Die Frau, die nie fror - Elisabeth Elo - E-Book

Die Frau, die nie fror E-Book

Elisabeth Elo

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Beschreibung

Pirio Kasparov fährt aus einem Alptraum hoch. Wieder schwimmt sie weit draußen vor der Küste Maines im Wasser. Wieder ist es kalt und dunkel. Wieder überlebt sie, und ihr Freund Ned wird nicht gefunden. Auch von seinem Fischerboot fehlt jede Spur. Und dann spürt sie wieder die Hand seines kleinen Sohnes Noah in ihrer, der nicht weint, weil er stark sein will. War es wirklich ein Unfall? Pirio schwört sich, herauszufinden, was wirklich passiert ist. Ihre abenteuerliche Suche nach der Wahrheit führt sie von Boston nach Nordkanada und in die weiten Gewässer der Baffin Bay in Alaska.

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Seitenzahl: 649

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Die Autorin

Elisabeth Elo ist Jahrgang 1956 und unterrichtet kreatives Schreiben in New England. Die Frau, die nie fror ist ihr erster Roman.

Das Buch

Pirio Kasparov fährt aus einem Alptraum hoch. Wieder schwimmt sie weit draußen vor der Küste Maines im Wasser. Wieder ist es kalt und dunkel. Wieder überlebt sie, und ihr Freund Ned wird nicht gefunden. Auch von seinem Fischerboot fehlt jede Spur. Und dann spürt sie wieder die Hand seines kleinen Sohnes Noah in ihrer, der nicht weint, weil er stark sein will. War es wirklich ein Unfall? Pirio schwört sich, herauszufinden, was wirklich passiert ist. Ihre abenteuerliche Suche nach der Wahrheit führt sie von Boston nach Nordkanada und in die weiten Gewässer der Baffin Bay in Alaska.

Elisabeth Elo

Die Frau, die nie fror

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger

Ullstein

Neuausgabe bei Refinery

Refinery ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

April 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019

© der deutschsprachigen Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014

© 2014 by Elisabeth Elo

Titel der amerikanischen Originalausgabe: North of Boston

(Viking, New York)

Umschlaggestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin

Autorenfoto: © wowe

ISBN 978-3-96048-232-1

E-Book-Konvertierung: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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In Erinnerung an meinen Vater,

William Jacob Panttaja

Kapitel 1

Er war ein Verlierer«, lallt Thomasina mit hängendem Kopf. »Aber ein guter Verlierer.« Die Flasche Stolichnaya hat sie in eine unangenehme, aber auch versöhnliche Stimmung versetzt. Ich könnte jetzt selbst ein paar Kurze vertragen, um meine Trauer und die Schuldgefühle zu betäuben, dass ich überlebt habe. Aber einer muss nüchtern bleiben, für Noah.

Thomasina grapscht nach etwas, das sie in der Luft sieht – vielleicht nichts, ein halluzinierter Funken, ein Staubkorn –, und ihre Stimme wird tonlos und matt. »Ich habe ihn nie geliebt. Ich wollte nur Sperma.« Sie schiebt die Flasche halb über den Küchentisch und legt den Kopf auf die verschränkten Arme. Ihre Schultern heben und senken sich ein paarmal. Trauer? Übelkeit? In ihrem Zustand könnte es beides sein, oder auch nur ein gleichgültiger Schluckauf. Doch als sie das Gesicht hebt, ist es verheult. »Aber ein bisschen muss ich ihn geliebt haben, denn im Moment fühle ich mich übelst beschissen.«

Noah steckt den Kopf um die Ecke. Er hat weder das schwere, kantige Aussehen von Ned noch Thomasinas eindringliche Bilderbuch-Schönheit aus jüngeren Jahren. Er ist klein, dünn, blass. Mit den dunklen Augenringen wirkt er fast wie ein Mönch. Er redet nicht viel, hat keine Freunde. Vielleicht kommen wir deshalb so gut miteinander aus.

»Noah, Baby. Mama macht dir jetzt was zu essen.« Thoma­sina steht unsicher auf und schwankt zum Kühlschrank. Als sie die Tür öffnet, sehen Noah und ich hinein. Gatorade Limone, eine halbe Tomate, schimmelige Hamburger-Brötchen. »Möch­test du ein Tomaten-Sandwich, mein Baby?«

»Nein, danke«, sagt Noah. Er ist schon immer höflich gewesen. Er schlendert zurück ins Wohnzimmer, um sich wieder in die knifflige Aufgabe zu vertiefen, mit der er eben beschäftigt war. Ich habe ihn schon ganze futuristische Städte aus Zungen­spateln, Eisstielen und Zahnstochern bauen sehen.

Thomasina schwankt immer weiter ausholend, dann beginnen sich ihre Augen zu verdrehen, die Lider flattern und schließen sich. Sie gleitet am Kühlschrank hinunter und bricht auf dem Boden zusammen. Ich hebe einen ihrer Arme um meinen Hals, ziehe sie hoch und schleife sie über das abgewetzte Li­noleum in das feuchtkalte Schlafzimmer im hinteren Teil der Wohnung. Der Boden ist zugemüllt mit Klamotten und Schuhen. Ich erkenne die Cowboystiefel aus Echsenleder, die sie abends zum Ausgehen anzieht. Ich lasse Thomasina auf das breite Doppelbett fallen und schiebe ihre Beine auf die Ma­tratze.

Der Sturz bringt sie wieder zu Bewusstsein. »Du musst ihm erklären, wie’s passiert ist, Pirio«, murmelt sie. »Er vertraut dir. Er liebt dich. Und keiner weiß besser, was er sagen soll, als du – du bist ja dabei gewesen.« Sie dreht den Kopf zur geschlossenen Jalousie. »Weißt du noch, damals, als wir zwei kleine Mädchen waren, um die sich keiner gekümmert hat?«, fragt sie trübsinnig. »Da haben wir uns eben selbst um uns gekümmert. Es war super, aber wir waren so traurig. Waren wir doch, oder, Pirio?«

»Wir sind klargekommen«, sage ich energisch und versuche, sie von dem Kaninchenbau alter Qualen wegzulotsen.

»Ist es zu fassen, Pirio? Ich glaub’s einfach nicht. Ned tot. Hey, das hat beides drei Buchstaben! Jetzt hat Noah keinen ­Vater mehr. Mein Baby ist Halbwaise. Der arme kleine Junge.«

Ich sage nichts. Ich kann’s auch nicht fassen. Ich würde alles tun, um es ungeschehen zu machen. Ich frage mich immer wieder, was ich hätte tun können, finde aber keine Antwort. Niemand hätte ihn retten können. Abgesehen von den Feiglingen auf dem Schiff.

»Willst du wissen, von wem ich letzte Nacht geträumt hab?«, fragt Thomasina sinnierend. Manchmal bin ich eifersüchtig darauf, wie die Sauferei ihrer Phantasie erlaubt, durch wirklich jede Gasse und Seitenstraße zu irren, die sie erspäht. »Vom größten Arschloch aller Zeiten. Du weißt, wen ich meine. Du und ich, wir sind wie zwei Eier, ein Ei wie das andere. Egal. Hast du Eier?« Sie legt zwei Finger auf die Lippen, zensiert sich selbst. »Ups. So hab ich’s nicht gemeint.« Die Hand plumpst von ihrem Mund, und die Lider beginnen wieder wie verrückt zu flattern. »Rate, Pirio. Ich wette, du kommst auf Anhieb drauf. Das größte Arschloch aller Zeiten war … Es war …« Ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Es war …« Ihre Augen schließen sich.

»Es war Dickhead Bates«, sage ich leise.

Ich schiebe ihr einige Kissen unter Kopf und Schultern, um sie höher zu lagern, damit sie nicht erstickt, falls sie sich erbricht, und decke sie zu. Ich nehme mir einen Moment, um mich zu sammeln, gehe dann ins Wohnzimmer.

Noah schaut von seinem Projekt auf. »Wie geht’s meiner Mom?«

»Sie schläft.«

Er nickt. Mit seiner geringen Lebenserfahrung hat er keine Vorstellung davon, wie sehr er sich sorgen sollte. Er weiß, dass seine Mutter sich große Mühe gibt, nicht so viel zu trinken. Manchmal kommt er abends in meine Wohnung, damit sie zu Treffen gehen kann. Dann geht sie tagelang überhaupt nicht vor die Tür. Er ist es gewöhnt, dass sie sich zu den absurdesten Zeiten hinlegt.

Mir zieht ein Hauch Indol und Harnsäure in die Nase. Übersetzt: Scheiße und Pisse. Auf dem Tisch in der Ecke steht ein kleiner Plastikkäfig. Ich schiebe die Abdeckung zurück, greife hinein, lege meine Hand um ein zitterndes kleines Bündel, das sich in einem Haufen Sägemehl versteckt, und setze den Hamster in Noahs hohle Hände. Er fängt an, leise auf ihn einzureden, und reibt seine Wange am Fell des Nagers. Hi, Jerry. Geht’s dir gut, Jerry? Ich brauche ein Weilchen, um den Käfig sauber zu machen. Als Jerry von Noah wieder hineingesetzt wird, macht er sich ganz rund und wühlt sich in das frische Sägemehl, das verwirrenderweise nach süßen Pinien und beißendem Ammoniak riecht. Ich versuche mir vorzustellen, wie die billigen chemischen Zusatzstoffe auf seine winzigen Riechorgane wirken, und gelange zu dem Schluss, dass ihm der Geruch seiner eigenen Fäkalien wahrscheinlich lieber war. Ich bin überhaupt kein Freund der Idee, Tiere in Käfigen zu halten. Wäre er nicht ­Noahs Haustier, hätte ich ihn längst freigelassen.

»Komm, Noah, ich lad dich auf einen Hamburger ein«, sage ich.

*

Thomasina und ich sind zusammen aufs Internat gegangen. Ich war von der siebten Klasse an auf der Gaston School: Es war eine der wenigen Schulen, die mein Vater Milosa gefunden hatte, wohin man so früh Kinder abschieben konnte. Sie lag in Boothbay, Maine, aber es fühlte sich an wie Tomsk, Sibirien; der Ort, von dem mir erzählt wurde, dass die russische Regierung um 1944 herum dort meine Großeltern mütterlicherseits aus den Augen verloren hatte. Meine Mutter starb, als ich zehn war, so alt wie Noah jetzt. Sowieso nie ein Engel, wurde ich zunehmend trotziger und verschlossener. Ich hörte einfach auf, die neugie­rigen Fragen der Erwachsenen zu beantworten und ihre hyste­rischen Warnungen zu befolgen. Zahlreiche von Milosas Freundinnen versuchten herauszufinden, was mit mir los sei, doch irgendwann gaben sie alle auf. Dann heiratete er wieder, und meine Stiefmutter Maureen verschwendete keine Zeit, sondern erklärte mich direkt und endgültig zu einem echten Problemkind. Zum Beweis, dass sie richtiglag, hatte sie stapelweise Bücher und brachte einen Doktor im Kinderkrankenhaus dazu, ihr zuzustimmen. Ein Internat mit viel »Struktur« sei genau das Richtige. Genau genommen war Rektor Richard (Dickhead) ­Bates nicht einmal annähernd das größte Arschloch an der Gaston School. Es gab noch viel sadistischere als ihn.

Thomasina kam in der neunten Klasse nach Gaston, das Abfallprodukt einer bitteren Scheidung, nach der keiner der beiden Eltern das Sorgerecht wollte. Sie war magersüchtig dünn, tief gebräunt von einer Reise mit ihrer Mutter auf die Azoren, geschmückt mit silbernen Kreolen und Armreifen bis hoch zum linken Ellbogen. Und da sie immer noch Zahnspangen auf ­ihren großen, eckigen Zähnen trug, oben und unten, wirkte sie wie ein kleines braunes verhungerndes Tier, gefangen in einem Metallkäfig. Ihre Augen sahen ständig feucht aus, als könnten sie je­derzeit überschwappen, was allerdings nie geschah. Sie war viel zu skeptisch – und das dauerhaft –, um über irgendetwas eine Träne zu vergießen.

Wir taxierten uns, erkannten uns als das, was wir waren, ­und akzeptierten, wovon wir annahmen, es sei unser düsteres Schicksal. Wir schwänzten; tranken Boone’s Farm, Budweiser und Lancer Rosé; kletterten über die hohe Steinmauer, von der die achtzehn Morgen Schulgelände umgeben waren, und spran­gen auf den geteerten Randstreifen der Route 27; fuhren per Anhalter in die Stadt. Wo immer wir hinkamen, bewiesen wir große Meisterschaft darin, so viele Leute anzupissen wie möglich. Nach zwei Jahren Entfremdung durch Abschottung tat es gut, jemanden zu haben, mit dem man sich gemeinsam Ärger einhandeln konnte.

Nach dem Schulabschluss kehrte ich nach Boston zurück, und Thomasina begleitete mich. Wir mieteten uns Wohnungen nur ein paar Blocks voneinander entfernt in Brookline, einer überwiegend noblen, stellenweise heruntergekommenen, ur­ba­nen Gegend, und lebten jeder sein Leben. Ich begann in unserem Familienunternehmen zu arbeiten, einer Parfümfirma, benannt nach meiner Mutter, Inessa Mark. Thomasinas Eltern – einer von ­ihnen in Frankreich, der andere an der Westküste – hatten haufenweise Geld und ein unendlich schlechtes Gewissen, was unter dem Strich bedeutete, sie musste nie arbeiten.

In der ersten Zeit feierten Thomasina und ich ohne Sinn und Verstand. Die schickeren Bars langweilten uns bald; all diese Typen in ihren Brooks-Brothers-Anzügen nahmen sich selbst viel zu ernst. Wir tendierten immer mehr zu den schäbigeren Spelunken, besonders unten in der Hafengegend. Fischer und Hafenarbeiter klebten uns buchstäblich an den Fersen. Wir genossen die Macht, die wir hatten, und schmeichelten uns selbst damit, überall wo wir hinkamen, Herzen zu brechen.

Dann lernte Thomasina Ned kennen, und die beiden zogen sich aus der Barszene zurück, um in ihrem vermeintlichen Liebesnest zu kuscheln. Ich soff und flirtete noch eine Weile weiter, bis ich die lahmen Anmachsprüche der rülpsenden Idioten nicht mehr hören konnte, und schrieb mich an der UMass Boston ein, um Russisch und russische Literatur zu studieren. Ich vermute, es war so eine Art Suche nach den eigenen Wurzeln – mein Versuch, das russische Wesen zu verstehen und zu meiner russischen Vergangenheit eine Beziehung aufzubauen. Es hat nicht funktioniert. Ich war nicht sicher, wonach ich wirklich suchte, und so war’s auch keine große Überraschung, als ich es nicht fand. Aber ich lernte, einigermaßen gut Russisch zu sprechen, auch wenn ich dazu bislang nicht viel Veranlassung hatte.

Es erstaunte mich nicht wirklich, als Thomasinas und Neds Beziehung zerbröselte. Er war Sohn irisch-italienischstämmiger Arbeiter aus South Boston, sie eine brillante, privilegierte und faule Bilderstürmerin. Anfangs schienen sie das alles locker zu überwinden. Sie strahlten sich an wie zwei Engel, in denen Megawattbirnen brannten. Diese Phase hielt, wie ich verwundert feststellte, fast drei Monate. Dann muss er wohl gedacht haben, zumindest von seiner Seite wäre nun alles Wesentliche gesagt, und fing an, nur noch ausdruckslos zu glotzen und sich unpassend am Sack zu kratzen. Woraufhin sie die volle Wucht ihres unterforderten Intellekts mit demütigenden Bemerkungen demonstrierte, die so brillant satirisch waren, dass er sie nicht mal verstand. Der Alkohol führte die zwei an den Rand von Gewalttätigkeiten – ruinierte Abendessen, zerschlagene Teller und Nachbarn, die aus dem Fenster brüllten, sie sollten die Schnauze halten. Sie konnte ihm seine Schlichtheit einfach nicht verzeihen. Als Noah zur Welt kam, waren die beiden längst getrennt.

Sie hatten nie geheiratet, und Neds Eltern sowie seine Schwester weigerten sich anzuerkennen, dass Noah überhaupt mit ihnen verwandt war. Sie zogen die Version vor, Thomasina hätte Ned bezirzt, für die Brut eines anderen Kerls herzuhalten. Um ehrlich zu sein, habe ich Neds Vaterschaft auch in Frage gestellt und weiß, dass Ned von Zeit zu Zeit verdutzt war, ein so geniales Kind gezeugt zu haben, das weder ihm noch irgendwem sonst, den er kannte, ähnlich war. Aber Ned war immer ein guter Vater, zumindest so gut, wie jemand es unter diesen Umständen sein kann. Er bestand darauf, Unterhalt zu zahlen, obwohl kein Gericht es verlangt hatte und Thomasina nicht darauf angewiesen war. Er kaufte Tickets für die Bruins, Red Sox und Patriots. Winter, Sommer, Herbst – Ned und Noah machten immer ihre Ausflüge. Er holte Noah jedes zweite Wochenende ab – Mittag essen und ein Besuch im Park oder der Bibliothek, abhängig vom Wetter. Wenn Thomasina darum bat, holte er ihn sogar von der Schule ab. Manchmal erlaubte Thomasina Ned, über Nacht zu bleiben, und wenn er es tat, schien er dankbar dafür zu sein. Ich stelle mir vor, wie er versuchte, seine Southie-Manieren zurückzufahren und nicht zu blöd rüberzukommen. Für etwas Zärtlichkeit tun die Menschen so ziemlich alles.

Doch obwohl Ned seinen Anteil übernahm, war Thomasina als alleinerziehende Mutter überfordert. Ihre Eltern, die schon keine Zeit für ihre einzige Tochter hatten, waren noch viel weniger an ihrem Enkelkind interessiert, und auch in die Schulpflegschaft passte sie nicht so recht. Doch nichts davon erklärt, warum sich eine ziemlich normale Form der zugegebenermaßen recht hässlichen, aber dennoch relativ überschaubaren Aus­schweifungen im letzten Jahr in eine heftige und erbärm­liche Alkoholabhängigkeit verwandelt hat.

Sie weiß, sie steckt in Schwierigkeiten. Sie hat alles versucht. Nicht nur die Anonymen Alkoholiker, sondern auch Rational Recovery, Tarotkarten, das Enneagramm, Therapien, Heilquellen, Meditation, die Beichte, den Blinden vorzulesen und nur noch Wein zu trinken. Nichts half. Mal hat sie ein paar nüchterne Tage, mal erfreut sie sich ein bis zwei Wochen eines klaren Kopfes, aber letzten Endes schließt sich ihre zitternde Hand dann doch wieder um den Hals einer Flasche. Wenn man Thomasina heute so ansieht, würde man nie darauf kommen, wie sie damals war – dass sie mit sechzehn innerhalb weniger Monate fehlerfrei Französisch gelernt hat, jede Rolle in Shakespeare kannte und Lincolns Gettysburg Address fast komplett rückwärts aufsagen konnte, wobei sie am Schluss in schallendes Gelächter ausbrach. Aber man hat wahrscheinlich kein Problem, sich vorzustellen, dass es sich bei den Beulen in ihrer Hand­tasche um kleine Flaschen Flugzeug-Gin handelt.

Man steht hilflos daneben; man hat wirklich Angst um sie. Man nimmt eine innere Verzweiflung wahr, etwas, das viel düsterer ist, als man dachte. Am liebsten würde ich mich von Thomasinas unaufhaltsamer, zunehmender Selbstzerstörung abwenden. Doch dann denke ich an Noah und greife nach dem Telefon. Höre mich sagen: Wie geht es dir? Wie geht’s Noah? Was gibt’s Neues?

Ich bin Noahs Patentante. Im Ernst. Das ist so ein katho­lisches Ding. Als er zwei Monate alt war, stand ich neben Thomasina und Ned vor dem Seitenaltar einer großen Kirche, Noah auf dem Arm. Das Taufbecken war aus kaltem, weißem Marmor. Ein Priester klebte an meiner Seite, dessen Ornat intensiv nach verrottendem, mittelalterlichem, von einer Heißmangel geglättetem Leder roch. Er stellte mir eine Frage: Schwörst du dem Satan ab und allen seinen Werken? Ich blinzelte verdattert. Satan? Aber Ned und Thomasina sahen zu, und ich hielt Noah in den Armen, also dachte ich ernsthaft darüber nach und antwortete: »Falls ich ihn jemals treffen sollte, werde ich wissen, was zu tun ist.«

Diese Antwort muss wohl gut genug gewesen sein, denn der Priester gab mir das Zeichen, Noah über das Becken zu halten. Er hielt den Becher in seiner Hand schräg, und Wasser floss über Noahs Stirn ins Marmorbecken. Noah verzog sein knitteriges Gesicht, aber weinte nur ein bisschen. Schon als Baby hatte er seine Gefühle im Griff, als wüsste er, dass in der Welt für sie nicht viel Platz sein würde. Zu meiner Über­raschung hatte ich Tränen in den Augen. Ich wollte ihm meinen ganzen Patentanten-Segen zuteilwerden lassen, musste ihm aber nur einen Kuss geben. Ich sah, wie Thomasina und Ned sich die Hände drückten. Wir sahen uns mit einer gewissen schüchternen Nacktheit an, wohl wissend, dass wir über einen perfekten Augenblick in unserem Leben gestolpert waren. Ein Moment so flüchtig wie alle anderen, und schon wieder vorbei.

*

Jetzt, bei Taffy’s, einem Restaurant an der Ecke, hat Noah einen Hamburger mit Fritten vor sich und strafft seine Schultern. Er nimmt das Brötchen in die Hand, hebt es zum Mund und beißt einen riesigen Happen ab. Er kaut wie ein Löwe, schlingt es herunter. Als ich ihn gefragt habe, hat er zugegeben, hungrig zu sein. Möglicherweise ist er sogar ausgehungert.

Es ist jetzt drei Tage her, dass sein Vater ertrunken ist. Ich habe keine Ahnung, wie viel er über den Unfall weiß. Die Geschichte war in den Nachrichten, und das schon ausführlicher als in ­einer bloßen Randnotiz. Ein Foto von Ned, das Gesicht eines ganz nor­malen Typen, es schwebt in einem kleinen Kasten neben dem perfekten Titelbild-Gesicht der Nachrichtensprecherin und wird dann größer, um den ganzen Bildschirm auszufüllen. Als sein Gesicht in dem Kasten war, sah er aus wie ein netter junger Mann, den man von der Highschool kennt und der vergessen hat, sich die Haare zu kämmen. Über den ganzen Bildschirm aufgebläht, konnte man die braunen Verfärbungen seiner Haut sehen, die jahrelang den Elementen ausgesetzt war. Seine tee­grü­nen Augen wirkten blutunterlaufen, skeptisch, mög­licher­weise verlogen. Oder vielleicht sah er nur so aus, weil in den Nachrichten jeder dazu neigt, wie ein Krimineller auszusehen. Auf jeden Fall hätte es sich für Noah vollkommen falsch angefühlt, das Bild seines verstorbenen Vaters im Fernsehen zu sehen.

»Möchtest du wissen, wie es passiert ist, Noah?«

»Okay.« Er hat gelernt, entgegenkommend zu sein.

»Es war ein Zusammenstoß, so wie auf der Autobahn, nur dieser hier war auf dem Meer.«

»Das weiß ich doch schon.« Er tunkt eine Fritte in ein Papiereimerchen mit Ketchup, um zu zeigen, wie wenig interessant es ist.

Natürlich. Er weiß alles über Zusammenstöße; er hat Tausende im Fernsehen gesehen. Funken fliegen, Gebäude fallen in sich zusammen, Autos gehen in Flammen auf. Echt ö-de.

Ich ziehe das Papiertischset unter dem Teller hervor, auf dem mein Sandwich liegt, und drehe es um. Mit einem von der Kellnerin geborgten Kuli zeichne ich die Küstenlinie, von Cape Cod bis Maine. Ich zeichne die Inseln im Boston Harbor ein und schraffiere grob die Erhebung von Georges Bank. »Dein Dad und ich waren hier«, erkläre ich und zeige auf einen Punkt, der ungefähr fünfundzwanzig Meilen nordöstlich von Boston liegen soll. »Es kam dichter Nebel auf. Dein Dad stand am Ruder, ich war am Heck und habe Köder in die Hummerfallen getan. Es war alles ganz ruhig. Ich konnte noch nicht einmal den Bug sehen. Als Nächstes erinnere ich mich daran, dass etwas Großes in uns hineinkrachte. Riesig, Noah. Ein Frachter. Er traf uns steuerbord, volle Breitseite. Das bedeutet, genau in der Mitte. Ich bin gesprungen, und als ich wieder an die Wasseroberfläche kam und mich umschaute, sah ich das zersplitterte Boot deines Dads und den Frachter, der weiterfuhr.«

»Mein Dad ist weggeschwommen, so wie du.«

»Die Küstenwache hat an dem Tag fünf Stunden nach ihm gesucht, bis die Sonne unterging, und am nächsten Tag vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang. Sie hatten zwei Pa­trouillenboote, zwei Hubschrauber und ein Suchflugzeug, eine C-130. Eine Suche von fast zwanzig Stunden, Noah. Ein paar Fischer waren auch da draußen – Freunde von deinem Vater. Sehr viele Leute waren dabei. Sie haben von dort, wo ich gefunden wurde, einen Radius von acht Meilen abgesucht.«

»Cool«, sagt er. Sein Blick ist leer, als wäre das, was ich sage, nicht wirklich real.

»Sie haben ihn nicht gefunden, Noah.«

»Er ist davongekommen, genau wie du. Er ist weggetaucht.«

»Er hätte irgendwann wieder auftauchen und Luft holen müs­sen.«

»Nicht, wenn er nach Atlantis geschwommen ist.«

»Atlantis gibt es nicht.«

»Gibt es doch.« Vorwurfsvoll sieht er mich an.

Ich passe auf ihn auf, seit er klein war. Ich bin seine Gute-Fee-Patentante, die mit ihm Spiele spielt und ihn bereitwillig auf Phantasiereisen begleitet; und die ihm nie sagt, er solle vernünftig sein oder seine Zähne putzen. So kennt er mich noch nicht.

Ich warte ab.

Noah tunkt eine weitere Fritte in den Ketchup. Er zieht sie einige Male über die dünne Pappe der Hamburger-Schachtel, was rötliche Streifen hinterlässt. Vielleicht schreibt er Hieroglyphen und versucht, so zu kommunizieren. Wenn das der Fall sein sollte, bin ich wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden, der noch versuchen würde, sie zu entziffern.

»Ein Monster hat meinen Dad getötet«, versucht er zu er­klä­ren.

»Er ist ertrunken, Noah«, sage ich sanft. »Er ist fort.«

Wütend zieht er die Augenbrauen zusammen, seine kleinen Nasenlöcher flattern. »Warum ist das Boot in ihn reingekracht? Warum haben sie nicht aufgepasst, wohin sie fahren?« Das hatte man ihm hundert Mal gesagt. Pass auf. Nicht rennen. Guck hin, was du tust. Aber er hat bereits herausgefunden, dass sich Erwachsene nicht an ihre eigenen Regeln halten.

»Es war ein Unfall, Noah. Zusammenstöße auf dem Meer kommen häufiger vor, als man denkt.« Ich könnte mich dafür treten, dass es sich so banal anhört.

»Warum haben die Leute nicht angehalten, um nach ihm zu suchen?«

»Gute Frage«, sage ich und versuche, Zeit zu schinden.

Ich fühle mich so hilflos, dass ich verzweifle. Ich will nicht, dass Noah meine Wut sieht. Hätte der Kapitän den Frachter direkt gestoppt, gleich nachdem er gemerkt hatte, was passiert war, hätte er uns beide problemlos retten können. Aber das tat er nicht. Er fuhr einfach weiter. Wollte sich wahrscheinlich die offiziellen Ermittlungen ersparen und den möglichen Schaden, den sein Ansehen deswegen nehmen könnte.

Aber das kann ich Noah nicht sagen. Also gebe ich ihm die naheliegende Antwort. »Die Küstenwache ermittelt. Sie werden die Leute und das Boot finden und ihnen genau diese Frage stellen.«

Er sieht mich mit den müden, ratlosen Augen eines enttäuschten Mannes an. Er weiß, dass ich etwas verschweige.

»Es ist möglich, dass die Leute auf dem Boot noch nicht einmal gemerkt haben, dass sie uns gerammt haben«, sage ich. »Der Frachter war ungefähr hundertfünfzig Meter lang und wog ich weiß nicht wie viele Tonnen. Doppelter Stahlrumpf. Die Brücke war fast drei Stockwerke hoch. Und welchen Sinn hat es schon, bei diesem Nebel überhaupt Ausschau zu halten? Sie verlassen sich bei so einem Wetter auf ihr Radargerät. Aber der Ozean ist groß, und damit hatten sie nicht gerechnet. Wenn sie dann so etwas Kleines wie den Hummerkutter deines Vaters sehen, dann denken sie vielleicht, es ist nur Zeugs, das im Meer treibt, zum Beispiel Ölfässer oder irgendwelcher Müll.«

Noahs Lippe zittert. Er versucht, nicht zu weinen. Tränen sind bei ihm so selten, dass die Aussicht, auch nur eine fallen zu sehen, mir in der Seele weh tut.

Aber er fängt sich wieder, schaut aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind ein Lampenladen, ein Walgreens und ein indisches Lebensmittelgeschäft. Weiter die Straße hinunter gibt es einen Park mit einem Spielplatz, wo er oft mit seinem Dad hingegangen ist und manchmal auch mit mir. Als kleines Kind mochte er die Schaukel, aber die Rut­sche nicht. Auf der Schaukel konnte er die Augen nach unge­wöhn­­lichen Ereignissen offen halten, die Rutsche war zu verwirrend.

Ich frage mich, was er wohl denkt. Vielleicht, dass die Welt ein ungerechter und gefährlicher Ort ist, nur, dass er keine Worte dafür hat. Vielleicht denkt er auch überhaupt nicht und saugt nur alles auf. Autos, Schiffe, Nebel. Betrunkene Mütter, ferne Väter. Zusammenstoß. Ich wünschte, ich hätte nicht gesagt, dass man das Boot seines Vaters vielleicht mit Müll verwechselt hat.

Ich zeichne ein Schiff, das aussieht wie die Molly Jones. »Da gibt es noch etwas Wichtiges, das du wissen sollst. Dein Dad hätte vielleicht über Bord springen und wegschwimmen können, so wie ich. Aber wenn er das getan hätte, wären wir beide gestorben, weil keiner gewusst hätte, dass wir da draußen waren. Also blieb dein Dad im Ruderhaus und hat die Küstenwache gerufen.«

Noah starrt mich an, und es fällt mir schwer, ihm in die Augen zu sehen.

»Dein Dad hat mir das Leben gerettet.«

Noah runzelt die Stirn. Langsam hebt er seinen Hamburger hoch. »Wollte er dich heiraten?«

»Nein. Wir waren nur Freunde.«

»Warum?«

»Warum wir Freunde waren?«

»Warum wollte er dich nicht heiraten?«

»Wollte er einfach nicht. Zu heiraten ist etwas Besonderes. Wir waren froh, einfach Freunde zu sein.«

»Warum haben Mom und Dad nicht geheiratet? Waren sie auch nur Freunde?«

Jetzt wird’s knifflig. Ich erkläre ihm, dass sie mal mehr als nur Freunde waren und dann Freunde wurden.

Er legt auf den Teller, was von seinem Hamburger übrig ist, nimmt die obere Brötchenhälfte ab, pult eine Scheibe eingelegte Gurke aus dem Senf-Ketchup-Matsch und legt sie sorgsam an den Rand der Verpackung. »Wenn du und Dad geheiratet hättet«, sagt er, ohne aufzusehen, »wärst du jetzt meine Stiefmutter.«

Daran erkenne ich, wie weh es ihm tut; so etwas hat er noch nie zu mir gesagt. Ich nehme mir Zeit, bevor ich antworte: »Ich bin nicht fürs Muttersein gemacht, Noah. Aber wenn ich von jemandem die Stiefmutter sein müsste, dann wollte ich deine sein.«

Er sieht mich mit so viel Vertrauen an, wie man jemandem nur schenken kann, und ich denke drei Wörter, die ich seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr benutzt habe. Ich liebe dich. Ich würde sie ihm sagen, doch ich fürchte, ich kann nicht halten, was die Worte versprechen.

Noah kramt etwas aus seiner Jackentasche. Es ist eine gelb-weiße Scheibe, durchsiebt von kleinen Adern und Löchern. Fünf Zentimeter im Durchmesser, gut zwei Zentimeter dick, die Ränder glatt wie Glas.

»Das ist schön«, sage ich. »Woher hast du es?«

»Von Dad. Er hat mir auch andere Sachen geschenkt.«

»Wo hat er es her?«

»Von einem Wal.«

»Das hat er dir erzählt?« Es sieht vage so aus, als könne es von einem Tier stammen, aber ich habe noch nie so einen Knochen gesehen. Ich vermute, es handelt sich um eine Art Stein. Offensichtlich ist er geschnitten worden und scheint auch poliert worden zu sein.

Noah beugt sich vor. »Mein Dad hat mal gegen einen Wal gekämpft«, flüstert er. »Er ist in ein kleines Boot gestiegen und ist ihm gefolgt und hat ihn mit einer Harpune getötet. Der Wal ist nicht sofort gestorben. Er hat meinen Dad noch durch die halbe Welt gezogen, doch der hat sich mit aller Kraft festgehalten. Der Wal hat die ganze Zeit geblutet, und am Ende ist er dann verblutet, und mein Dad hat ihn zurück zum Schiff geschleppt. Er ist die ganze Nacht auf gewesen und hat ihn in Stücke zerteilt. Ein paar von den Knochen hat er behalten. Siehst du?« Er winkt mit der elfenbeinfarbenen Scheibe. »Ein Walknochen.« Er gibt ihn mir.

Als Baby hatte Noah riesige dunkelblaue Augen. Seine Lippen schürzten sich beim Atmen manchmal zu winzigen Küssen, so als könne er gar nicht anders und müsse die Liebe, die ihn erfüllte, hinaus in die Welt senden. Wir spielten immer ein Spiel: Wir saßen uns gegenüber, er im Hochstuhl, ich auf einem Küchenstuhl. Dann gaben wir uns etwas – eine Gummiente, eine Ninjafigur oder ein anderes kleines Spielzeug – eine lange Zeit immer hin und her, während wir uns anlächelten. Das hier erinnert mich daran. Doch als ich ihm die Scheibe wiedergeben will, schiebt er sie direkt zu mir zurück.

Vielleicht ist der Held, den ich ihm beschrieben habe – der, der den Notruf absetzt –, nicht gut genug. Er braucht einen, der Harpunen schwingt.

Langsam drehe ich den Schatz in meiner Hand, untersuche ihn respektvoll. »Schön, Noah. Wirklich, wunderschön.«

Er nimmt ihn und stopft ihn wieder in seine Jackentasche, schließt sie, knöpft die Lasche zu und sieht sich im Restaurant nach den essenden Menschen um. Plötzlich ist er wieder ein rastloses Kind, gestärkt durch einen Hamburger, mit dem sicheren Gefühl, die Geschichten glauben zu dürfen, die ihn trösten, und die Tatsachen ignorieren zu können, die er nicht versteht. Es ist noch etwas Zeit, bis er Hausaufgaben machen muss, und er sagt: »Hey, Pirio, wenn wir hier fertig sind, können wir dann zu dir gehen und noch ein bisschen Domino spielen?«

Kapitel 2

Es ist Samstagmorgen, eine Woche nach dem Unfall, und ich sitze in einem in Stille getauchtes Fernsehstudio in Brighton. Hinter dem grellen Scheinwerferlicht verbirgt sich ein Livepublikum von über zweihundert Fans des legendären Jared ­Jehobeth, der mir in einem Klubsessel direkt gegenübersitzt. Er wirkt total entspannt. Scheinbar in Gedanken rückt er seine Krawatte zurecht und ruft seine Showtime-Persönlichkeit ab, wo auch immer er sie abgespeichert hat. Links von mir steht ein winziger Tisch. Ich bemerke das fürsorglich bereitgestellte Glas Wasser, sollte es mir gleich die Kehle zuschnüren.

Ich hätte nie gedacht, jemals an einem solchen Ort zu landen. Ich hasse Fernsehen im Allgemeinen und Frühstücksfernsehen im Besonderen. Als der TV-Produzent anrief und mich als Gast in die Sendung einlud, nachdem er den Artikel über den Unfall im Boston Globe gelesen hatte, habe ich sofort abgelehnt.

Dann dachte ich darüber nach. Niemand hatte sich gemeldet und die Verantwortung für die Kollision übernommen. Je mehr Zeit verging, desto wahrscheinlicher war es, dass der Frachter, der die Molly Jones versenkt hatte, unbehelligt davonkam. Was, wenn das Publikmachen der Geschichte ein Besatzungsmitglied dazu brachte, eine Aussage zu machen oder einen anonymen Hinweis zu geben? Also rief ich den TV-Produzenten zurück.

In diesem Augenblick frage ich mich allerdings, ob das eine kluge Entscheidung war. Ich streiche mir die Haare aus dem Nacken und locker über die Schulter, und schon taucht eine Re­gieassistentin neben mir auf, sprüht, kämmt und legt mein Haar wieder so, wie es vorher war. Unter den heißen Lampen beginnt das dicke Puder-Make-up, mit dem sie mich eingeschmiert ­haben, bereits von meinem Gesicht abzurutschen. Ich bin froh, den Rest der Kosmetik-Camouflage, die sie mir aufdrängen wollten, weggelassen zu haben. Ein junger Aufnahmeleiter in T-Shirt und Jeans steht unterhalb der Bühne, hält die Finger hoch und zählt die Sekunden herunter, bis die rote Lampe aufleuchten wird, die signalisiert, dass wir auf Sendung sind.

Jetzt richtet der Aufnahmeleiter seinen Zeigefinger schweigend und übertrieben deutlich auf uns beide auf der Bühne – und am Rande meines Blickfelds leuchtet die rote Lampe auf. Mir wird schwindelig vor Angst. Es ist, als wäre ein Gerüst weggezogen worden. Ich schaue an mir herunter und stelle fest, dass ich tatsächlich Kleidung anhabe – eine rote Seidenbluse, einen kurzen grauen Rock über schwarzen Strumpfhosen und hohe schwarze Stiefel. Zwischenzeitlich ist Jared Jehobeth aufgeleuchtet wie eine Neonbirne. Er versprüht so viel Selbstvertrauen und Charme, dass selbst der unscheinbare braune Anzug irgendwie adrett aussieht. Er begrüßt sein Studiopublikum und die Fernsehzuschauer zu Jared Jehobeth am Morgen. Die leicht zweideutigen Anspielungen des Titels lassen ihn noch nicht einmal blinzeln. Stattdessen leuchten seine Augen wie unschuldige blaue Luftballons, und mit seinem braunen Haarschopf und dem pinkfarbenen Rouge, das sie ihm auf die Wangen gepudert haben, sieht er so vertrauenswürdig aus wie ein Franziskanermönch. Aber er hat den Ruf eines knallharten Interviewers – er hat die Hersteller mangelhafter Produkte dem Gespött der Öffentlichkeit preisgegeben, hat prügelnde Ehe­män­ner und Väter, die ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen, dazu gebracht, zusammenzubrechen und ihre Familien um Verzeihung zu bitten.

Er erklärt, heute habe er einen ganz besonderen Gast, eine junge Dame mit außergewöhnlichem Mut, die hier ist, um eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, die man kaum glauben kann. Es klingt so gut, dass ich einen Augenblick lang vergesse: Er spricht über mich.

»Schaltet Survivors aus, Leute, denn das hier ist das echte Leben. Nach einer Kollision sank das Fischerboot, auf dem sie war; der Kapitän ist wahrscheinlich ertrunken; doch diese unglaubliche junge Frau trieb fast vier Stunden bei Wassertemperaturen von sechs Grad Celsius im Nordatlantik, bevor sie gerettet wurde. Soweit wir wissen, hat noch niemand je zuvor so etwas geschafft, meine Freunde. Die längste Zeit, die ein durchschnittlicher Mensch bei diesen Temperaturen überlebt, sind maximal ein bis zwei Stunden. Sie ist eine inspirierende Überlebenskünst­lerin, ein medizinisches Wunder und eine junge Frau, die sehr viel Glück gehabt hat!« Er wendet sich mir zu, mit Augen, die vor wohlwollender Bewunderung glänzen. »Ich danke Ihnen, dass Sie heute hier sind, Pirio Kasparov. Und nun erzählen Sie uns, was da draußen passiert ist.«

Mein Hals zieht sich zusammen. Ich möchte am liebsten von der Bühne stürmen. Voller Entsetzen sehe ich ihn stumm und entschuldigend an.

Er lässt ein winziges Anzeichen heftigster Verärgerung durchblicken.

Ich sage die Wahrheit und weiß, es klingt wie eine Ausflucht. »Ich fürchte, an besonders viel kann ich mich nicht mehr er­innern.«

Übertrieben ungläubig lehnt Jared Jehobeth sich zurück. »Sie sind von einem sinkenden Boot weggeschwommen und haben Stunden im eiskalten Wasser gepaddelt – und waren, wenn ich richtig informiert bin, immer noch bei Bewusstsein, als man Sie fand. Sie müssen sich doch an etwas erinnern!«

Okay. Augen zu und durch. Ich nehme allen Mut zusammen, konzentriere mich, versetze mich zurück in den Moment. Unmittelbar, als hätte sie ein paar Meter von der Bühne entfernt gestanden und auf ihren Auftritt gewartet, erscheint eine breite Wand aus gestreiftem, grauem Wasser über mir, hebt sich, wölbt sich und beginnt zu fallen. Ich halte instinktiv die Luft an. In meinen Ohren ist ein grauenvolles Dröhnen, das so unvorstellbar entsetzlich ist, dass ich mein Leben geben würde, nur damit es aufhört.

Anscheinend werde ich blass, denn Jared Jehobeth interveniert: »Erinnern Sie sich zurück an den Moment kurz vor dem Unglück. Was haben Sie gerade getan?«

»Es fühlte sich an wie … nun, zuerst … stand ich am Heck. Mein Freund, Ned Rizzo –«

»Der Mann, der starb. Er war Familienvater, richtig?«

»Ja.« Ich hoffe, dass Noah nicht zuschaut. Er sieht nicht viel fern, und Jared Jehobeth ist nicht gerade seine Sendung, aber ich habe Thomasina gesagt, sie soll ihn heute Morgen auf jeden Fall von der Glotze fernhalten.

»Ich habe die Ködertaschen der Hummerfallen gefüllt. Es war sehr neblig. Von dort, wo ich stand, konnte ich nur Ned im Ruderhaus sehen. Er hatte eine gelbe Öljacke an. Diese Sa­chen leuchten so, wissen Sie?« Ich schweife ab zu irrelevan­ten Details, zu allem, was mich davon abhält, nach vorn zu stürzen.

Jared Jehobeth zwingt mich, ihn anzusehen, ähnlich einem visuellen Schwitzkasten. Seine Augen sind mitleidsvoll, gebieterisch. Wenn dieses Interview vorbei ist, werde ich ihn nie wiedersehen. Aber im Moment ist er so etwas wie ein bester Freund.

»Ich habe mit dem Befüllen aufgehört, als Blut aus meinem rechten Daumen quoll. Die Scharniere an den Hummerfallen sind ziemlich scharf. Ich habe einen leeren Eimer am Seil über die Reling geworfen, habe Seewasser hochgezogen und meine Hand hineingehalten, um sie zu betäuben und die Blutung zu stoppen.« Ich höre mich selbst und bin beeindruckt. Wie kompetent ich klinge!

»Sie müssen gewusst haben, dass selbst eine kurze Zeit im Wasser bei diesen Temperaturen möglicherweise tödlich sein könnte.« Dieser Mann ist genial.

»Darüber habe ich nicht nachgedacht.«

»Aber Sie haben es gewusst.«

»Ja.«

Jared Jehobeth wirft dem Publikum ein breites triumphierendes Grinsen zu. Er wird mich zu einer Heldin machen, und nur darum geht es hier. Ich komme mir wie ein Idiot vor, das nicht vorhergesehen zu haben. Bin aber auch ein wenig beeindruckt. Wenn man sich überlegt, wie einfach man einen Menschen neu erfinden kann, und wie falsch. Ich habe nichts anderes getan, als aus einem todgeweihten Boot zu springen, um mich zu retten. Anschließend ist mein Körper ganz von allein in eine Art Ruhezustand verfallen, medizinisch unerklärlich und bislang nur selten dokumentiert, durch den in meinen lebenswichtigen Organen irgendwie eine untere Temperaturgrenze eingehalten werden konnte, bis die Küstenwache eintraf und mich aus der Suppe fischte. Ich war nur noch ein schlaffer Sack von bläulich aufgedunsenem Fleisch, als sie mich gefunden haben. Nichts, was ich mir als Verdienst anrechnen kann oder anrechnen möchte.

»Um ehrlich zu sein, war ich etwas seekrank. Ich bin kein erfahrener Fischer. Die Nässe und Kälte haben mir überhaupt nicht gefallen.«

Das Publikum lacht freundlich-mitfühlend. Ich bin genau wie sie.

»Ned meinte, ich würde mich irgendwann an das Schlingern gewöhnen, aber es war der Geruch, den ich nicht ausstehen konnte. All dieser Diesel, gemischt mit den Ködern, die im Prinzip nur verfaulte Heringsinnereien sind.«

Das Publikum stöhnt mitleidig.

»Wie auch immer, mir ging es ziemlich dreckig, und der Nebel machte es nur noch schlimmer. Ich habe immer wieder hineingestarrt und versucht, den Horizont zu finden, aber ich konnte kaum den Bug sehen.

Kurz vor der … äh, Kollision war es still – zu still. Ich bemerkte eine riesige schwarze Wand ein paar Meter vor dem Bug, die dort im Nebel irgendwie vor uns lauerte. Zuerst schien sie sich nicht zu bewegen. Dann wurde mir klar, dass sie schnell an Steuerbord vorbeiglitt. Im nächsten Moment krachte der Stahlrumpf eines riesigen Schiffes – so hoch, dass ich den oberen Teil nicht sehen konnte – in das Seitendeck, ungefähr drei Meter von mir entfernt.

Das Deck fing unter meinen Füßen an aufzubrechen. Es gab einen schrecklichen Lärm. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich einen Kopfsprung über die Seite ins Wasser gemacht habe. Ich erinnere mich nicht daran, Angst gehabt zu haben. Ich dachte nur, wie unfair, weil mir doch sowieso schon schlecht war, und nun würde ich auch noch klatschnass.«

»Was haben Sie noch gedacht?«, fragt Jared Jehobeth atemlos.

Ich schließe die Augen und konzentriere mich. »Ich dachte … Bitte stirb nicht, Ned.«

»Ah«, er lehnt sich zufrieden zurück. »Und was ist dann passiert?«

»Man erleidet einen Schock, wenn man in so kaltes Wasser fällt. Alles an einem steht unter Schock. Dann fühlt man nichts mehr. Eine Weile bin ich unter Wasser geschwommen und war überrascht, dass sich meine Arme und Beine bewegten.«

»Wie war es dort unten?«

Fast lächele ich. Er will einen Reisebericht, als wäre ich gerade zurück von einem exotischen Ort. Vielleicht aus der Welt des kleinen Nemo. Oder vom Planeten des Riesenkraken.

Aber meine Geschichte hat eine eigene Dynamik, da ist keine Zeit für Fragen. »Ich habe nicht nach Luft geschnappt. Meine Atemwege verschlossen sich einfach. Meine Arme und Beine bewegten sich wie verrückt – aber alles passierte instinktiv. Ich bin in der Highschool geschwommen und schwimme immer noch mehrmals pro Woche im YMCA. Das hat mir möglicherweise geholfen – ich weiß nicht. Ich sah ein Leuchten und nahm an, es sei die Oberfläche, also bin ich dorthin. Dann war ich an der Luft, musste würgen und habe versucht, den Kopf über Wasser zu halten. Schließlich habe ich zurückgeschaut.«

»Was haben Sie gesehen?«

Ich schüttele kaum merklich den Kopf. Diesen Teil werde ich nicht erzählen. Es tut viel zu weh. Dennoch sehe ich die Szene ganz deutlich vor mir: Die vordere Hälfte der Molly Jones rollt wie ein Kopf, abgetrennt durch eine Guillotine, von dem riesengroßen Schiff fort, neigt sich, verharrt kurz, verschwindet dann schneller unter den Wellen, als ich es für möglich gehalten hätte, während der Frachter lautlos aus einer Nebelschwade in die nächste gleitet, ein riesiges schwimmendes Bollwerk aus Stahl.

Jared Jehobeths dramasüchtige Blicke ignorierend, fahre ich mit der Geschichte fort: »Ich wurde gegen ein Brett getrieben. Ich ergriff es, schlang ein Ende zwischen meine Beine und legte mich lang darauf. Schließlich rollten die riesigen Bugwellen des Schiffes über mich hinweg. Ich ging unter und tauchte wieder auf. An diesem Punkt hatte ich die größte Angst, glaube ich.«

»Hatten Sie Schmerzen?«

»Nein. Unterkühlung tut nicht weh. Man wird schlapp und … schläft einfach irgendwie ein.«

Jared Jehobeth hebt seine Krawatte an, streicht sie glatt und lächelt. »Nun, wir sind wirklich glücklich, Sie heute bei uns zu haben, Ms Kasparov. Jetzt erzählen Sie doch mal, wie es sich anfühlte, als Ihnen klarwurde, dass Sie gerettet wurden, dass Sie nach all dem, was Sie durchgemacht hatten, in Sicherheit waren.«

»Ich wünschte, ich könnte diese Frage beantworten, aber von der eigentlichen Rettung weiß ich nichts mehr. Sie haben mir erzählt, ich wäre bei Bewusstsein gewesen, aber ich erinnere mich nur noch daran, nackt in einem Schlafsack aufgewacht zu sein, eingehüllt in die starken Arme eines sehr warmen, sehr lebendigen Mannes.«

»Oh, wunderbar!«, sagt Jared Jehobeth, wird munter und zwinkert dem Publikum zu. »Der Austausch von Körperwärme ist ein anerkanntes Mittel gegen Unterkühlung. Waren Sie überrascht?«

»Ich dachte, ich wäre gestorben und im Himmel.«

Das Publikum bricht in Applaus aus, und ich könnte schwören, Jared Jehobeth zwinkert auch mir eine Nanosekunde zu, die Anerkennung von einem Schauspieler für den anderen. Ich grinse, ohne es zu wollen, und kann es selbst nicht fassen. Ich ziehe dieses Ding mit Bravour durch. Es fühlt sich ekelhaft an und wie im Rausch.

»Tatsächlich befanden Sie sich im Helikopter der Küstenwache, auf dem Weg in die Sicherheit«, erklärt er. »Das ist wirklich eine phantastische Geschichte. Vielen Dank dafür, dass Sie sie mit uns geteilt haben. Meine Damen und Herren, Pirio Kasparov, eine echte Überlebenskünstlerin!«

Das Publikum klatscht wieder begeistert. Ich kann jenseits der blendenden Scheinwerfer nichts erkennen, aber ich spüre, wie mir eine Woge der geballten Zuneigung entgegenschlägt. Was überraschend angenehm ist.

Jared Jehobeth schwingt in seinem Stuhl herum, um in die Kamera zu schauen. »Bleibt bei uns, Leute. Nach einer kurzen Werbeunterbrechung sind wir gleich wieder zurück.«

Die rote Lampe erlischt, wir sind nicht mehr auf Sendung. Jared Jehobeth fällt in sich zusammen wie ein Ballon. Er zieht ein Taschentuch heraus und wischt sich über die Stirn. Die Regieassistentin taucht neben mir auf und begleitet mich von der Bühne zurück in den trist-grünen Raum, wo gerade der nächste Studiogast, ein Diätguru, hereingeführt wird. Sie bedankt sich, gibt mir meinen Mantel.

»War’s das?«, will ich wissen.

Sie lächelt gleichgültig. »Ja, Sie können jetzt gehen.«

Minuten später stehe ich auf dem Parkplatz. Ein leichter Regen benetzt mein Gesicht. Ich fühle mich ein wenig, als hätte ich Helium im Hirn, ein bisschen unwirklich. Auf der einen Seite donnert der Verkehr über den Mass Pike, auf der anderen Seite ­ragen monströse Gewerbegebäude hoch auf. Ich fahre mit meinem zwölf Jahre alten Saab in die Stadt zurück und frage mich, ob jemand anrufen und einen Hinweis geben wird.

Kapitel 3

Auf die hohe, mittelalterlich aussehende Fassade der Gate of Heaven Church in South Boston fällt ein feuchtkalter Schatten. Wenn man Gott nicht fürchtete, bevor man vor dieser Kirche stand, war das anschließend mit Sicherheit anders. Oder doch zumindest denjenigen, der so ein bedrohliches, unbarm­her­ziges Gebäude in Auftrag gegeben hatte. Trauernde mar­schie­ren in Reih und Glied durch die schweren beschlagenen Türen, klappen ihre Regenschirme zusammen und knöpfen ihre Trenchcoats auf. Es ist dieselbe Kirche, in der Noah getauft wurde; beim Eintreten erinnere ich mich an das weiße Marmorbecken neben dem weit entfernten Altar. Ich gleite in eine der hinteren Bänke und beobachte, wie Neds Freunde nacheinander hereinkommen.

Man erkennt die Fischer an ihren roten, wettergegerbten Gesichtern. Einer von ihnen humpelt – vielleicht verletzt von einem herumfliegenden Haken oder weil er gegen ein Seitendeck gequetscht wurde. Die meisten von ihnen waren wahrscheinlich schon einmal bei einer Beerdigung ohne Sarg. Sie scheinen sich drinnen nicht sehr wohl zu fühlen, wo sie trockene Luft atmen und hinter ihren untersetzten, pragmatischen Frauen herstiefeln müssen.

Neds Eltern, seine Schwester und sein Schwager mit ihren unbändigen Zwillingen sitzen bereits in der vordersten Bank. Genau wie Thomasina und Noah, allerdings auf der anderen Seite des Gangs. Neds Mutter Phyllis ist darüber wahrscheinlich entsetzt und wünscht sich, sie hätte den Bereich abgeriegelt, um Thomasina vom Rampenlicht fernzuhalten. Aber Tho­masina ist offensichtlich früh genug da gewesen, um sich den guten Platz zu sichern, bevor es jemand anderes tat, mit Noah an ihrer Seite, wie ein Maskottchen. Seht ihr? Das hier ist sein Kind, egal was ihr denkt. Sie trägt ein voluminöses schwarzes Cape mit ­einer Kapuze, das an Gevatter Tod höchstpersönlich erinnert oder an eine übertrieben fromme Nonne. Ich vermute, darunter trägt sie ein enges, halb durchsichtiges, vielleicht sogar mit Pailletten besetztes T-Shirt und eine noch engere Dreihundert-Dollar-Designerjeans. Außerdem würde ich darauf wetten, dass ihre Augen mit Eyeliner und haufenweise Mascara geschminkt sind, die, wenn sie weint, grauenvoll zerlaufen werden. In diesem Stadium ihrer Sucht ist sie außerstande, angemessene Schicklichkeit an den Tag zu legen, was nicht heißen soll, dass sie jemals gut darin war.

Der Priester lässt alle warten und tritt dann von der Seite auf, wie ein Kirchen-Rockstar in einer üppigen lila Robe, der von einer Horde Messdiener in wehenden weißen Gewändern zum Altar geleitet wird. Er dreht uns den Rücken zu, hebt die Arme zu dem riesigen Kruzifix über dem Tabernakel, senkt sie im Gebet und geht dann weiter zu einem Rednerpult links vom Altar, wo er zu sprechen beginnt. Er hat ein Jungengesicht und eine klare, ruhige Stimme; ich versuche zuzuhören, aber es fühlt sich an, als hätte ich Watte in den Ohren. In Sachen Religion bin ich taub und kann nur nervös herumzappeln. Der Gottesdienst zieht sich ewig hin. Man würde ja annehmen, das Fehlen eines Leichnams würde die Sache etwas beschleunigen.

Schließlich verlässt der Priester den Altar und schreitet mit flatternder Robe gebieterisch durch den Mittelgang. Thoma­sina und Noah schließen sich ihm schnell an. Neds Eltern, seine Schwester und ihre Familie sind gezwungen, in ihrem Kiel­­­wasser zu folgen. Thomasina überrascht mich mit ihrer feier­li­chen Haltung und Würde; wenn’s drauf ankommt, ist sie in der Lage, auf ihre tadellose Oberschichtserziehung zurückzugreifen. Es ist Phyllis, die ein rotes Gesicht hat, schwankt und sich die ­Augen tupft. Wir Trauernde lassen sie passieren, machen ­ihnen reichlich Platz. Die Familie des Verstorbenen bildet einen inneren Kreis der Trauer, den jeder respektiert … und meiden möchte.

Hintereinander verlassen die Leute die Bankreihen. Ich bleibe zurück, zögere seltsamerweise zu gehen. Ich hatte mir von diesem Gottesdienst etwas versprochen. Vermutlich so was wie Trost. Ich habe ein Bild von Ned vor Augen, wie er, mit gläsernem Blick und aufgedunsen, dicht über dem von Trawlern durchpflügten Meeresboden treibt, wobei ihm in der Strömung das Haar um den Schädel wedelt wie Seegras, und einer der Hummer, die er fangen wollte, trudelt über seine orangefarbene Steppweste.

Mein Blick streift blind über die bemalten Statuen der Hei­ligen, die flackernden roten Votivkerzen, den holzgeschnitzten Kreuzweg. Alles dazu gedacht, die Menschheit mit Leid und Tod zu versöhnen. Ich wünsche mir von Herzen, die schrägen Mythen der Religion würden bei mir funktionieren, doch das tun sie nicht. Dennoch kann ich mich im Moment nicht losreißen. Was, wenn mir etwas entgeht, ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehe? Was, wenn ich mich irre?

Ich schaffe es, mich zusammenzureißen, und schließe mich den letzten Nachzüglern an, die in das marmorne Foyer strömen. Am Eingang herrscht Tumult. Wegen der vielen Leute kann ich nichts sehen, doch ich höre zunächst laute Stimmen und dann, mit einem zunehmend unguten Gefühl, Thomasinas Gekreische.

»Was machen Sie denn da? Lassen Sie mich los!«

Ich dränge mich durch die Menge nach vorn, und das Erste, was ich sehe, ist Phyllis, die starr und vor Wut schäumend Thomasina und Noah den Ausgang versperrt. Sie trägt einen kleinen, runden Hut, einen dunklen Mantel und dunkle Pumps; sie hat krause, mit Haarspray fixierte Locken. Sie wirkt wie eine Frau, die hart gearbeitet, viel entbehrt, um wenig gebeten und sich stets an die Regeln gehalten hat. Also eine Frau, die Verbitterung als ihr gutes Recht ansieht. Eine Hand umklammert dicht vor der Brust eine kleine schwarze Handtasche, die andere hat anscheinend gerade Thomasina zurückgestoßen.

»Wie können Sie es wagen, vor uns zu gehen! Wie können Sie es wagen, überhaupt hierherzukommen! Sie haben meinen Sohn ruiniert – er war nie mehr derselbe, nachdem er mit Ihnen zusammen war. Und jetzt platzen Sie hier rein und setzen sich in die erste Bank, als wären Sie seine Frau. Warum sind Sie gekommen? Sie gehören hier nicht her! Sie haben kein Recht, vor uns zu gehen!«

Ich zucke zusammen. Ich sehe, wie Noah erstarrt. Thomasina greift nach seiner Hand. Dutzende von Leuten schauen zu, keiner gibt einen Laut von sich.

An diesem Punkt erwacht Neds Vater, der direkt hinter seiner Frau gestanden hat, aus seinem fassungslosen Staunen, tritt einen Schritt vor, nimmt Phyllis am Ellenbogen und führt sie zur Tür. Sie stolpert mit qualvoll gerötetem Gesicht hinaus und ruft über die Schulter zurück: »Sehen Sie sich doch nur an! So kommen Sie in die Kirche – angezogen wie eine Schlampe! Es ist mir egal, wenn ich in der Hölle schmore, weil ich sage –«

Die wuchtigen Türen verschlucken ihre Worte, und die Menge steht eine Weile regungslos da. Dann setzen sich die Ersten wieder in Bewegung, tauchen ihre Finger kurz ins Weihwasser und bekreuzigen sich mit gesenktem Kopf, während sie Gebete murmeln. Es ist, als hätten sie beschlossen, dass vielleicht gar nichts passiert war. Oder, falls doch, dass es jetzt auch nicht mehr zu ändern war. Aber als sie die Kirche verlassen, schlagen sie einen weiten Bogen um Thomasina und Noah, die immer noch dort stehen, wie zwei menschliche Statuen auf einer quadratischen Marmorwiese.

»Thomasina –« Ich berühre ihren Arm.

»Schon in Ordnung, Pirio. Ich komme damit klar«, sagt sie mit fester Stimme.

Ihre Augen sind auf die Tür gerichtet. Dahinter erwartet sie ein Spießrutenlauf die steinernen Stufen hinunter. Gefolgt von einem überfüllten Bürgersteig und einer Ecke, an der Leute in kleinen Gruppen beisammenstehen werden und reden. Starre Blicke, Getuschel, verächtliches Grinsen. Dann die Autofahrt nach Hause mit einem trauernden, verleugneten Zehnjährigen. Aber ja, sie wird damit klarkommen. Durch die Menge zu gehen, ohne Gefühle zu zeigen. Sich etwas Vages und fast Glaubhaftes auszudenken, um Noah zu erklären, was gerade passiert ist. Es ist nicht deine Schuld. Es ist meine. Deine Großeltern mögen mich nicht besonders. Albern, oder? Niemand käme besser mit dieser Herausforderung klar als Thomasina. Sie wird es sogar ganz einfach aussehen lassen. Aber heute Abend, wenn sie allein ist, wird sie wieder nach dem Stolichnaya greifen, statt wie üblich nach ihrem Wein. Wird sich die Flasche reinknallen und aus den Latschen auf die Couch kippen, wo Noah sie am nächsten Morgen finden und sich kurz fragen wird, ob sie noch am Leben ist.

Sie atmet tief ein, greift Noahs Hand noch fester; er wirft mir einen ängstlich-verwirrten Blick zu, und ich nicke ermutigend. Und los gehen sie, durchgedrückter Rücken, Augen geradeaus. Ein Mann hält ihnen die Tür auf, schaut aber fort, als sie hindurchgehen. Vielleicht aus Feigheit, oder einfach nur aus Schmerz, lungere ich so lange im Foyer herum, bis es ganz leer ist. Als ich schließlich vor die Tür trete, ist von Thomasina und Noah oder Phyllis und ihrer Familie nichts mehr zu sehen.

Es dämmert bereits. Das Licht hat einen gedeckten violetten Ton angenommen. Eine dicke weiße Taube watschelt auf mich zu, schwankt von einem Fuß auf den anderen, als wären die Beine unterschiedlich lang. In diesem Licht leuchten die Federn regelrecht. Spontan gehe ich in die Hocke, und die Taube nähert sich meiner ausgestreckten Hand. Sie pickt einen Augenblick an meinen Fingern und entfernt sich dann ohne Eile.

Das ist die zweite seltsame Sache, die mir in jüngster Zeit passiert ist. Gestern habe ich mitten in der Nacht einen Dudelsack spielen hören. Ich habe das Fenster geöffnet und mich hinausgelehnt. Es war ein friedvolles Lied, das ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich habe lange gelauscht, und als ich wieder zurück ins Bett ging, spielte die Musik immer noch. Es fühlte sich an, als würde der Dudelsack mich zurück in den Schlaf singen.

Meine Taube fliegt hoch, auf das gegenüberliegende Gebäude, und verschwindet hinter dem Dach. Direkt darunter steht ein Mann auf dem Bürgersteig. Er mustert mich besorgt. Er ist um die dreißig, mittelgroß, mit einem breiten Gesicht, einer wuchtigen schwarzen Brille und lockigem braunen Haar, das ihm fast bis zur Schulter reicht. Eine Hand steckt in der Tasche. Irgendetwas daran wirkt kontrolliert, eine gezügelte Kraft, Wor­te, die von verschlossenen Lippen zurückgehalten werden.

Er überquert die Straße, kommt zügig die Stufen hinauf und streckt seine Hand aus. »Larry Wozniak, ein alter Freund von Ned.«

Ich schüttele seine Hand – sie ist warm und trocken. Mir fällt auf, dass ich seine linke Hand in meiner linken Hand halte.

»Furchtbar, nicht? Er war noch so jung.« Er scheint zu wissen, dass er Plattitüden von sich gibt.

Ich stimme undeutlich zu und gehe die Stufen hinab. Es war eine lange Beerdigung, und ich bin nicht in der Stimmung für Geplauder.

»Sie waren auf dem Boot, oder?«, fügt er eilig hinzu, während er mir folgt. »Ich habe Ihr Foto in der Zeitung gesehen und Sie wiedererkannt. Ich, äh … ich wollte wissen, ob … Waren Sie und Ned, äh –? Wie gut kannten Sie ihn?« Er ist rot geworden und fängt an zu stottern.

»Wenn Sie wissen wollen, ob wir ein Liebespaar waren, dann lautet die Antwort nein. Freunde, ja. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt.«

»Tatsächlich?« Er sagt das so, als wäre meine Antwort sehr viel interessanter, als sie im Grunde ist, und passt seine Schrittlänge der meinen an. »Was meinen Sie mit ›bis zu einem gewissen Punkt‹?«

»Ich meine damit, dass ich mit seiner Ex-Freundin befreundet und die Patentante seines Kindes bin. Ich bin mit ihm auf dem Hummerboot rausgefahren, weil er Hilfe brauchte. Es war ein neues Boot, er hatte sich gerade erst selbständig gemacht und noch keinen festen Mann fürs Achterdeck gefunden. Es war Samstag, ich hatte nichts Besseres vor, also habe ich zugesagt. Ich probiere gern neue Dinge aus.«

»Oh, mir war nicht klar, dass Sie kein richtiger Fischer sind.«

»Nein, ich tue nur so. Man könnte auch sagen, ich bin ein ­fischender Dilettant. Obwohl diese Unterscheidung, denke ich, eigentlich keine Rolle mehr spielen sollte, wenn man in ein tödliches Unglück auf See verwickelt war.«

»Nein, vermutlich nicht.« Er wirkt auf eine Art zurückhaltend, bei der man merkt, dass sie nur flüchtig ist. »Ich nehme an, Ned hat Ihnen erklärt, was zu tun war.«

»Er hat mir gezeigt, wie man die Ködertaschen der Hummerkörbe füllt, bevor wir den Hafen verließen. Sagte, auf dem Rückweg würde er mir zeigen, wie man die Reusen einholt. Wir wollten vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein.«

»Hat er jemals gesagt, warum er so plötzlich auf Hummerfang umgestiegen ist?«

»Ned hat zwanzig Jahre lang auf kommerziellen Fang- und Verarbeitungsschiffen und auch in der Langleinenfischerei gearbeitet. Vielleicht war er es leid, für ein seelenloses Unternehmen wochenlang auf dem Meer Grundfische zu fangen, und wollte sein eigenes Boot, sein eigenes kleines Unternehmen. Erscheint mir logisch.«

»Aber er hat nie genau gesagt, wieso?«

»Er hat nie viel über sich geredet. Dafür ausgiebig über die Red Sox, Bruins und Patriots. Und über das Wetter. So wie Schöner Tag heute, nicht? Oder Sieht für mich nach Regen aus.«

Larry hat sich die ganze Zeit um Laternenpfähle und Briefkästen geschlängelt, um auf dem schmalen Bürgersteig mit mir Schritt zu halten. Er trägt einen schäbigen alten Trenchcoat über einem dunkelgrauen Nadelstreifen-Sakko, dazu schwarzes T-Shirt und Jeans. Ich finde, er hätte für den Anlass wenigstens passendere Hosen anziehen können. Manchmal fühlt es sich so an, als gäbe die ganze Welt auf und ginge zur Schlampigkeit über. Vermutlich habe ich ein bisschen was von Phyllis.

»Warum wollen Sie das alles wissen?«, frage ich zunehmend genervt.

»Reine Neugier, nehme ich an. Wir hatten den Kontakt verloren. Ich wusste nicht, was er so trieb.« Dann, als sei ihm gerade die Idee gekommen, fragt er: »Darf ich Sie zu Ihrem Wagen begleiten?«

»Wir sind schon da«, sage ich und stecke den Schlüssel in die Tür des Saabs.

Er scharrt unbeholfen mit den Füßen. »Eines noch: Haben Sie, äh, haben Sie gesehen, wer Sie gerammt hat?«

»Sie meinen das Boot, das uns überfahren hat?« Ich kann gar nicht glauben, dass er mich das jetzt fragt.

Er schaut weg. »Ja, haben Sie den Namen auf dem Heckbalken oder irgendwelche Nummern an der Seite gesehen?«

»Nein, ich habe den Namen nicht gesehen. Für mich war es nur ein Schiff. Ein riesengroßes Scheißschiff.«

Kapitel 4

Die zweite Hälfte des Rituals – die Beerdigungsfeier – findet in Neds Lieblingskneipe statt, in Murphy’s Pub. Alle seine Freunde sind da, aber keiner seiner engen Verwandten. Es gibt ein Büfett mit kalten Platten, Lasagne, Salat, Kuchen. Und einen DJ, dem gesagt wurde, er solle Musik aus den 60er, 70er und 80er Jahren auflegen – die Songs, zu denen Ned sein Leben gelebt hat. Es ist wie ein Hochzeitsempfang, nur ohne das sich glücklich küssende Paar und die Mädchen in den grässlichen Kleidern. Aber alle reden, lachen, weinen und trinken genauso, als hinge ihr Leben davon ab, und man kann davon ausgehen, dass viele sich auf eine lange Nacht einstellen, so dass die gewalttätige Hölle, die sie in sich tragen, ausbrechen kann, wenn sie will.

Ich entdecke Noah und Thomasina an der Theke und bahne mir einen Weg durch den überfüllten Raum. Noah hockt vor einem Schinkensandwich, Fritten, eingelegten Gurken und einer Cola. Die bläulichen Schatten unter seinen Augen und die Tatsache, dass er seine Krawatte gelockert hat, lassen ihn wie einen müden Bankangestellten aussehen. Er wirkt erleichtert, aus Gottes Zuständigkeitsbereich entlassen worden zu sein, aber unsicher, wie er sich unter Erwachsenen benehmen soll, die sich wie ungezogene Kinder aufführen. Thomasina stibitzt dem Barkeeper eine Maraschino-Kirsche und bietet sie Noah an. Er lehnt ab – er nimmt es schrecklich genau, was Regeln angeht –, also stopft sie sich die Kirsche schnell in den Mund und legt den Stiel auf ihre Cocktailserviette. Das vor ihr stehende Glas enthält eine klare Flüssigkeit, in der kleine Bläschen aufsteigen, und eine Zitronenscheibe. »Mineralwasser«, informiert sie mich umgehend, aber ihr Blick schweift ab, denn sie weiß, dass es nicht dabei bleiben wird.

Noah verfolgt das Baseballspiel im Fernseher über der Bar. Einer der Typen, die sich das Spiel ansehen, schiebt Noah eine Schale Erdnüsse rüber und verwickelt ihn in ein Gespräch unter Männern, darüber, wer gewinnen wird. Noah rückt einen Hocker weiter zu ihm heran, damit er die Erdnüsse essen und den Fernseher besser sehen kann. Ich setze mich auf den freigewordenen Platz. Auf der anderen Seite neben Thomasina sitzt ein Mann mit dunklem Haar, weicher olivfarbener Haut und einem jugendlichen, femininen Gesicht. Er lehnt sich zu ihr hinüber und schenkt der dramatischen Brünetten in den hautengen Jeans besondere Aufmerksamkeit. Abgesehen von der Musik und dem Fernseher ist es sehr laut.

»Was für eine Zicke, oder?«, sagt Thomasina. »Ich habe noch nicht einmal die Hälfte von dem gesagt, was mir in den Sinn kam. Aber als sie Hand an mich gelegt hat … da hätte ich sie umbringen können.«

Der dunkelhaarige Typ fragt: »Wen umbringen?«

»Phyllis Rizzo.«

Das findet er amüsant, sagt aber nichts.

»Ehrlich, Pirio. Kannst du glauben, dass sie vor Noah all diese Sachen gesagt hat?«

»Vor allen«, verbessert sie der Mann hilfsbereit.

»Ach, was soll’s. Jede Beerdigung braucht ihre Szene«, sage ich und hoffe, die Unterhaltung umzulenken.

Ein großer Mann schlängelt sich durch, seine Augen fest auf mich gerichtet. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich John Oster wiedererkenne, und dann rutscht mir das Herz in die Kniekehlen. Rums! Wie ein Fahrstuhl, der in zwei Sekunden zwanzig Stockwerke nach unten rauscht. Gegen diese Reaktion ist man machtlos, wenn man plötzlich jemandem begegnet, mit dem man intensiv Sex hatte, egal wie lange das her ist.

Er hat sich in zehn Jahren schwer verändert. Der lodernde Haarschopf von einst ist dünner geworden und ordentlich gestutzt, so dass die helle Kopfhaut durchscheint. Sein Haar­ansatz ist auch auf dem Rückzug. John Osters rote Haare glichen einmal einem gewagten Festival, also kann ich gar nicht anders, als diese Veränderungen zu bedauern. Trauriger noch, all die einstmals scharfen Kanten seines Körpers sind abgerundet, als hätten die Torwächter des mittleren Alters entschieden, sie zu ­ihrem eigenen Schutz mit einer Lage fleischiger Noppenfolie abzupolstern.