Die Frau im gläsernen Sarg - F. A. Green - E-Book

Die Frau im gläsernen Sarg E-Book

F. A. Green

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Beschreibung

Wenn Märchen wahr werden … fängt der echte Albtraum an. Alles fliegt auf, als meine Mutter meine Aschenputtel-Geschichte an die Presse verkauft. Ich hätte wissen sollen, dass eine Beziehung, die auf Lügen und Scharaden aufgebaut ist, irgendwann vor dem schmerzhaften Aus steht. Henry Wyndham und ich lieben uns, obwohl wir nie hätten zusammenkommen dürfen. Er ist ein Earl, lebt in einem großen Herrenhaus und wurde gerade zum begehrtesten Junggesellen Englands gekürt. Ich bin ein Mädchen aus armen Verhältnissen, das sich ihr Studium selbst finanzieren und eine alkoholkranke Mutter unterstützen muss. Doch es stellt sich heraus, dass wahrgewordene Märchen gute PR sind – und nun erlauben uns Henrys Eltern unser Glück. Okay, sie haben ein paar Bedingungen. Aber für Henry lasse ich mich sogar in einen Turm einsperren und nehme von meinem alten Leben, den Karriereträumen und Freunden Abschied. Und endlich feiere ich unser Happy End: die Hochzeit. Genau dann erfahre ich von dem ersten in einer Reihe schockierender Geheimnisse. Mir wird angst und bange, als ich ahne, dass Henry nicht der Mann ist, für den ich ihn gehalten habe. Und was hat seine Familie wirklich mit mir vor? Eines ist gewiss. Die Welt wurde getäuscht und ich habe nicht die Hauptrolle in dieser Mär. Doch wer ist die Frau im gläsernen Sarg? Bald bin ich mir nicht mehr sicher, für wen und was ich noch kämpfen soll – unsere Ehe, die Wahrheit oder die wehrlose Andere. Bis ich mich entscheiden muss, was mir teurer ist: die Liebe oder mein Leben. Schreckliche Familiengeheimnisse, ein altes englisches Herrenhaus mit verborgenem Innenleben und alte Märchen mit neuen Twists. DIE FRAU IM GLÄSERNEN SARG ist ein spannender Gothic Domestic Suspense Thriller mit unvorhersehbarem Ende.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


DIE FRAU IM GLÄSERNEN SARG

F. A. GREEN

INHALT

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreissig

Kapitel Zweiunddreissig

Kapitel Dreiunddreissig

Kapitel Vierunddreissig

Kapitel Fünfunddreissig

Kapitel Sechsunddreissig

Kapitel Siebenunddreissig

Kapitel Achtunddreissig

Kapitel Neununddreissig

Kapitel Vierzig

Kapitel Einundvierzig

Kapitel Zweiundvierzig

Kapitel Dreiundvierzig

Kaptiel Vierundvierzig

Kapitel Fünfundvierzig

Kapitel Sechsundvierzig

Kapitel Siebenundvierzig

Kapitel Achtundvierzig

Kapitel Neunundvierzig

Kapitel Fünfzig

Kapitel Einundfünfzig

Epilog

Nachwort

F. A. Green

Die Frau im Gläsernen Sarg

© Felicity Green, 1. Auflage 2024

www.felicitygreen.com

Veröffentlicht durch:

Felicity Green

Schlossbergstr. 1

79798 Jestetten

[email protected]

Umschlaggestaltung: http://www.thecovercollection.com/

Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Personen und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

www.felicitygreen.com

KAPITEL EINS

Im Traum liege ich in einer riesigen Badewanne, gefüllt mit einer weißen, dünnen Flüssigkeit. Darin schwimmen scharlachrote Rosenblätter.

Strähnen meiner langen dunklen Haare treiben wie tote Pflanzen im Wasser.

Die Krämpfe in meinem Magen wollen nicht aufhören.

Mama hat mir nur eins ihrer homöopathischen Heilmittel gegeben und gesagt, das würde schon wieder werden.

Es hilft nicht.

Doch auf einmal ist mir, als löse sich ein fester Knoten tief in meiner Mitte.

Ich merke, wie etwas aus mir herauskommt.

Die zähe Masse treibt an die Oberfläche des milchigen Badewassers.

Ich ahne, was es ist, aber ich bin verwirrt. Blut sollte doch rot sein, aber das hier ist dunkel. Rostrot, fast schwarz.

»Mama?«, rufe ich. »Mama, komm, irgendwas stimmt nicht!«

Meine Mutter kommt ins Badezimmer gelaufen.

Ihre schönen Gesichtszüge entgleisen, als sie das schmierige Zeug in der Wanne sieht.

»Jetzt ist es so weit«, sagt sie. »Jetzt bist du …« Ihre Stimme bricht und sie schluckt. Mamas Augen verdunkeln sich, so als ob jemand in ihr das Licht ausgeschaltet hätte. »Nun ist es geschehen.«

Als Nächstes komme ich in einem Krankenhaus zu mir. Ich weiß sofort, wo ich bin, so als ob mir dieser Ort vertraut wäre, aber ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin.

Meine Hand tastet automatisch nach dem roten Knopf, um die Krankenschwester zu rufen.

Ich habe einen pelzigen Geschmack auf der Zunge und mein Mund ist ganz ausgetrocknet.

Mein Magen fühlt sich irgendwie wund an.

Eine Schwester kommt ins Zimmer und gibt mir etwas zu trinken.

Sie redet beruhigend auf mich ein, aber ich unterbreche sie, um sie zu fragen, was mit mir passiert ist.

»Du hast die Milchkrankheit gehabt, Schätzchen«, erklärt sie mir.

Ich schüttele den Kopf. »Was für eine Milchkrankheit? Was soll das sein?«

»Ja, ich hatte auch noch nie davon gehört. Das Kraut, White Snakeroot, das diese Krankheit auslöst, ist in diesen Breitengraden gar nicht heimisch. Davon abgesehen ist die Krankheit heutzutage sowieso total selten. Man bekommt sie, wenn man Milch von Kühen trinkt, die dieses Kraut gefressen haben. Erinnerst du dich, dass du starke Verdauungsbeschwerden und Krämpfe gehabt hast?«

Plötzlich fallen mir die letzten Tage wieder ein. Ich nicke.

»Deine Mutter sagt, dass sie dich öfter in Milch baden lässt. Das soll der Schönheit zuträglich sein. Nicht, dass du es nötig hast, Schätzchen, wenn du mich fragst. Auf jeden Fall besteht der Verdacht, dass du so die Krankheit bekommen hast. Und Milch trinkst du wohl auch viel … Na ja, immerhin hast du Glück gehabt, dass erkannt wurde, was das Problem ist. Man kann nämlich daran sterben.«

In meinem Traum habe ich das starke Gefühl, dass an der Geschichte etwas nicht stimmt. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Krankenschwester lügt, aber … etwas passt nicht zusammen.

Bevor ich darauf komme, wache ich auf.

Ich blinzle ein paar Mal, aber alles bleibt verschwommen.

Und zu hell, wie bei einem überbelichteten Foto.

Doch bin ich mir ziemlich sicher, dass ich in einem Krankenhaus liege.

Es ist nicht dasselbe Zimmer wie in meinem Traum.

Oder träume ich noch?

Die Krankenschwester von vorhin ist zumindest nicht hier.

Meine Hand will den roten Knopf finden, doch ich kann sie nicht bewegen.

Dann erinnere ich mich, wo ich bin.

Das Pflegepersonal hier sieht mich nicht.

Ich kann sowieso niemanden rufen, denn ich kann keinen Muskel rühren. Ich bin gefangen in meinem Körper.

Ich strenge mich an, aus diesem Traum wieder aufzuwachen.

Verzweiflung macht sich in mir breit, als ich begreife, dass es keiner ist.

Plötzlich bin ich mir gar nicht mehr sicher, was Realität ist und was Traum.

Durchlebe ich Erinnerungen?

Lebe ich meinen allerschlimmsten Albtraum?

Werde ich jemals wieder daraus erwachen?

KAPITEL ZWEI

In dem Moment, in dem ich die Stimme meiner Mutter hörte, wusste ich, dass ich den Anruf nicht hätte annehmen sollen.

Das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, ruckelte ich mit dem Schlüssel im Schloss herum, bis die alte Tür endlich aufging.

»Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen auf dem Sprung«, versuchte ich Mamas gelallten Monolog zu unterbrechen. »Können wir morgen telefonieren?«

»Du bist jetzt wohl was Besseres, dass du nicht mal mehr Zeit für deine alte Mutter hast.«

Ich rollte mit den Augen und winkte meiner Mitbewohnerin und besten Freundin Ritu zu, die in der Küche am Herd stand und ein herrlich duftendes indisches Gericht kochte.

»Natürlich nicht, Mama, ich bin einfach spät dran. Ich muss mich umziehen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen.«

Nervös warf ich einen Blick auf die Anzeige des Digital-Weckers auf meinem Nachttisch. Ich riss die Schranktür auf und nahm die einzigen gebügelten Kleider aus dem Schrank, die ich besaß: meine Uniform. Ich arbeitete für eine exklusive Catering-Firma und ein perfektes Erscheinungsbild gehörte zu den Voraussetzungen, dort weiter angestellt zu sein.

Meinen Job zu verlieren konnte ich mir nicht leisten, denn obgleich DeLux-Catering viel von seinen Angestellten forderte, so zahlte die Firma auch sehr gut. An der University of Sussex zu studieren und in Brighton zu leben war teuer.

»Wieder so ein Schickimicki-Fest?«, fragte meine Mutter, die ich auf Lautsprecher gestellt hatte, während ich mich aus Leggings und Rock schälte.

»Ähm, ja, ein Fest auf einem Gut. Wir werden mit dem Bus hingefahren und deshalb darf ich auf keinen Fall zu spät kommen …«, versuchte ich meine Mutter abzuwimmeln, während ich die verhasste Strumpfhose anzog.

»Ein richtiges Herrenhaus? Ist es die Hochzeit eines Adligen? Wirst du dort vielleicht sogar Mitglieder des Königshauses treffen?« Mamas Stimme überschlug sich fast vor Aufregung, und weil sie genug intus hatte, ließ sie einige harte Konsonanten aus. Ich musste die Worte gar nicht verstehen. Meine Mutter war ein British-Royals-Junkie und las alle Klatschzeitschriften, die sich mit dem Thema beschäftigten.

»Ich weiß es nicht, Mama. Vielleicht. Ich bin ja nicht dort, um mit den Gästen zu sprechen, ich muss sie bedienen. Auf jeden Fall ist es keine Hochzeit. Eine Kunstvernissage, glaube ich. In Emberhurst House.«

Auch wenn ich es meiner Mutter gegenüber nie zugeben würde, war es natürlich total spannend, den Reichen und Berühmten zu begegnen. Aber seit ich ihr einmal erzählt hatte, dass ich Meghan Markle und dem Duke of Sussex, Prinz Harry, auf einer Feier über den Weg gelaufen war, behielt ich solche Sachen für mich. Es war mir damals gelungen, ein Foto mit dem Handy aufzunehmen. Ein absolutes No-Go, aber ich hatte nicht widerstehen können. Das Foto hatte ich meiner Mutter geschickt, weil sie so darum gebettelt hatte.

Keine Woche später sah ich das Foto in der Zeitung. Neben einem Bild von meiner Mutter. In dem beistehenden Artikel brüstete sie sich damit, dass ihre Tochter für Reiche und Berühmte arbeitete. Gott sei Dank hatte sie sich nicht an den Namen meines Arbeitgebers erinnern können. Und in der Zeitung stand mein Taufname, Ivonne Dewitt. In Brighton nannte ich mich Ivy De Witt. Ich hatte es gar nicht abwarten können, mich neu zu erfinden, als ich endlich meine verhasste Kindheit und Heimat hinter mir lassen konnte. Davon abgesehen hatte niemand das Käseblatt des Ortes, in dem ich aufgewachsen war, hier im Osten von London gelesen. Sonst wäre ich natürlich gefeuert worden.

Auf jeden Fall erzählte ich meiner Mutter seitdem wenig über meine Erlebnisse auf der Arbeit.

»Dann kommst du heute mit einem fetten Gehaltsscheck nach Hause.«

Endlich kam meine Mutter zum Punkt.

Ich knöpfte meine Bluse fertig zu, um mir die Gelegenheit zu geben, ruhig zu werden. »Ja, und den kann ich auch gut gebrauchen.« Ich lebte wahrlich nicht auf großem Fuße, aber mit Studiengebühren, Miete und den hohen Lebenshaltungskosten in Brighton kam einiges zusammen.

»Du wirst doch noch was für deine arme Mutter überhaben, oder nicht?«

Ich atmete tief durch, stand auf und schaute in den Spiegel über der Kommode.

»Mama, ich kann dir kein Geld geben, das weißt du doch.« Mit einem geübten Handgriff drehte ich meine honigblonden langen Haare zu einem ordentlichen Dutt zusammen und steckte die Enden mit Haarnadeln fest.

»Aber das musst du …« Der Ton meiner Mutter wurde verzweifelter. Sie hätte mich nicht angerufen und um Geld gebeten, wenn sie nicht ordentlich einen sitzen hätte. Was nicht hieß, dass ein solcher Anruf selten vorkam. Meine Mutter schaute gerne zu tief in die Flasche. In Wahrheit war es so, dass sie für ihr liebstes Hobby das meiste ihrer Arbeitslosenunterstützung verprasste. Denn sie besaß eine Vorliebe für den teuren Sprit. »Ich trinke mit Stil«, sagte sie immer. Und das war ihr wichtig. Ich bezeichnete es als Möchte-Gern-Klasse, denn so vornehm sie auch gerne tat, so konnte sie sich immer nur die billigen Kopien von dem leisten, was sie für stilvoll hielt. Designer-Imitate, lange blonde Haar-Extensions vom Discount-Friseur, selbst angeklebte Nägel aus der Drogerie. Dazu kam die Schwäche für Männer, die genau solche Blender waren und sich reicher und erfolgreicher machten, als sie waren.

Ich hörte gar nicht mehr richtig zu, als ich wütend eine Überdosis Haarspray versprühte, damit meine Frisur ordentlich saß.

Dann schnappte ich mir das Handy, stellte den Lautsprecher aus und unterbrach meine Mutter: »Andere in meinem Alter werden von ihren Eltern finanziell unterstützt. Ich wusste immer schon, dass du mir das nicht geben kannst und dass ich für mich selber sorgen muss. Das ist auch okay. Aber ich komme gerade so über die Runden. Ich kann dir nicht unter die Arme greifen, Mama.«

Bevor sie etwas antworten konnte, legte ich auf.

Ich starrte mein Spiegelbild an. Meine Unterlippe zitterte und meine Nasenflügel bebten. Die grünen Augen schauten mich etwas vorwurfsvoll an. War ich eine schreckliche, undankbare Tochter? Vielleicht. Aber jetzt konnte ich mir keine Gedanken darüber machen. Ich puderte die paar Sommersprossen auf meiner Nase ab, die sich auch im Februar dort bemerkbar machten, und trug den Lippenstift in Scharlachrot auf, den DeLux-Catering für weibliche Angestellte vorschrieb. Ich rückte noch die schwarze Ansteckfliege zurecht und warf mein Handy, meine Schlüssel und den Lippenstift in die Handtasche, die ich mitnehmen wollte.

Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass ich noch ein paar Minuten Zeit hatte, um mit Ritu zu sprechen.

Meine Freundin stand immer noch in der Küche vor dem Herd. »Ich wollte dich fragen, ob du zum Essen da bist, aber wie es aussieht, musst du zur Arbeit?«

»Ja, leider«, sagte ich mit einem Blick in den Topf, in dem ein leckeres Curry köchelte. »Lässt du mir etwas über? Dann mach ich es mir nachher warm.«

»Klar. Wo geht es denn hin?«, fragte Ritu.

»Emberhurst House.«

Ritu hielt den Kochlöffel hoch. Ihre braunen Rehaugen wurden noch größer. »Emberhurst House? Wo Henry Wyndham lebt?«

»Wer ist denn das?« Ich schnappte mir ein Stück frisches Naan-Brot für unterwegs. Mein knurrender Magen erinnerte mich daran, dass ich noch etwas hätte essen sollen, statt bis zur letzten Sekunde in der Bücherei zu bleiben.

»Na, einer der begehrtesten Junggesellen unter dreißig. Reich, adlig, unheimlich süß …« Wie immer, wenn Ritu besonders aufgeregt war, wurde ihr indischer Akzent stärker.

Ich hob die Augenbrauen. »Noch nie gehört.«

Ritu schüttelte den Kopf. »Ab und zu mal ein Klatschmagazin anzuschauen, würde dich nicht gleich oberflächlich machen, weißt du. Wenigstens wärst du dann mal auf dem Laufenden. Vergiss nicht, dass das, worüber du in deinen dicken staubigen Büchern liest, schon viele Hunderte Jahre her ist.«

Sie hielt mir den Kochlöffel mit etwas vom Curry hin. Ich blies darauf und probierte. »Hmmm. Lecker.« Mein Magen zog sich zusammen. »Lass mir etwas übrig! Ich muss los.«

»Mach ich doch immer.«

Auf dem Weg hinaus rief ich: »Und leg mir meinetwegen auch eins dieser Magazine hin. Kann ich bestimmt nachher zum Einschlafen gebrauchen!«

KAPITEL DREI

Ich schaffte es rechtzeitig zum Bus, der meine Kollegen und mich nach Emberhurst House bringen würde. Erleichtert ließ ich mich auf einen Sitz fallen und nickte Lucy freundlich zu, die mich fragte, ob der Platz neben mir frei sei. Ich holte Feuchttücher aus meiner Handtasche, um mir die Finger abzuwischen, die leicht fettig vom Naan-Brot waren.

Seit ich es unterwegs verschlungen hatte, war mein Hunger vorerst gestillt. Aber ich wusste, dass ich etwas Anständiges hätte essen sollen.

Die Versuchung, etwas von den Häppchen für die Gäste zu naschen, wenn man ein Loch im Bauch hatte, war einfach viel zu groß. Man durfte sich dabei nicht erwischen lassen, wenn man seinen Job behalten wollte.

Und ich wollte meine Anstellung nicht verlieren.

Ich behauptete immer, es ging mir dabei nur ums Geld, aber ich musste zugeben, dass mich der Glamour anfangs schon gereizt hat. Die »Schickimicki-Feiern«, wie meine Mutter sie genannt hatte, waren tatsächlich aufregend gewesen. Es gab diese exotischen Delikatessen und teuren Champagner. Die Menschen trugen wunderhübsche, maßgeschneiderte Kleider, dazu passende Schuhe und Accessoires. Der glitzernde Schmuck war schon skandalös protzig. Die Frauen waren zurechtgemacht wie Porzellanpuppen. Die Räumlichkeiten, in denen die Feiern stattfanden, waren ebenfalls Luxus pur. Marmorböden, dicke Teppiche, Samtvorhänge, vergoldete Möbel, überall Spiegel und pompöse Kronleuchter.

Es ließ sich überhaupt nicht mit den Festen in Romfort vergleichen, zu denen ich jemals eingeladen gewesen war. Auch nicht mit denen, die gehoben hatten wirken sollen. Selbst die Silberhochzeit der wohlhabenden Eltern meiner damals besten Freundin Sheryll hatte in einem billigen Hotel stattgefunden, wo Würstchen im Schlafrock auf dem Büffet serviert worden waren. Damals hatten Sheryll und ich in unseren Paillettenkleidchen von H&M kichernd Bucks Fizz getrunken und geglaubt, wir wären Wunder wie glamourös.

Die Feiern, auf denen ich jetzt bediente, waren im Vergleich dazu eine ganz andere Liga.

Und natürlich hatte ich mich extrem unwohl gefühlt. Ich war mir meines gewöhnlichen Äußeren und meiner ungelenken Bewegungen sehr bewusst gewesen. Nach ein paar Wochen hatte sich das gelegt. Es war schließlich okay, wenn ich da nicht reinpasste. Ich war nur die Bedienung. Die oberen Zehntausend interessierten sich nur für das Tablett, das ich herumtrug, und solange ich nicht stolperte oder sonst wie die Aufmerksamkeit auf mich zog, blieb ich für sie unsichtbar.

Das war mir recht.

Und nach knapp zwei Jahren in diesem Job waren die Feiern auch nicht mehr so aufregend. Es war zwar alles vollkommen anders als das Leben, das ich als normal erachtete, aber trotzdem war irgendwann alles immer gleich. Es gab nur ein gewisses Maß, an dem sich die prachtvollsten Lokalitäten, die edelsten Stoffe, das luxuriöseste Essen überbieten ließ.

Wenn man in einem düsteren Raum eine Tausend-Watt-Birne anschaltete, war man erst geblendet. Alles erstrahlte in einem gleißenden Licht. Nach einer Weile aber gewöhnten sich die Augen daran.

In meinem Job betrat ich jedes Mal wieder dieses Zimmer mit der grellen Überbelichtung. Ich hatte gelernt, nach dem ersten Schock meinen Blick zu justieren und konnte auch hinterher problemlos wieder zu normalen Verhältnissen umschalten.

Doch ich musste zugeben, dass sich beim Anblick von Emberhurst House wieder dieses nervöse Flattern im Magen meldete, das ich ganz am Anfang in meinem Job gehabt hatte.

Der Bus fuhr durch einen wunderschönen Garten und am Ende der Einfahrt erwartete uns ein riesiges Gebäude, das wie ein verwunschenes Schloss aussah. Ockerfarbene Steine waren mit Efeu bewachsen. Ich schaute staunend aus dem Fenster, als der Bus vor der Haupteinfahrt abbog und den Weg um das Herrenhaus nahm. Wir gehörten zu den Dienstboten und mussten natürlich einen Hintereingang benutzen.

Meine Sitznachbarin Lucy beobachtete belustigt meine Reaktion.

»Warst du noch nie bei einer Party auf Emberhurst?«

Ich schüttelte den Kopf, während wir immer noch an dem großen Anwesen vorbeifuhren. »Und hier wohnen tatsächlich Leute?« Ich fragte mich, ob die sich in einem so riesigen Heim nicht verlaufen würden. Im ganzen Land hatten die Menschen Probleme, die Heizkosten für ihre winzigen Wohnungen zu bezahlen – ich wollte nicht wissen, welche Unsummen auf der Rechnung für Emberhurst standen.

»Sie wohnen tatsächlich in einem Teil des Hauses. Ein anderer Teil wird der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Sommer kann man die Gärten besuchen und dann haben auch der Tearoom und das Museum offen. In dem Museum findet die Feier heute statt.«

»Aha.« So ein riesiges Haus allein zu bewohnen, fand ich abstrus, aber Touristen im Garten und im Teil seines Hauses herumlaufen zu haben, war meines Erachtens noch sonderbarer. Ich verstand, dass das der Preis dafür war, ein so großes Anwesen unterhalten zu können, aber ich wüsste nicht, ob ich mit den Bewohnern tauschen wollte.

Lucy, die einen Master in Architektur machte, erzählte mir, dass das Gebäude aus Caennaiser Kalkstein erbaut worden war. Es sollte wie ein französisches Chateau im georgianischen Architekturstil aussehen, was damals, zu Renovierungszeiten des ursprünglichen Gebäudes im 18. Jahrhundert, beliebt gewesen war.

»Du wirst dich wundern, wenn du reinkommst, innen ist der Stil eher barock«, erklärte Lucy.

Ich kannte mich nicht besonders mit Architektur aus, aber ich konnte mir ungefähr vorstellen, was sie mit einem »englischen Versailles« meinte.

Dennoch war ich erschrocken ob des opulenten Inneren im Museumsteil von Emberhurst House. Alles war verziert, geschnitzt, vergoldet. Schwere Samtstoffe hingen an den Wänden und vor den Fenstern. Ich hoffte für die armen Bewohner, dass die Privaträume nicht ganz so übel dekoriert waren. Allein von den lebensgroßen, grimmig dreinblickenden Damen und Herren auf den Ölgemälden in goldenen Rahmen hätte ich Albträume bekommen.

Ich musste zugeben, dass ich in Emberhurst House ein bisschen länger brauchte, um von meiner Realität auf »reich« umzuschalten. Dieser Ort war eine Klasse für sich. Aber irgendwann beschäftigte ich mich hauptsächlich damit, wie ich mit meinem Tablett um die vielen Leute und die unzähligen Möbelstücke herumlavierte. Die Tischlein, Chaiselongues und Stühle sahen definitiv nicht so aus, als ob man sich darauf niederlassen oder auch nur etwas abstellen konnte, ohne dass sie zusammenbrachen. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum die Reichen es für nötig hielten, ihre Räume damit regelrecht vollzustellen.

Ich hatte mich schon in eine der Galerien geflüchtet, wo hauptsächlich Kunst und keine Antiquitäten ausgestellt waren, aber hier hatte ich ein anderes Problem. Verteilt in der Galerie standen Skulpturen auf Sockeln, und in meinem Bemühen, einer Frau mit ausladendem Rock auszuweichen, war ich in eine Ecke gedrängt worden.

Jetzt musste ich irgendwie um eine Skulptur herumkommen. Ich hielt das Tablett mit Rotweingläsern gekonnt sicher auf einer Hand. Vorsichtig schlängelte ich mich hinter dem Sockel entlang, auf dem ein Mann mit muskulösem Oberkörper von einem anderen Kerl mit einem Speer erstochen wurde. Das Ganze kam mir griechisch vor, aber ich hatte natürlich keine Ahnung.

Und in dem Moment andere Probleme. Eine hübsche junge Dame in einem bordeauxfarbenen Kleid versperrte mir den Weg. Die anderen Personen, mit denen sich die junge Frau unterhielt, blickten zwar in meine Richtung, aber keinem schien aufzufallen, dass ich keinen Platz hatte. Da es ein absolutes No-Go war, einen Gast zu bitten, beiseitezutreten, blieb ich unsicher stehen. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als rückwärts wieder um die Säule herumzuschleichen, um zu versuchen, auf der anderen Seite durchzukommen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass mir ein kleiner Seufzer entwichen war, aber die Gesprächspartnerin der Dame in Dunkelrot anscheinend schon.

Sie schaute mich missbilligend an. Damit hatte sie auch die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf mich gelenkt. Abrupt drehte diese sich um und stieß dabei mein Tablett an. Ich hatte keinen Raum, um nach hinten auszuweichen und die Balance zu halten. Die vollen Rotweingläser rutschten und kippten. Rotwein ergoss sich auf meine weiße Bluse, dann auf den Marmorfußboden, wo mehrere Gläser klirrend zu Bruch gingen.

Ich erstarrte vor Schreck.

Die junge Frau in Rot schimpfte: »Ich habe meiner Mutter noch gesagt, dass wir professionelle Leute anstellen sollen, statt eine dieser Catering-Firmen zu beauftragen, bei denen Studentinnen arbeiten.«

Um meine Tränen zu verbergen, kniete ich mich hin und hob die Glasscherben auf.

Es war nicht das erste Mal, dass einem DeLux-Mitarbeiter so etwas passierte, aber bei den Malheurs, die ich erlebt hatte, waren sofort Kollegen zu Hilfe gekommen, um den Schaden schnellstmöglich zu beheben.

Hier, in dieser Ecke der Galerie, hatte mich niemand gesehen. Das hieß einerseits, dass ich vielleicht nicht gefeuert werden würde, weil meine Chefin nicht davon erfuhr, aber andererseits bekam ich nicht schnell genug die kleinen Scherben zusammen, um die Folgen des Unfalls wie von Zauberhand wieder verschwinden zu lassen.

Ich kam auch nicht weg, um etwas zu holen, mit dem ich den Wein aufwischen konnte. Über mir regten sich die Frauen darüber auf, dass ein kleiner Spritzer Rotwein auf das Kleid der Verursacherin des ganzen Schlamassels geraten war. »Das kann man doch nicht reinigen«, jammerte sie.

»Das stellst du der Catering-Firma in Rechnung!«, fand eine der Damen ganz klar.

Meine Kehle schnürte sich zu. Dann würde das von meinem Gehalt abgezogen werden – wenn das für ein solches Kleid überhaupt reichte.

»Was bringt mir das? Glaubst du, das bekomme ich noch mal? Das ist Louis Vuitton«, bestärkte die schöne junge Frau meine Befürchtungen.

»Reg dich ab, Kitty«, hörte ich eine männliche Stimme. »Man sieht doch gar nichts. Die Farbe des Kleides deckt sich mit dem Weinspritzer. Außerdem ziehst du es wahrscheinlich sowieso nicht noch mal an.«

»Als ob du eine Ahnung davon hättest«, bekam er zur Antwort.

»Jetzt sollte es aber gut sein, und nun lasst mich mal durch«, sagte der Mann resolut. Nach etwas Murren schienen die Damen zur Seite zu treten, denn Männerschuhe aus edlem Leder traten in mein Blickfeld.

Der Mann kniete sich neben mich und legte eine Hand auf meine zittrigen Finger, die immer noch Glassplitter zusammenklaubten. »Sie schneiden sich noch. Erlauben Sie mir.«

Er hatte ein paar der Stoffservietten mitgebracht, die wir als Tropfschutz um die Hälse von Champagnerflaschen legten. Damit wischte er den Wein und die restlichen Glassplitter auf.

Ziemlich schnell war der Schaden bereinigt. Ich hatte mir derweil die paar Tränen weggewischt, die mir entwichen waren, und schaute nun zu ihm auf.

Ich blickte in ausdrucksstarke braune Augen unter dicken dunklen Brauen, die etwas zu buschig hätten wirken können, wenn seine Haare nicht ebenso voll und prächtig gewesen wären. Er hatte eine süße, etwas flache Nase und das charmanteste Lächeln, das ich je gesehen hatte.

Zum zweiten Mal an diesem Abend erstarrte ich.

»Ist alles okay?«, fragte er besorgt.

Ich nickte nur, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.

»Den Schaden hätten wir behoben, aber ein Problem haben Sie noch.« Sein Blick wanderte zu meiner Brust.

Ich lief rot an, erinnerte mich dann aber daran, dass sich der Wein zuerst über mich ergossen hatte. Ich schaute an mir herunter. Tatsächlich prangte auf meiner weißen Bluse ein großer roter Fleck, und zwar genau auf Brusthöhe.

»Mist«, entfuhr es mir. Mein Missgeschick war vor den anderen Mitarbeitern und damit auch meiner Chefin nicht mehr zu verstecken. Ich musste unbemerkt zu dem Raum hinter der Küche gelangen, wo wir alle unsere Taschen abgestellt hatten und wo ich eine Ersatz-Bluse finden würde.

Mein Retter in der Not bemerkte, wie unglücklich ich war, und fragte nach. Obwohl wir nicht mit Gästen reden sollten, erzählte ich ihm, in welcher Bredouille ich mich befand. Es waren eh Hopfen und Malz verloren, und ich glaubte nicht, dass ein ehrliches Gespräch mit dem netten jungen Mann etwas verschlimmern würde.

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen«, sagte er. »Ich kenne einen Weg aus dieser Galerie, sodass Sie nicht durch das ganze Museum müssen.«

Er nahm mich am Arm und wir standen auf. Mein Retter hatte immer noch das Tablett mit den Servietten voller Scherben in der Hand. Mit der anderen hielt er meine und zog mich ein paar Schritte die Galerie entlang. Mir blieb nichts anderes übrig, als das geschehen zu lassen, obwohl die Berührung meinen ganzen Körper zum Kribbeln brachte.

Ein Wandvorhang versteckte eine Tür, die der junge Mann aufmachte. Ich sah mich um, bevor er mich hindurchzog. Die wenigen Menschen in der Galerie bemerkten uns nicht, denn ein Sockel mit einer dieser griechischen Skulpturen versperrte die Sicht.

Ich folgte meinem Retter in einen düsteren Gang.

KAPITEL VIER

Mein Herz flatterte. Sich von einem Unbekannten durch den dunklen, muffigen, versteckten Gang eines riesigen Herrenhauses führen zu lassen, war schon ziemlich aufregend. Wahrscheinlich hätte ich mich fürchten sollen.

Stattdessen fühlte es sich richtig und gut an, meine Finger in seiner warmen Hand zu spüren.

Er hatte das Tablett einfach in den Gang gestellt und sein Handy aus der Hosentasche gezogen. Nun beleuchtete er den Weg mithilfe der Taschenlampenfunktion. Es war klar, dass er sich hier gut auskannte, sonst hätte er nichts von dem Geheimgang gewusst.

Gerade, als ich genug Mut zusammengenommen hatte, ihn zu fragen, wer er war, blieb er abrupt stehen. Ich lief in ihn hinein und entschuldigte mich.

Ich sah ihn im Schein des Handy-Displays grinsen. Dann hob er die Hand und machte sich an der Wand zu schaffen. Da schien eine Tür zu sein, die er jetzt einen Spalt weit aufmachte. Wir horchten und er gab mir ein Zeichen, dass die Luft rein war. Gerade wollte ich an ihm vorbei durch die Tür gehen, da hörte ich eine unverwechselbare Stimme. Den näselnden Nörgelton kannte ich.

Ich zog die Tür vorsichtig zu. »Meine Chefin steht da draußen«, flüsterte ich zur Erklärung.

»Dann warten wir kurz, bis sie weg ist«, erwiderte er. Erneut öffnete er die Tür einen kleinen Spalt.

Meine Chefin Astrid las gerade einem neuen Mitarbeiter die Leviten, weil er länger als nötig mit einem Tablett leerer Gläser herumgelaufen war.

Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen, als mein Kollege Astrids Monolog zunächst über sich ergehen ließ. Als sie ihn schließlich auf weitere Patzer ansprach, machte er den Fehler, sich zu verteidigen.

Ich hatte Ähnliches schon erlebt und wusste, dass Astrid sich reinsteigern würde. Leise machte ich die Tür wieder zu.

»Das könnte noch länger gehen. Ist das der Raum, in dem die Sachen sind?«, flüsterte ich.

»Nein, der Gang davor«, erklärte der junge Mann.

Ich spürte Panik in mir aufsteigen. So lange Astrid noch mit dem Kollegen beschäftigt war, hatte ich die Chance, mich schnell umzuziehen und ungeschoren davonzukommen. Aber wenn wir hier warten mussten, bis sie mit ihrem Monolog fertig war, dann würde jemand vielleicht meine längere Abwesenheit bemerken und Astrid davon erzählen.

»Gibt es noch einen anderen Weg zu dem Raum?«, fragte ich leicht verzweifelt.

»Durch das Haus und außen herum«, meinte mein Retter und schaute mich fragend an. Ich nickte nur und ließ mich weiter an der Hand durch die Gänge leiten.

Staub kitzelte mir in der Nase und ein Teil von mir war froh, dass es zu dunkel war, um zu sehen, wie genau es in den Geheimgängen aussah. Ich verdrängte erfolgreich jeden Gedanken an riesige Spinnen und andere eklige Insekten, die wahrscheinlich herumkrabbelten. Aber mehr als einmal wechselte der Geruch von muffig zu etwas Penetranterem, und ich hoffte inständig, nicht auf eine tote Maus oder gar ein größeres verendetes Tier zu treten.

Es kam mir vor, als wären wir schon eine Ewigkeit unterwegs gewesen, und meine innere Unruhe wurde immer stärker. Wo führte mich der Unbekannte hin?

Gerade, als ich etwas sagen wollte, brach er die Stille: »Achtung, Stufen!« Ich schaute runter und hatte dann damit zu tun, nicht auf der engen Treppe zu stolpern, die uns in einen anderen, höher gelegenen Gang führte.

»Okay, hier gehen wir besser raus. Ich muss ehrlich sagen, dass ich schon länger nicht mehr in diesen Gängen war, und ab da vorne verzweigen sie sich zu einem wahren Labyrinth.« Er deutete in eine Richtung, wo ich nur dunkle Schatten erkennen konnte.

Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter und ich stürzte dem jungen Mann förmlich durch die geöffnete Tür hinterher.

Erleichtert atmete ich auf, als ich in einem hellen Flur stand. Ich klopfte meine Schultern und Arme ab, weil ich das Gefühl hatte, etwas krabbelte auf mir herum. Aber nichts als feiner Staub wirbelte auf und schwebte hinunter auf den dicken, orientalisch anmutenden Teppich.

Ich schaute auf. Wir befanden uns in einem breiten Korridor, der nicht ganz so pompös wie das Museum war. Weniger Schnitzereien und vergoldete Elemente ließen den Flur moderner und freundlicher wirken. Aber auch für einen Laien wie mich war klar, dass die Einrichtung hier Luxus pur war. Der Boden unter dem Teppich sah mir nach Marmor aus, die Gemälde an den Wänden nach teurer Kunst. Auf in der Wand eingelassenen weißen Sockeln standen kobaltblaue Vasen mit Henkeln, die Schwanenköpfen glichen.

»Wo sind wir hier?«, fragte ich.

»Im privaten Wohnbereich«, antwortete mein Retter.

Ich riss die Augen auf. »Dürfen wir hier sein?« Mir klopfte das Herz bis zum Halse. Wenn Astrid davon erfuhr, wo ich mich herumtrieb, dann würde ich aber in große Schwierigkeiten geraten! Der Gedanke an meine Chefin erinnerte mich wieder daran, dass ich schon so lange weg war.

»Oh Mann, ich krieg Ärger, wenn die meine Abwesenheit bemerken!«, sagte ich, bevor der junge Mann mir antworten konnte. Ich drehte mich im Kreis. Überall gingen Türen von dem Korridor ab, aber ich sah keinen Ausgang. Ich wusste noch nicht mal, in welcher Etage wir waren.

Mir kam in den Sinn, wie groß das Haus auf mich gewirkt hatte, als wir mit dem Bus vorbeigefahren waren. »Wie kommen wir von hier aus schnell zu dem Raum, wo die Sachen sind, damit ich mich fix umziehen kann?«

Meine Stimme war ein paar Oktaven zu hoch und der junge Mann bemerkte meine Panik. Er legte eine Hand auf meine Schulter. »Ganz ruhig, okay?«

Ich schaute in seine dunkelbraunen Augen und alles um mich herum wurde ein bisschen unschärfer. Ich atmete tief ein und aus.

»Ich habe eine Idee!«, rief mein Retter und drehte sich von mir weg. Ich brauchte einen Moment, bis ich ihm hinterherhechten konnte. Er hatte eine der Türen aufgemacht und ich folgte ihm in den Raum.

Erstaunt schaute ich mich um, während der Mann schon halb in einem Schrank verschwunden war.

Es sah aus wie das Schlafzimmer einer Prinzessin. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie auf dem Höckerchen vor der eleganten weißen Frisierkommode mit dem ovalen Spiegel saß und mit dem goldenen Kamm durch die langen Haare fuhr, bevor sie die Locken mit einer der diamantenbesetzten Spangen hochsteckte.

Es juckte mich in den Fingern, auf die Zerstäuber der altmodisch wirkenden gläsernen Flakons zu drücken. Stattdessen fuhr ich mit einer Hand über die wundersamste Tapete, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Sie war aus besticktem Stoff und unter meinen Fingerkuppen erhoben sich die winzigen Kreuzstiche. Auf der Tapete wimmelte es von Blättern, Ästen und Zweigen. Zwischen den Grüntönen zeigten sich zartblaue und roséfarbene Blüten sowie taubengraue und anthrazitfarbene Vögel.

Aber das Erstaunlichste an dem Zimmer war das riesige Bett. Über den mit Schnitzereien verzierten, vergoldeten Pfosten erstreckte sich ein weißes Baldachindach. Die Bettlaken waren ebenfalls schneeweiß und darauf türmten sich weiße Kissen bestickt in Gold und demselben Roséton, der in der Tapete vorkam. Am Fußende stand eine Chaiselongue, die mit einem weiß-gold-rosé gestreiften Stoff bezogen war.

Alles in dem Zimmer war so makellos und blütenrein, dass ich mich noch nicht mal im frisch geduschten Zustand getraut hätte, mich in das Bett zu legen, aus Angst, es schmutzig zu machen.

Wie angewurzelt stand ich einfach da, bis mein Retter wieder aus dem Schrank auftauchte.

Er hatte eine weiße Bluse in der Hand.

»Hier.« Er reichte sie mir und strahlte mich an.

Skeptisch betrachtete ich das Kleidungsstück in meinen Händen. Die Bluse sah der, die zu meiner Uniform gehörte, sehr ähnlich. Der Stoff war um einiges seidiger und die Ärmelbündchen waren etwas anders. Mit ein bisschen Glück würde nicht auffallen, dass es eine andere Marke war. Die Hauptsache war wohl, dass ich nicht länger mit einem riesigen Rotweinfleck auf der Brust herumlaufen würde.

Trotzdem war ich drauf und dran zu protestieren, da ich doch nicht einfach etwas aus dem Schrank nehmen konnte – wem gehörten dieses Zimmer und die Bluse überhaupt?

Mein Retter kam mir zuvor. »Kommen Sie, beeilen Sie sich und ziehen sich um. Dann kehren wir ganz schnell durch den Gang zurück und Sie können wieder auf Ihren Posten.«

Mir wurde wieder bewusst, dass einiges an Zeit seit dem Rotwein-Malheur vergangen war. Es stimmte, dass ich keine andere Wahl hatte, als die Bluse zu nehmen, wenn ich aus der Sache noch mit einem Job herauskommen wollte.

Der junge Mann verließ das Zimmer, um mir Privatsphäre beim Umziehen zu geben, bevor ich eine der vielen Fragen stellen konnte, die mir im Kopf herumschwirrten.

Schnell riss ich mir die dreckige Bluse vom Leib. Dabei kam mir der Gedanke, dass der riesige Wandschrank wahrscheinlich unzählige luxuriöse Kleidungsstücke dieser Art barg. Die Prinzessin, die hier wohnte, würde so ein schlichtes Kleidungsstück bestimmt gar nicht vermissen, versuchte ich mir einzureden.

Meine Finger zitterten trotzdem ein wenig, als ich die Bluse zuknöpfte und in meinen schwarzen Rock steckte. Ich klemmte mir die Fliege an und trat vor den ovalen Spiegel über der Frisierkommode, um sie geradezurücken. Ich betrachtete mich kurz im Spiegel und befestigte eine Haarsträhne, die aus meinem Dutt entwichen war.

Ich wollte mich schon wieder umdrehen und aus dem Zimmer verschwinden, als mein Blick auf die Parfümflakons fiel.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, hob einen hoch, drückte auf den Zerstäuber und hielt die Nase in den betörend süßen Duft, der sich um mich herum verteilte.

Noch nie in meinem Leben hatte ich Parfüm besessen. Von den günstigen, nachgemachten Düften, die man in einem der Läden im Einkaufszentrum in Brighton kaufen konnte, hielt ich nichts. Sie erinnerten mich zu sehr an meine Mutter, die sich mit den Billigkopien der Designerdüfte regelrecht vollsprühte. Ich traute mich noch nicht mal, in die Parfümabteilung einer Drogerie zu gehen und dort Parfüms auszuprobieren. Ich hatte immer Angst, die übertrieben geschminkten und hochnäsigen Verkäuferinnen dort würden mir ansehen, dass ich kein Geld für so etwas besaß.

Zwei Jahre Berufserfahrung mit der Gourmet-Catering-Firma hatten mich gelehrt, dass man wahre Klasse am Geruch erkannte. Jeder konnte sich echten Bling anlegen und zu einer Kosmetikerin und Friseurin gehen, um sich zurechtmachen zu lassen. Und selbst Neureiche hatten herausgefunden, dass man sich Kleider maßschneidern ließ, damit sie richtig saßen. Aber genau das richtige Maß an teurem Parfüm aufzulegen, diese Kunst schien der Oberklasse der alten Schule vorbehalten zu sein.

Schnell stellte ich den hübschen Flakon wieder ab, knüllte meine befleckte Bluse zusammen und eilte aus dem Zimmer.

Mein Retter wartete schon an der Tür zum Geheimgang auf mich, die, wie ich jetzt sah, hinter einem großen Spiegel versteckt war.

Auf dem Weg zurück ließ ich mich weder vom Staub noch vom Geruch stören, weil ich ausschließlich darauf bedacht war, so schnell wie möglich zurückzukommen.

Da in der Galerie Menschen waren und wir nicht einfach hinter dem Wandbehang auftauchen konnten, mussten wir weiter zu der Tür, hinter der wir vorhin meine Chefin mit meinem Kollegen diskutieren gehört hatten. Jetzt war der Gang leer.

Wir hatten gerade die Tür hinter uns zugemacht, als jemand aus dem Zimmer kam, in dem wir Catering-Angestellten unsere Sachen hatten. Meine Chefin. Die Furche zwischen ihren Brauen wurde noch tiefer, als sie mich erblickte. »Was machst du hier?«, fauchte sie mich an.

»Ich hab sie überredet, mir eines dieser wundervollen Kaviar-Lachs-Häppchen zu holen, von denen ich leider keines mehr auftreiben konnte.« Mein Retter in der Not lächelte charmant. »Und dann bestand ich darauf, bis zur Küche mitzukommen, damit mir das niemand vor der Nase wegschnappt, wenn sie mit dem Tablett rausgeht.«

Astrid hatte wohl erst nicht bemerkt, dass einer der Gäste der Vernissage bei mir gewesen war. Jetzt wurde sie puterrot im Gesicht. »Oh, Sir … Natürlich, verzeihen Sie, ich habe Sie nicht … gesehen, ich …«

Ich wunderte mich über meine Chefin, die sonst nicht so leicht von den vornehmen Gästen aus der Fassung zu bringen war.

Aber ich nutzte die Chance, lächelte dem jungen Mann dankbar zu und verschwand dann schnell in der Küche, um ein Tablett mit Kaviar-Lachs-Häppchen für mein Alibi aufzutreiben.

Als ich damit aus der Küche kam, stand Astrid immer noch bei meinem jungen Mann, der mir gleich den kleinen Teller abnahm.

Meine Chefin wirkte wieder gefasst. »Jetzt aber raus mit dir. Du servierst heute Wein, oder nicht?« Ich nickte und huschte zu der Station, auf der die Gläser und Getränke aufgebaut waren. Schnell machte ich ein Tablett zurecht. Ich traute mich nicht, meinem Retter einen letzten Blick zuzuwerfen, sondern dankte lieber Fortuna und verschwand durch die Tür zurück ins Museum.

Niemand sonst schien bemerkt zu haben, dass ich eine Weile weg gewesen war. Eine halbe Stunde verging und ich wiegte mich schon in Sicherheit.

Als ich mich mit meinem Tablett durch eine Gruppe Leute durchschlängelte, wurde ich jedoch aufgehalten. »He, Sie!« Ich schaute mich um und blickte ausgerechnet in das Gesicht der hübschen jungen Dame, dank der mir vorhin das Missgeschick passiert war. Sofort ging mein Blick zum Rock ihres bordeauxroten Kleides. Ich konnte aber keine Flecken sehen.

Würde sie mich trotzdem noch einmal rügen?

Die Frau schnupperte an mir. »Was ist das für ein Parfüm?«

Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. »Keine Ahnung, wie das heißt, ich …«

»Wo haben Sie das her?« Die blauen Augen verengten sich. Ich tat alles, um dem misstrauischen Blick der jungen Frau auszuweichen, aber leider fiel mir dabei auf, dass die Vernissage-Gäste um uns herum interessiert zuschauten. Das verunsicherte mich noch mehr und ich spürte die Röte in mein Gesicht steigen.

»Dieser Laden mit heruntergesetzten Parfüms im Einkaufszentrum in Brighton«, behauptete ich.

Die junge Frau schnupperte noch einmal. »Das kann doch gar nicht sein. Das ist ein Parfüm, das für mich persönlich kreiert wurde. Niemand sonst hat diesen Duft.« Sie packte meine Hand und schnupperte am Handgelenk. Dort hatte ich nichts aufgetragen. Doch die Frau entdeckte dabei ein Monogramm am Ärmelumschlag der Bluse, das ich vorhin gar nicht bemerkt hatte. Sie rief den Namen des Designers, den ich noch nie gehört hatte, und schrie: »Die Bluse gehört mir!«

Ich zuckte zusammen. Wahrscheinlich konnte ein jeder der Gäste, die jetzt um uns herumstanden, meine Schuldigkeit schon allein an meiner Körperhaltung ablesen.

Als ich aufschaute, stand die junge Frau so nah vor mir, dass unsere Gesichter keine zehn Zentimeter voneinander entfernt waren. In ihren Augen spiegelte sich Zorn und Unglaube wider. »Wie kannst du die Dreistigkeit besitzen, in mein Zimmer zu gehen, meine Kleider anzuziehen und mein Parfüm zu benutzen?« Ihre Stimme wurde immer lauter und schriller. »Wie bist du überhaupt in unsere Privaträume gekommen?«

Fieberhaft versuchte ich, mir eine Erklärung einfallen zu lassen, aber mein Kopf war völlig leer. Dass alle um uns herum neugierig, ja, teils belustigt starrten, half auch nicht gerade.

Erleichtert stieß ich den Atem aus, den ich angehalten hatte, als die Stimme meines Retters die angespannte Stille durchschnitt. »Kitty, komm, lass sie in Ruhe.«

Er legte eine Hand auf Kittys Schulter, sodass sie sich halb zu ihm umdrehte. »Sie hat meine Bluse gestohlen. Und ich könnte schwören, das ist mein Parfüm!«, sagte sie anklagend.

»Du musst dich täuschen«, versuchte mein Retter sie zu beruhigen. »Düfte sind sich doch sehr ähnlich und du bist ja nicht die Einzige, die die Bluse gekauft hat, oder?«

Kitty stemmte die Hände in die Hüften. »Erstens glaube ich wohl kaum, dass eine Kellnerin sich eine fünfhundert Pfund teure Bluse leisten kann. Mal davon abgesehen, dass ich mir sicher bin, sie hatte die Bluse vorhin, als sie mich mit Wein bespritzte, noch nicht getragen. Und das Parfüm hat Marcus für mich kreiert. Es ist ein Unikat.«

Beschämt hielt ich den Blick auf den Boden gerichtet. Es war aber auch wirklich blöd von mir gewesen, mich an dem offensichtlich teuren Parfüm zu bedienen.

Bevor mein Retter weiter intervenieren konnte, mischte sich Astrid ein, die herbeigerufen worden war.

»Was ist hier los?«

Kitty verlor keine Zeit, ihre Anschuldigungen noch einmal loszuwerden.

Astrid fing meinen Blick auf und verstand sofort, dass Kitty die Wahrheit sagte.

»Ich werde der Sache natürlich augenblicklich auf den Grund gehen«, sagte sie mit eisiger Stimme.

Sie nahm mich etwas zu fest am Arm und wollte mich wegführen.

»Ich verlange, dass sie gefeuert wird und dass ich Bluse und Parfüm erstattet bekomme«, ereiferte sich Kitty.

»Selbstverständlich«, sagte Astrid und zog mich mit sich.

Ich wehrte mich nicht, sondern hielt den Kopf nach unten gesenkt, um niemandem mehr in die Augen schauen zu müssen.

So ließ ich mich wegzerren. Astrid brachte mich in den Raum, in dem wir unsere Sachen aufbewahrten. Ohne ein Wort zu sagen, wartete sie, bis ich mich umgezogen hatte.

»Kunden zu bestehlen ist so ziemlich das Schlimmste, was du dir selber und auch mir antun kannst.« Offensichtlich musste Astrid sich sehr zügeln, mich nicht anzuschreien. »Du hast damit den Ruf von DeLux-Catering gefährdet. Dass du fristlos entlassen bist, ist selbstredend. Wie viel ich dir von deinem letzten Lohn als Entschädigung abziehe, muss ich mir noch überlegen.«

»Astrid, es war gar nicht so, dass …«

»Geh zum Bus und warte dort, bis wir zurückfahren«, schnitt sie mir das Wort ab. »Noch lieber wäre es mir, du organisierst deine eigene Fahrgelegenheit.«

KAPITEL FÜNF

Auf dem Parkplatz stellte ich mich neben den Bus, aber es dauerte ungefähr zwei Minuten, bis ich mir richtig blöd vorkam. Sollte ich mir für den Rest der Nacht die Beine in den Bauch stehen und dann eine peinliche Heimfahrt, bei der mich alle neugierig anstarren würden, über mich ergehen lassen?

Ich zog das Handy aus meiner Tasche und rief Ritu an.

»Hallo?«, meldete sie sich mit verschlafener Stimme. Ich klagte ihr mein Leid. Ritu hatte kein Auto, aber einige ihrer gut situierten indischen Freunde besaßen welche. Sie versprach, einen fahrbaren Untersatz zu organisieren und mich abzuholen.

Das hieß zwar immer noch, dass ich mindestens eine halbe Stunde warten musste, bis ich hier wegkam. Trotzdem war ich heilfroh.

»Danke«, sagte ich atemlos, als ich ins Auto sprang. »Du bist die Beste. Ich schulde dir was.«

Erst jetzt, wo ich die ganze Geschichte mit meiner besten Freundin noch einmal durchkaute, kamen mir die Tränen. »Es ist total unfair, mich gleich zu feuern, ohne dass ich mich rechtfertigen durfte«, fand ich. »Aber es war auch wirklich blöd von mir, mit diesem Typen mitzugehen. Ich hätte Astrid erklären sollen, wie der Fleck auf der Bluse zustande gekommen war. Ich hätte einen Rüffel bekommen, aber …«

»Wer der gut aussehende Mann wohl war?«, fiel mir Ritu aufgeregt ins Wort. »Wenn er sich im Haus und in den geheimen Tunneln ausgekannt hat, dann muss er dort wohnen oder arbeiten.«

»Weißt du was, es ist mir so was von egal«, unterbrach ich sie. »Der hat mich in Teufels Küche gebracht.«

»Ich kann mir vorstellen, dass es unangenehm war«, sagte Ritu mitfühlend. »Und er hätte die Situation ja erklären und entschärfen können. War er gar nicht dabei?«

Ich schüttelte verärgert den Kopf. »Es standen so gut wie alle Gäste drum herum. Als Astrid kam, hab ihn nicht mehr gesehen.« Als Ritu noch etwas anderes sagen wollte, winkte ich ab. »Vergessen wir’s. Hilf mir lieber, zu überlegen, wo ich mich bewerben kann.«

Den Rest der Fahrt brainstormten wir potenzielle Geldquellen und Arbeitgeber für mich, doch gegen Ende wurde das Gespräch immer träger. Ritu drehte die Musik auf. Als wir endlich daheim angekommen waren, fielen mir fast die Augen zu.

»Ich muss das Auto noch zurückbringen. Faruk braucht es morgen früh«, meinte Ritu, als ich schon mit einem Bein ausgestiegen war.

»Oh. Soll ich mitkommen?« Ritu schüttelte den Kopf. »Ist nur zwei Straßen weiter. Geh ruhig ins Bett.«

Ich umarmte meine Freundin. »Hab ich schon gesagt, dass du die Beste bist?«

Ich stieg aus, schloss die Haustür auf und stolperte die Treppe hoch zu unserer Wohnung. Im Schlafzimmer machte ich nicht mal das Licht an, sondern zog mich einfach bis auf die Unterwäsche aus, bevor ich nach einem alten T-Shirt unter meinem Kopfkissen griff. Ich zog es mir über den Kopf, ließ mich aufs Bett fallen und verbrachte die paar Sekunden vor dem Einschlafen mit dem Schuldgefühl, mich nicht abgeschminkt zu haben.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, ging ich auch als Erstes ins Bad und rieb mir mit einem Abschminkpad und Creme über das Gesicht, bevor ich auch nur in den Spiegel schaute.

Nach einer langen heißen Dusche fühlte ich mich besser. Ich band meine noch feuchten Haare zu einem Dutt zusammen und zog eine Yogahose und einen Pulli an.

Meine Freude war groß, als ich Ritu in der Küche am Tisch sitzen sah. Es bedeutete, dass Kaffee aufgebrüht war. Und schon kündigte er sich mit seinem herrlichen Aroma an. »Guten Morgen«, sagte ich, während ich eine Tasse aus dem Schrank holte.

»Guten Morgen, wie geht es dir heute?«, fragte meine Freundin.

Ich zuckte mit den Schultern. »Das Leben geht weiter, auch wenn man gefeuert wurde. Bei mir steht heute ein Aufsatz an, der unbedingt fertiggeschrieben werden muss. Wenn ich heute Abend noch Energie habe, schaue ich mich nach einem neuen Job um.«

Ich ging mit meinem Kaffee zum Küchentisch. Ritu blätterte in einer Zeitschrift. Es sah mir wie eins dieser Klatschmagazine aus. »Was guckst du dir da an?«

»Moment«, meinte sie und blätterte weiter. »Ich glaube, hier war ein Foto drin …«

Ich nahm einen Schluck Kaffee.

»Ah«, sagte Ritu. »Wusste ich es doch. Hier.«

Sie schob die Zeitschrift zu mir herum und zeigte auf ein Bild. Ich verschluckte mich fast und fing an zu husten. »Das ist er!«, rief ich, als ich mich wieder gesammelt hatte. »Das ist der Typ, der mich gestern durch die geheimen Gänge mitgenommen hat.«

»Hab ich's doch geahnt«, meinte Ritu. »Wer sonst sollte sich so gut in dem Haus auskennen – sowie im Kleiderschrank seiner Schwester?«

Mein Blick ging vom Bild zu Ritu und wieder zurück. Gespannt suchte ich die Überschrift und den kurzen Artikel nach einem Namen ab. »Henry Wyndham«, rief ich schließlich. »Ist das nicht …«

»Der, von dem ich dir gestern erzählt habe«, bestätigte Ritu eifrig. »Lord Wyndhams Sohn. Einer der begehrtesten Junggesellen im Land.«

Ich betrachtete das Bild, das Henry bei einer Veranstaltung zeigte. Offensichtlich nicht ganz so formell wie die gestrige, denn er trug ein T-Shirt unter dem Sakko und seine Haare waren lockerer gestylt. Aber der Blick aus seinen schokobraunen Augen war der gleiche.

Verärgert schob ich die Zeitschrift zur Seite. »Mir egal, dass er so begehrenswert ist. Ganz offensichtlich hat er sich einen Spaß daraus gemacht, mich in eine wirklich blöde Lage zu bringen. Das ist typisch für so reiche Schnösel. Für ihn war es ein Abenteuer, das konsequenzlos bleibt. Ich hingegen war auf diesen Job angewiesen. Was das für mich bedeutet, geht wahrscheinlich über seinen Horizont.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht wollte er dir einfach nur helfen?«

Ich legte meine Hand auf Ritus. »Du glaubst immer an das Gute im Menschen.« Mit einem letzten Zug leerte ich meine Tasse und stand auf. »Ich fange besser mal an. Als Dank, dass du mir gestern geholfen hast, lad ich dich heute Mittag ins Café Aubergine ein.«

Ritu schaute mich skeptisch an. »Das ist lieb, aber das musst du nicht. Ich weiß, dass das Geld bei dir knapp ist.«

»Lunch im Aubergine liegt drin«, versuchte ich sie und mich zu überzeugen. »Ich will mich bei dir bedanken.«

»Warum machst du nicht einfach das Abendessen? Ich hab heute Abend noch ein Projektgruppentreffen. Da würde ich mich freuen, wenn ich zu einer warmen Mahlzeit heimkomme, statt bis spät selber zu kochen. Und das Curry von gestern ist nur noch eine Portion, die friere ich dann ein.«

»Ich für uns kochen? Bist du sicher?«, fragte ich zweifelnd. Ritu war definitiv die bessere Köchin von uns beiden. Es hatte sich so eingespielt, dass sie meist für mich mitkochte.

»Klar. Deine Spaghetti Bolognese sind doch gar nicht so schlecht.«

Ich rollte mit den Augen. »Ich kaufe die Soße im Glas.«

Ritu lachte. »Macht doch nichts. Ist schön, auch mal bekocht zu werden.«

»Okay, dann gerne.« Ich schenkte mir noch eine zweite Tasse Kaffee ein, schnappte eine Banane und verschwand in mein Zimmer, um endlich den Aufsatz fertig zu schreiben.

Mehrere Stunden später befand ich mich im Tesco und wollte gerade ein Knoblauch-Baguette zu Nudeln und Soße in meinen Einkaufskorb legen, als mein Handy klingelte.

Ich runzelte die Stirn, als ich »DeLux-Catering« auf dem Display sah.

»Hallo?«, sagte ich und wappnete mich für weitere mahnende Worte von Astrid.

Stattdessen überraschte sie mich mit der Frage, ob ich morgen Abend für eine Privatveranstaltung frei sei.

Verwirrt blieb ich im Gang stehen. »Ich dachte, du hättest mich gestern gefeuert.« Als ich meine Gedanken einfach so aussprach, hätte ich mich gleich selber ohrfeigen können. Wenn Astrid aus welch mirakulösem Grund auch immer meine fristlose Entlassung entfallen war, musste ich sie ja nicht gerade wieder daran erinnern.

»Ähm, ja, es stellte sich heraus, dass es ein Missverständnis war«, druckste sie in barschem Tonfall herum. »Henry Wyndham hat mir alles erklärt und darauf bestanden, dass ich dich wieder einstelle.« Offensichtlich gefiel ihr nicht, dass ein reicher, einflussreicher Kunde sie dazu gebracht hatte, ihre Entscheidung wieder zurückzunehmen. »Miss Kitty Wyndham hat mir ebenfalls versichert, dass sie dir verzeiht, nachdem ihr Bruder ihr die ganze Geschichte erklärt hatte. Nun ja, und jetzt gibt es die Veranstaltung morgen, bei der du gebraucht wirst, und …«

»Ja, kein Problem«, unterbrach ich sie. Diese Kitty hatte zwar nicht den Eindruck auf mich gemacht, wenig nachtragend zu sein, aber was sollte es. Henry Wyndham hatte sich sehr für mich eingesetzt, was bedeutete, dass er wohl doch ein Kavalier war. Egal, was diese reiche, adlige Familie tat oder sagte, ich war einzig und allein froh darüber, meinen Job wiederzuhaben.

»Du kannst dich auf mich verlassen. So etwas kommt nicht wieder vor und ich freue mich auf den Job morgen.«

Astrid murmelte etwas vor sich hin und sagte dann lauter und deutlicher: »Ich schreib dir eine Nachricht mit der Adresse und der Uhrzeit. Die Veranstaltung ist in Brighton.«

»Super, kein Problem.« Ich verabschiedete mich von Astrid und atmete erleichtert aus, nachdem sie aufgelegt hatte.

Meinen Einkaufskorb ließ ich einfach im Gang stehen. Ich holte etwas von unserem Lieblings-Italiener zum Mitnehmen. Meinen Job wiederzuhaben war Grund zum Feiern, und Ritu verdiente eine richtig tolle Mahlzeit, kein Fertigessen.

KAPITEL SECHS

Am darauffolgenden Abend stand ich vor einem Gebäude zwischen Hove und Brighton und rief die Nachricht mit der Adresse auf, die mir Astrid geschrieben hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---