll er sie haben, der kleine Scheißer. Mit seinem Papagei und seiner Straßenbahn und seiner Uni.

Über Universitäten könnte sie ihm so einiges erzählen. Vielleicht studiert der junge Mann an ihrer Uni? Die passende Anspruchshaltung bringt er ja mit. Aber er hat keins ihrer Seminare belegt, da ist sie sich sicher.

Zu Beginn jedes neuen Semesters, wenn sie vor ihren Studierenden steht — Gefangenschaft und Bewusstsein: Einführung in die Literatur des 19. Jahrhunderts für die im ersten Jahr, Eliot, James, Woolf (das nach den ersten paar Wochen unweigerlich den Spitznamen George, Henry, Ginny bekommt) für die im dritten —, spürt sie, wie eine Art leichtes Fieber sie befällt, eine Mischung aus Adrenalin, Wohlwollen und reinster Hoffnung. Ein neuer Raum voller junger Leute, die über Bücher sprechen wollen. Die über Bücher nachdenken wollen.

Oh, wie Margot sie liebt. Sie liebt ihr Nicken, ihr schiefes Lächeln, ihre unbeholfene Coolness. Die Gesichter kann sie sich jahrelang merken. Seit Kurzem stellt die Verwaltung auf ausdrückliche Bitte anderer Dozenten Kurslisten mit Porträtfotos der Studierenden zur Verfügung. Margot braucht die Fotos nicht. Ihren Kollegen gegenüber hat sie mehr als einmal erwähnt, dass sie die Fotos nicht braucht.

Der junge Mann neben ihr sitzt in keinem ihrer Seminare, da ist sie sich sicher. Möglicherweise ist er Theaterwissenschaftler, oder er studiert an einer der örtlichen Schauspielschulen. Oder Beckett steht neuerdings — Gott bewahre! — in Kursen für Kreatives Schreiben auf dem Lehrplan.

Margot hustet wieder.

Ist der Mann neben ihr nicht der Einzige, der irritiert wirkt?

Hat sich nicht auch die kleine Frau zu Margots rechter Seite verärgert aufgesetzt?

Und eine weitere, die schräg vor ihr sitzt, ein paar Plätze näher am Gang? Margot beobachtet das Profil der Frau. Sie hat große, längliche Nasenlöcher und ein Hexenkinn, ihr weißes, hochgestecktes Haar wird von einer schwarzen Schmetterlingsklammer gehalten.

Margot hustet abermals, und der Kopf der Frau ruckt herum. Es kommt zum Blickkontakt.

Die Frau ruckt zurück, sieht zur Bühne und seufzt hörbar, sie stellt ihren Unmut zur Schau, als wäre Margots Unbehagen ein persönlicher Affront.

Da fällt Margot ein, dass sie noch Fisherman’s Friend in der Handtasche hat.

Sie greift hinein und fühlt die Theaterkarte, einen Stift und ein paar alte, zerknüllte Papiertaschentücher. Sie findet den kleinen Beutel. Die Öffnung an der Längsseite ist praktischerweise wiederverschließbar. Margot schiebt den Verschluss auf, holt eine Pastille heraus und nimmt sie in den Mund. Die Pastille klackert gegen ihre Zähne. Margot spielt mit dem Gedanken, laut auf dem Bonbon herumzulutschen, es mit der Zunge hin und her zu drehen und sich immer wieder gegen die Zähne zu schieben, sozusagen als Akt der Rebellion. Sie tut es nicht. Stattdessen hält sie die Lutschpastille still und drückt sie mit der Zunge fest gegen den Gaumen, wo sie sich auflöst und der Saft mit dem frischen, medizinischen Geschmack ihren Rachen hinunterläuft. Es funktioniert.

Margot ist erleichtert und konzentriert sich auf die Frau im Grashügel.

Die Frau küsst einen Revolver! Meine Güte! Das war jetzt unerwartet!

Der Kuss ist verstohlen und schnell.

Margot lächelt. Gott weiß, so einen könnte sie gut gebrauchen. Einen Revolver zum Küssen. Und zum Töten.

Sie könnte sich eine hübsche kleine Schusswaffe unters Kissen legen. Das harte Ding würde gegen ihren Kopf drücken und in ihre Träume eindringen, ein schützender Widerstand, um der männerförmigen Silhouette an ihrer Seite etwas entgegenzusetzen.

Würde sie eine solche Waffe geheim halten? Oder wäre die abschreckende Wirkung größer, wenn er davon wüsste? Schlag mich noch ein Mal, und ich erschieße dich — so was in der Art. Aber was, wenn er die Waffe vorher findet? Was, wenn er auf die Idee kommt, seinem Arsenal eine echte Waffe hinzuzufügen? Wenn er sich überlegt, dass seine riesigen, zu Fäusten geballten Hände nicht mehr ausreichen?

Aber, Margot, Margot, du vergisst — nichts davon ist geplant, rein gar nichts. Er hat sich nichts davon überlegt, das haben die Ärzte ausnahmslos bestätigt. Ihn trifft keine Schuld.

Ach. Leckt. Mich. Ihr. Ärzte.

Die Frau auf der Bühne hat den Revolver in den schwarzen Sack zurückgesteckt. Nun hält sie ein Milchglasfläschchen in der Hand, in dem sich ein Rest rote Flüssigkeit befindet. Sogar von ihrem Platz im Rang aus kann Margot erkennen, dass es sich um eine typische alte Apothekerflasche handelt, wie sie in einem Freilichtmuseum im Regal des Drogisten stehen würde. Das weiße Etikett löst sich teilweise ab.

Vor und nach … Mahlzeiten … prompte … Besserung.

Die Frau schraubt die Flasche auf und nimmt einen Schluck, wobei sie den Kopf beim Trinken übertrieben weit in den Nacken legt. Die leere Flasche wirft sie über die Schulter.

Ein kurzes Klirren, ein leises, tiefes Stöhnen.

Die Medizin zu trinken war das Vernünftigste, was die Frau im Grashügel seit dem Aufwachen getan hat, findet Margot.

Jetzt trägt die Frau Lippenstift auf und mustert sich im Schminkspiegel. Das Licht ist erbarmungslos.

Die Frau lächelt. Ihr Lächeln ist traurig und leicht verzweifelt.

Margot mag die Frau im Gras nicht besonders.

Und dann kriecht der Mann heraus.

Über seine Glatze läuft ein dünnes Rinnsal aus Blut. Vielleicht eine Verletzung durch die weggeworfene Apothekerflasche?

Margot schlägt lächelnd die Beine übereinander.

ZWEI

SUMMER HAT WIEDER MAL den Anfang des Stücks verpasst. Wie viel sie zu sehen bekommt, hängt davon ab, wo sie an dem Abend eingesetzt wird. Treppe bedeutet, dass sie schon im Zuschauerraum ist, was die Chance erhöht, sich auf einen der beiden reservierten Gangplätze in der letzten Reihe setzen zu können. Tür bedeutet, dass sie wahrscheinlich gar nicht sitzen wird, weil ihre Hauptaufgabe darin besteht, sich um die Nachzügler im Foyer zu kümmern.

Heute Abend ist sie an der Tür, und wegen der Hitze und der Feuer gab es viele Nachzügler.

Als die Gruppe sich versammelte, stand Summer im mit Teppich ausgelegten Foyer. Eine schwitzende und gehetzte Person nach der anderen sprintete die Treppe vom Parkdeck herauf und verzog enttäuscht das Gesicht.

Summer begrüßte sie und erklärte ihnen, das Stück habe bereits angefangen und die nächste Gelegenheit zum Einlass ergebe sich etwa zehn Minuten nach Beginn des ersten Akts. Diese Ansprache hielt sie in leicht abgewandelter Form neun Mal. Sie hielt den Ticketscanner bereit, während die Leute in Beuteln und Taschen nach dem Handy oder dem brav ausgedruckten Papierticket suchten.

Ein Mann hatte riesige, nasse Schweißflecken unter den Armen, auf der Brust, an der Kragenrückseite und um den Bauchnabel. Der Stoff seines grünen Hemds war an so vielen Stellen dunkler, dass es an ein Batikshirt erinnerte, wie Summers Mutter es vielleicht als Kind getragen hatte.

Er zog sein Ticket aus der Brusttasche und reichte es Summer mit einem langen Seufzer. Aus seinem Mund kam eine faulige, nach toten Nagetieren stinkende Brise. Sie fuhr mit dem piependen Scanner über das wellige Stück Papier, gab es dem Mann zurück und hielt die Luft an. Sie war fest entschlossen, ihn nicht einzuatmen.

Nach zehn Minuten stellt Summer sich an die schwere, schwarze Tür und lauscht auf das Zeichen.

Das Splittern von Glas.

Sie öffnet die Tür.

Die Nachzügler gehen in einem zivilisierten Gänsemarsch hinein. Im Dunkeln tritt ihnen ein Platzanweiser entgegen und mimt die nächsten Anweisungen.

Summer hält die Tür einen Spaltbreit offen und folgt ihnen hinein.

Sie lässt sich auf dem Gangplatz nieder, gerade als ein Mann auf die Bühne kriecht. Sein Gesicht ist durch ein helles Rinnsal aus sauerstoffreichem Blut geteilt. Willie.

Hallo, Willie. Schön, dich wiederzusehen.

Sie sieht das Stück nun zum dritten Mal, und immer hat sie den Anfang verpasst. Hoffentlich bekommt sie ihn vor Ende der Spielzeit zu sehen. Aus Summers Perspektive beginnt das Stück mit Willie. Mit Willie und dem Hut, den er sich schief auf den blutenden Kopf setzt.

Winnie, die Frau, macht sich Sorgen wegen der Sonne. Man könnte meinen, der Mann wäre in einen riesigen Ofen gekrochen und würde vom Licht geröstet, obwohl es doch in Wahrheit sie ist, die unbeweglich und ungeschützt auf der bleichen Erde liegt wie eine halbierte Kartoffel auf einem Backblech.

Summer muss an ihre Mutter denken, eine Weiße mit kastanienbraunem Haar und grünen Augen, die in der Ozonloch-Ära aufgewachsen ist. Das Ozonloch hatte eine doppelte Wirkung auf ihre Mutter — zum einen machte es sie zu einem Ein-Personen-Sonnenschutzkommando, das ständig hinter der Tochter mit dem Olivteint herjagte, in der einen Hand die Zinkcreme und in der anderen einen Blumenhut mit weicher Krempe. Zum anderen befeuerte es ihre Zuversicht bezüglich der Zukunft des Planeten, weil sie irgendwie glaubte, die Umweltkatastrophe ließe sich abwenden, wenn alle von Spraydosen auf Pumpzerstäuber umsteigen.

Summer findet, ihre Mutter sollte ihre Risikowahrnehmung überprüfen.

Summer läuft kaum Gefahr, sich einen Sonnenbrand zu holen. Ihre Haut ist eher von Rassismus bedroht als von Pusteln und Pellen. Als sie noch klein war, wurde sie oft gefragt, ob sie adoptiert sei. Die Reaktion ihrer Mutter war entweder defensiv (Das ist mein Kind, glauben Sie mir) oder peinlich (Ich habe sie aus mir rausgepresst, versprochen).

Wenn Summer ein Familienfoto in die Schule mitbringen musste, waren darauf immer nur sie beide zu sehen. Mums rosa Arm umspannte Summers braune Schultern.

Ihr seht aus wie diese bezaubernde Benetton-Werbung, sagte ein Lehrer, als er das Foto sah.

Summer wollte nicht aussehen wie aus einer Benetton-Werbung, was immer das auch war. Sie wollte ein Familienfoto wie alle anderen, das eine Gruppe zusammengehöriger Menschen zeigte oder wenigstens einen Mann, der die Unterschiedlichkeit von Mutter und Tochter erklärt hätte.

Anders als ihre Mutter glaubt Summer nicht an die saubere Rettung des Planeten. Summer macht sich ständig Sorgen um die Erde und ihre Bewohner, ihre Luft, ihre Meere und ihre Verschmutzung.

Sie fürchtet sich vor den monströsen Platten, die sich im Schneckentempo bewegen und dann plötzlich auseinanderbrechen. Sie fürchtet die schleichende Erwärmung, das schmelzende Eis, die zerstörerischen Brände und Überflutungen.

Eine Furcht, die ihr die Tränen in die Augen treibt und ihr Albträume beschert.

Erst letzte Nacht hat Summer vom Ertrinken geträumt. Anscheinend war sie ein Fisch in einer runden Glasvase, und plötzlich wurde sie in die Höhe gerissen und in einen heftigen Toilettenstrudel geworfen. Ein dickflüssiger Schwall Scheiße ergoss sich über sie, verstopfte ihre Kiemen und machte ihr das Atmen unmöglich. Als sie wach wurde, schoss ihr das Wort Erdrutsch durch den Kopf.

Erdrutsch

ErdrutschErdrutsch

Erdrutsch

Dass Wörter ihr als Endlosschleife durch den Kopf gehen, kommt öfter vor. Sie möchte lernen, die Schleife zu greifen und zu verknoten, oder einfach nur zuzusehen, wie sie sich davonschlängelt.

Im dunklen Theatersaal schlingt sich Summer die Arme um den Leib.

Auf der Bühne reckt Winnie ihren Hut in die Höhe.

Der Hut ist eine kleine Kuppel aus glänzenden schwarzen Federn und erinnert an einen toten Seevogel, der nach einer Ölkatastrophe an Land gespült wurde. Schwarzer Schleim verklumpt das Gefieder, funkelt im Sonnenlicht.

Winnie stemmt den Hut immer wieder über den Kopf, als wollte sie ihn jeden Moment aufsetzen oder als wäre sie in A Chorus Line. Der ölige Vogelkadaver wackelt im Licht.

Schließlich setzt sie ihn auf, und dann spricht sie über ihren ersten Kuss. Sie spult eine Flut von Bildern ab.

Im Innern eines Geräteschuppens … die übereinander gestülpten Blumentöpfe … Die zwischen den Dachsparren dunkelnden Schatten.