Die Flotte der Puppenspieler - Larry Niven - E-Book

Die Flotte der Puppenspieler E-Book

Larry Niven

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Beschreibung

Die Explosion des galaktischen Zentrums sendet tödliche Strahlung aus. Langfristig steht alles Leben in der Galaxis vor der Auslöschung. Die technisch hoch entwickelte Spezies der Puppenspieler flieht und nimmt ihre Planeten mit, formiert zu einer Weltenflotte.

Kirsten Quinn-Kovacs, eine Menschenfrau, die bei den Puppenspielern lebt, soll die Fluchtroute erkunden. Gemeinsam mit ihrem Mentor Nessus sucht sie nach möglichen Gefahren, die der Weltenflotte bei ihrer Reise drohen. Dabei stößt sie auf uralte Geheimnisse, die das ganze Universum in seinen Grundfesten erschüttern ...

Mit diesem Roman beginnt der "Fleet of Worlds"-Zyklus innerhalb des Known Space - Larry Nivens episches Ringwelt-Universum!

eBooks von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


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Inhalt

Cover

Larry Niven bei Bastei Lübbe

Über dieses Buch

Über die Autoren

Titel

Impressum

Dramatis Personae

Zeittafel

PROLOG – ERDJAHR 2197

EXIL – ERDJAHR 2650

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

SUCHE

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

WIEDERGEBURT – ERDJAHR 2650

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

ODYSSEE – ERDJAHR 2652

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

Larry Niven bei Bastei Lübbe

Der Ringwelt-Zyklus:

Ringwelt / Ringwelt Ingenieure.

Doppelband, 2016 (Dt. Erstausgabe 1972 / 1982)

Ringwelt Thron / Hüter der Ringwelt.

Doppelband, 2017 (Dt. Erstausgabe 1998 / 2006)

Weitere Romane im Known Space:

Die Welt der Ptavv.

2018 (auch als »Das Doppelhirn« erschienen, Dt. Erstausgabe 1977)

Ein Geschenk der Erde.

2018 (auch als »Planet der Verlorenen« erschienen, Dt. Erstausgabe 1977)

Protector – Brennans Legende.

2018 (auch als »Der Baum des Lebens« erschienen, Dt. Erstausgabe 1975)

Der Weltenflotte-Zyklus (Known Space):

Weltenwandler.

2014 (Dt. Erstausgabe 2008)

Die Flotte der Puppenspieler.

2014 (Dt. Erstausgabe 2008)

Der Krieg der Puppenspieler.

2011

Verrat der Welten.

2012

Das Schicksal der Ringwelt.

2014

Über dieses Buch

Die Explosion des galaktischen Zentrums sendet tödliche Strahlung aus. Langfristig steht alles Leben in der Galaxis vor der Auslöschung. Die technisch hoch entwickelte Spezies der Puppenspieler flieht und nimmt ihre Planeten mit, formiert zu einer Weltenflotte.

Kirsten Quinn-Kovacs, eine Menschenfrau, die bei den Puppenspielern lebt, soll die Fluchtroute erkunden. Gemeinsam mit ihrem Mentor Nessus sucht sie nach möglichen Gefahren, die der Weltenflotte bei ihrer Reise drohen. Dabei stößt sie auf uralte Geheimnisse, die das ganze Universum in seinen Grundfesten erschüttern …

Mit diesem Roman beginnt der »Fleet of Worlds«-Zyklus innerhalb des Known Space – Larry Nivens episches Ringwelt-Universum!

Über die Autoren

Larry Niven wurde 1938 in Los Angeles, Kalifornien geboren. 1956 schrieb er sich am Institute of Technology in Kalifornien ein, um es ein Jahr später wieder zu verlassen. Ein halbes Jahr später entdeckte er einen alten Buchladen voll mit bereits gelesenen Science-Fiction Magazinen, die ihn inspirierten, selbst etwas zu schreiben. Nachdem er sein Mathematik-Psychologie-Studium 1962 an der Washburn University, Kansas, beendet hatte, begann Larry Niven nun endgültig sich seiner Leidenschaft hinzugeben. Seine erste veröffentlichte Geschichte »The Coldest Place« erschien in der Dezember-Ausgabe von 1964 Worlds of If.

Larry Niven gehört zu den großen Altmeistern des Genres. Er hat im Laufe seiner Karriere mehrmals die bedeutendsten Preise der Science Fiction, den Hugo- und den Nebula-Award, gewonnen, unter anderem für den Roman »Ringwelt«, der als ein Meilenstein der modernen fantastischen Literatur gilt. Mit der Romanserie um das »Ringweltuniversum« hat er wahrscheinlich die populärste SF-Serie aller Zeiten geschaffen.

Edward M. Lerner wurde 1949 in den USA geboren. Er hat mehr als dreißig Jahre für diverse namhafte Firmen in der Luftfahrt- und IT-Industrie gearbeitet, denn er hat einen Abschluss in Physik und Informatik: ein Werdegang, der dafür gesorgt hat, dass er nie sonderlich in Schwierigkeiten geriet - bis er das Schreiben von SF zu seiner Hauptbeschäftigung erkor. Mit Larry Niven arbeitete er am fünfteiligen Weltenflotte-Zyklus zusammen. Er lebt mit seiner Frau Ruth in Virginia.

Larry NivenEdmund M. Lerner

DIE FLOTTE DERPUPPENSPIELER

Weltenflotte-Zyklus 1

EIN ROMAN AUS DEMRINGWELT-UNIVERSUM

Aus dem Amerikanischen von Ulf Ritgen

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2007 by Larry Niven and Edward M. Lerner

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Fleet of Worlds«

Published by arrangement with Larry Niven and Edward M. Lerner

This book was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Andrea Kalbe / Ruggero Leò

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung eines Motives © shutterstock: sdecoret

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6710-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Dramatis Personae

Menschen/Besatzung der Long Pass

Diego MacMillan – Navigator

Jaime MacMillan – Schiffsärztin

Sayeed Malloum – Ingenieur

Barbara Nguyen – Captain

Menschen des Sol-Systems

Sigmund Ausfaller – Alliierte Regionale Miliz (ARM); Ermittlungsbeamter

Sangeeta Kudrin – Ranghohe Mitarbeiterin der Vereinten Nationen

Julian Forward – Physiker (Geboren auf der Welt Jinx im Sirius-System)

Miguel Sullivan – Gauner

Ashley Klein – Gaunerin

Kolonisten der Konkordanz/Besatzung der Explorer

Kirsten Quinn-Kovacs – Navigatorin und Mathematik-Genie

Omar Tanaka-Singh – Captain

Eric Huang-Mbeke – Ingenieur

Kolonisten der Konkordanz/Angehörige des Selbstverwaltungsrats von Arcadia

Sven Hebert-Draskovics – Kolonial-Archivar

Sabrina Gomez-Vanderhoff – Gouverneurin

Aaron Tremonti-Lewis – Minister für Öffentliche Sicherheit

Lacey Chung-Philips – Wirtschaftsminister

Bürger der Konkordanz

Nessus – Politoffizier an Bord der Explorer; seit Jüngstem Anhänger der Experimentalisten-Fraktion

Nike – Stellvertretender Außenminister/ radikaler Experimentalist

Eos – Parteivorsitzender der Experimentalisten-Partei, derzeitig in der Opposition

Hinterster/Sisyphus – Regierungspräsident und Vorsitzender der Konservativen Partei

Baedeker – Ingenieur bei General Products

Vesta – Nikes ranghöchster Assistent und Berater

Zeittafel

(Alle Angaben gemäß Erdstandard)

2095 – Die Eiswelt tritt ihre interstellare Reise an.

2197 – Die Long Pass entdeckt die Eiswelt in einem Lichtjahr Entfernung und sendet ein Signal.

2198 – Die Long Pass wird geentert.

2645 – Eine Supernova-Kettenreaktion im galaktischen Zentrum wird entdeckt.Die Weltenflotte flüchtet, um sich in Sicherheit zu bringen.

2650 – Erste Expedition der Explorer zur Heimatwelt der Gw’oth. Im Bekannten Weltraum nehmen die entsprechenden Abteilungen der Vereinten Nationen ihre Suche nach den kürzlich verschwundenen Puppenspielern wieder auf.Politische Krisen auf der Erde und auf Hearth spitzen sich zu.Die Kolonisten suchen nach der Wahrheit über ihre eigene Vergangenheit.Und so ergeben sich auf zahlreichen Welten gleichermaßen neue Entwicklungen.

2652 – New Terra legt einen eigenen Kurs fest.

PROLOGERDJAHR 2197

In einer Reihe flacher Kurven jagte die Long Pass über den Himmel hinweg – weil Diego MacMillan das so wollte.

Der interstellare Raum ist nicht völlig einförmig. Nicht überall finden sich im Beinahe-Vakuum des Weltalls nur wenige Wasserstoffatome pro Kubikzentimeter: Es gibt Regionen höherer Dichte, einige davon dicht genug, um dort sogar ganze Reihen von Sternen entstehen zu lassen – wenn man dem All nur genügend Zeit dafür lässt. Doch zwischen diesen Regionen gibt es überhaupt nichts. Ein Bussard-Ramjet wie die Long Pass, die mithilfe ihrer elektromagnetischen Schaufel den interstellaren Wasserstoff einsammelt und zu Helium fusioniert – und beschleunigt, indem sie das neu erzeugte Gas ausstößt –, muss sich an genau diesen dichteren Wolken entlangbewegen.

Das ist schlimmer, als es klingt: Sobald man erst einmal einen vernünftigen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit erreicht hat, rast einem jeglicher Interstellar-Müll ebenso todbringend entgegen wie kosmische Strahlung. Und die Aufgabe der EM-Schaufel eines Bussard-Ramjets ist nicht nur, das Schiff anzutreiben, sondern auch, diesen todbringenden Müll vom Lebenserhaltungssystem fernzuhalten.

Jede Simulation, die im Sol-System durchgeführt worden war, hatte zum gleichen, nicht sonderlich überzeugenden Schluss geführt: Die erforderliche Feinabstimmung des Kurses, um Dichtefluktuationen im interstellaren Medium auszunutzen, würde mit größter Wahrscheinlichkeit unergiebig sein. Zwischen Sol und dem Zielstern war dieser ›Müll‹ auf jeden Fall dicht genug. Natürlich: eine Feinabstimmung des Kurses mochte jetzt vielleicht ein wenig mehr Wasserstoff in die EM-Schaufel befördern … aber würde das ausreichen, um etwaige Kursabweichungen später zu kompensieren? Schon ein geringfügiger Umweg fraß immense Mengen kinetischer Energie. Und was würde man am Ende eines derartigen Umwegs vorfinden? Vielleicht würde man genau dort von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit wieder eingeholt, und aus dem Beinahe-Vakuum mit interstellar verteiltem Gas würde ein echtes Vakuum.

Natürlich hatten die Flatlander diese Modelle aufgestellt. Ihre Ratschläge hatte Diego MacMillan nur mit einem nichtssagenden Nicken hingenommen. Eigentlich war er selbst ja auch ein Flatlander. Dieses Prädikat hefteten Raumfahrer nun einmal jedem an, der auf der Erde geboren war. Aber Diego hatte bereits das Sol-System bereist. Und sobald die Long Pass erst einmal gestartet war, würden die Wissenschaftler dort unten keinen Einfluss mehr darauf haben, ob er das Experiment nun wagte oder nicht.

Schon seit Jahrzehnten zog die Long Pass in geschwungenen Kurven durch das All. Das war in Ordnung so. Variationen zu untersuchen, Alternativkurse zu berechnen, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen – das hielt Diego MacMillan beschäftigt. Was hatten sich die Experten denn vorgestellt? Was sollte der Navigator dieses Schiffes im Laufe der Jahrzehnte tun?

Niemals hätten sie sich vorstellen können, was Diego in seinem geradezu besessenen Bedürfnis, immer weiter in die Ferne zu spähen, eines Tages entdecken würde.

»Und womit haben wir diese Ehre verdient?«, erkundigte sich Captain Nguyen.

Damit spielte sie darauf an, dass Diego um diese Uhrzeit normalerweise schlief. Es kostete ihn echte Anstrengung, mit der Antwort nicht einfach herauszuplatzen. Eines nach dem anderen, sagte er sich. »Das werden Sie zu gegebener Zeit erfahren«, erwiderte er mit so viel gespieltem Hochmut, wie er aufbringen konnte.

An Bord des Schiffes befanden sich etwas mehr als zehntausend Personen. Die meisten davon waren Embryonen, die gemeinsam mit den dreiundvierzig erwachsenen Passagieren in Schlaftanks lagen. Die eigentliche Besatzung der Long Pass hingegen bestand aus vier Personen, die ihren Dienst in drei Schichten versahen. Waren alle vier versammelt, war der Tagesraum des Schiffes bereits überfüllt.

Diego war frühzeitig eingetroffen, um das Dekor dieses Raumes so einzustellen, dass er nicht mehr ganz so beengt wirkte. Auf der Digitaltapete verlieh ein saftig-grüner Wald, der sich sanft im Wind wog – die Vorhügel der Anden, die Diego aus seiner Jugend kannte – dem Raum eine beachtliche virtuelle Tiefe. Schäfchenwolken jagten über den leuchtend blauen Himmel hinweg … Diesen Höhlenparks, die seine Belter-Kollegen für normal hielten, konnte er nichts abgewinnen. Laub raschelte, leises Summen von Insekten war zu hören – in glasklarem Surround-Sound. Fast eine ganze Wand des Raumes nahm ein Bergsee ein, an den sich Diego nur zu gut erinnerte. Im Augenblick durchpflügte ein schnittiges zweifarbiges Motorboot das Gewässer; der Innenbordmotor mit seinen 100 PS war zu einem kaum hörbaren Schnurren gedrosselt.

Doch leider konnte nichts diesen allgegenwärtigen Geruch wiederaufbereiteter Luft vertreiben oder verbergen. Und ebenso wenig konnten die urigen Holzplanken, die der in den Tisch im Tagesraum eingebaute Holoprojektor gerade auf seine Oberfläche projizierte, überzeugend darüber hinwegtäuschen, dass man unter seinen Fingern spiegelglattes Plastahl fühlte. Diego veränderte die Einstellungen der Kabine, drehte das Zwitschern und Trällern auf fast unhörbare Lautstärke, während seine neugierigen Schiffskameraden sich Kaffee und Snacks aus dem Synthesizer holten.

Als Erste nahm Barbara Nguyen Platz. Sie war hochgewachsen und schlaksig – ganz typisch für Belter. Ihren Schädel hatte sie fast vollständig kahlrasiert, abgesehen von einem schwarzen Hahnenkamm, der sehr an einen Kakadu erinnerte. Auch das war bei Beltern durchaus nicht unüblich. Sie war Captain dieses Schiffes und die mit Abstand Vorsichtigste an Bord. Was dabei Ursache und was Wirkung sein mochte, blieb Diego nach wie vor verschlossen, sosehr er darüber auch nachgrübelte. Während ihrer gesamten – bislang völlig ereignislosen – Reise hatte Nguyen stets dafür gesorgt, dass sämtliche Entscheidungen durch Konsensbeschluss gefällt wurden. Wenn Diego ein wenig Glück hatte, war ihr diese ›Suche nach dem Konsens‹ inzwischen zu einer echten Angewohnheit geworden.

Sayeed Malloum, ihr Ingenieur, war sogar noch größer, für einen Belter jedoch recht untersetzt. Jeder von ihnen bewältigte die Langeweile auf eigene Art und Weise. Seit einigen Wochen hatte Sayeed ein Faible dafür entwickelt, sich den Haarkamm und die Einweg-Schutzanzüge in dazu passenden Tönen einzufärben: An diesem Tag hatte er sich für eine Kombination aus Neongrün und Dunkelgelb entschieden.

Jaime MacMillan, Schiffsärztin und seit mittlerweile fünfzig Jahren mit Diego verheiratet, ließ sich in den letzten noch freien Sessel sinken. Sie hatte die Figur einer Erdbewohnerin und war mit ihren 1,80 Meter fast genauso groß wie ihr Mann. In jeder anderen Hinsicht bestätigte sie jedoch die alte Weisheit, Gegensätze würden sich anziehen: Jaime war schlank und anmutig, Diego hingegen so untersetzt, dass man kaum umhin kam, das Wort ›Schmerbauch‹ zu benutzen. Und während sie blond und hellhäutig war, wirkte Diego auffallend dunkel, geradezu düster. Natürlich fiel gerade Letzteres hier besonders auf, weil man an Bord des Schiffes die natürlichen Hautfarben erkennen konnte: So unendlich weit von der Erde entfernt, hatten die Flatlander auf eine Ganzkörperbemalung und die aufwändigen Muster auf der Haut, wie sie in ihrer Heimatwelt üblich waren, verzichtet.

Jaime hatte die Hand unter der Tischplatte verschwinden lassen und tätschelte Diego beruhigend das Knie, auch wenn nicht einmal sie wusste, weswegen ihr Mann die gesamte Besatzung zusammengerufen hatte. Überrascht bemerkte Diego, dass Jaime ihren Overall mit dem Tartan-Muster des MacMillan-Clans überzogen hatte: ein weiteres, stilles Zeichen absoluten Vertrauens. Wie beunruhigt hatte er denn bloß gewirkt?

Barbara räusperte sich. »Jetzt spuck’s schon aus, Diego! Warum hast du uns alle hier zusammengerufen?«

Ach, wie sehr alle Details, alle Analysen, sämtliche Terabytes an Spezifikationen in seinen persönlichen Aufzeichnungen danach schrien, endlich freigelassen zu werden! Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. »Schaut her.« Über diesem Trugbild eines gemütlichen Tisches tauchte jetzt ein Navigations-Holo auf. Inmitten der nächstgelegenen Sterne – winzige rosafarbene, orangeweiße und gelbweiße Lichtpünktchen – glomm eine leuchtend grüne, sternförmige Markierung: Sie sind hier. Während seine Freunde noch verständnisvoll nickten, überlagerte Diego das Sternenpanorama mit einer mattgrauen, filigranen 3 D-Struktur. Ob sie es erkennen würden? »Hier sehen wir Dichteschwankungen im interstellaren Gas und Staub.«

Sayeed zog seine Stirn in Falten. Offensichtlich rechnete er wieder einmal mit einem ausschweifenden Plädoyer dafür, dass man doch eine kleine Abweichung vom ursprünglich vorgesehenen Kurs beschließen könne.

»Du hast uns schon öfter solche Dichtediagramme gezeigt. Bisher bist du dabei auch ohne jedes Tamtam ausgekommen.« Barbara blickte ihn scharf an. »Und bisher musstest du dich nie zusammennehmen, um nicht vor Aufregung in deinem Sessel auf und ab zu hüpfen!«

Worte allein würden für das hier nicht ausreichen … nicht bei Beltern. Das war nicht als Kritik gemeint! Wenn man im Inneren kleiner Felsbrocken aufwächst, ist es nicht verwunderlich, wenn gewisses Hintergrundwissen fehlt. »Jeeves«, sagte Diego, »gib uns Boot Eins.«

»Maximaler Schub, Sir, wie Sie angeordnet hatten.« Das virtuelle Schnellboot wendete, bis sie alle vor sich Heck und Ufer sahen. Tosend hob sich der Bug des Bootes aus dem Wasser. Sofort entstand eine gewaltige, v-förmige Bugwelle. Diego behielt das Boot im Auge, während es sich immer weiter entfernte. Es war deutlich zu erkennen, dass die Wellen kleiner und kleiner wurden, je weiter sie sich ausbreiteten.

Sayeeds Blick zuckte zwischen dem simulierten See und der 3 D-Darstellung, die immer noch über der Tischplatte schwebte, hin und her. »Man kann in dem interstellaren Gas eine Stoßwelle erkennen! Eine … eine Bugwelle.«

Konzentriert kniff Barbara die Augen zusammen. »Ich gebe zu, dass ich tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit erkennen kann, aber wir vergleichen hier doch lediglich zwei Simulationen miteinander! Diego, sind die Daten, auf denen das hier basiert, wirklich zuverlässig?«

Es wäre jetzt so einfach gewesen, sich in Details zu ergehen, Jahre der Beobachtung und der Messung zu erwähnen, zu erläutern, wie die einzelnen Beobachtungsdaten angesichts des stetig beschleunigenden Referenzrahmens des Schiffes zunächst auf einen stationären Referenzrahmen umgerechnet werden mussten. Man hätte auch über Abschätzungen und Korrekturen sprechen können, die aufgrund der Perturbationen des Sternwindes erforderlich wurden. Stundenlang hätte Diego darüber referieren können, wie oft er vergeblich versucht hatte, diese Messdaten mit den Vermessungsdaten zu korrelieren, die sie aus dem Sol-System mitgebracht hatten. Zu gerne hätte er die Extrapolation des gesamten resultierenden Musters erläutert, von dem sie alle bisher nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt gesehen hatten, trotz so vieler Jahre und so vieler Lichtjahre der Beobachtung.

In seinen Augen musste es verräterisch-fanatisch gefunkelt haben, denn jetzt warf Jaime ihm einen Blick zu, der Diego sehr deutlich ins Gedächtnis zurückrief, dass es einen feinen Unterschied zwischen ›erschreckend schlau‹ und einfach nur ›erschreckend‹ gab. Also beschränkte sich Diego in seiner Antwort auf ein zuversichtliches Nicken.

»Ich möchte mir das später noch genauer ansehen«, entschied Barbara. »Ich werde das Schritt für Schritt durchgehen. Nimm es mir nicht übel, aber das ist nun einmal das Vorrecht eines Captains.«

»Was könnte eine solche Bugwelle denn hervorgerufen haben?«, fragte Sayeed.

Das war genau die richtige Frage gewesen. Diego startete eine weitere Simulation. Auf dem Stellar-Display nahm jetzt eine fast einheitliche Hintergrundströmung den Platz der durchscheinenden Wellen ein. Diese Daten basierten auf jahrhundertealten Messungen. »Das, was wir jetzt sehen, entspricht genau dem, was wir hier erwartet hatten. Und … jetzt!«

In dem Holo flammte ein neuer Lichtpunkt auf: leuchtend violett. Während er schneller und schneller wurde, ließ er die 3 D-Stoßwelle entstehen.

Jaime erhob sich und zwängte sich hinter Diegos Sessel, um das Hologramm aus einem anderen Winkel betrachten zu können. Dann schob sie den Zeigefinger geradewegs in die Darstellung hinein. »Das heißt also: Was immer diese Welle hier hervorruft, befindet sich dort, ja?«

»Selbstverständlich läuft diese Simulation hier schneller als in Echtzeit ab. Ich habe euch allen keine Möglichkeit gegeben, den Kompressionsfaktor abzuschätzen. Das Objekt, das diese Welle hervorruft, bewegt sich mit einem Zehntel der Lichtgeschwindigkeit, und wir sind fast ein Lichtjahr davon entfernt. Um es anschauen zu können, müssen wir den Punkt anvisieren …« Diego nahm einige Feineinstellungen im Programm vor, und eine rückwärtsgerichtete Flugbahn materialisierte sich. »… an dem sich das Objekt befunden hat.«

Jetzt stellte Diego eine Verbindung zwischen dem Hauptteleskop und dem Display her. Eine dunkle Kugel entstand. Sie schimmerte matt in der Falschfarben-Darstellung, die für den Infrarotbereich so charakteristisch war. Unter einer alles einhüllenden Eisdecke ließen sich Bergspitzen und die Umrisse mehrerer Kontinente erahnen.

Sayeed beugte sich ein wenig vor, um einzelne Anmerkungen lesen zu können, die neben dieser Kugel in der Luft schwebten. »Eine erdgroße Welt. Irgendwann in der Vergangenheit war sie sogar erdartig, aber seitdem sind die Ozeane und auch die Atmosphäre gefroren. Diese Welt ist ein wenig wärmer als der interstellare Hintergrund … Deswegen können wir sie überhaupt erkennen. Ursache dafür könnte die durchsickernde Strahlung eines radioaktiven Kerns des Planeten sein. Und aus irgendeinem Grund, sagst du, rast er mit einem Zehntel der Lichtgeschwindigkeit hier durch die Gegend. Wie ist das möglich?«

Barbara schüttelte den Kopf – so heftig, dass ihr Haarkamm zitterte. »Eine berechtigte Frage – aber ich glaube, ich habe noch eine viel grundlegendere. Diego, du hättest uns gleich zeigen können, was du gefunden hast. Warum hast du das nicht getan?«

»Weil es nicht nur um einen Planeten geht, der hier überhaupt nicht hingehört. Mir ist es wichtig, dass ihr alle die jahrelangen Messungen und das Modell akzeptiert, die uns überhaupt erst dazu gebracht haben, ausgerechnet hier nachzuschauen.« Diego holte tief Luft. Würden sie ihm glauben? »Die Messungen und das Modell belegen eindeutig, dass diese Welt mit einer Kraft von 0.001 G stetig beschleunigt wird.

Irgendjemand bewegt diesen Planeten – und dieser Jemand verfügt über eine Technologie, die wir uns nicht einmal vorstellen können.«

»Bist du wach?«

Diego war sich ziemlich sicher, dass ihm jemand in die Rippen gepiekst hatte, um auf jeden Fall eine positive Antwort zu erhalten. »Hmm-hmmm«, murmelte er schläfrig. »Worum geht’s denn?«

Jaime hatte sich auf einen Ellenbogen gestützt. Ihr langes Haar war völlig zerzaust, so unruhig hatte sie sich hin und her gewälzt. Jetzt blickte sie ihren Mann konzentriert an. »Machen wir hier wirklich das Richtige?«

Seit Tagen gingen die vier genau diese Frage wieder und wieder durch. Selbst Nguyen war herübergekommen. Morgen war der große Tag.

Doch in der Dunkelheit fühlten sich Entscheidungen immer anders an als bei Licht. »Jeeves, Beleuchtung auf ein Viertel der Leistung stellen«, wies Diego den Bordcomputer an. Immerhin war der Rechner schlau genug, dem Befehl wortlos Folge zu leisten. »Süße, wir hatten uns doch alle geeinigt. Wir können diese Entscheidung nicht der Erde überlassen! Die ist fast fünfzehn Lichtjahre entfernt. Jetzt können die natürlich diesen Aliens ein Signal unmittelbar zukommen lassen – aber das werden die ganz bestimmt nicht tun, schließlich wissen die ja nicht, ob dieser Planet nicht in der Zwischenzeit seinen Kurs wieder ändert. Oder sie werden uns einfach sagen, dass wir das übernehmen sollen. Wie dem auch sei, das würde in beiden Fällen lediglich zu einer Verzögerung von fast dreißig Jahren führen. Und was haben wir davon?« Vergeblich versuchte Diego, ein Gähnen zu unterdrücken.

Dann überraschte seine Frau ihn. »Das habe ich gar nicht gemeint. Vielleicht sollten wir überhaupt keinen Kontakt mit denen aufnehmen. Was, wenn die … feindselig sind?«

Dieser Gedanke sorgte dafür, dass Diego endgültig wach wurde. Jemand anderem gewalttätige Neigungen zu unterstellen war an sich eine sehr gute Methode, dafür zu sorgen, unter ärztliche Aufsicht gestellt zu werden … aber die Ärztin dieses Schiffes war ja nun Jaime. »Fortgeschrittenere Zivilisationen sind friedlich«, gab Diego vorsichtig zu bedenken.

»Ich weiß.« Jaime spreizte die Finger und fuhr sich damit durch das zerzauste Haar. »Der Krieg als gesellschaftliche Psychose. Nachdem wir die Ressourcen eines gesamten Sonnensystems zu unserer Verfügung haben und das Fruchtbarkeits-Komitee jegliche Überbevölkerung verhindert, herrscht seit mehr als einem Jahrhundert Frieden. Wir haben das Zeitalter der Gewalt zusammen mit dem des Mangels und der Knappheit hinter uns gelassen, und genau das waren die Dinge, die dereinst die Geisteskranken dazu genutzt haben, Gewalt zu rechtfertigen.« Jaime leierte diese Worte herunter wie einen säkularen Katechismus … und eigentlich waren sie auch nichts anderes. »Und die …« – es war nicht notwendig, ein Beziehungswort zu verwenden – »… bewegen ganze Welten. Warum sollten die irgendetwas von dem begehren, was die Menschheit ihr Eigen nennt?«

Sie zitterte! Diego setzte sich auf und legte seiner Frau den Arm um die Schultern. »Was macht dir denn dann solche Sorgen?«

Sie kuschelte sich an ihn. »Weil Aliens doch nun zweifellos sehr fremdartig sein müssen, oder nicht? Können wir über deren soziale Entwicklung überhaupt irgendetwas sagen?«

»Können wir es wirklich wagen, für die gesamte Menschheit die Entscheidung zu treffen, keinen Kontakt mit denen aufzunehmen? Wir sind fast ein Lichtjahr weit entfernt. Wir bewegen uns mit dreißig Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Diese Eiswelt bewegt sich mit einem Zehntel c, und sie beschleunigt weiter. Alleine schon, sie nur über Komm-Laser kontaktieren zu wollen, setzt eine immense Extrapolation und ein ordentliches Gottvertrauen voraus. Wenn wir das jetzt noch an die Erde weiterleiten, dann könnten wir die Gelegenheit, sie mit Sicherheit zu erreichen, einfach verpassen.« Diego küsste seine Frau auf den Scheitel.

»Wir treffen diese Entscheidung nicht nur für uns selbst«, sagte sie leise.

»Es gibt einen Grund, warum unsere Computer, genau wie die Computer anderer Raumschiffe, immer mit dem Standard-Protokoll, das die Vereinten Nationen für einen Erstkontakt ausgearbeitet haben, ausgestattet sind. Und wenn die uns mit diesem Protokoll ausgeschickt haben, dann haben sie damit auch deutlich gemacht, dass es sehr gut möglich sein könnte, dass wir …«

»Ich meine unsere Kinder.« Jaime setzte sich jetzt aufrecht hin, achtete dabei aber sorgfältig darauf, weiterhin in seinem Arm zu bleiben. »Diego, die sind vielleicht im Augenblick nur tiefgefrorene kleine Zellhaufen – zwei unter tausenden –, aber die Entscheidung, die wir hier treffen, betrifft auch sie.«

Die Kinder, die ihnen nur deswegen zugestanden worden waren, weil sie das Sol-System verließen. »Ich denke, Gefährten im All zu haben wäre für sie ein wunderbares Geschenk.«

Lange Zeit war nur das allgegenwärtige Summen der Ventilatoren zu hören. Dann sagte Jaime: »Vielleicht mache ich mir unnötige Sorgen. Möglicherweise bekommen wir auf unser Signal nicht einmal eine Antwort. Ist ja auch möglich, dass irgendein ungewöhnliches natürliches Phänomen die Bewegung dieses Planeten hervorruft.« Sie drückte ihrem Mann die Hand. »Die erste intelligente außerirdische Lebensform oder eine grundlegend neue Kraft im Universum – was immer es sein mag, du hast auf jeden Fall eine verdammt interessante Entdeckung gemacht.«

Falls die Beschleunigung konstant war, musste diese Eiswelt etwa ein Jahrhundert benötigt haben, um ihre derzeitige Geschwindigkeit zu erreichen. In diesem Zeitraum hätte sie etwas mehr als fünf Lichtjahre zurückgelegt. Wenn man den Kurs dieser Welt zurückverfolgte, so fand man in annähernd dieser Entfernung einen roten Zwergstern. Bei einer der Welten, die diesen Stern umkreisten – einem Gasriesen, gegen den der Jupiter regelrecht winzig war –, fand sich eine Lücke im Satellitensystem … Und diese Lücke befand sich in einem Gebiet, das nach allen gängigen Theorien die Entstehung von Planeten oder planetartigen Objekten ermöglichte. »Natürlich könnte es eine natürliche Ursache haben«, pflichtete Diego seiner Frau bei.

Aber er glaubte es nicht.

Die üblichen Ereignisse an Bord des Schiffes sahen folgendermaßen aus: Es gab keine. Selbst wenn das Schiff mit maximaler Geschwindigkeit fuhr, konnte man sich zwischen den seltenen Augenblicken, in denen man auf hinreichend große Staubkörner traf, doch sehr schnell langweilen. Und so wurde jeder Vorschlag für eine Feier stets begeistert angenommen.

Da es ansonsten nur vier Geburtstage und einen Neujahrstag zu feiern gab, blieb sehr viel Zeit für geistlose Routine. Und was den Neujahrstag betraf, so konnte sich Diego stets aufs Neue darüber ereifern, wie unsinnig es war, einem beliebigen, rein zufällig betrachteten Punkt in der Umlaufbahn eines zunehmend weiter entfernten Planeten genügend Bedeutung beizumessen und ihn zum Anlass für eine Feier zu nehmen.

Die Flüssigkeit in Diegos Glas entstammte zweifellos der heutigen Ernte. »Jeeves, hast du das Zeug mal probiert?«

»Harmlos«, erwiderte das Jeeves-Programm. »Größtenteils harmlos.«

»Mir auch recht.« Diego hob das Glas. Echter edler Wein hätte den Synthesizer gewaltig überfordert. Doch heute hatten die vier Personen an Bord wirklich etwas Richtiges zu feiern. Schon vor Monaten war aus der Beschreibung des fremden Planeten – ›Eiswelt‹ – ein Eigenname geworden. Und vor mehr als einem Jahr sollte Eiswelt die Laserbotschaft für den Erstkontakt erhalten haben. ›Sollte‹ … Dass ein so einfaches Wort derart viel Aussagekraft bergen konnte! Die Besatzung hatte den Kommunikatorstrahl auf einen Punkt ausgerichtet, den dieser rasende Planet erreichen musste, falls er ohne Unterbrechung und mit konstanter Beschleunigung exakt diesen Kurs beibehielt.

Und genau das hatte er getan.

Über dem Tisch im Tagesraum schimmerte eine Miniaturdarstellung von Eiswelt – auf diese Dekoration hatten sich sofort alle einigen können. Nach Monaten kontinuierlicher Beobachtung lagen ihnen jetzt Details vor, die weit über das hinausgingen, was Diego seinerzeit seinen Schiffskameraden hatte präsentieren können.

Seine Schiffskameraden! Diego zuckte zusammen und widmete seine Aufmerksamkeit jetzt wieder der kleinen Party. Jaime lächelte ihn wissend an. »Auf neue Freunde!« Gläser klirrten, einige Tropfen spritzten, dann wurde begeistert getrunken.

Sayeed zuckte mit den Schultern. Die Unerschütterlichkeit, mit der Eiswelt seine Bahn zog und in der seine Kollegen ein Anzeichen für das aktive Eingreifen einer intelligenten Lebensform sahen, war für Sayeed nur die Folge einer natürlichen – wenngleich noch unbekannten – Kraft. In einem jedoch waren sich alle einig: Mindestens einer von ihnen täuschte sich hier gewaltig. Noch lange, nachdem die ersten Pulsare entdeckt und als solche identifiziert worden waren, erinnerten sich die Astronomen daran, wie hastig man diese himmlischen Rhythmen Außerirdischen zuschreiben wollte. Und niemand hier an Bord hatte die Absicht, für alle Zeiten dafür berühmt zu sein, die Existenz imaginärer Aliens verkündet zu haben. Oder eben dafür, echte Aliens nicht als solche zu erkennen.

»Noch etwas länger als ein Jahr. Vielleicht auch zwei, falls die sich erst einmal zusammensetzen und darüber nachgrübeln, wie sie denn nun eigentlich reagieren sollen.« Barbara schenkte allen noch einmal von ihrem Vin très ordinaire nach. »Ich frage mich, was die wohl zu sagen haben … vorausgesetzt, da ist überhaupt jemand.«

Nach dem dritten Glas ist jegliches alkoholische Getränk genießbar. Es war ein ganz besonderer Tag, und sie hatten bereits genug dieses Weines zu sich genommen, um ihn als außerordentlich superb zu empfinden. Schließlich ließen sie Jeeves virtuelle Strohhalme ziehen. Jaime verlor. Also genehmigte sie sich ein sehr kräftiges Aufputschmittel, während die anderen zu Bett gingen.

Als Jeeves Stimme ertönte, war Diego augenblicklich wach. »Alle Mann auf die Brücke!«

Er stürmte durch die Kabinentür und rief: »Was ist los?«

Barbara erreichte die Brücke noch vor ihm – aber nur, weil ihre Kabine ein wenig näher lag. So waren Diego und Sayeed gezwungen, voller Anspannung im Korridor stehen zu bleiben: Für sie alle war die Brücke nicht groß genug.

»Ein Radar-Impuls hat uns erfasst.« Jaime wirbelte im Sessel herum und überließ ihn dann dem Captain. »Aber unsere Sensoren melden nichts.«

»Jeeves, schalt den Alarm ab.« Gnädigerweise verstummte das kreischende Heulen sofort. Barbara ließ sich in den Sessel sinken und ein Ping geben. Oberhalb der Überwachungskonsole entstand ein kugelförmiges Bild, das immer größer wurde: eine Darstellung des Raumabschnitts, den dieser Impuls bereits erreicht hatte. »Nichts«, entschied Captain Nguyen schließlich. Dann würgte sie die Aufputsch-Tablette herunter, die Jaime ihr entgegenstreckte. »Genau wie es sein sollte. Wahrscheinlich spinnt bloß einer unserer Sensoren.«

Hastig nickte Diego. Die können uns unmöglich erreicht haben.

Ein neuer Alarm plärrte los. Auf dem Boden flammten parallele Lichtleisten auf, schmerzhaft grell, und das hektische Flackern brachte Diego dazu, den geschwungenen Korridor hinabzublicken. Lautstark versiegelten sich Notschleusen; die Sirene und das laute Zischen verklangen. »Beschädigung des Schiffsrumpfs in Lager D«, erklärte Barbara. »Prüf das mal nach, Sayeed!«

In Diegos Schädel hämmerte es. Die Pillen, die Jaime ihm anbot, würgte er trocken herunter. Wieder schrillte der Alarm, und erneut war das Rauschen entweichender Luft zu hören – achtern musste der Schiffsrumpf ein weiteres Mal beschädigt worden sein. Irgendetwas riss hier Löcher in den Rumpf! Aber wenn nichts in der Nähe war – was konnte diese Schäden hervorrufen? Sie selbst fuhren mit dreißig Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Wer oder was sollte sie denn überholen? Lichtgeschwindigkeit! Die können uns unmöglich erreicht haben!

»Jaime! Platzwechsel!«

Die beiden drängten sich aneinander vorbei, dann ließ sich Diego in den Sitz neben dem Captain fallen. Radar, Lidar, Maser – keines der Instrumente meldete irgendetwas, egal auf welcher Frequenz es die Umgebung absuchte.

Oh.

»Barbara, schauen wir uns doch einfach mal um. Ohne aktive Sensoren, nur mit ganz gewöhnlichen handelsüblichen Menschenaugen.« Der Captain bedachte Diego mit einem kurzen Seitenblick. Sie waren mehrere Lichtjahre von der nächsten Sonne entfernt: Was glaubte er denn dort draußen erkennen zu können? Und wie? Und dennoch – sie ging auf seinen Vorschlag ein.

Die Außenkameras drehten sich gemeinsam mit dem Schiffsrumpf. Computer kompensierten die Rotation, die für die simulierte Schwerkraft an Bord erforderlich war; schon bald wurde ein statisches Sternenfeld auf die Brücke übertragen. Die Sterne in weiter Ferne erschienen übermäßig rot und waren sehr lichtschwach; näher gelegene Sterne loderten regelrecht und waren blauverschoben. Und neben ihnen: ein riesiger, kreisförmiger Fleck völliger Schwärze. Was auch immer hier das Licht der Sterne abhielt, es war gewaltig … oder sehr nah … oder beides. Dass es wirkte, als bewege es sich nicht, ließ nur den Schluss zu, dass es sie umkreiste und sich dabei genau der Eigenrotation des Schiffes angepasst hatte.

»Was zum tanj ist denn das?« Barbara richtete Radar und Lidar auf die geisterhafte Erscheinung. »Signale kommen immer noch keine zurück. Die Echos werden irgendwie geschluckt!«

»Die …« Jaime stockte, doch Diego konnte den Satz für sie beenden. »Die pieksen Löcher in unser Schiff! Feindlich gesinnte Aliens! Seine Frau dachte, sie würden tatsächlich angegriffen.

»Sayeed, Schadenbericht!« Undeutlich hallten Diegos Worte aus den Lautsprechern am anderen Ende des Schiffes wider. Eine Antwort erhielt er nicht.

Noch ein Alarm. Wieder wurde rauschend die Luft aus der Brücke gesogen. Lautstark schlossen sich weitere Sicherheitsschotts. »Ich kümmere mich darum!« Jaimes Stimme zitterte ein wenig, als sie losrannte.

An Bord der Long Pass gab es erschreckend wenig Privatsphäre, deswegen hatten sie sich alle schon bald nach dem Aufbruch zu dieser langen Fahrt darauf geeinigt, wenigstens auf dem Korridor die Überwachungskameras abzuschalten. Jetzt fluchte Diego leise vor sich hin, während er nach der Befehlssequenz suchte, mit der sie wieder in Betrieb genommen werden konnten. Die ersten Bildsignale kamen qualvolle Sekundenbruchteile zu spät: Gehörte dieser Schatten, der dorthinten um die Ecke verschwand, zu Sayeed? Oder zu Jaime?

Noch ein Alarm, der ihm das Trommelfell zu zerfetzen drohte, und wieder zerrte rauer Wind an Diegos Kleidung. Auch dieser Alarm verstummte, als Barbara ihn abschaltete. Was war das für ein sonderbares Getrippel?

»Druckabfall in allen Sektionen des Schiffes«, meldete der Schiffscomputer. »Ich verriegele sämtliche Innenschotts.«

»Danke, Jeeves. Gib mir die Bilder der Korridor-Kameras.«

Endlich waren sie alle wieder in Betrieb. Diego fluchte, als er Sayeed erkennen konnte. Zusammengebrochen lag sein Schiffskamerad auf dem Deck: bäuchlings, reglos.

An einer Gangkreuzung huschten schwarze Gestalten an der Kamera vorbei, zu schnell, als dass Diego sie hätte identifizieren können. Gestalten mit zahllosen Beinen: Aliens? Oder Roboter? Oder die Roboter von irgendwelchen Aliens?

Auch Barbara hatte sie gesehen. »Wir wurden geentert.«

Die Schleusentür zur Brücke explodierte, bevor Diego noch etwas entgegnen konnte. Kurz sah er durch die Trümmer schlangenartige Gliedmaßen, glaubte zu erkennen, dass irgendetwas auf ihn gerichtet wurde, und dann kam eine Vibration, die er eher spürte als hörte.

Und dann gab es nur noch Dunkelheit.

EXILERDJAHR 2650

KAPITEL 1

Alleine in seiner Kabine, deren Wände aus dem widerstandsfähigsten Material bestanden, das jemals entwickelt worden war, und geschützt durch eine dreifach verriegelte Luke, kauerte Nessus.

›Nessus‹ war eine Bezeichnung, die aus reiner Bequemlichkeit entstanden war. Sein eigentlicher Name in der Sprache der Bürger, für dessen richtige Aussprache man zwei vollständige Stimmbandsätze benötigte, war für seine Schiffskameraden auf der anderen Seite dieser robusten Luke unaussprechlich. Einmal hatte Nessus mitangehört, wie ein respektloser Kolonist bemerkt hatte, Nessus’ wahrer Name klinge wie ein vertonter Betriebsunfall.

Nessus hatte sich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt, beide Köpfe tief im Innern dieser Kugel verborgen – so sah und hörte er nichts. Er ließ seinen Muskeln gerade noch genug Spiel, um atmen zu können. Die Herdenpheromone, die kontinuierlich in der Luft des Schiffes zirkulierten, würden ihn früher oder später wieder beruhigen. Doch in der Zwischenzeit war seine Besorgnis gewiss angemessen.

Wie sollte er auch nicht in Panik geraten? Er repräsentierte eine Billion seiner Artgenossen. Nur ein winziger Bruchteil der Konkordanz konnte überhaupt den Gedanken ertragen, die Heimatwelt zu verlassen. Und doch war er jetzt hier, sogar auf sein eigenes Bestreben hin – und das nur, weil die Alternative, die diese Billion sonst betroffen hätte, noch viel undenkbarer war.

Der Angstanfall ließ ein wenig nach; vorsichtig hob Nessus einen Kopf und blickte sich zaghaft um. Sensoren, versteckt über das ganze Schiff verteilt, meldeten ihm, die Situation sei nach wie vor normal. Seine Mannschaft – drei Kolonisten – wusste entweder nichts von der derzeitigen Stimmung ihres Captains oder aber sie respektierte sie. Zwei der Kolonisten befanden sich in ihrer jeweiligen Kabine, einer davon schnarchte leise. Der dritte hielt Brückenwache.

Hatte er gerade wirklich ›normal‹ gedacht? ›Normalität‹ gab es nur auf Hearth, im altbewährten Lebensrhythmus, inmitten der wimmelnden Menge der Bürger – seinesgleichen.

Erneut rollte Nessus sich zu einer angespannten, zitternden Kugel zusammen. Solange sich keine drastischen Veränderungen ergaben – und viel Glück im Spiel war –, war alles Normale dem Untergang geweiht.

Wirklich sehen konnte man den Hyperraum nicht; eher genau das Gegenteil. Das Gehirn weigerte sich einfach zu akzeptieren, dass eine derart sonderbare Dimension existierte. Alle Objekte rings um ein Kabinenfenster herum schienen auf irgendeine Art und Weise zusammenzukommen – der Verstand weigerte sich einfach, dieses Nichts, das zwischen ihnen lag, diese Leere, zu verarbeiten. Natürlich konnte man das Fenster verdunkeln, aber jedes Stückchen abgeblätterte Farbe, jeder Spalt im Vorhang schien den Beobachter gnadenlos zu verspotten, als wolle ihn alles mit Macht darauf hinweisen, dass dahinter das absolute Nichts lag. An den Hyperraum musste man sich gewöhnen … und manchen gelang das ein ganzes Leben lang nicht.

Kirsten Quinn-Kovacs, derzeit alleine auf der Brücke, ignorierte geflissentlich das verdunkelte Fenster. Es gab genügend zu tun, und so konnte sich ihr Verstand auch mit genügend anderem beschäftigen. Alles hier war neu und wundersam. Allein schon hier an Bord sein zu dürfen war eine ungeheure Ehre.

Und stets drohte die Absonderlichkeit dieser ganzen Situation Kirsten zu übermannen.

Die Brücke der Explorer war eine Chimäre, eine räumliche Überlagerung unvorstellbarer Einzelteile. Chimäre – schon das Wort selbst war eine wunderliche Neuerung, ursprünglich da zu gedacht, ein Fabelwesen zu benennen. Nessus hatte Kirsten dieses Wort gelehrt und dabei behauptet, er habe es auf einer fremdartigen Welt in weiter, weiter Ferne kennengelernt.

Was konnte noch unvorstellbarer sein als die Tatsache, dass sie sich jetzt, in diesem Augenblick, auf dem Weg befand, einen bislang unerforschten fremdartigen Planeten zu erkunden? Natürlich war es sehr unwahrscheinlich, dass sie auch nur einen Fuß auf diese fremde Welt setzen würde, aber dennoch bot diese Reise eine unglaubliche Gelegenheit. Außer als Passagier oder bei Übungsflügen – und dann immer in Sichtweite der Weltenflotte – hatte noch kein Kolonist je ein Raumschiff betreten … bis jetzt.

Kirsten streckte sich, und ihre Pilotenliege streckte sich mit ihr. Wer auch immer dieses Möbelstück konstruiert haben mochte: Er oder sie hatte wirklich Ahnung von der Physiologie der Kolonisten. Die Antriebs- und Navigationsinstrumente in Reichweite waren ebenso einfach und intuitiv zu bedienen. Die General Products Company verstand ihr Handwerk. Kirsten konnte kaum fassen, dass die Explorer nur ein Prototyp sein sollte.

Der andere Sitz auf der Brücke, eine gepolsterte Bank, war ganz offensichtlich für Nessus gedacht. Davor stand das entsprechende Gegenstück zu der Konsole, vor der im Augenblick Kirsten saß. Im Notfall konnte sie die Anzeigen jener anderen Instrumente ablesen und interpretieren; aber sie hatte keinerlei Chance, auch nur ein einziges dieser Instrumente zu bedienen. Ihre Hände waren nicht einmal ansatzweise so geschickt oder so kräftig wie die Lippen und die Kiefer eines Bürgers.

Auch wenn die Hälfte der Sitzplätze auf der Brücke auf die Physiologie der Kolonisten ausgelegt war, hatte man den gesamten Raum doch offensichtlich nach den Standards der Bürger gestaltet: Nirgends gab es eine Ecke oder Kante. Konsolen, Sockel, Instrumente, der Verriegelungsmechanismus der Luke – alles sah aus, als sei es leicht angeschmolzen und dann wieder erstarrt. Bürger sahen in jeder scharfen Kante und jeder spitzen Ecke eine unnötige Gefahr.

Die Leere des Hyperraums flüsterte Kirsten leise zu, forderte sie spöttisch auf, doch endlich seine Existenz zu akzeptieren. Stattdessen richtete Quinn-Kovacs den Blick fest auf ihre Konsole. Das Herz der Instrumente war eine große, durchscheinende Kugel: der Massendetektor. Jede blaue Linie, die vom Mittelpunkt dieser Kugel ausging, repräsentierte einen nahe gelegenen Stern. Die Richtung des Lichtfadens zeigte dessen räumliche Orientierung an; die Länge besagte etwas über den Gravitationseinfluss dieses Sterns: Masse durch das Quadrat der Distanz. Der bei Weitem längste Lichtfaden deutete geradewegs auf Kirsten: ihr Zielort.

Die Logik besagte, dass ein oder zwei Blicke pro Wache ausreichten – selbst bei aktiviertem Hyperraumantrieb dauerte es drei Tage, um ein Lichtjahr zurückzulegen. Doch die Logik wurde zu etwas sehr Fadenscheinigem, solange diese Leere dort draußen Kirsten so sehr bedrängte. Sie erschauerte. Schiffe im Hyperraum, die sich der Singularität rings um ein stellares Massenobjekt zu sehr annäherten, verschwanden einfach. Und die dortige Mathematik war mehrdeutig: Niemand wusste, wohin diese Schiffe verschwunden waren – oder ob sie überhaupt noch existierten.

Die Überwachung der Fahrt schien ein Prozess zu sein, der sich mit Leichtigkeit würde automatisieren lassen – einfach nur den Hyperraum verlassen, sobald eine Linie sich zu sehr näherte. Aber genau das war nicht möglich. Der Massendetektor war von Natur aus ein Psi-Gerät; sein Gebrauch setzte einen aktiven Verstand voraus.

Selbst wenn man die Verantwortung für das Schiff auf drei Personen aufteilte, war der damit einhergehende Stress enorm. Im Abstand weniger Tage kehrte das Schiff in den Normalraum zurück, auch wenn es nur für einen kurzen Moment war, um sich ins Gedächtnis zurückzurufen, dass Sterne noch etwas anderes waren als hungrige Singularitäten, die nur darauf warteten, sie alle zu verschlingen.

»Erscheint eine Dreißig-Tage-Reise immer noch einfach?« Es war eine volltönende Kontraaltstimme, die wirklich alle Frauen beneidenswert fanden … und alle Männer in geradezu verstörendem Maße anziehend.

Kirsten blickte auf; das Klappern von Hufen auf dem metallenen Belag des Decks hätte sie eigentlich vor Nessus’ Eintreffen warnen sollen, und doch nahm sie diese Geräusche erst jetzt wahr.

Mit seinen beiden Köpfen – den einen hoch aufgereckt, den anderen geduckt – betrachtete Nessus Kirsten aus zwei verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig. Mit der instinktiven Vorsicht, die alle Bürger auszeichnete, war Nessus mitten in der Luke stehen geblieben, sodass er jederzeit in beide Richtungen würde flüchten können.

Schon ihr ganzes Leben lang war Kirsten den Bürgern gegenüber zu Dank verpflichtet. So war das bereits seit Generationen. Doch während Kirsten sehr wohl von den Bürgern wusste, sie respektierte und verehrte, war sie doch nur wenigen begegnet. Ebenso wie scharfe Kanten oder harte Ecken stellte ihr Volk für die meisten Bürger ein vermeidbares Risiko dar.

Jetzt, in der Einsamkeit der Leere zwischen den Sternen, sah Kirsten wieder einmal, wie unterschiedlich Bürger und Kolonisten wirklich waren.

Nessus stand auf zwei breit gespreizten Vorderbeinen und einem erstaunlich gelenkigen Hinterbein. Zwei lange, flexible Hälse reckten sich zwischen muskulösen Schultern empor. Jeder der beiden flachen, dreieckigen Schädel wies ein Ohr, ein Auge und einen Mund auf; die Zunge und die wulstigen Lippen dieser Münder dienten zugleich als Hand. Die lederartige Haut des Bürgers war matt gelblich-weiß. Nessus wies nur wenige der hellbraunen Streifen auf, die bei Bürgern an sich recht häufig vorkamen. Die zerzauste braune Mähne, die zwischen den Hälsen wuchs, bedeckte (und polsterte) den knochigen Höcker, unter dem das Gehirn lag.

Einen seiner Hälse streckte Nessus noch weiter. Die beiden Köpfe wandten sich einander zu, blickten sich gegenseitig ins Auge – Kirsten wusste, dass dies das Bürger-Gegenstück zu einem spöttischen Lächeln war. Die vollmundigen Worte, die sie zu Beginn der Reise geäußert hatte, waren nicht unbemerkt geblieben. Und trotz ihrer Verlegenheit war sie erleichtert, dass Nessus aus seiner Kabine gekommen war. Erleichtert, aber nicht überrascht: Überrascht hätte es sie, wenn er der Brücke weiterhin ferngeblieben wäre, obwohl sie sich immer weiter ihrem Ziel näherten – und den dortigen unbekannten Gefahren.

Natürlich hätte Kirsten, wenn Nessus auch in einer oder zwei weiteren Schichten noch nicht aufgetaucht wäre, den Alarmknopf betätigt. Die Aufzeichnung eines Bürgers, der vor Angst aus Leibeskräften schrie, hätte Nessus in jedem Falle auf die Brücke geholt, was auch immer ihm gerade durch die Köpfe gehen mochte.

Offensichtlich wirkte die Brücke im Augenblick ungefährlich genug: Nessus trat herein und setzte sich dann rittlings auf die dick gepolsterte Bank; dann reckte er einen der Hälse noch weiter, um von seinem Sitzplatz aus einen Blick auf den Massendetektor werfen zu können. »Wir werden bald eintreffen«, sagte er. Der Tonfall dieser einfachen Aussage stieg gegen Ende ein wenig an – das war gewiss kein Zufall.

Nessus selbst hatte das experimentelle Trainingsprogramm für Kolonisten-Kundschafter ins Leben gerufen. Gewiss war es ihm mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, seinen Schützlingen immer wieder Fragen zu stellen. Doch wie genau lautete die Frage hier? Ob sämtliche Vorbereitungen abgeschlossen worden waren, während er sich in seiner Kabine versteckt hatte? Nein, dieses Thema hätte Nessus ausschließlich dem Captain gegenüber angesprochen.

Zwanzig der Besten und Intelligentesten hatte man aus den Millionen von Kolonisten ausgewählt. Was auch immer deren Hauptberuf oder deren Interessen gewesen sein mochten – bis zu dieser Krisenzeit war jeder Kolonist, direkt oder indirekt, an der Nahrungsmittelproduktion beteiligt gewesen. Die Milliarden Bürger von Hearth benötigten gewaltige Mengen an Nahrung und hatten zugleich nur in sehr spärlichem Maße Freiflächen zurückgelassen, auf denen man die Nahrung auch hätte anbauen können. Wie Kirsten, Omar und Eric sich bei dieser Mission anstellten, würde als Antwort auf die Frage dienen, ob überhaupt ein Kind von Farmern und Umweltschützern in der Lage war, sich einer neuen Situation gewachsen zu zeigen.

Bevor sie aus der Flotte ausgeschert waren, war das größte Risiko, das die drei sich hatten vorstellen können, ein Mangel an Herausforderungen gewesen. Die nichts ahnenden Aliens, deren kaum erkennbare Radiosignale die Aufmerksamkeit von Hearth auf sich gezogen hatten, mochten sich als viel zu primitiv erweisen. Vielleicht würden sie ja der Mannschaft keinerlei Möglichkeit bieten, ihre Talente auch unter Beweis zu stellen.

Wie naiv Kirsten diese Befürchtung mittlerweile erschien!

Risiken motivierten die Bürger. Risiken und die Suche nach Möglichkeiten, ihnen auszuweichen. Wenn Nessus Kirsten hier und jetzt eine Frage stellte, war das, worum es dabei unausgesprochen ging, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit das Risiko. Er würde von ihr wissen wollen, ob sie die Gefahren verstanden hatte, die mit diesem Einsatz einhergehen mochten.

Die einzigen Aufgaben, die es im Hyperraum zu erfüllen galt, betrafen die allgemeine Wartung des Schiffes und die regelmäßige Überwachung des Massendetektors. Das eine war ermüdend, das andere nervenaufreibend. Bei einer derart kleinen Mannschaft wechselten sich alle der Reihe nach ab. Doch jetzt standen sie kurz davor, aus dem Hyperraum auszutreten, und das nicht nur für eine kurze Verschnaufpause und einen beruhigenden Blick auf den Normalraum. Wenn sie hier aus dem Hyperraum austraten, dann würde der Stern, der ihr Ziel darstellte, augenblicklich als hellstes Objekt am Himmel stehen. In diesem Augenblick würde jedes Mitglied der Mannschaft seine eigenen Aufgaben erfüllen müssen; dann waren sie nicht mehr austauschbar.

Damit würde Kirsten wieder zu einer Navigatorin werden, die sich anhand der Sterne orientieren musste.

»Wir steuern eine Umlaufbahn weit außerhalb der Singularität an«, antwortete sie, nachdem sie über den Sinn der unausgesprochenen Frage genügend Vermutungen angestellt hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie uns orten sollten, geschweige denn uns auflauern – aber sollte es dennoch so sein, werden wir den Hyperraumantrieb wieder aktivieren und sind dann sofort weg.«

Dass zwei Köpfe nachdenklich nickten – der eine oben, der andere unten –, überzeugte Kirsten davon, mit ihrer Vermutung richtig gelegen zu haben. Jetzt lächelte auch sie – aber in der Art der Kolonisten.

Mit atemberaubender Geschwindigkeit trat die Explorer aus dem Hyperraum aus.

Dass Nessus den Mut besaß, sich hier aufzuhalten, bewies, dass er definitionsgemäß wahnsinnig war. Einem geistig gesunden Bürger war Kirsten niemals begegnet, weil kein geistig gesunder Bürger Hearth jemals verließ. Keinen Augenblick lang nahm Kirsten die Hände von der Steuerung, doch unwillkürlich wanderte ihr Blick immer wieder zu ihrer Rechten, wo Nessus auf seiner Pilotenliege ruhte. Jederzeit würde er die Steuerung des Schiffes übernehmen können. Das zu wissen war zugleich beruhigend und erniedrigend.

Als die Explorer aufgebrochen war, hatte die Geschwindigkeit der Flotte ›nur‹ 0,017 Prozent der Lichtgeschwindigkeit betragen. Beim Aufbruch war Kirsten das wie ein sinnloses Kriechtempo vorgekommen, wenn man bedachte, wie viele Lichtjahre es zu überwinden galt. Doch jetzt, als sie wieder in den Normalraum eintraten, erschien ihr dieselbeGeschwindigkeit etwas völlig anderes zu sein.

Unter Nessus’ wachsamem Blick ließ Kirsten das Schiff mithilfe des Gravitationswiderstands abbremsen. Drei weitere Male vollführte sie Mikro-Sprünge in den Hyperraum und umfuhr so ihr Zielobjekt, um den Stern dann erneut zu passieren und jeweils weiter an Geschwindigkeit zu verlieren. Der Fusionsantrieb der Explorer hätte dieses Bremsmanöver deutlich beschleunigt – doch der meilenlange Flammenstrahl fusionierenden Wasserstoffs, heißer als die Oberfläche der Sterne, hätte jedem, der zum Himmel hinaufgeblickt hätte, ihre Ankunft unverkennbar mitgeteilt.

»Gut gemacht«, bemerkte Nessus schließlich.

»Danke.« Die Bemerkung ihres Mentors klang zugleich ernsthaft und vorsichtig. Während Kirsten die Explorer auf einen Orbit um den weit entfernten Stern steuerte, den sie alle bislang nur als ›G567X2‹ kannten, leitete sie einen Tiefenradar-Scan ein. Das entsprach zwar exakt den Vorschriften, doch für Kirsten war es völlig unverständlich. Neutrinos durchdrangen jegliche gewöhnliche Materie, also wonach suchten sie dann hier? »Das hat sich bewährt«, hatte die einzige Erklärung gelautet, die ihr Ausbilder ihr jemals gegeben hatte. »Nessus wird wissen, was zu tun ist, falls ein Signal zurückkehrt.«

So beschäftigt sie hier auch war, fragte sich Kirsten doch, wie die Aliens diese Sonne wohl nennen mochten. Nessus wäre das egal. Neugier legten Bürger nur dann an den Tag, wenn ihre eigene Sicherheit gefährdet sein konnte.

Vielleicht machte gerade ihre Neugier die Kolonisten zu besseren Raumerkundern, und deswegen waren sie jetzt hier. Oder vielleicht waren Kolonisten auch einfach nur entbehrlich. Ihre Eltern und Brüder dachten, Letzteres sei der Grund. Und wenn niemand bereit wäre, die vor der Flotte liegenden Regionen zu erkunden? Auf diese Frage hatte Kirstens Familie keine Antwort gewusst.

Mit einem erleichterten Seufzer nahm Kirsten die Hände von den Instrumenten. »Wir sind im Orbit«, verkündete sie über das Schiffs-Intercom. Dann wandte sie sich zu Nessus um und fügte hinzu: »Wir befinden uns in Sicherheit außerhalb der Singularität – wie versprochen.«

Nachdenklich blickte er sie an, den einen Kopf immer noch in die Höhe gereckt, den anderen gesenkt. »Gut. Hier fängt unsere Arbeit an.«

KAPITEL 2

Von dem Sonnensystem, das zu erkunden sie eine so weite Strecke zurückgelegt hatten, war mit bloßem Auge nur der Stern zu erkennen, den sie jetzt in sicherer Entfernung umkreisten. Die Instrumente meldeten einen Gasriesen und drei Gesteinsplaneten, dazu noch eine in keiner Weise ungewöhnliche Ansammlung von Asteroiden und weit abgelegenen Schneebällen.

Radiosignale hatten die Explorer hierher gerufen; derzeit kamen Radiosignale nur von einem einzigen Punkt in diesem Sonnensystem: dem dritten Mond des Gasriesen. Bei näherer Betrachtung – ›näher‹ bedeutete hier: mithilfe von Bildmaterial mit höherer Auflösung, nicht etwa aus größerer räumlicher Nähe – stellte sich heraus, dass der Mond sich in einer gebundenen Rotation mit seinem Heimatplaneten befand und von einer Eisschicht bedeckt war. Gewaltige Risse durchzogen die gesamte eisige Oberfläche. Nessus musste an eine andere Welt denken, die er vor langer Zeit einmal gesehen hatte – ›Europa‹ hatte jene Welt geheißen.

»Wahrscheinlich befindet sich unter der Eisdecke ein Wasserozean, der die gesamte Welt überzieht«, merkte Omar an. Unruhig ging er in dem schmalen Gang des Gemeinschaftsraums auf und ab, dem größten Raum im ganzen Schiff – vom Maschinenraum abgesehen, aber der war voller Gerätschaften. Eric und Kirsten hatten sich in kleine Nischen zu beiden Seiten des Gangs gekauert.

Nessus beobachtete sie von der Luke aus, während Omar ihre bisherigen Befunde zusammenfasste. Ein Großteil dessen, was besprochen wurde, waren eher ›Bestätigungen‹ als ›Entdeckungen‹. Die Instrumente der Flotte waren wirklich sehr empfindlich. Sämtliche Befunde der Mannschaft würden mit dem abgeglichen werden, was der Flotte bereits bekannt war. Nessus hoffte, dass die drei Kolonisten das bislang noch nicht herausgefunden hatten.

»… so ergibt sich nach dem Ausschlussverfahren, dass, wer auch immer für diese Radiosignale verantwortlich ist, sich unterhalb der Eisdecke befinden muss«, schloss Omar. Hin und wieder blickte er zu Nessus hinüber, wartete auf ein Zeichen der Zustimmung.

Captain Omar Tanaka-Singh war hochgewachsen und drahtig und hatte auffallende Hängeschultern. Wild zerzaustes braunes Haar – Nessus hatte sich schon gefragt, ob der Captain ganz bewusst seine eigene Frisur nachgeahmt hatte – betonte seine verkniffene Miene noch. Omar organisierte und verwaltete sämtliche Aktivitäten an Bord; für deren Festlegung jedoch war er nicht zuständig. Auch wenn er nicht diesen Titel trug, so hatte bei dieser Mission doch Nessus den Posten des ›Hintersten‹ inne – er war derjenige, der von hinten aus führte. Der Captain koordinierte die Aufgaben, so wie Nessus sie delegierte.

Bevor er für die Ausbildung zum Kundschafter ausgewählt worden war, hatte Omar als Agrikultur-Logistiker gearbeitet. Bei dieser Tätigkeit hatte er langfristige Wetterprognosen mit verfügbaren Transportmöglichkeiten korrelieren müssen, mit Pflanzenschädlings-Mutationen und noch mindestens einem weiteren Dutzend ähnlich unscharf definierten Faktoren. Diese Arbeit erforderte interdisziplinäre Analysefertigkeiten und eine große Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten gleich welcher Art. Und doch – auch wenn es natürlich wichtig war zu entscheiden, was zu pflanzen und wann zu ernten sei: In der Agrikultur änderten sich die Dinge nur langsam