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Ein Dorf an einem Fluss, eine Ruine, ein paarmal am Tag hält die Lokalbahn. Für Martha der Rückzugsort, um nach einer Reihe von Schicksalsschlägen wieder zu sich zu finden, zur Ruhe zu kommen. Zu vieles ist geschehen, als dass Martha weitermachen könnte wie bisher. Nach und nach – vom Winter bis zum Sommerbeginn – gelingt es ihr, sich dem Dorf gegenüber zu öffnen. „Ich gehe hier nicht schlafen, ohne noch wenigstens einen Augenblick zum Friedhof zu schauen. Seine Nähe beruhigt mich.“ Wie kaum eine andere Schriftstellerin sonst vermag Andrea Winkler die Dinge des Lebens – Freundschaft, Zugehörigkeit, Einsamkeit, Glück – mit einer sinnlichen, suggestiven und präzisen Sprache zu beschreiben.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Ein Dorf an einem Fluss, eine Ruine, ein paarmal am Tag hält die Lokalbahn. Für Martha der Rückzugsort, um nach einer Reihe von Schicksalsschlägen wieder zu sich zu finden, zur Ruhe zu kommen. Zu vieles ist geschehen, als dass Martha weitermachen könnte wie bisher. Nach und nach — vom Winter bis zum Sommerbeginn — gelingt es ihr, sich dem Dorf gegenüber zu öffnen. »Ich gehe hier nicht schlafen, ohne noch wenigstens einen Augenblick zum Friedhof zu schauen. Seine Nähe beruhigt mich.« Wie kaum eine andere Schriftstellerin sonst vermag Andrea Winkler die Dinge des Lebens — Freundschaft, Zugehörigkeit, Einsamkeit, Glück — mit einer sinnlichen, suggestiven und präzisen Sprache zu beschreiben.
Andrea Winkler
DIE FRAU AUF MEINER SCHULTER
Roman
Paul Zsolnay Verlag
Vor der Barke unter der Linde aber blieb ich stehen — ein Stoß nur, und die Reise hinüber fängt an.
3. Jänner
Nichts, nur ein Traum:
Josip sitzt auf dem offenen Rücksitz einer alten Postkutsche, die von vier Pferden in schnellem Galopp auf einen steilen Berg gezogen wird, und beugt seinen Kopf über ein Notizbuch, in das er Köpfe zeichnet; ich rufe ihm zu, dass Sommer ist und die Sonne scheint und Federwolken über den Himmel segeln. Sogar im Traum weiß ich, dass Josip mich nicht hören kann; ich aber rufe trotzdem. Eine Dogge schießt aus dem Wald und erschreckt mich mit ihrem Gebell so sehr, dass ich rücklings zu Boden falle und direkt in die Augen des kläffenden Hundes über mir schaue. Mir fällt nichts Besseres ein, als meine Hand auf den Mund zu legen. Die Dogge bricht vollkommen hemmungslos in Lachen aus, ich stimme ein, gegen die Ahnung, dass das Lachen nicht halten wird. Ich erwache, mitten im Lachen, von meiner eigenen Stimme: Josip trägt einen Schlafmantel, mitten im Sommer, auf dem Rücksitz einer Kutsche; was soll daraus werden?
5. Jänner
Der Schnee fällt und fällt; Jahre gab es keinen solchen Winter mehr. Kaum bog ich an den Schlitten fahrenden Kindern vorbei auf den Feldweg ab, wollte ich mich in den Schnee legen und langsam einschlafen; ich setzte meinen Spaziergang aber fort und ging weiter wie ein Mensch, der fest entschlossen ist, sich unter allen Umständen an ein paar Regeln des Alltags zu halten und, wenn während des Spaziergangs die Sehnsucht nach Schlafen im Schnee aufkommt, den Bäumen etwas zuzuflüstern. Da ich bisher selten jemandem begegnete, mit dem ich mehr als einen Gruß wechsle, gab ich dem Verlangen nach Flüstern ungehemmt nach, ja, mehr noch, mir war, als antwortete ich damit auf das im Ort herrschende Einvernehmen darüber, dass Flüstern und Sprechen mit Bäumen, Gräsern und dem Wind keiner weiteren Erklärung bedarf und unbedingt anzuerkennen ist. Wer mag, kann sich auch auf eine der Brücken stellen und ein Gedicht rezitieren, im Vertrauen darauf, dass die Schwäne, die im Fluss selbst bei Minusgraden auf und ab treiben, schweigend mit den Köpfen nicken. Es muss im späten Sommer gewesen sein, dass ich eine Frau sah, die, einen weißen Sonnenschirm in der Hand hin und her drehend, etwa in der Mitte der Brücke stehen blieb und einem Unbekannten auf der nächsten Brücke zurief: Bananen! Schamanen! Hörst du mich? Hörst du mich? Es klang wie eine Sprechprobe für das Theaterstück, mit dem hier die Mitte des Sommers gefeiert wird. Sollte ich im nächsten noch hier sein und gemäß der alten Gepflogenheit weitergespielt werden, werde ich mich als Souffleuse bewerben. Aber wozu mir über die Zukunft Gedanken machen, solange ich beim Blick aus dem Fenster nur Weiß sehe? Wie schön das ist, wie unvergleichlich schön! Sogar der Postkasten ist vollkommen eingeschneit; kein Brief, weder gestern noch heute, noch in den sieben Monaten, die ich hier bin; keine Fragen danach, ob ich mich wohl befinde, wieder voller Tatendrang sei und erfüllt von der Bereitschaft, vernünftige Arbeit zu verrichten, ganz gemäß meinen zahlreichen Möglichkeiten. Ich verneige mich vor der Leere des Postkastens, in stiller Dankbarkeit. Ich verneige mich hier überhaupt so gern! Ja, sogar wenn ich die Teppiche in den Garten trage, mit Schnee bedecke und abreibe, auf dass ihre Farben in ursprünglicher Schönheit erstrahlen, überkommt mich das Bedürfnis, eine kleine Verbeugung zu machen. Es ist so seltsam, was mit einem geschieht, wenn man lange genug allein ist; die Dinge fangen an, durchsichtig zu werden, wie von dem spröden Licht durchzogen, das an manchen Wintertagen aus den Wolken dringt, so anspruchslos, dass man sich darüber wundert, in seiner Zartheit noch nicht vergangen zu sein.
7. Jänner
Zeit, auf den Dachboden zu steigen, um nachzusehen, ob etwas da ist, womit ich mich unterhalten könnte! Ich habe eine wahre Schatztruhe gefunden, gefüllt mit alten Dokumenten, Telegrammen mit Hochzeitswünschen und einem Stapel alter Postkarten, eine davon aus einem alten Kurort und mit einer so regelmäßigen Handschrift, dass ich Lust bekam, sie abzuschreiben:
Lieber Friedrich,
ich denke an Dich, mehr als das fällt mir gar nicht ein, Dir zu schreiben. Dabei sah ich Dich gestern Nacht im Traum, ich sah Dich auf einem Weg, der auf einer Hochebene lag, einer Nebelwolke hinterhergehen, die Dich zu führen schien; zuerst dachte ich, Du würdest sie jeden Augenblick durchqueren, aber dann sah ich, dass sie, kaum warst Du knapp davor, in ihr zu verschwinden, vor Dir zurückwich. Es war ein überaus komischer Anblick! Du, wie mit einem Sprung in sie eintauchend, sie, wie mit einem Sprung, vor Dir fliehend. Eine geheimnisvolle Prozession, Ihr zwei! Sag, geht es Dir gut? Wenn nicht, komm hierher, es fehlt uns an nichts. Es grüßt Dich freundlich Dein Roland
Undenkbar, dass Friedrich in den Badeort gefahren ist, als ob er auf diese Weise seiner merkwürdigen Verbundenheit mit der Wolke hätte entrinnen können. Ob er bei seinen ständigen Sprüngen in sie hinein und doch nicht vorübergehend verrückt geworden ist? Was für eine Vorstellung, in der Weite der Landschaft so sehr mit dem Nebel vor Augen zu ringen, ohne ihn berühren zu können! Gewiss hat Friedrich deshalb sein Haus all jenen überlassen, »die aus der Zeit gefallen sind und dennoch in ihr bleiben«. Er wünscht uns allen, die wir hier für eine kurze oder lange Weile wohnen, gute Reise. Im Vertrag, den ich unterschrieben habe, als ich das Haus mietete, mit Sicherheit das merkwürdigste Dokument, unter das ich jemals meinen Namen setzte, steht es so. Ich sagte der Frau auf dem Gemeindeamt, dass ich noch nicht wüsste, wie lange ich bleiben werde, es hänge von vielen Dingen ab, über die es sich augenblicklich nicht lohne, nachzudenken; sicher aber sei, dass mein Geld eine Rolle spiele, nämlich wie lange es reiche. Sie sah mich etwas verdutzt an, vielleicht gebrauchte ich zu viele Worte. Dann drückte sie mir zwei Rattenköder in die Hand, einen für den Schuppen, einen für den Keller; eine Vorschrift der Gemeinde, gegen die selbst der tote Friedrich keinen Einwand machen kann. Seit ich hier bin, habe ich noch nie eine Maus gehört und auch im Keller keinerlei Spuren gefunden, die darauf hinweisen, dass sich hier welche tummeln. Manchmal höre ich in der Nacht etwas rascheln oder die Holztreppe knarren, aber ich kümmere mich nicht mehr darum als um die Träume, in deren Nachklang ich erwache und die ich, je nach Verlangen, notiere. Die ersten Wochen hier schlief ich und schlief, und wenn ich morgens erwachte und in den Garten ging, war mein Gehen mehr ein Taumeln. Ich legte mich in die Hängematte unter dem Kirschbaum und spähte in den Himmel, der schweigsam durch die Äste brach und, wie mir schien, nichts weiter von mir wollte. Die Geschichte von einem Mann fiel mir ein, der sich, weitab von dem Ort, an dem er lebte, in ein Haus zurückzog und tage-, ja wochenlang nichts anderes tat, als von seiner Terrasse aus einen Punkt in der Ferne zu betrachten. Er wusste nicht, was es war, manchmal ein Leuchten, dann ein finsteres Wehen, aber er fühlte, dass es ihn anzog und er eines Tages, wenn er von der Krankheit genesen wäre, die ihn jetzt in den Liegestuhl zwang, dorthin aufbrechen würde. Am Ende, nachdem er sich einen Weg durch Wälder und durchs Gestrüpp gebahnt hatte, stieß er auf ein Haus, dessen Dach kaputt war und in dem ein anderer saß, der ihm erzählte, er lebe hier mit den Schatten, die die vorüberziehenden Wolken ins Zimmer warfen; allerdings wäre es wichtig, dass jemand das Dach reparieren helfe. Eine wunderbare Aussicht!
9. Jänner
Die Nachbarin, eine sehr ernste Person, die sonntags auf einem Fahrrad den Koffer ihres Sohnes zum Zug befördert, während er im Abstand von fünf Metern hinter ihr hergeht, hat Friedrich noch gekannt; er sei, erzählte sie mir, auf dem örtlichen Friedhof begraben. Der Friedhof liegt neben der Ruine, wo im Sommer Theater gespielt wird und Brot und Wein verkauft werden; der Weg dahin führt an einem Bahnhof vorbei, der keinen Schalterbeamten mehr beschäftigt, dafür aber über dem Tor ein Schild baumeln lässt, auf dem in großen, alten Lettern BAHNHOF zu lesen ist. Alle Züge, die hier im Bedarfsfall halten, bestehen aus einem einzigen Waggon, ausgestattet mit einem Automaten, bei dem ich jederzeit eine Fahrkarte lösen kann, und Fenstern, die sich öffnen lassen, falls ich meinen Kopf hinausstrecken mag, wie in vergangenen Tagen. Wann immer ich will, kann ich von hier fortfahren, irgendwohin! Vorläufig aber trage ich einen von Friedrichs Gehstöcken zu seinem Grab und flüstere einen Gruß dazu. Wird sich nicht einer, der sein Haus niemandem aus dem engen Kreis seiner Blutsverwandten überlässt, sondern Menschen wie mir, die unter dem Kirschbaum dem Himmel für seine Wunschlosigkeit danken, als empfänglich erweisen? Lieber Friedrich, ich freue mich sehr über die Dinge, die aus Ihrer Zeit hier noch da sind, verwahrt in einer alten Truhe auf dem Dachboden und, wie ich nun auch entdeckt habe, in einem der Schränke im Keller. Was haben Sie für eine außerordentliche Menge an Gehstöcken und Regenschirmen besessen! Dass man auch, wenn man über all diese festen Gegenstände verfügt, so sehr aus der Zeit fallen kann. Vielleicht brauche ich sie im Frühling oder aber spätestens kommenden Herbst; sie sind ein Segen für mich, denn ich neige seit jeher dazu, Regenschirme bereits am ersten Tag, an dem ich sie mir zulege, irgendwo zu vergessen. Eine der Postkarten, die Sie von Roland erhalten haben, habe ich abgeschrieben, auf dass die Wolke, der Sie in Rolands Traum folgen, über meinen leeren Schreibtisch wacht, an dem ich kaum sitze. Das ist beinahe so schön wie das stille Gespräch mit den Gräsern, das ich hier wiederentdecke, und das Wiederholen eines Gedichts, das mir auf den Lippen liegt — lauter unnütze Handlungen, zu nichts da, als sogleich wieder vergessen zu werden.
11. Jänner
Ein merkwürdiger Traum: Ich fahre mit andern, die mir nur vom Sehen bekannt, in Wahrheit also unbekannt sind, in einem Aufzug und werde von der Menge, die da um mich ist, mitgerissen in einen Saal voller besetzter Sesselreihen. Ein Mann, der sehr unglücklich aussieht, hält einen Vortrag über das Sterben, in einer Art, als liefe er im Sprechen einen Berg hinauf, dem seine Kondition nicht gewachsen ist. Keine Pause, kein Innehalten — wie eben heute so gern gesprochen wird. Eine Frau, schwer und leicht zugleich, setzt sich auf meinen Schoß und ruft: Das ist alles so neu für mich, so vollkommen neu für mich! Es überwältigt mich so, überwältigt mich so ... Sie schluchzt auf, ich wühle in meinem Rucksack nach einem Taschentuch und drücke es ihr in die Hand. Der Vortragende fährt unbeirrt fort; er spricht und spricht, als hätte sich nichts gerührt, und dies in einer Gleichgültigkeit, die mich beinahe unsicher darüber werden lässt, ob der Mensch auf meinem Schoß tatsächlich zugegen ist. Ist er ein Traum? Ich greife nach ihm, er weint. Ich flüstere der Unbekannten ins Ohr, dass es einen geheimen Weg gäbe, der von hier fortführt, allerdings an dem Vortragenden vorbei, ganz nah, ganz nah. Augenblicklich schrumpft die Frau und setzt sich auf meine Schulter. Wir bewegen uns langsam in die Richtung des Vortragenden, dessen Worte immer leiser werden, je näher wir kommen. Am Ende bewegt er nur noch seine Lippen, ohne dass ihnen ein Laut entschlüpft, wobei sein Gesicht immer heller und heller wird und Josips Züge darin zum Vorschein kommen. Josip, sage ich, wir müssen durch dich hindurchgehen, lass uns! Josip lacht, und ich wache auf.
13. Jänner
Mittlerweile, da der Fluss fast ganz zugefroren ist, sind den Schwänen nur ein paar kleine Stellen übrig geblieben, wo sie ungestört mit ihren Flügeln schlagen und ihre Köpfe unter Wasser tauchen können. Bei geschlossenen Augen konnte ich hören, wie der Wind die von Reif überzogenen Weidenzweige aneinanderrieb und einen Hauch Schnee übers Eis blies. Es kam mir vor wie früher, das heißt, wie zu einer Zeit, die es nie gegeben hat oder aber immer gibt, was wohl letztlich auf dasselbe hinausläuft. Werden nicht in solcher Zeit Weisungen, die offenkundig keinen Sinn ergeben, stillschweigend übergangen und von niemandem befolgt? Ich ging mit gutem Beispiel voran, indem ich mich, in Mantel und Decke gehüllt, in einen der Liegestühle am Fluss legte, die ausschließlich den Gästen des Rehabilitationszentrums vorbehalten sind. Mein Gesicht streckte ich der Sonne entgegen, als wäre ich ein Kurgast und meine Versicherung hätte dafür bezahlt. Was für ein Anblick, wenn die Rekonvaleszenten aus dem Hotel in den Park spazieren und einander ihre Geschichten ins Ohr flüstern, Geschichten von kranken und krankmachenden Vorgesetzten, von dem Bedürfnis, am Abend die Fernbedienung des Fernsehers zu zertrümmern oder aber morgens nicht mehr aufzustehen. Plötzlich kam ich ins Gespräch: »Sie liegen hier immer herum, als wüssten Sie überhaupt nicht, was ein Problem ist.« Ich schien die Fremde zu empören. »Abgesehen davon, dass engste Angehörige verstorben sind, meine Freunde mir abhandengekommen sind und ich keinen Sinn in der Arbeit sehe, die ich immer geliebt habe, geht es mir gut.« — »Oh, mein Name ist Olenka, Sängerin ohne Engagement.« — »Martha, freut mich, seit geraumer Zeit außerhalb der Erwerbstätigkeit mäßig beschäftigt.« Olenka wählte den Liegestuhl neben mir und zündete sich eine Zigarette an; sie goss mir aus ihrer Thermoskanne einen Becher mit heißem Wein ein, den sie, ebenfalls gegen die Vorschrift des Kurhauses, mit sich herumtrug. Wir prosteten uns zu, tranken schweigend und schauten auf die Eisschollen, über die die Enten hüpften.
15. Jänner
Bis auf die Postkarten, die Friedrich erhielt, habe ich kaum etwas gelesen, seit ich hier bin, nicht einmal eine Zeitung. Was macht es? Wenn die Welt es in Jahrtausenden im Wesentlichen nicht geschafft hat, sich zu verändern, ist nicht davon auszugehen, dass sie es in den vergangenen fünf Monaten getan hat, nur weil es dem Himmel gefällt, mich in Ruhe zu lassen, und ich einem Toten Grüße schicke. Wohne ich nicht in seinem Haus? Wohnt nicht jeder im Haus eines Toten? Immerhin führe ich eine Art innere Liste über meine alltäglichen Handlungen, ich stehe auf, wie jeder Mensch es tut, ich schlafe, mehr oder weniger gut, ich träume, manchmal von Josip; ich gehe spazieren, koche mir zu essen, wasche das Geschirr und reinige die Teppiche im Schnee. Manchmal will etwas in mir bersten, und ich möchte mit einem Schlag ein Brett in der Mitte zerspalten. Tief in meinem Ohr vernehme ich einen Laut, der sich überallhin ausdehnen will; ich verlasse den gespurten Waldweg, wate knietief durch den Schnee und begreife nicht, dass ich glücklich bin. Warum nur? Alles ist doppelt in mir und will ein einziges Lied daraus singen.
17. Jänner
Immer noch Schnee, Schnee und nichts als Schnee rund um das Haus: Ich nahm einen andern als die bereits bekannten Wege aus dem Ort hinaus und stieg in schmalen Serpentinen den Berg hinauf, zu einer kleinen überdachten Aussichtsplattform, von wo es aussieht, als strömten unten im Fluss die sich lösenden Eisschollen aufwärts. Es war am Ufer kaum jemand zu sehen, der sich in die eine oder andere Richtung bewegte, die Liegestühle schienen unberührt, und selbst das in kleinen Rabatten aus der Schneedecke ragende, sich üblicherweise hin und her wiegende Schilf stand still. Ein paar Vögel sangen, und über mir zog ein Schwarm Krähen über den Himmel. Als ich mich umdrehte, war mir zumute, als käme der Weg, der sich vor mir durch den Wald zog und sich weit aufs Feld hinausstreckte, mir entgegen, nicht ich ihm, ebenso die Haselnuss- und Hagebuttensträucher, die ihn säumten, und die Bänke, auf denen jetzt niemand saß. Alles war nur dazu da, mir entgegenzugehen! Es folgten Gräser, die sich unter transparentem Eis reglos in die Höhe streckten, unbewohnte Höfe mit geheimnisvollen Toren und ein Friedhof hinter einer kleinen Kirche, auf dem eine alte Dame mit einer übergroßen Pelzmütze Wasser aus einer Gießkanne auf ein mit Schnee bedecktes Grab goss. Sie fragte mich, ob ich wüsste, welcher Tag heute sei; ich antwortete, ich glaube, es sei Donnerstag. Sie meinte, ich irre mich, es sei sicher Samstag, es mache aber nichts, es sei das Recht eines Menschen, sich zu irren; sie kenne niemanden, der nicht mindestens einmal im Leben einem schweren Irrtum aufgesessen sei; ich fürchte, rief ich ihr winkend zu, bei mir habe sich dieser Vorgang hartnäckig wiederholt. Sie bedeutete mir, noch einmal näher zu kommen. »Sagen Sie mir bitte, welchen Tag wir heute haben?« Ich wiederholte, dass Donnerstag sei, woraufhin sie traurig nickte und sagte, dass sie dann noch zwei Tage warten müsse, bis sie das Grab wieder pflegen könne. »Aber nein, bestimmt können Sie das auch heute und morgen tun.« — Sie antwortete, dass ich mich irre, aber es mache nichts, wir Menschen können gar nicht anders, als zu irren. Dennoch sei es wichtig, dass ich begreife, dass man die Blumen auf dem Grab eines Menschen, von dem man nur noch kurze Zeit getrennt sei, nicht am Donnerstag, sondern am Samstag gieße.
19. Jänner
Der Briefträger läutete, er brachte einen nachgesandten Brief:
Liebe Martha!
Ich schreibe Dir, ohne genau zu wissen, weshalb; das heißt, im Grunde weiß ich nicht genau, was ich Dir wirklich sagen will. Die Sache ist die, dass ich vor kurzem umzog und mir, als ich die Bücher aus dem Regal in den Karton stellte, eines in die Hände fiel, das Du mir geschenkt hast. Wie lange ist es her, dass wir einander nicht mehr gesehen haben? Sieben Jahre oder noch länger? Manchmal träume ich von Dir, aber Du weißt ja, dass ich alles so schnell wieder vergesse und zu faul bin, etwas aufzuschreiben. Nach wie vor macht mich die Vorstellung, dass ich irgendwo und irgendwann meinen Notizen begegne, eher nervös; am liebsten möchte ich gar nichts um mich haben, das mich an mich selbst erinnert, an all die unsinnigen Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, und die Handlungen, die ich besser hätte unterlassen sollen. Du siehst, ich habe mich wenig verändert, will aber nach wie vor die Welt verändern. Keine gute Ausgangslage! Meinen Söhnen geht es übrigens gut, sie wachsen heran und mir schon fast über den Kopf; sie werden wohl bald ausfliegen. Schon merkwürdig, dass das Erfreulichste, was man dem Leben gibt, eben das ist, was man von diesem einfach nur nimmt. Wozu die ganze Anstrengung? Und Du — was ist mit Dir? Wo bist Du? Warum haben wir uns aus den Augen verloren; warum ist unser Kontakt abgerissen? Warum stelle ich alle diese Fragen? Und, und, und — liebe Grüße, Benjamin
Ich ging mit dem Brief in der Hand von Zimmer zu Zimmer, etwa dreimal durch das ganze Haus; ich legte ihn auf das Regal zu den kleinen Bildern meiner toten Verwandten und Freunde, ich zog Mantel und Stiefel an und spazierte zur Ruine hinauf, als käme es nur darauf an, von höher oben auf den Fluss zu schauen, von dessen Rand sich das Eis abzustoßen schien, um weiterzuschwimmen. Der Zug pfiff in den Ort, hielt an und fuhr weiter, die vier Aussteigenden entfernten sich in alle Himmelsrichtungen, und ich stand da und zuckte mit den Schultern.
21. Jänner
Nichts, nur ein Traum:
Josip tritt auf die Veranda eines großen, alten, unbewohnt wirkenden Hauses. Er trägt schon wieder einen Schlafmantel und erinnert mich bereits im Traum an eine Gestalt, die mir vor Jahren in einem Buch unterkam, wo sie den gelangweilten und verschlossenen Gefährten eines Taugenichts abgab, der keinen Anstoß daran nahm, nie zu begreifen, was vor sich ging. Josip nimmt ein Opernglas aus der Manteltasche und fixiert einen Punkt in der nahen Ferne, wo ein ungeheures Gewirr unter einer Menge Menschen entsteht und einer auf den andern mit solcher Wucht einschlägt, dass ich Knochen brechen höre und Aufhören! Aufhören! schreie. Josip wendet sich mit einem gänzlich reglosen Gesicht zu mir und sagt, ich fühle nichts, überhaupt nichts, ist das seltsam? Bin ich tot und weiß es nicht? Er drückt mir das Opernglas in die Hand und bittet mich, darauf achtzugeben, bis er wiederkomme; ich erwidere, dass ich keine Verwendung dafür haben werde, es aber, wenn ihm das recht sei, in mein Regal stelle, zur Erinnerung.
22. Jänner
Es gibt im Ort kein eigenständiges Postamt mehr, aber der Gemischtwarenhandlung ist eine Trafik angeschlossen, bei der man Briefe und Pakete aufgeben und alles erwerben kann, was ein Mensch braucht, der sich einem andern mitteilen will. Ist es nicht verblüffend, dass man all diese Dinge noch nicht gänzlich verramscht hat, ebenso verblüffend wie die Tatsache, dass hier noch ein Zug verkehrt, obwohl immer nur eine Handvoll Menschen ein- und aussteigt? Noch heute werde ich meine Zeilen dahin tragen.
Lieber Benjamin,
wie ich mich über Deine so unerwarteten Zeilen gefreut habe! Sie wurden mir nachgesandt; ich befinde mich nämlich seit einiger Zeit außerhalb der gewöhnlichen Erreichbarkeit. Wie lange schon? Ich weiß es nicht, mindestens sieben Monate, aber in Wahrheit viel länger. Warum ist unser Kontakt abgerissen? Warum ist dieses geschehen und jenes? Ich habe einige Jahre nicht durchwegs, aber immer wieder einmal darüber nachgedacht, und dies und jenes ist mir dabei zu Bewusstsein gekommen, vor allem aber, dass mir immer dann, wenn ich das Unliebsame, das mir widerfährt, in lauter Verstehen und Verständnis übersetzen will, schlecht wird. Immer gibt es da eine Grenze, und ich kann noch so viel unternommen haben, auf sie zuzugehen und sie zu durchstoßen, letztlich kommt sie auf mich zu und sagt, lass es sein; sie ist absolut, verstehst Du? Sie lässt nicht mit sich handeln, und dafür liebe ich sie, wenn auch auf etwas armselige Weise. Das ist alles, was ich begriffen habe. Glaub nicht, dass es mir nicht leidtut, Dir damals keine Ohrfeige gegeben zu haben! Ich hielt unsere Freundschaft für unzerstörbar, ich dachte, sie würde selbst einem Sturm von Anfeindungen gewachsen sein. Wozu haben wir zusammen eine Idee in die Welt gesetzt, wozu jahrelang bei unseren Spaziergängen den Mond angerufen? Nur damit am Ende irgendwelche Geldgeber unseres gemeinsamen Projekts uns zu Konkurrenten machen und wir mit unsern festgewachsenen Mönchspanzern sagen: Geht uns nichts an, wollen wir nicht, dann lassen wir es. Was waren wir für Feiglinge — und Du, mit Verlaub, noch viel mehr als ich. Also hör auf, so zu tun, als wüsstest Du nicht, weshalb unser Kontakt abgerissen ist. Mag die letzte Ursache im Dunkeln bleiben dürfen, für die vorletzte sind wir selber zuständig. Aber — was kümmert mich all das? Du hast mir geschrieben, und das ist so schön, dass ich die Rüttelfalken, die gerade jetzt im Garten über dem Kirschbaum stillstehen, darüber in Kenntnis setzen werde. Wenn es Dich einmal mit Deiner ganzen Gestalt hierher verschlägt und Du mich besuchen kommst, wirst Du Dir selber ein Bild davon machen können, wie ansteckend ihre Unbeirrbarkeit bleibt, selbst, wenn gute Nachricht eintrifft. Martha
PS: Den Kindern liebe Grüße
23. Jänner
Die Tage fangen langsam an, wieder länger zu werden; wenn es zu dämmern beginnt, unterbreche ich meine Tätigkeit und setze mich für eine kurze Weile vor die Balkontür im Wohnzimmer, um den fast zur Gänze erblindeten Kater eines Nachbarn dabei zu beobachten, wie er immer pünktlich durch den Zaun schlüpft und dann so wendig seine Spuren im Schnee hinterlässt. Er schleicht ein paarmal um den Schuppen und das alte Schaukelgestell herum, das ich, falls ich im Sommer noch da sein sollte, abschleifen und streichen werde. Was weiß ich über das, was kommt? Ganz gewiss kann es nicht mehr lange dauern, bis ich in Friedrichs hinterlassenen Schränken nach Lesestoff greife und das starke Herzklopfen schwindet, das mich bisher bei jedem derartigen Versuch befallen hat. Josip hingegen darum zu bitten, nicht mehr so häufig meine Träume zu durchqueren, wäre ebenso unsinnig wie den Kater davon zu überzeugen, zuhause zu bleiben, da ihm seine langsame Erblindung erschweren wird, den Weg zurück zu finden. Ich kann doch auch vom Kirschbaum jetzt im Winter nicht verlangen zu blühen! Mag sich doch im Schlaf ereignen, was hier meine Tage wandeln wird, und ich wie im Traum alles aufschreiben, was gegen meine Einflussnahme taub ist, in mein Leben aber aufs Unbegreiflichste wirkt. Soll ich, um mich dem zu entziehen, an die Tür der örtlichen Kuranstalt klopfen und fragen, ob jemand Abhilfe weiß für ein Problem, das nichts anderes von mir zu wollen scheint als Zeit, sich breite Schwingen wachsen zu lassen und mich aufzuheben? »Guten Tag, mir entzieht sich seit Jahren alles, was ich berühre, aufs Entschlossenste, und ich sehne die Stunde herbei, in der nichts in mir mehr wissen will, weshalb.« Ich höre die Tür zur Antwort freundlich ächzen.
24. Jänner
Ein leuchtender Tag — ein von Nebel leuchtender Tag, so dicht, dass ich den Zug nahm, um einen ferne gelegenen Wald aufzusuchen und einen abseitigen, schmalen Pfad darin, der mit den gespurten, ausgetretenen Wegen verbunden ist. Der gefrorene Nebel und Schnee auf den Fichten- und Tannenästen bildete bizarre strahlenförmige Kronen, die sich überallhin ausstreckten und ineinandergriffen. Hier sitzen Könige, dachte ich. Ein Insekt mit langen Beinen und Fühlern hüpfte vor mir auf der Schneedecke, es folgte ihm ein zweites, ein drittes — sie blitzten in hellem Grün als Einziges, das weit und breit Farbe hat, wie aus einer andern Zeit hierher verirrt, mitten auf meinen Weg. Ein Mann blieb stehen und fragte mich, wo ich meine Langlaufskier vergessen hätte. Ich antwortete, zuhause, im Keller, bei Friedrichs Gehstöcken und Regenschirmen. »Sind Sie mit Friedrich verheiratet?« — »Nein, Friedrich ist tot und hat sein Haus zu sehr geringer Miete Menschen überlassen, die nichts Besseres zu tun haben, als die Tage vergehen zu lassen, ohne sich durch besondere Werke in ihren Lauf zu mischen.« — »Was muss man getan haben, damit einem dieses Glück zuteilwird?« — »Zu viel vom Falschen.« Der Mann lachte. Wenn das so ist, würde er gern einmal vorbeischauen, er sei erfahren auf diesem Gebiet. — »Bitte, gern, und bringen Sie auch Ihre Familie mit!« Der Fremde hob seinen Stock zum Gruß und fuhr weiter. Ich bog auf einen andern Pfad ab und sah in einer Pfütze kleine graue Steine durch klares Wasser schimmern, mir war, als müsste ich mich an etwas erinnern, aber als ich die Augen schloss, war weiter nichts da als klares Wasser in einer Pfütze. Ich ging und ging, bis ich wiederum in das Dorf kam, wo der Zug gehalten hatte. Kurzerhand beschloss ich, mich in der örtlichen Sauna aufzuwärmen. Das Schwatzen der auf ihren Tüchern sitzenden Männer und Frauen neben mir wurde jäh unterbrochen, als sich die Tür öffnete und eine überaus hagere Gestalt in knielanger Badehose und einem sehr traurigen, etwas eingefallenen Gesicht eintrat. Der Mann hob den Holzkübel, den er in Händen trug, in die Höhe und sagte: »Grüß euch alle zusammen, ich bin Fritz und mache euch jetzt einen Aufguss. Es wird so ablaufen: Dreimal werde ich die heißen Steine hier in diesem Becken mit Wasser beträufeln, Wasser, in das ich Öl gemischt habe, Öl aus Kräutern, die glücklich machen. Darum heißt der Aufguss auch Glücksaufguss. Ich werde euch dann mit dem Handtuch die Glücksluft zufächeln, und ihr dürft mich dabei anschauen, wie ihr meine Kollegin Lena anschaut, wenn sie euch aufgießt. Wer von euch mag, kann nach dem dritten Aufguss den Raum verlassen und sich draußen im Schnee entweder von seinem Nachbarn einen Birkenabschlag holen oder aber auch Tee trinken, der in einer Kanne vor der Tür bereitsteht. Vor allem aber seid jetzt still.« Alle gehorchten und verstummten, und nach dem dritten Aufguss schlichen sie hinaus und hielten einander ihre Rücken entgegen, um durch den anderen ein paar sanfte Schläge zu empfangen, verabreicht mit einer kleinen Rute aus Birkenästen. Sie lachten fröhlich, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, als derart berührt zu werden. Ich wickelte mich in mein Handtuch und stapfte barfuß ans Flussufer, wo ich mich endlich in den Schnee legte und einen Augenblick vollkommen vergaß, wo ich war.
26. Jänner
Da der Fluss an keiner Stelle zugefroren ist, sodass man es wagen könnte, Schlittschuh zu laufen, wenigstens eine Stunde, blieb mir nichts anderes übrig, als im Garten mein Gleichgewicht zu üben und den Griff von Friedrichs Gehstock in meine offene Hand zu legen und damit auf und ab zu balancieren und hin und herüber, hin und herüber. Ein feierliches Gefühl ergriff mich, als ob ich in solcher Bewegung gar nicht anders könnte, als der Welt mitzuteilen, dass die Staubfäden, die sich über das Schuppenfenster ziehen, zu zittern beginnen, wenn nur ein allerleichtester Windhauch sie streift. Was bezeugt denn stärker ihre Schönheit, als dass sie in der Lage sind, durch so zarte Berührung zu beben? Im Schuppen stehen zwei alte, mit gestreiftem Stoff überzogene Liegestühle, stehen da, als warteten sie seit jeher darauf, stets nur vorübergehend besessen zu werden. Vor Jahren schenkte mir Josip zum Geburtstag ein Buch, das aus dem Abdruck alter Postkarten bestand, die allesamt Haltestellen zeigten — Bilder von Raststätten auf Autobahnen, von kleinen Sitzecken in Kuranstalten und Sofas in Zimmern alter Gasthöfe, in die durch das Fenster das karge Licht endlos weiter Ebenen fiel. Auf einem der Tische stand eine Vase mit einer einzigen Hyazinthe, deren Blütenstaub durchs Zimmer wehte und im Einfall des Lichts sichtbar wurde. »Josip«, rief ich, »ich bin in deinem Geschenk angekommen. Hörst du mich? Hörst du mich?«
28. Jänner
War das eine Nacht! Kaum schlief ich ein, erwachte ich aus einem Traum, der verschwunden war und von dem nur die vage Ahnung blieb, dass Olenka draußen vor der Haustür mit einer Thermoskanne Glühwein steht und mir etwas erzählen will, eine Geschichte, mit der ihr ihr Vater, als sie Kind war, vor dem Einschlafen den Übergang in die Nacht erleichtert hatte. Ich sah ihre klaren, grünbraunen Augen und ihre Hand, die sie, wie um sich selbst zu halten, auf ihre Brust legte. Dann sang sie eine Arie aus Pergolesis Stabat Mater