Die Frau des Zoodirektors - Diane Ackerman - E-Book

Die Frau des Zoodirektors E-Book

Diane Ackerman

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Beschreibung

Eine wahre Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg

Während der Zweite Weltkrieg tobt, wird der Warschauer Zoo Schauplatz einer dramatischen Rettungsaktion, die über 300 Juden vor dem sicheren Tod bewahrt. Als Jan und Antonina Żabiński, der Zoodirektor und seine Frau, mitansehen, wie die Nazis in Polen einmarschieren, ist ihr Entsetzen groß. Die jüdische Bevölkerung wird im Warschauer Ghetto zusammengepfercht. Zeitgleich beginnen die Nazis den Zoo für ihre Zwecke zu nutzen, um ausgestorbene Tierarten rückzuzüchten. Als die Nazis den brachliegenden Zoo verlassen, nutzen die Żabińskis die Situation und schmuggeln Juden aus dem Warschauer Ghetto auf das Zoogelände, wo sie die Todgeweihten in den leeren Tierkäfigen verstecken. Sie retten ihnen damit das Leben.



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Seitenzahl: 437

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Warschau 1939. Jan Żabiński, der Direktor des international angesehenen Warschauer Zoos, und seine Frau Antonina müssen mitansehen, wie die Nazis in Polen einmarschieren und ihren Schrecken verbreiten. Die Juden werden im Warschauer Ghetto zusammengepfercht und von der Außenwelt abgeschottet. Während der Zoo unter dem Bombardement stark beschädigt wird und viele Tiere den Tod finden, beginnen die Nazis den Zoo für ihre Zwecke zu nutzen und seltene Tierarten nach Deutschland zu überführen, wo sie den Plan verfolgen, ausgestorbene Tierarten rückzuzüchten. Die Żabińskis sind vom Rassenwahn der Nazis entsetzt und versuchen ihren Einfluss zugunsten der einheimlischen Bevölkerung geltend zu machen. Als sich die Nazis aus dem brachliegenden Zoo stückweise zurückziehen, nutzen die Żabińskis die Situation und schmuggeln Juden aus dem Warschauer Ghetto auf das Zoogelände, wo sie die Todgeweihten in den leeren Tierkäfigen verstecken und ihnen so das Leben zu retten.

Die Geschichte der Żabińskis ist bei der Aufzeichnung der Kriegschroniken durch viele Raster gefallen, doch auch Jahrzehnte später ist ihr Heldenmut beeindruckend. Regisseurin Niki Caro hat die Geschichte mit Jessica Chastain, Daniel Brühl und Johan Heldenberg in den Hauptrollen verfilmt.

Antonia Żabińska

Copyright: Warschauer Zoo Archiv

DIANE ACKERMAN

DIE FRAU

des

ZOODIREKTORS

Eine Geschichte aus dem Krieg

Aus dem Amerikanischen von Christine Naegele

WILHELM HEYNE VERLAG

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE ZOOKEEPER’S WIFE

bei W. W. Norton & Company, Inc., New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2007 by Diane Ackerman

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Jürgen Teipel

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung des Originalentwurfs von Patti Ratchford

Umschlagmotive: Bridgeman Images / National Trust Photographic Library / Stephen Robson und Diane Ackerman

Gesetzt bei Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-19466-6

Für Antonina

und ihre Familie,

die menschliche und die tierische

INHALT

Anmerkung der Autorin

DIE FRAUdesZOODIREKTORS

Erläuterungen

Literaturverzeichnis

BILDTEIL

ANMERKUNG DER AUTORIN

Jan und Antonina Żabiński, ein Zoodirektor und seine Frau, waren polnische Christen, die zu Kriegszeiten durch ihre besondere Position in die Lage versetzt wurden, mehr als dreihundert todgeweihten Menschen – vornehmlich Juden – das Leben zu retten. Ihre Geschichte ist bei der Aufzeichnung der Kriegschroniken durch das Raster gefallen, wie es bei derart radikalen Aktionen im Namen der Nächstenliebe manchmal passiert. Aber im Polen des Zweiten Weltkriegs, wo man schon die Todesstrafe riskierte, wenn man einem durstigen Juden nur einen Becher Wasser reichte, ist ihr Heldenmut umso beeindruckender.

Beim Erzählen ihrer Geschichte habe ich mich vieler Quellen bedient, die meist im Literaturverzeichnis genannt sind, aber hauptsächlich der Erinnerungen (»Mein Tagebuch und sonstige Notizen«) der »Frau des Zoodirektors«, Antonina Żabińska – es sind Schilderungen, aus denen der ganze sinnliche Zauber eines Zoos spricht –; ferner ihrer autobiografischen Kinderbücher, zum BeispielDas Leben im Zoo. Ich habe Jan Żabińskis Bücher und Erinnerungen gelesen, aber auch die Interviews, die Antonina und Jan polnischen, hebräischen und jiddischen Zeitungen gaben. Immer wenn ich sage, Antonina oder Jandachten,fragten sich,fühlten, dann zitiere ich aus ihren Aufzeichnungen und Interviews. Auch den Familienfotos habe ich viel entnommen (aus ihnen weiß ich zum Beispiel, dass Jan seine Uhr am linken Handgelenk trug und Antonina eine Schwäche für gepunktete Kleider hatte). Ich habe Gespräche mit ihrem Sohn Ryszard geführt, aber auch mit Angestellten des Warschauer Zoos und mit Frauen aus Warschau, Zeitgenossinnen von Antonina, die ebenfalls im Untergrund gearbeitet haben. Ich habe Aufzeichnungen von Lutz Heck gelesen, dem damaligen Direktor des Berliner Zoos, und ich habe Museen besucht: etwa das des Warschauer Aufstands oder das Holocaust Museum in Washington, D.C. Ich habe Briefe und Erinnerungen gelesen, die von einer Gruppe während des Kriegs im Untergrund arbeitender Archivare gesammelt wurden. Diese Dokumente, die in Kästen und Milchkannen versteckt waren, befinden sich jetzt im Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Auch habe ich viele Zeugnisse gelesen, die für das israelische Programm der Gerechten unter den Völkern und für die hervorragende Shoah Foundation zusammengetragen wurden, daneben viele Briefe, Tagebücher, Predigten, Erinnerungen, Zeitungsartikel und Aufzeichnungen von Bewohnern des Warschauer Ghettos.

Doch ich musste mich auch mit den Plänen der Nazis beschäftigen, die nicht nur hofften, die Welt zu beherrschen und ihr ihre Ideologie aufzuzwingen, sondern die auch die Ökosysteme der Welt verändern wollten, indem sie Teile der Flora und Fauna diverser Länder (einschließlich ihrer Menschen) auszurotten gedachten, andererseits aber größte Anstrengungen unternahmen, bestimmte bedrohte Tierarten und deren Lebensraum zu schützen, bis hin zu dem Traum, bereits ausgestorbene Spezies wie das Wildrind und das Wisent durch Rückkreuzen wieder zum Leben zu erwecken.

Schließlich studierte ich Bücher über die Tier- und Pflanzenwelt Polens (was mir eine endlose Folge kleiner Überraschungen bescherte) und beschäftigte mich mit polnischen Sitten und Gebräuchen, der polnischen Küche und Folklore. Auch Bücher über Drogen, die die Nazis benutzten, über ihre Wissenschaftler, ihre Waffen und so manches andere gehörten dazu. Ich fand es interessant, etwas über den Chassidismus, die Kabbala und die heidnische Mystik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu erfahren, über die Wurzeln der Nazis im Okkultismus, aber auch über so handfeste Themen wie die gesellschaftliche und politische Geschichte Polens und über Lampenschirme aus dem Baltikum in jener Zeit.

Ein besonderer Dank geht an meine polnische Betreuerin, Magda Day, die die ersten sechsundzwanzig Jahre ihres Lebens in Warschau verbrachte und mir eine unschätzbare Hilfe war, und an ihre Tochter, Agata M. Okulicz-Kozaryn. Während einer Reise nach Polen gewann ich Eindrücke des Urwalds von Białowieża und vom Warschauer Zoo selbst, wo ich die alte Villa erkundete und Antoninas Wege durch die Straßen der Nachbarschaft nachschritt. Besonders dankbar bin ich Dr. Maciej Rembiszewski, dem heutigen Direktor des Warschauer Zoos, und seiner Frau, Ewa Zabonikowska, für ihre Großzügigkeit und die Zeit, die sie mir schenkten, genau wie den Zooangestellten, die uns willkommen hießen, ihr Wissen mit uns teilten und uns ihre Ressourcen zur Verfügung stellten. Mein Dank geht auch an Elizabeth Butler für ihre unermüdliche und stets ermutigende Hilfe, und an Professor Robert Jan van Pelt für seine sorgfältige Kritik.

Wie bei allen meinen Büchern stieß ich auch auf diese Geschichte durch eine persönliche Beziehung: meine Großeltern mütterlicherseits kamen aus Polen. Ich wurde, was polnisches Alltagsleben betrifft, stark von meinem Großvater beeinflusst, der in Letnia aufwuchs, einem Vorort von Przemyśl, das er vor dem Zweiten Weltkrieg verließ. Ebenso von meiner Mutter,von deren Verwandten und Freunden einige in Verstecken oder in Lagern überlebten.

Mein Großvater, der auf einem kleinen Bauernhof lebte, erzählte gern Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Eine dieser Geschichten handelt von einem kleinen Zirkus, dessen Löwe plötzlich gestorben war. Der Zirkusdirektor fragte einen armen alten Juden, ob er vielleicht als Löwe auftreten würde, und weil der Mann das Geldwirklichbrauchte, erklärte er sich bereit dazu. Der Direktor sagte: »Du musst nichts weiter tun, als das Löwenfell überziehen und im Käfig sitzen, und die Leute werden denken, du bist ein Löwe.« Das tat der Mann. Leise sagte er zu sich selbst: »Was für merkwürdige Arbeiten ich in meinem Leben doch schon gemacht habe«, als seine Gedanken von einem Geräusch unterbrochen wurden. Als er sich umdrehte, sah er einen zweiten Löwen in den Käfig schleichen, der ihn hungrig anstarrte. Geduckt und vor Angst zitternd, fiel ihm nichts anderes ein, als laut auf Hebräisch zu beten. Kaum hatte er die ersten verzweifelten Worte gesprochen: »Shema Yisrael (Höre, o Israel) …«, da stimmte der andere Löwe auch schon ein mit: »Adonai Eloheinu (der Herr unser Gott) …«, und die beiden falschen Löwen beendeten das Gebet gemeinsam. Ich hätte niemals gedacht, wie sonderbar treffend diese traditionelle Geschichte angesichts der hier erzählten historischen sein würde.

DIE FRAU DES ZOODIREKTORS

KAPITEL 1

Sommer 1935

Am Stadtrand von Warschau spielte die Morgensonne um die Stämme der blühenden Lindenbäume und kletterte langsam an den weißen Mauern einer modernen Villa aus Stuck und Glas hoch, wo der Zoodirektor und seine Frau in ihren Betten aus weißer Birke schliefen, einem hellen Holz, aus dem Kanus, Zungenspatel und Windsorstühle gemacht werden. Auf der linken Seite hatte das Schlafzimmer zwei hohe Fenster über einem Sims, der breit genug war, um darauf zu sitzen, darunter war ein kleiner Heizkörper. Auf dem Parkettfußboden, der in einem sich wiederholenden Federmuster gelegt war, lagen wärmende Orientteppiche; in der Ecke stand ein Armsessel ebenfalls aus Birkenholz.

Eine Brise hob den leichten Vorhang aus Schleierstoff gerade weit genug, um es etwas heller werden zu lassen, sodass Antonina die kaum sichtbaren Gegenstände im Raum wahrnahm und langsam wach wurde. Bald würden die Gibbons anfangen zu kreischen, und dann würde draußen ein Höllenlärm losbrechen, bei dem niemand mehr schlafen konnte, nicht einmal eine studentische Nachteule oder ein Neugeborenes. Und ganz bestimmt nicht die Frau des Zoodirektors. Auf sie warteten jeden Tag all die üblichen Haushaltspflichten, und sie war nicht nur eine gute Köchin, sondern hantierte ebenso geschickt mit Pinsel und Nähnadel. Und daneben gab es auch Probleme im Zoo, mit denen sie allein fertigwerden musste und die mitunter eine ziemliche Herausforderung sein konnten (zum Beispiel wenn es galt, ein Hyänenjunges zu beruhigen) und ihr Wissen und ihr angeborenes Können oft auf die Probe stellten.

Ihr Mann, Jan Żabiński, stand gewöhnlich vor ihr auf, zog sich die Hose und ein langärmeliges Hemd an und streifte die große Armbanduhr über sein linkes Handgelenk, ehe er leise nach unten ging. Hochgewachsen und schlank, mit einer kräftigen Nase, dunklen Augen und den breiten Schultern eines Menschen, der körperlich arbeitete, ähnelte er ihrem Vater, Antoni Erdman, einem polnischen Eisenbahningenieur, den seine Tätigkeit von St. Petersburg aus durch ganz Russland geführt hatte. Wie Jan hatte auch Antoninas Vater einen scharfen Verstand besessen; Grund genug für die Bolschewisten, ihn und seine Frau Maria, Antoninas Mutter, während der Februarrevolution 1917 als Mitglieder der Intelligenzija zu erschießen, als Antonina gerade neun war. Und wie ihr Vater war auch Jan eine Art Ingenieur. Doch die Verbindungen, die er schuf, waren zwischen Menschen und Tieren, oft genug aber auch zwischen Menschen und ihrer animalischen Natur.

Wegen seiner Glatze, die von einem dunklen Haarkranz umgeben war, brauchte Jan meist einen Hut, im Sommer gegen die Sonne und im Winter gegen die Kälte, deshalb trägt er auf fast allen Bildern, die im Freien entstanden, einen weichen Fedora, was ihm eine Aura ernster Entschlossenheit verleiht. Innenaufnahmen zeigen ihn am Schreibtisch oder in einem Rundfunkstudio; hoch konzentriert und mit entschlossenem Kinn sieht er aus wie ein Mann, der schnell gekränkt ist. Selbst in frisch rasiertem Zustand hatte er einen Fünf-Uhr-Schatten, besonders im Grübchen zwischen Mund und Nase. Seine volle, klar umrissene Oberlippe hatte zwei perfekte Spitzen: den sogenannten Amorbogen, den Frauen jener Zeit sich so gern mit dem Konturenstift malten. Das war das einzig Weibliche an ihm.

Nach dem Tod von Antoninas Eltern ließ ihre Großmutter sie in Taschkent, Usbekistan, die Schule besuchen, außerdem nahm Antonina am Konservatorium der Stadt Klavierunterricht, bis sie mit fünfzehn Jahren die Schule verließ. Ehe das Jahr um war, zogen sie nach Warschau, und Antonina lernte Fremdsprachen, Zeichnen und Malen. Sie unterrichtete ein wenig, bestand eine Prüfung als Archivarin und arbeitete dann im Archiv der Landwirtschaftlichen Hochschule von Warschau, wo sie Jan kennenlernte, damals schon Zoologe, elf Jahre älter als sie. Er hatte an der Hochschule für Bildende Künste Zeichnen und Malen gelernt; die beiden teilten eine Leidenschaft für Tiere und deren künstlerische Abbildung. Als 1929 die Stelle des Zoodirektors frei wurde (der Gründungsdirektor war nach zwei Jahren gestorben), ergriffen Jan und Antonina die Chance, eine neue Art von Zoo aufzubauen und mitten unter den Tieren zu leben. Sie heirateten 1931 und zogen auf die andere Seite der Weichsel nach Praga, ein raues Industrieviertel mit eigener Umgangssprache, auf der »falschen« Seite der Bahngleise, aber mit der Straßenbahn nur fünfzehn Minuten vom Stadtzentrum entfernt.

Früher waren Zoos immer Privatbesitz und dienten als Statussymbol. Eine Kuriositätensammlung konnte sich jeder zulegen, aber man musste Geld haben und auch ein bisschen verrückt sein, um das größte Krokodil, die älteste Schildkröte, das schwerste Nashorn und den seltensten Adler zu besitzen. Im siebzehnten Jahrhundert hielt König JohannIII.Sobieski viele exotische Tiere an seinem Hof, und reiche Adlige legten sich als Zeichen ihres Wohlstands auf ihren Gütern ebenfalls private Menagerien zu.

Polnische Wissenschaftler hatten jahrelang von einem großen Zoo in der Hauptstadt geträumt, der es mit den anderen Zoos in Europa aufnehmen konnte, besonders mit den deutschen, die weltberühmt waren. Auch die Kinder in Polen sehnten sich nach einem Zoo. In den Märchen, die man ihnen erzählte, wimmelte es nur so von sprechenden Tieren – einige fast lebensecht, andere wundersam erdichtet –, die die Fantasie anregten und auch Erwachsene in das Land ihrer Kindheit zurückversetzen konnten.

Antonina freute sich, dass ihr Zoo ein wahres Zauberland voll dieser märchenhaften Tiere war, wo Geschichten aus Büchern lebendig wurden und Menschen mit wilden Tieren reden konnten. Nur wenige Zeitgenossen würden jemals erleben, wie Pinguine in ihrer natürlichen Umgebung auf dem Bauch den Fels hinab zum Meer schlitterten, oder Gelegenheit haben, in den kanadischen Rockies auf Baumstachelschweine zu treffen, die zusammengerollt wie riesige Kiefernzapfen in einer Astgabel saßen, und sie war überzeugt, dass das Kennenlernen dieser Tiere im Zoo den Besuchern einen weiter gefassten Blick auf die Natur vermittelte, dass Namen und Lebensgewohnheiten der Tiere sie quasi personifizierte. Hier war das wilde, das gefährliche, aber zugleich auch schöne Ungeheuer, im Käfig, wohlversorgt.

Wenn der Zoo im Morgengrauen zum Leben erwachte, hörte man regelmäßig einen bestimmten Star sein Potpourri aufgeschnappter Melodien pfeifen, weiter entfernt übten Zaunkönige ihre Arpeggios, dazwischen mischten sich die Kuckucks mit ihren monotonen Rufen wie stecken gebliebene Schwarzwalduhren. Dann fingen die Gibbons mit ihren Trompetenstößen an, so laut und überdreht, dass die Wölfe und Wildhunde anfingen zu heulen, die Hyänen ihr Geschwätz anstimmten, die Löwen brüllten, die Raben krächzten, die Pfauen kreischten, das Nashorn schnaubte, die Füchse bellten und die Nilpferde grunzten. Als Nächstes verfielen die Gibbons in ihre Duette, wobei die Männchen ihre Trompetenstöße mit leisen Quietschern unterbrachen und die Weibchen in lang gezogenen Tönen ihren »Großen Ruf« brüllten. Im Zoo lebten mehrere dieser »Ehepaare«, und Gibbonpaare können zusammen ganze Opern jodeln, komplett mit Ouvertüre, Codas, Zwischenspielen, Duetten und Soli.

Antonina und Jan hatten gelernt, statt mit Uhrzeiten in erster Linie mit Tages- und Jahreszeiten zu leben. Natürlich mussten auch sie sich, wie fast alle Menschen, nach der Uhr richten, aber ihre Routine war eben nieganzRoutine, denn sie bestand aus Bedürfnissen, teils tierischen und teils menschlichen, die aufeinander abgestimmt werden mussten. Mitunter überschnitten sich die Pflichten, zum Beispiel wenn Jan spät nach Hause kam oder Antonina mitten in der Nacht aufstand, um einem Tier, zum Beispiel einer Giraffe, Geburtshilfe zu leisten (was nie ganz einfach ist, denn die Mutter entbindet im Stehen, das Kalb fällt kopfunter zu Boden, und eigentlich will die Mutter auch gar keine Hilfe). Jeder Tag war anders, und obwohl die Probleme schwierig sein konnten, war ihr Leben dadurch doch voll kleiner, willkommener Überraschungen.

Eine Glastür in Antoninas Schlafzimmer führte im ersten Stock auf der Rückseite des Hauses auf eine breite Terrasse, die von den drei Schlafzimmern und einem engen Lagerraum aus erreicht werden konnte, den man den Speicher nannte. Wenn Antonina hier stand, konnte sie in die Wipfel der Nadelbäume blicken, über die Fliederbüsche hinweg, die man vor die sechs hohen Wohnzimmerfenster gepflanzt hatte, um den vom Fluss her kommenden Wind zu mildern und den Duft nach innen zu tragen. An warmen Frühlingstagen schwankten die lila Dolden des Flieders wie Weihrauchfässer. Wenn man auf dieser Terrasse sitzt und die Luft auf Höhe der Tannen und Ginkgos atmet, wird man ein Geschöpf der Bäume. Im Morgengrauen zieren Tausende von glitzernden Tauperlen den Wacholder, dann schweift der Blick über die schweren, knorrigen Äste einer Eiche hinter dem Fasanenhaus.

Etwa fünfzig Meter weiter, an der Ratuszowa-Straße, liegt das Haupttor des Zoos. Wenn man die Straße überquert, steht man vor dem Praski-Park, einem Treffpunkt für viele Warschauer, wo an warmen Tagen die winzigen hellgelben Quasten der blühenden Linden, begleitet vom Gesumme der Bienen, ihren Duft verströmen.

Traditionell ist die Linde der Inbegriff des Sommers – auf Polnisch heißt sieLipa, undLipiecist der Juli. Im heidnischen Brauchtum war die Linde der Liebesgöttin geweiht. Nach der Christianisierung wurde sie ein Zufluchtsort Marias, und bis heute beten Wanderer und Reisende vor den Marienaltären, die am Straßenrand unter Linden stehen. In Warschau gibt es Linden in Parks, auf Friedhöfen und auf Marktplätzen, und auch viele Straßen sind von ihren dicht belaubten Kronen gesäumt. Sie locken Bienen an, die als Gottes kleine Dienerinnen verehrt werden und dafür sorgen, dass es Honig für den Tisch und Wachskerzen für die Kirchen gibt, weswegen auch vor vielen Kirchen Linden stehen. Die Verbindung zwischen Bienen und Kirche war einst so eng, dass die Bewohner von Mazowsze, einem kleinen Dorf nordwestlich von Warschau, ein Gesetz erließen, das Honigdiebe und Menschen, die Bienenstöcke zerstörten, zum Tode verurteilte.

Zu Antoninas Zeit waren die Gesetze nicht mehr so grausam, aber immer noch waren die Bienen den Menschen wichtig, und auch Jan hatte ein paar Bienenstöcke am äußersten Rand des Zoos, zusammengedrängt wie Stammeshütten. Die Hausfrauen gebrauchten den Honig, um Eiskaffee zu süßen oder auch fürKrupnik, heißen Wodka mit Honig, oder umPiernikzu backen, einen gewürzten Honigkuchen, oderPierniczki, die gewürzten Honigplätzchen. Sie tranken Lindenblütentee gegen Erkältungen oder zur Beruhigung der Nerven. Jedes Mal, wenn Antonina um diese Jahreszeit den Park durchquerte, sei es, um zur Bushaltestelle, zur Kirche oder zum Markt zu gehen, lief sie durch duftende Gassen, die von Halbwahrheiten nur so summten – denn in der Sprache der Bewohner hier warLipaauch der Ausdruck für eine Notlüge.

Auf der anderen Seite des Flusses erhob sich die Stadtsilhouette aus dem Morgennebel wie ein Schriftzug mit unsichtbarer Tinte – zuerst nur die Dächer mit den Terrakottaziegeln – und dann, ganz allmählich, eine Serie von Reihenhäusern in einem Regenbogen aus Meergrün, Rosa, Gelb, Rot, Kupfer und Beige, die die Kopfsteinstraßen zum Marktplatz säumten.

In den 1930er-Jahren hatte auch der Stadtteil Praga einen Markt, nicht weit von der Wodkafabrik in der Ząbkowska-(Zahn-)Straße, die aussah wie eine gedrungene Burg. Aber hier ging es nicht so elegant zu wie in der Altstadt, wo Dutzende von Händlern unter gelben und braunen Markisen ihre Handwerkskunst, Gartenerzeugnisse und sonstige Lebensmittel anboten, wo man Schaufenster voll Bernstein aus der Ostsee bewundern konnte und ein dressierter Papagei einem für ein paar Groschen ein Papierröllchen mit einem Horoskop aus dem Topf zog.

Gleich hinter der Altstadt lag das große Judenviertel: verwirrende Straßen, Perücken tragende Frauen, Männer mit Schläfenlocken, religiöse Tänze. Hier herrschte ein Durcheinander von Dialekten und Aromen, winzigen Geschäften, farbigen Seiden und Häusern mit flachen Dächern, wo die Eisengeländer der Balkone, schwarz oder moosgrün gestrichen, übereinander angeordnet waren wie Opernlogen, in denen statt Menschen allerdings Töpfe mit Blumen und Tomatenpflanzen thronten. Hier gab es auch eine besondere Art vonPierogi, große, etwas zäheKreplach: faustgroße Teigtaschen, gefüllt mit gewürztem Fleisch und Zwiebeln, die gekocht und oft danach noch gebraten wurden, wobei dieser letzte Schritt sie glänzend und fest werden ließ, etwa wie Brötchen.

Hier schlug das Herz der europäisch-jüdischen Kultur, hier gab es jüdisches Theater und jüdische Filme, Zeitungen und Zeitschriften, Künstler und Verlagshäuser, politische Bewegungen, Sport und literarische Clubs. Polen hatte jahrhundertelang Juden aufgenommen, die durch Pogrome aus England, Frankreich, Deutschland und Spanien vertrieben worden waren. Es gibt sogar polnische Münzen aus dem zwölften Jahrhundert, die hebräische Inschriften tragen, und die Legende erzählt, dass die Juden sich von Polen angezogen fühlten, weil der Name des Landes auf Hebräisch wie die Aufforderung klingt:Po lin(»Hier ruhe aus«). Trotzdem brodelte der Antisemitismus auch im Warschau des zwanzigsten Jahrhunderts, wo von den 1,3 Millionen Einwohnern ein Drittel Juden waren. Sie lebten überwiegend im jüdischen Viertel, aber auch in wohlhabenderen Stadtteilen, obwohl sie ihre unverkennbare Kleidung, ihre Kultur und ihre Sprache meist beibehielten; manche von ihnen sprachen gar kein Polnisch.

An einem typischen Sommermorgen lehnte Antonina an der Terrassenwand, die aprikosenfarbenen Fliesen noch nass vom Tau, sodass die Ärmel ihres roten Morgenrocks feucht wurden. Nicht alles, was hier an Brüllen, Fauchen, Kreischen und Brummen erklang, kam von außen. Einiges davon drang auch aus den Kellerräumen der Villa herauf, andere Laute kamen von der Veranda oder vom Speicher. Die Żabińskis teilten ihr Zuhause mit verwaisten neugeborenen oder kranken Zootieren, aber auch mit Haustieren. Das Füttern und die Pflege dieser Untermieter gehörte zu Antoninas Aufgaben, und jetzt meldeten sie sich lautstark.

Selbst das Wohnzimmer war für die Tiere nicht tabu. Durch seine sechs hohen Fenster, die man leicht mit Landschaftsbildern hätte verwechseln können, wurden die Grenzen zwischen innen und außen verwischt. An der rückwärtigen Wand stand ein großer Glasschrank, in dessen vielen Fächern Bücher, Zeitschriften, Vogelnester, Federn, kleine Tierschädel, Eier, Hörner und ähnliche Stücke aufbewahrt wurden. Neben einer Gruppe eckiger Sessel mit roten Kissen stand auf einem kleinen Orientteppich ein Klavier. Ganz hinten, in der wärmsten Ecke des Zimmers, gab es einen Kamin mit braun gefliestem Boden; auf dem Sims lag der sonnengebleichte Schädel eines Bisons.

Als ein Journalist die Villa besuchte, um Jan zu interviewen, wurde er von zwei Katzen überrascht, die ins Wohnzimmer kamen – die erste mit einer verbundenen Pfote, die zweite mit einem verbundenen Schwanz –, gefolgt von einem Papagei mit einem trichterförmigen Halskragen und einem Raben mit gebrochenem Flügel. Das Haus wimmelte von Tieren, was Jan lapidar abtat: »Es reicht nicht, Forschung nur aus der Distanz zu betreiben. Erst wenn man mit den Tieren zusammenlebt, lernt man etwas über ihr Verhalten und ihre Psychologie.« Bei seinen täglichen Runden durch den Zoo mit dem Fahrrad trabte immer ein großer Elch namens Adam hinter ihm her, ein untrennbarer Gefährte.

Es hatte etwas alchemistisch Anmutendes an sich, dieses enge Zusammenleben, etwa mit Löwenbabys, Wolfswelpen, jungen Affen oder Adlerküken, wenn sich in dieser zusammengewürfelten Familie zwei- und vierbeiniger Hausbewohner die Gerüche und Geräusche der Tiere mit denen der Menschen mischten, mit Kochgerüchen, menschlichem Geplauder und Gelächter. Anfangs hielt jedes neue »Familienmitglied« noch seine altgewohnten Futter- und Schlafenszeiten ein, aber allmählich stellte sich ein synchroner Tagesablauf zwischen den Tieren ein, und sie passten ihren Rhythmus einander an. Bis auf ihre Atmung allerdings, und nachts ergaben die verschiedenen Tempi der Atemgeräusche eine zoologische Kantate, die nur schwer aufzuzeichnen gewesen wäre.

Antonina identifizierte sich mit den Tieren, sie war fasziniert davon, wie sie mit allen Sinnen die Welt um sich erkundeten. Sie und Jan lernten bald, sich in Gegenwart von Raubtieren, wie zum Beispiel den großen Katzen, langsam zu bewegen, weil diese durch ihre dicht zusammenliegenden Augen ein tiefes, aber enges Gesichtsfeld haben und bei plötzlichen Bewegungen in ihrer Nähe erregt werden. Beutetiere wie Pferde oder Wild haben ein weites Gesichtsfeld (um heranschleichende Raubtiere rechtzeitig sehen zu können), aber sie geraten leicht in Panik. Der lahme gefleckte Adler, der im Keller angebunden war, war im Grunde ein geflügelter Feldstecher, und die jungen Hyänen hätten Antonina auch im Stockdunkeln gesehen. Andere Tiere nahmen es wahr, wenn sie sich näherte, sie rochen sie, hörten das leiseste Rascheln ihrer Kleidung, spürten jedes noch so kleine Vibrieren des Fußbodens oder reagierten auf den Luftzug, den sie beim Gehen verursachte. Antonina beneidete die Tiere um ihre urzeitlichen, empfindlichen Sinne; bei einem Menschen würde man derart außerordentliche Fähigkeiten für Zauberei halten.

Sie liebte es, ab und zu ihre menschliche Identität zu verlassen und die Welt mit den Augen eines Tieres zu betrachten, und oft schrieb sie auch von diesem Gesichtspunkt aus. Sie erfasste intuitiv die Ängste und Fähigkeiten der Tiere: wassie vermutlich sahen, fühlten, fürchteten, ahnten und erinnerten. Wenn sie in diese Rolle schlüpfte, machten ihre Empfindungen eine Art Seelenwanderung durch, und wie die jungen Luchse, die sie von Hand aufzog, blickte sie von dort aus hinauf in eine Welt, die aus lauten, schlenkernden Wesen bestand:

… mit kleinen oder großen Beinen, die in weichen Hausschuhen oder festen Lederschuhen gingen, leise oder laut, mit leichtem Textilgeruch oder dem Gestank von Schuhcreme. Die weichen Hausschuhe bewegten sich leise und sanft, sie stießen nicht an die Möbel, und in ihrer Nähe war man sicher … man rief »Ki-tschi, ki-tschi«, (bis) ein Kopf mit wuscheligem blondem Haar auftauchte und zwei Augen hinter großen Gläsern sich herunterbeugten … Es dauerte nicht lange, bis man herausgefunden hatte, dass die weichen Hausschuhe, der blonde Wuschelkopf und die hohe Stimme alle derselbe Gegenstand waren.

Antonina spielte oft mit solchen Identitätswechseln, und wenn sie dabei ihre Wahrnehmung mit der tierischen in Einklang brachte, behandelte sie ihre Schützlinge mit solch hingebungsvoller Neugier und einem Einfühlungsvermögen, dass diese sich entspannten und ruhig wurden. Ihre frappierende Fähigkeit, unruhige Tiere zu beruhigen, brachte ihr den Respekt der Tierpfleger und ihres Mannes ein, der zwar behauptete, all das wissenschaftlich erklären zu können, ihre Gabe aber dennoch bemerkenswert und geheimnisvoll fand.

Jan, der überzeugte Wissenschaftler, musste Antonina, wenn es um Tiere ging, »metaphysische Wellen« eines fast schamanistischen Einfühlungsvermögens attestieren: »Sie ist so sensibel, dass sie beinahe ihre Gedanken lesen kann … Siewirdzum Tier … Sie hat eine besondere und sehr spezielle Gabe, eine seltene Art, wie sie Tiere beobachtet und versteht, etwas wie einen sechsten Sinn … So war sie schon als Kind.«

Morgens goss sie sich in der Küche eine Tasse schwarzen Tee ein, dann fing sie an, die Glasflaschen und Gummisauger für die jüngsten Hausbewohner zu sterilisieren. In ihrer Rolle als Säuglingsschwester des Zoos hatte sie das Glück, zwei winzige Luchse aus Białowieża adoptieren zu können, dem einzigen noch existierenden Urwald Europas, einem Ökosystem, das die Polen Puszcza nennen; mit diesem Wort beschreibt man uralte Wälder, die keine Menschenhand je berührt hat.

Białowieża liegt heute an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen und verbindet die beiden Länder durch ein gemeinsames Erbe, das von Hirschgeweihen und Mythen bestimmt ist. In früheren Zeiten hatte der Wald beiden Ländern als ergiebiges Jagdgebiet für Könige und Zaren gedient (die hier ein prächtiges Jagdschlösschen hatten), doch zu Antoninas Zeit war er zu einem Gebiet für Wissenschaftler, Politiker und Wilderer geworden. Das größte Landtier Europas, der Europäische Bison (oder Wisent) tummelte sich in diesen Wäldern, und seine schwindenden Zahlen sorgten dafür, dass in Polen eine Naturschutzbewegung entstand. Als zweisprachige Polin, die in Russland geboren und nach Polen zurückgekehrt war, fühlte sie sich zu Hause in diesem grünen Grenzgebiet, im Schatten dieser Bäume, die ein halbes Jahrtausend alt waren und einen vollkommenen, zerbrechlichen Organismus ohne sichtbare Grenzen bildeten. Solch ursprüngliche Waldgebiete, zum Schutzgebiet erklärt, werden zu einem Reich, das sogar Flugzeuge nur in mehreren Kilometern Höhe überfliegen, damit die Tiere nicht erschrecken und das Laub nicht leidet. Ein Beobachter, der durch die Baumwipfel nach oben blickt und ein Flugzeug erspäht, sieht nur einen kleinen, lautlosen Vogel in der Ferne.

Obwohl es verboten war, wurde hier trotzdem noch gejagt. Zurück blieben junge mutterlose Tiere, und die seltensten unterihnen landeten gewöhnlich im Zoo, in einer Kiste mit der Aufschrift »Lebendes Tier«. Der Zoo war ein Rettungsboot, und im April, Mai und Juni, den Monaten, wenn Jungtiere geboren wurden, kamen stets mehrere quengelige Babys bei Antonina an, jedes von ihnen mit eigenen Gewohnheiten und Nahrungsbedürfnissen. Der einen Monat alte Wolfswelpe wäre normalerweise zwei Jahre lang von seiner Mutter und den Familienmitgliedern versorgt worden. Das stubenreine, gesellige Dachsbaby liebte lange Spaziergänge und fraß Insekten und Grünzeug. Die gestreiften Wildschwein-Frischlinge waren dankbar für alles, was vom Tisch abfiel. Ein Rehkitz musste bis in den nächsten Winter hinein mit der Flasche ernährt werden und rutschte mit seinen staksigen Beinen auf den Parkettböden aus.

Ihre Lieblinge waren aber Tofi und Tufa, die drei Wochen alten Luchsbabys, die sechs Monate mit der Flasche gefüttert werden mussten und etwa ein Jahr lang nicht wirklich selbstständig wurden (und selbst dann noch gern an der Leine auf der belebtesten Straße Pragas spazieren gingen, wo die Passanten verblüfft stehen blieben). Da es in Europa nur noch wenige wilde Luchse gab, war Jan persönlich nach Białowieża gefahren, um die Jungen abzuholen, und Antonina hatte sich bereit erklärt, sie im Haus großzuziehen. Als das Taxi an einem Sommerabend vor dem Tor hielt, kam ein Tierwärter herangeeilt, um Jan mit der kleinen Holzkiste zu helfen, die sie zusammen in die Villa trugen, wo Antonina schon mit sterilen Flaschen, Gummisaugern und warmer Babynahrung bereitstand. Als sie den Deckel abnahmen, starrten sie zwei winzige gesprenkelte Fellknäuel wütend an, die sofort anfingen zu fauchen und jede Hand, die sich ihnen entgegenstreckte, bissen und kratzten.

»Menschliche Hände mit so vielen beweglichen Fingern machen ihnen Angst«, sagte Antonina leise. »Und unsere lauten Stimmen und das helle Lampenlicht auch.«

Die Jungen zitterten, »halb tot vor Angst«, wie sie in ihr Tagebuch schrieb. Sanft packte sie eins am Nackenfell, das lose und warm war, und als sie das Tier aufhob, entspannte es sich und wurde sofort ruhig, also hob sie das andere auch auf.

»Das mögen sie. Das erinnert sie daran, wie ihre Mutter sie auf diese Weise herumgetragen hat.«

Als sie sie im Speisezimmer auf den Boden setzte, schlitterten sie umher und erforschten ein paar Minuten lang diese unbekannte, rutschige Landschaft, worauf sie sich unter dem Schrank versteckten, als sei es ein überhängender Fels, wo sie sich in die dunkelste Ecke drückten, die sie finden konnten.

Im Jahre 1932 hatte Antonina ihrem neugeborenen Sohn nach polnischer Tradition den Namen eines Heiligen gegeben, Ryszard, oder kurz Ryś – was das polnische Wort für Luchs ist. Obwohl er nicht zur Truppe »vierbeiniger, wuscheliger oder geflügelter« Zoobewohner gehörte, war er doch ein weiteres, lebhaftes Junges, das plapperte und sich an sie klammerte wie ein Affe, auf allen vieren herumkroch wie ein junger Bär und, wie ein Wolf, im Winter blasser und im Sommer dunkler wurde. In einem ihrer Kinderbücher beschreibt sie, wie drei Junge in der Familie gleichzeitig laufen lernen: ihr Sohn, ein Löwe und ein Schimpanse. Da sie alle jungen Tiere, vom Nashorn bis zum Opossum, einfach unwiderstehlich fand, war sie – außer ihrer Rolle als echte Mutter eines kleinen Säugetieres – gleichzeitig die Beschützerin vieler anderer. Eigentlich weiter nichts Besonderes in einer Stadt, deren uraltes Wahrzeichen halb Frau, halb Tier war: eine Nixe (die ein Schwert schwang). Wie Antonina sagte, wurde der Zoo schnell ihr »grünes Tierreich auf der rechten Seite der Weichsel«, ein lärmender Garten Eden zwischen Stadtlandschaft und Park.

KAPITEL 2

»Das mit Adolf muss aufhören«, sagte einer der Tierpfleger entschieden. Jan wusste, dass damit nicht Hitler gemeint war, sondern »Adolf, der Kidnapper«, ein Spitzname, den er dem Anführer der Rhesusaffen gegeben hatte, der mit Marta, dem ältesten Weibchen, im Dauerstreit lag, weil Adolf ihren Sohn gestohlen und seiner Lieblingsfrau Nelly gebracht hatte,die bereits ein eigenes Baby hatte. »Das ist nicht in Ordnung. Jede Mutter sollte ihr eigenes Baby stillen, also warum sollte man Marta ihr Kind vorenthalten, nur damit Nelly zwei hat?«

Andere Tierpfleger lieferten regelmäßig Tagesberichte über die bekanntesten Tiere des Zoos, wie Rose, die Giraffe, Mary, die Afrikanische Wildhündin, Sahib, das Fohlen im Streichelzoo, das auf die Weide ausgebrochen war und sich dort zwischen den scheuen Przewalski-Pferden tummelte. Bei Elefanten kann es vorkommen, dass sie am Rüssel Herpes bekommen, und in Gefangenschaft kann ein Vogelvirus oder eine Krankheit wie Tuberkulose leicht vom Menschen auf Papageien, Elefanten, Geparde und andere Tiere übertragen werden und wieder zurück auf den Menschen – besonders zu Jans Zeit, als es noch keine Antibiotika gab und eine schwere Infektionskrankheit den ganzen Bestand – tierischen und menschlichen – dahinraffen konnte. Dann musste man den Tierarzt des Zoos bemühen, Dr. Lopatynski, der stets auf seinem stotternden Motorrad ankam, in einer Lederjacke, eine große Kappe mit Ohrenklappen auf dem Kopf, die Wangen rot vom Wind und einen Zwicker auf der Nase.

Was wird man bei den täglichen Besprechungen sonst noch diskutiert haben? Auf einem alten Bild des Zoos steht Jan neben einem halb ausgehobenen Nilpferdgehege, das zum Teil von schweren hölzernen Spanten abgestützt ist, wie man sie zum Verstärken von Schiffsbugs benutzt. Am Pflanzenbewuchs im Hintergrund erkennt man, dass es Sommer ist, der Aushub musste abgeschlossen sein, ehe der Boden gefror, was in Polen bereits im Oktober passieren kann, also ist anzunehmen, dass Jan sich über den Fortschritt der Arbeiten berichten ließ und den Vorarbeiter zur Eile antrieb. Diebstahl war ein weiteres Problem,und da der Handel mit exotischen Tieren blühte, mussten bewaffnete Wächter bei Tag und Nacht im Zoo patrouillieren.

Die große Vision, die Jan für den Zoo hatte, wird durch seine vielen Bücher und Radiosendungen deutlich. Er hoffte, eines Tages den Anschein natürlicher Lebensräume zu erreichen, in denen natürliche Feinde im selben Gehege zusammenleben konnten. Für diese Idealvorstellung eines paradiesischen Friedens war viel Land erforderlich, man musste ein Netzwerk von Sicherheitsgräben schaffen und auch bei der Wasserversorgung kreative Lösungen finden. Jan träumte von einem innovativen Zoo von Weltgeltung, mitten im Herzen Warschaus, mitten im gesellschaftlichen und kulturellen Leben,und für kurze Zeit trug er sich sogar mit dem Gedanken, einen Vergnügungspark anzuschließen.

Das grundsätzliche Anliegen eines Zoos, ganz gleich ob traditionell oder modern, ist dasselbe: Die Tiere müssen körperlich und geistig gesund bleiben, sie müssen geschützt sein, und vor allem muss man sie unter Kontrolle behalten. Zoos haben sich schon immer mit findigen Befreiungskünstlern befassen müssen, zum Beispiel mit langbeinigen Blitzen wie den Klippspringer-Antilopen, die glatt über einen Menschen hinwegspringen können, um auf einem Felsvorsprung von der Größe eines Fünfzig-Cent-Stücks zu landen. Diese nervösen kleinen Tiere, stämmig und untersetzt, mit gekrümmtem Rücken, wiegen nur etwa vierzig Pfund, aber sie sind unglaublich gewandt und vollführen auf den Spitzen ihrer Hufe Sprünge wie Balletttänzer. Wenn sie erschrecken, können sie so hoch springen, dass sie es vielleicht sogar über die Umzäunung ihres Geheges schaffen. Wie alle Antilopen verfügen sie über die Fähigkeit, sich mit gestreckten Beinen senkrecht in die Luft zu katapultieren. Hierbei handelt es sich um eine Art Imponiergehabe, was auf Afrikaans »Pronken« genannt wird (und an deutsche Wörter wie »prunken« oder »protzen« erinnert). Der Legende nach hat ein Birmane im Jahre 1919 jene Gerätschaft erfunden,mit dem der Mensch dem Pronken am nächsten kommt, nämlich einen Hüpfstab für seine Tochter Pogo, mit dem sie auf ihrem Schulweg über die Pfützen springen konnte.

Nachdem es ein Jaguar im heutigen Warschauer Zoo beinahe über den Sicherheitsgraben geschafft hätte, sicherte Dr. Rembiszewski, der heutige Direktor, das Gehege mit einem dieser elektrischen Zäune, wie Bauern sie aufstellen, um das Wild von ihren Äckern fernzuhalten, nur wesentlich stärker und höher.

Jeden Tag nach dem Frühstück ging Antonina in das Bürogebäude des Zoos und wartete aufVIP-Besucher, denn neben ihrem Haushalt und der Pflege kranker oder verwaister Tiere war es auch ihre Aufgabe, wichtige Besucher aus Polen oder dem Ausland zu begrüßen und Presse oder Regierungsbeamte willkommen zu heißen. Während sie sie durch den Zoo führte, erzählte sie Geschichten und Merkwürdigkeiten, die sie entweder aus Büchern, aus Jans Vorträgen oder aus eigener Beobachtung hatte.

Der Rundgang fing am Haupttor an der Ratuszowa an, wo man zunächst eine gerade Allee entlangging, die auf beiden Seiten von Tiergehegen gesäumt war. Das Erste, was die Besucher sahen, war ein quirliger rosa Teich – hier stolzierten blasse Flamingos mit ihren nach hinten geknickten roten Knienund krummen schwarzen Schnäbeln. Nicht ganz so leuchtend wie wilde Flamingos – deren Gefieder durch die verspeisten Krustentiere korallenrot ist –, waren sie trotzdem spektakulär genug, um das Empfangskomitee des Zoos zu bilden, begleitet von ihrem heiseren Grunzen, Knurren und Trompeten.

Gleich dahinter kam man zu Volieren mit Vögeln aus aller Welt: lärmende, knallbunte Exoten wie Beos, Aras, Marabus und Kronenkraniche, aber auch einheimische Vögel wie der winzige Zwergkauz oder der riesige Uhu, der mit seinen Fängen mühelos ein Kaninchen davontragen kann.

Pfaue und kleine Rehe genossen im Zoo Freiheit; wenn sich Menschen näherten, liefen sie davon, als würden sie von einer unsichtbaren Welle fortgespült. Auf einem mit Gras bewachsenen Hügel sonnte sich ein Gepardenweibchen, während ihre gesprenkelten Jungen in ihrer Nähe spielten und sich Scheinkämpfe lieferten, wobei sie immer wieder von den freilaufenden Rehen und Pfauen abgelenkt wurden. So verführerisch diese freilaufenden Beutetiere für die Löwen, Hyänen, Wölfe und sonstigen Raubtiere gewesen sein müssen, so blieben dadurch doch auch ihre natürlichen Sinne geschärft, und es sorgte für eine gewisse Spannung.

Schwarze Schwäne, Pelikane und andere Wasser- und Marschvögel schwammen auf einem Teich, der die Form eines Drachens hatte. In offenen Gehegen zur Linken grasten Wisente, Antilopen, Zebras, Strauße, Kamele und Nashörner. Rechts sah man Tiger, Löwen und Nilpferde. Dem Kiesweg weiter folgend, schlug man einen Bogen, vorbei an den Giraffen, Reptilien, Elefanten, Affen, Seehunden und Bären. Die Villader Żabińskis lag fast ganz versteckt zwischen den Bäumen, in Kreischweite von den Volieren und auch nicht weit von den Schimpansen entfernt, die östlich der Pinguine zu Hause waren.

Unter den Savannenbewohnern befanden sich Afrikanische Wildhunde, erregbare, langbeinige Geschöpfe, die immer in Bewegung waren, wobei sie misstrauisch schnüffelnd ihre breiten Köpfe hin und her bewegten und die Ohren spielen ließen. Ihr wissenschaftlicher Name,Canis pictus(bunter Hund), bezieht sich auf ihr schönes Fell, das kunterbunt gelb, schwarz und rot gefleckt ist. Doch der Name sagt nichts über ihre Ausdauer und Grausamkeit: sie können ein fliehendes Zebra überwältigen und eine Antilope meilenweit verfolgen. Der Warschauer Zoo besaß die ersten Exemplare in Europa, eine echte Rarität, auch wenn sie für afrikanische Farmer eine Landplage sind. In Warschau waren sie malerische Schaustücke, von denen keines aussah wie das andere und vor deren Gehege sich immer eine Menschentraube bildete. Der Zoo züchtete auch die ersten Grevyzebras, die in Abessinien beheimatet sind. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie alle Zebras, doch bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass sie körperlich größer und enger gestreift sind, das Muster läuft vertikal um den Körper und horizontal um die Beine, bis ganz hinunter zu den Hufen.

Und dann gab es noch Tuzinka, die noch ihre Babybehaarung trug, einen von nur zwölf Elefanten, die bisher in Gefangenschaft geboren wurden. Daher ihr Name, dennTuzinist das polnische Wort für Dutzend. Antonina hatte Kasia beigestanden, als sie an einem kühlen Aprilmorgen um halb vier Tuzinka zur Welt brachte. In ihrem Tagebuch beschreibt sie Tuzinka als ein Riesenbündel, das größte Tierbaby, das sie je gesehen hatte. Es wog 242 Pfund und war etwa einen Meter groß, mit blauen Augen, schwarzem Flaum, großen Ohren, deren Form an die Blüten eines Stiefmütterchens erinnerten, und mit einem Schwanz, der für den Körper zu lang schien – ein wackeliges, verwirrtes Neugeborenes, das auf dem sensorisch überfluteten Marktplatz des Lebens gelandet war. Tuzinkas blaue Augen drückten dieselbe Überraschung aus, die Antonina in den Augen aller neugeborenen Tiere bemerkt hatte – neugierig, fasziniert und gleichzeitig ratlos von all der Helligkeit und dem Lärm.

Beim Trinken stand Tuzinka mit leicht geknickten Hinterbeinen unter ihrer Mutter, das weiche Maul nach oben gereckt. Ihr Blick deutete an, dass es jetzt nichts anderes für sie gab als den Strom warmer Milch und den beruhigenden Herzschlag ihrer Mutter. So wurde sie 1937 von den Fotografen abgelichtet, und die Schwarz-Weiß-Postkarte wurde ein beliebtes Andenken, genauso wie ein Elefantenbaby als Kuscheltier. Auf alten Fotos sieht man entzückte Zoobesucher, die die Hände nach Tuzinka und ihrer Mutter ausstrecken, die ihrerseits ihren Rüssel über den kleinen Graben mit den kurzen Metallspitzen streckt. Da Elefanten nicht springen, genügt es zur Abgrenzung, das Gehege mit einem zwei Meter tiefen Graben zu umgeben, der oben zwei Meter breit ist und sich nach unten verjüngt – vorausgesetzt, die Elefanten füllen den Graben nicht mit Schlamm auf und spazieren darüber, was auch schon vorgekommen ist.

Die Tiere sorgten auch für die Geruchslandschaft des Zoos, manche sehr dezent, andere zunächst fast ekelerregend. Das gilt besonders für die Duftmarken der Hyänen, die ihre Analtaschen nach außen stülpen und ein stinkendes, pastenartiges Sekret absondern. Jede dieser übel riechenden Visitenkarten hält sich bis zu einem Monat und verbreitet ihre Botschaft – wobei ein erwachsenes männliches Tier im Jahr etwa hundertfünfzig davon übermittelt.

Außerdem gibt es da noch das Dominanzgehabe des Nilpferds, das beim Koten seinen kleinen Schwanz propellerartig herumwirbeln lässt, sodass der Kot in alle Richtungen fliegt. Männliche Moschusochsen, die sich gewohnheitsmäßig mit ihrem eigenen Urin besprühen, und Seelöwen, die oft verwesenden Fisch zwischen den Zähnen haben, sodass man ihren Atem schon aus mehreren Metern Entfernung riecht. Der Kakapo, ein flugunfähiger Papagei, riecht muffig wie ein altes Klarinettenetui. Männliche Elefanten sondern zur Paarungszeit ein stark riechendes Sekret aus einer Drüse hinter den Augen ab. Die Federn des Schopfalks riechen nach Mandarinen, besonders zur Paarungszeit, wenn die balzenden Vögel gegenseitig ihren Schnabel in das duftende Halsgefieder des anderen versenken. Alle diese Tiere senden Duftbotschaften, die genauso markant sind wie ihre Rufe, und mit der Zeit gewöhnte Antonina sich an das starke Aroma dieser Terminkalender – biologische Drohsignale, Anmache und Nachrichtenübermittlung.

Sie war überzeugt, dass die Menschen sich stärker auf die animalische Seite ihrer eigenen Spezies einlassen sollten, dass andererseits auch Tiere sich »nach menschlicher Gesellschaft sehnen und menschliche Aufmerksamkeit wollen«, ein Verlangen, das irgendwie wechselseitig ist. Bei ihren imaginären Abstechern in die Welt der Tiere konnte sie die menschliche Welt für eine Weile ausblenden. Wenn sie mit den jungen Luchsen spielte und herumtobte, sie von Hand fütterte, ihre warmen Zungen an den Fingern fühlte und das eifrige Kneten ihrer Pfoten wahrnahm, wenn das Niemandsland zwischen zahm und wild sich immer mehr auflöste, dann wurde dadurch bei ihr ein Band mit dem Zoo geknüpft, das sie als »unauflöslich« bezeichnete.

Der Zoo bot Antonina auch eine Plattform für die Erhaltung der Arten, die Möglichkeit, beim Umherschlendern ihre Botschaft zu verkünden, eine Predigt an den Ufern der Weichsel für die Besucher dieser Gottesgeschöpfe, womit sie für die Gäste eine einzigartige Brücke zur Natur schlug. Doch zuerst mussten sie auf der käfigartigen Kierbedzia-Brücke noch den Fluss überqueren, um auf die wildere Seite der Stadt zu gelangen. Wenn Antonina dann ihre fesselnden Geschichten über Luchse und andere Tiere erzählte, nahm der grüne Nebel rund um diese Erde in den Augen des Besuchers für kurze Zeit Konturen an und wurde zu einem Gesicht, einem Motiv – zu einem Lebewesen mit einem Namen.

Sie und Jan luden auch immer wieder dazu ein, im Zoo Film-, Theater- oder Musikveranstaltungen anzubieten und liehen sogar Tiere aus, wenn diese für bestimmte Rollen gebraucht wurden – am beliebtesten waren Löwenbabys. »Unser Zoo war voller Leben«, schrieb sie. »Wir hatten viele Gäste: junge Leute, Tierfreunde oder einfach normale Besucher. Wir hatten viele Partner: Universitäten in Polen und im Ausland, die polnische Gesundheitsbehörde und selbst die Kunstakademie.« Einheimische Künstler schufen die stilisierten Poster im Art-déco-Stil, und die Żabińskis luden Künstler aller Art ein, hier im Zoo ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen.

KAPITEL 3

Jan machte seine Fahrradrunde durch den Zoo. Er ließ Adam,den Elch, draußen grasen und ging in das warme Vogelhaus, wo es nach Kalk und feuchtem Heu roch. Vor einem Käfig bemerkte er eine kleine Frau, die ihre Ellenbogen bewegte, als wollte sie die Vögel nachahmen, die sich putzten und posierten. Mit ihrem dunklen, welligen Haar, dem untersetzten Körperbau und den dünnen Beinen, die unter einem Arbeitskittel hervorragten, sah sie fast so aus, als müsste sie eigentlich selbst in einem der Käfige sitzen. Auf einer Schaukel über ihr saß ein schielender Papagei und kreischte: »Wie heißt du? Wie heißt du?«, worauf die Frau mit schmeichelnder Stimme die Frage wiederholte: »Wie heißt du? Wie heißt du?« Der Papagei beugte sich herunter und starrte sie durchdringend an, dann drehte er den Kopf und betrachtete sie mit dem anderen Auge.

»Guten Tag«, sagte Jan.Dzień dobry. So fing in Polen eine höfliche Unterhaltung meist an. Die Frau stellte sich als Magdalena Gross vor, ein Name, den Jan gut kannte, denn ihre Skulpturen wurden von wohlhabenden Polen und internationalen Bewunderern gleichermaßen geschätzt. Er wusste allerdings nicht, dass sie Tierskulpturen machte, aber das hatte auch sie bis zu diesem Tag nicht gewusst. Später erzählte sie Antonina, dass sie bei ihrem ersten Zoobesuch so fasziniert gewesen war, dass ihre Hände anfingen, die Luft zu kneten und zu formen. Sie beschloss, ihre Werkzeuge mitzubringen und auf Safari zu gehen, und der Zufall führte sie zu dieser Voliere mit den Vögeln. Jan gab ihr einen flüchtigen Handkuss, wie es gute Sitte war, und meinte, es wäre ihm eine Ehre, wenn sie den Zoo als ihr Freiluftstudio betrachtete und die Tiere als ihre unruhigen Modelle.

Allen Erzählungen nach wirkte die hochgewachsene, schlanke Antonina Żabińska wie eine ruhende Walküre, während Magdalena Gross, die kleine, dunkle Jüdin, vor Energie zu vibrieren schien. Die Frau des Zoodirektors empfand die Bildhauerin als eine reizvolle Mischung von Gegensätzen: entschieden, doch verletzlich; verwegen, aber bescheiden; leicht verrückt, aber hoch diszipliniert; ein Mensch, der das Leben aufregend fand – und vielleicht war es diese Einstellung, die Antonina, die nicht so stoisch und ernst war wie Jan, am meisten an ihr beeindruckte. Die beiden Frauen teilten die Liebe zu Kunst und Musik und hatten einen ähnlichen Humor, sie waren sich auch im Alter ähnlich und hatten gemeinsame Bekannte – und so fing eine Freundschaft an, die sich als äußerst wichtig erweisen sollte.

Was wird Antonina angeboten haben, wenn Magdalena nachmittags zum Tee kam? Die meisten Warschauer bewirteten ihre Gäste mit schwarzem Tee und Süßigkeiten, und Antonina züchtete Rosen und kochte Marmelade ein, also wird es irgendwann bestimmt das traditionelle polnische Gebäck gegeben haben, Krapfen, gefüllt mit einem Gelee aus Rosenblüten.

Magdalena bekannte, wie lustlos sie sich gefühlt hatte. Ihre Inspiration und Kreativität waren erschöpft, als sie eines Tages am Zoo vorbeikam, wo ein Schwarm Flamingos sie fesselte. Dahinter tummelte sich eine Schar noch seltsamerer Vögel – fantastische Gestalten in Farben, wie kein Maler sie zustande bringen konnte. Dieser Anblick traf sie mit der Wuchteiner Offenbarung und inspirierte sie zu einer Serie von Tierplastiken, mit der sie internationale Anerkennung erlangen sollte.

Im Sommer 1939 war der Zoo in vorbildlichem Zustand, und Antonina beschäftigte sich bereits mit ausführlichen Plänen für das nächste Frühjahr, wenn ihr und Jan die Ehre zuteilwerden sollte, Gastgeber für das alljährliche Treffen des Internationalen Verbandes der Zoodirektoren zu sein, das in Warschau stattfinden sollte. Allerdings musste sie hierzu gewisse existenzielle Ängste beiseiteschieben, die man so zusammenfassen konnte:wenn unsere Welt bis dahin noch heil ist.

Fast ein Jahr zuvor, im Oktober 1938, war Hitler ins Sudetenland einmarschiert, das an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Deutschland lag und überwiegend von Deutschen bewohnt war. Frankreich und England hatten zwar zugestimmt, aber die Polen sorgten sich seitdem um ihre Grenzgebiete. Deutsche Gebiete, die zwischen 1918 und 1922 an Polen abgetreten worden waren, umfassten das östliche Schlesien und die Region, die bis dahin als Polnischer Korridor bezeichnet worden war und Ostpreußen vom Rest Deutschlands abtrennte. Danzig, ein wichtiger deutscher Ostseehafen, war zur »Freien Stadt« erklärt worden und damit offen, sowohl für Deutsche als auch Polen.

Einen Monat nachdem er in die Tschechoslowakei einmarschiert war, verlangte Hitler die Rückgabe Danzigs und beanspruchte das Recht, eine exterritoriale Straße durch den Korridor zu bauen. Das diplomatische Gerangel Anfang 1939 führte im März zu Feindseligkeiten, worauf Hitler seinen Generälen den geheimen Befehl gab, »sich um die Polenfrage zu kümmern«. Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland verschlechterten sich zusehends, und die Polen erkannten, dass die Zeichen auf Krieg standen, eine entsetzliche Vorstellung, auch wenn sie ihnen nicht neu war. Seit dem Mittelalter war Polen immer wieder von Deutschland besetzt gewesen, zuletzt erst von 1915 bis 1918, sodass der Kampf von Slawen gegen Teutonen schon fast zur vaterländischen Tradition geworden war. Aufgrund seiner strategischen Lage in Osteuropa war Polen schon so oft überfallen, geplündert und aufgeteilt worden, dass seine Grenzen sich dauernd verändert hatten. Es gab Dorfkinder, die fünf Sprachen lernen mussten, nur um sich mit ihren Nachbarn verständigen zu können.

Aber Antonina wollte jetzt nicht an Krieg denken, besonders, da der letzte ihr beide Eltern genommen hatte, also beruhigte sie sich – wie die meisten Polen – mit dem Gedanken an die starke Allianz mit den Franzosen, die eine mächtige Armee hatten, und mit Großbritannien, ihren anderen Verbündeten. Von Natur aus optimistisch, erinnerte sie sich immer wieder daran, dass sie es eigentlich gut hatte. Schließlich gab es im Jahre 1939 nicht viele Polinnen, die glücklich verheiratet waren, einen gesunden Sohn und einen Beruf hatten, der sie ausfüllte, ganz zu schweigen von den vielen Tieren, die sie als ihre Pflegekinder betrachtete.

Antonina fühlte sich reich gesegnet und war guter Dinge, als sie Anfang August mit Ryś, seiner alten Kinderfrau und Zośka, dem Bernhardiner, in das kleine, beliebte Feriendorf Rejentówka fuhr, während Jan in Warschau blieb und sich um den Zoo kümmerte. Sie hatte auch Koko mitgenommen, eine betagte rosafarbene Kakadudame, die unter Schwindelanfällen litt und oft von ihrer Sitzstange fiel. Weil Koko die nervöse Angewohnheit hatte, sich die Brustfedern auszureißen, legte Antonina ihr einen trichterförmigen Halskragen an, der ihr Kreischen wie ein Megafon verstärkte. Antonina hoffte, dass »die frische Waldluft und die Zusatzdiät aus wilden Wurzeln und Zweigen« sie heilen und ihr farbenfrohes Gefieder wieder sprießen lassen würde. Die inzwischen erwachsenen Luchse blieben zurück. Dafür nahm sie einen anderen Neuankömmling mit, ein Dachsbaby namens Borsunio (kleiner Dachs), das zu jung war, um es allein zu lassen. Vor allem aber wollte sie Ryś aus Warschau wegbringen, wo man nur noch vom Krieg sprach, damit er und sie einen letzten unbekümmerten Sommer auf dem Land verleben könnten.

Das Ferienhaus der Żabińskislag in einer Waldsenke, etwa sechs Kilometer von einer Verbreiterung des Flusses Bug entfernt und nur wenige Minuten von seinem kleinen Nebenfluss, der Rządzą. Antonina und Ryś kamen an einem heißen Sommertag an. Der Duft von Fichtenharz, blühenden Akazien und Petunien lag in der Luft. Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen auf die Spitzen der alten Bäume, während es im Wald bereits dunkel wurde und das schrille Zirpen der Zikaden sich mit den abfallenden Terzen des Kuckucks und dem Sirren der ewig hungrigen Mückenweibchen vermischte.

Kurz danach saßen sie auf der kleinen Veranda, die dicht von Geißblatt umrankt war, »dessen blasse, unscheinbare Blüten dufteten, lieblicher noch als Rosen, Flieder oder Jasmin, lieblicher als der süßeste Duft – die goldene Lupine des Feldes«, während »nur wenige Schritte durch das hohe Gras … der Wald wie eine Wand aufragte, turmhoch, hellgrünes Eichenlaub, durch das hier und da weiße Birken schimmerten …« Antonina und Ryś tauchten ein in diese grüne Stille, die Lichtjahre von Warschau entfernt schien – entfernten sich innerlich und persönlich so weit, dass man es nicht nach Kilometern bemessen konnte. Es gab nicht einmal ein Radio im Haus, hier sorgte die Natur für Unterricht, Neuigkeiten und Spiele. Ein beliebter Zeitvertreib im Dorf bestand darin, in den Wald zu gehen und die Espen zu zählen.

Im Ferienhaus standen Geschirr, Töpfe, eine Zinkbadewanne, Bettwäsche und ein reicher Vorrat an haltbaren Lebensmitteln bereit; für die Besetzung mit menschlichen und tierischen Darstellern, die das Ganze zur Komödie werden ließen, sorgten sie selbst.

Als sie den großen Vogelkäfig auf der Veranda untergebracht und den Kakadu mit Orangenschnitzen gefüttert hatten, legte Ryś Borsunio ein Halfter an und versuchte ihn dazu zu bringen, an der Leine zu gehen, was er auch tat, aber nur rückwärts, wobei er ein ziemliches Tempo vorlegte und Ryś mitzog. Wie alle anderen Tiere gewöhnte sich auch der kleine Dachs schnell an Antonina, die ihn ihr »Pflegekind« nannte und ihm beibrachte, auf seinen Namen zu reagieren, mit ihnen im Fluss zu baden und auf ihr Bett zu klettern, wenn sie ihm die Flasche geben wollte. Borsunio hatte sich von allein angewöhnt, an der Tür zu kratzen, wenn er hinauswollte, um sein Geschäft zu erledigen, und in der Zinkwanne badete er wie ein Mensch, indem er sich zurücklehnte und sich mit beiden Vorderpfoten das Seifenwasser gegen die Brust spritzte.

In ihrem Tagebuch beschreibt Antonina, wie sich bei dem Dachs tierischer Instinkt mit menschlichen Gewohnheiten vermischte, wodurch eine einmalige Persönlichkeit entstand. Peinlich sauber, was Toilettengewohnheiten anbetraf, grub Borsunio sich zum Beispiel auf jeder Seite des Hauses ein Loch und rannte nach langen Spaziergängen eilig hin, um darin zu verschwinden. Eines Tages konnte sie ihn nicht finden. Sie suchte an allen üblichen Plätzen, an denen er tagsüber sein Nickerchen hielt – in der Schublade im Wäscheschrank, in ihrem Bett zwischen Laken und Zudecke, im Koffer der Kinderfrau –, doch ohne Erfolg. Schließlich blickte sie in Ryś’ Zimmer unter das Bett und sah Borsunio, wie er Ryś’ Töpfchen darunter hervorschob, hineinkletterte und es zu dem Zweck benutzte, zu dem es gedacht war.