Die Frau ohne Namen - Greer Hendricks - E-Book
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Greer Hendricks

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Beschreibung

Die Nr. 1 der New York Times-Bestsellerliste Frauen zwischen 18 und 32 für Ethik- und Moralstudie gesucht. Großzügige Vergütung. Anonymität garantiert. Als Jess sich für die Studie anmeldet, glaubt sie, nur ein paar Fragen beantworten zu müssen, um das Geld einstecken und wieder verschwinden zu können. Doch "Testperson 52", wie Jess nun genannt wird, erweist sich als verheißungsvolles Forschungsprojekt, die Fragen werden immer persönlicher. Jess kann kaum noch unterscheiden, was in ihrem Leben real ist oder nur eines der manipulativen Experimente von Dr. Shields. Gefangen in einem Netz aus Täuschung und Eifersucht muss Jess erkennen, dass manche Obsessionen tödlich sein können. Hendricks & Pekkanen «... scheinen die Erfolgsformel geknackt zu haben.» New York Times «… auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Niemals erraten Sie das Ende.» People Magazin «Gekonnt wendungsreich mit atemberaubenden Twists ... Spannung der Extra-Klasse.» Publishers Weekly «Meisterhaft steigende Spannung, die den Leser bis zuletzt im Dunkeln lässt.» Booklist

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Seitenzahl: 588

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Ähnliche


Greer Hendricks • Sarah Pekkanen

Die Frau ohne Namen

Roman

Aus dem Englischen von Alice Jakubeit

Über dieses Buch

Könnten Sie lügen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Schildern Sie eine Situation, in der Sie betrogen haben. Sollte eine Strafe dem Verbrechen angemessen sein?

Frauen zwischen 18 und 32 für Ethik- und Moralstudie gesucht. Großzügige Vergütung. Anonymität garantiert.

Als Jess sich für die Studie anmeldet, glaubt sie, nur ein paar Fragen beantworten zu müssen, um das Geld einstecken und wieder verschwinden zu können. Doch «Testperson 52», wie Jess nun genannt wird, erweist sich als verheißungsvolles Forschungsprojekt, die Fragen werden immer persönlicher. Jess kann kaum noch unterscheiden, was in ihrem Leben real ist oder nur eines der manipulativen Experimente von Dr. Shields. Gefangen in einem Netz aus Täuschung und Eifersucht muss Jess erkennen, dass manche Obsessionen tödlich sein können.

 

Hendricks & Pekkanen

«... scheinen die Erfolgsformel geknackt zu haben.» New York Times

«… auf dem Höhepunkt ihres Könnens. Niemals erraten Sie das Ende.» People Magazin

«Gekonnt wendungsreich mit atemberaubenden Twists ... Spannung der Extra-Klasse.» Publishers Weekly

«Meisterhaft steigende Spannung, die den Leser bis zuletzt im Dunkeln lässt.» Booklist

Vita

Greer Hendricks arbeitete über zwei Jahrzehnte als Lektorin bei Simon & Schuster. Davor erwarb sie an der Columbia University einen Master in Journalismus. Ihre Beiträge erschienen u. a. in der New York Times und bei Publishers Weekly. Greer lebt mit ihrem Ehemann und zwei Kindern in Manhattan.

Sarah Pekkanen ist eine internationale Bestsellerautorin und hat bereits sieben Romane veröffentlicht. Als investigative Journalistin und Autorin schrieb sie u. a. für die Washington Post und USA Today. Sie ist die Mutter von drei Söhnen und lebt außerhalb von Washington, D.C.

«Die Wahrheit über ihn», der erste gemeinsame Roman der Autorinnen, erschien in 35 Ländern, stieg auf Platz 2 der New York Times-Bestsellerliste ein und wird von DreamWorks verfilmt.

«Die Frau ohne Namen» war sofort Platz 1 der New York Times-Bestsellerliste und wird als Serie adaptiert.

Von Greer:

Für meine Eltern Elaine und Mark Kessel

 

Von Sarah:

Für Roger

ERSTER TEIL

Einladung: Frauen zwischen 18 und 32 für Ethik- und Moralstudie einer New Yorker Kapazität auf dem Gebiet der Psychiatrie gesucht. Großzügige Vergütung. Anonymität garantiert. Weiterführende Informationen telefonisch.

Es ist leicht, andere zu verurteilen. Die Mutter mit dem Einkaufswagen voller Froot Loops und Oreos, die ihr Kind anschreit. Den Fahrer des teuren Cabrios, der ein langsameres Fahrzeug schneidet. Die Frau im ruhigen Café, die in einem fort telefoniert. Den Mann, der seine Frau betrügt.

Aber was wäre, wenn man wüsste, dass die Mutter gerade heute ihre Arbeit verloren hat?

Was, wenn der Fahrer seinem Sohn versprochen hätte, ihn von der Schule abzuholen, sein Vorgesetzter aber von ihm verlangt hätte, dass er an einer späten Besprechung teilnimmt?

Was, wenn die Frau im Café gerade einen Anruf von der Liebe ihres Lebens erhalten hätte, einem Mann, der ihr das Herz gebrochen hat?

Und was, wenn die Frau des Ehebrechers ihm immer den Rücken zukehrt, wenn er sie berührt?

Vielleicht würden Sie auch über eine Frau, die einer Fremden für Geld ihre intimsten Geheimnisse verrät, ein vorschnelles Urteil fällen. Doch halten Sie sich mit Unterstellungen zurück, zumindest vorerst.

Wir alle haben Gründe für unsere Handlungen. Selbst wenn wir diese Gründe vor denen, die uns am besten zu kennen meinen, verheimlichen. Selbst wenn die Gründe so tief verborgen liegen, dass wir sie selbst nicht erkennen können.

KAPITEL EINS

Freitag, 16. November

Viele Frauen wollen der Welt ein bestimmtes Bild von sich präsentieren. Meine Aufgabe ist es, diese Verwandlungen hervorzubringen, in jeder 45-Minuten-Sitzung eine.

Wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin, wirken die Frauen verändert. Sie strahlen, sind selbstbewusster. Glücklicher sogar.

Aber ich habe nur vorübergehende Lösungen zu bieten. Meine Kundinnen fallen ausnahmslos in ihr altes Ich zurück.

Wahre Veränderung erfordert mehr als die Werkzeuge, die mir zur Verfügung stehen.

 

Es ist Freitagabend um zwanzig vor sechs. Rushhour. Außerdem ist es der Abend, an dem man häufig besonders schön sein möchte, weshalb ich diese Zeit in meinem privaten Terminkalender konsequent ausspare.

Als sich die Türen der U-Bahn am Astor Place öffnen, steige ich als Erste aus. Wie immer am Ende eines langen Tages tut mir vom Tragen meines schweren schwarzen Schminkkoffers der rechte Arm weh.

Ich schwinge den Koffer hinter mich, damit ich durch das schmale Drehkreuz passe – allein heute zum fünften Mal und mittlerweile reine Routine –, dann laufe ich eilig die Treppe hinauf.

Auf der Straße ziehe ich mein Telefon aus meiner Lederjacke und öffne meinen Terminkalender, der von BeautyBuzz laufend aktualisiert wird. Ich gebe die Zeiten ein, zu denen ich arbeiten kann, und meine Termine gehen mir per SMS zu.

Meine letzte Buchung heute ist in der Nähe der Eighth Street, Ecke University Place. Es sind zwei Kundinnen, also eine Doppelsitzung – neunzig Minuten. Ich habe die Adresse, die Namen und eine Telefonnummer. Aber ich habe keine Ahnung, wer mich erwartet, wenn ich an die Tür klopfe.

Allerdings habe ich keine Angst vor Fremden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass einem von vertrauten Gesichtern größere Gefahr drohen kann.

Ich merke mir die Adresse, dann gehe ich zügig los und weiche dem Müll aus, der aus einer umgefallenen Tonne quillt. Ein Geschäftsinhaber zieht laut ratternd ein Gitter vor seiner Ladenfront herab. Drei Collegestudenten, die ihre Rucksäcke über einer Schulter tragen, rempeln sich spielerisch an, als ich an ihnen vorbeigehe.

Zwei Blocks von meinem Ziel entfernt klingelt mein Telefon. Im Display sehe ich, dass es Mom ist.

Ich lasse es klingeln, während ich das kleine runde Icon mit einem Foto meiner lächelnden Mutter betrachte.

Wenn ich in fünf Tagen zu Thanksgiving nach Hause fahre, sehe ich sie sowieso, sage ich mir.

Aber ich muss drangehen.

Meine Schuldgefühle sind immer das Schwerste, was ich mit mir herumtrage.

«Hey, Mom. Alles in Ordnung?», frage ich.

«Alles bestens, Schatz. Wollte nur mal hören, wie es dir geht.»

Ich sehe sie vor mir: Sie steht in der Küche des Hauses, in dem ich aufwuchs, in einem Vorort von Philadelphia, und rührt in der Bratensoße auf dem Herd – sie essen immer früh, und freitags gibt es Schmorbraten mit Kartoffelpüree. Dann öffnet sie den Schraubverschluss einer Flasche Zinfandel, um sich das eine Glas Wein einzuschenken, das sie sich am Wochenende abends genehmigt.

Am kleinen Fenster über der Spüle hängen gelbe Vorhänge und am Backofengriff ein Geschirrhandtuch mit der Aufschrift Bring es ins Rollen über dem Bild eines Nudelholzes. Die geblümte Tapete löst sich an den Rändern, und der Kühlschrank hat unten, dort, wo mein Vater nach der Playoff-Niederlage der Eagles dagegentrat, eine Delle.

Wenn mein Vater von seiner Arbeit als Versicherungsvertreter nach Hause kommt, wird das Essen fertig sein. Meine Mutter wird ihn mit einem Küsschen begrüßen. Sie werden meine Schwester Becky zu Tisch rufen und ihr helfen, das Fleisch zu schneiden.

«Becky hat heute Morgen den Reißverschluss an ihrer Jacke hochgezogen», sagt meine Mutter. «Ohne Hilfe.»

Becky ist zweiundzwanzig, sechs Jahre jünger als ich.

«Das ist toll», sage ich.

Manchmal wünschte ich, ich würde näher bei meinen Eltern wohnen, damit ich ihnen helfen könnte. Zu anderen Zeiten bin ich so froh, weit weg zu sein, dass ich mich schäme.

«Hey, kann ich dich zurückrufen? Ich bin gleich bei der Arbeit.»

«Ach, hat man dich wieder für ein Stück engagiert?»

Ich zögere. Mom klingt jetzt lebhafter.

Aber ich kann ihr nicht die Wahrheit sagen, und so entfährt mir: «Ja, es ist nur eine kleine Produktion. Wahrscheinlich bekommt sie nicht mal viel Presse. Aber das Make-up ist superraffiniert, wirklich unkonventionell.»

«Ich bin so stolz auf dich», sagt Mom. «Ich kann es gar nicht erwarten, nächste Woche alles darüber zu erfahren.»

Sie möchte noch etwas hinzufügen, habe ich den Eindruck, aber ich beende das Telefonat, obwohl ich mein Ziel – ein Studentenwohnheim der NYU, der New York University – noch nicht erreicht habe.

«Gib Becky einen Kuss von mir. Hab dich lieb.»

 

Ich habe Verhaltensregeln, die für jeden Auftrag gelten.

Sobald ich meine Kundinnen sehe, nehme ich eine erste Einschätzung vor – registriere Augenbrauen, die dunkler besser aussehen würden, oder eine Nase, die dunkel schattiert werden muss, um schmaler zu wirken –, aber mir ist klar, dass meine Kundinnen mich ihrerseits taxieren.

Die erste Regel: meine inoffizielle Uniform. Ich trage nur Schwarz und muss mir dadurch nicht jeden Morgen ein neues Outfit zusammenstellen. Außerdem signalisiere ich damit unterschwellig Autorität. Ich trage bequeme, maschinenwaschbare Kleidung, die um sieben Uhr abends genauso frisch aussieht wie um sieben Uhr morgens.

Da man in die persönliche Distanzzone eindringt, wenn man jemanden schminkt, sind meine Fingernägel kurz und bloß poliert, mein Atem riecht nach Minze, und meine Locken sind in einem tief angesetzten Knoten gebändigt. Von dieser Norm weiche ich nie ab.

Bevor ich bei Apartment 6D klingele, reibe ich mir die Hände mit Handdesinfizierer ein und stecke mir ein Pfefferminz in den Mund. Ich bin fünf Minuten zu früh. Eine weitere Regel.

Mit dem Aufzug fahre ich in die fünfte Etage und folge dann der lauten Musik – «Roar» von Katy Perry – über den Flur zu meinen Kundinnen. Eine trägt einen Bademantel, die andere ein T-Shirt und Boxershorts. Ich rieche die Spuren ihrer letzten Schönheitsbehandlungen – die Chemikalien, mit denen die junge Frau namens Mandy sich blonde Strähnchen ins Haar gemacht hat, und den frischen Nagellack an Taylors Händen, mit denen sie wedelt.

«Wohin geht es heute Abend?», frage ich. Bei einer Party ist das Licht wahrscheinlich heller als in einem Club; eine Verabredung zum Abendessen würde etwas Subtiles erfordern.

«Lit», sagt Taylor.

Auf meinen verständnislosen Blick hin fügt sie hinzu: «Das ist im Meatpacking District. Drake war gerade gestern Abend da.»

«Cool», sage ich.

Ich suche mir einen Weg durch die Unordnung am Boden – ein Regenschirm, ein zusammengeknüllter grauer Pulli, ein Rucksack – und schiebe das Popcorn und die halbleeren Red-Bull-Dosen auf dem Couchtisch beiseite, damit ich meinen Koffer abstellen kann. Dann öffne ich die Verschlüsse, und die Seiten falten sich auf wie ein Akkordeon, sodass die diversen Fächer mit Make-up und Pinseln sichtbar werden.

«Auf was für einen Look zielen wir ab?»

Manche Kosmetikerinnen fangen sofort an, um möglichst viele Kundinnen in ihren Arbeitstag zu packen. Ich plane ein wenig zusätzliche Zeit ein, die ich nutze, um ein paar Fragen zu stellen. Die eine mag ein rauchiges Augen-Make-up und einen Nude-Lippenstift, während die andere sich vielleicht kühne rote Lippen und nur ein bisschen Mascara vorstellt. Die Investition dieser ersten Minuten spart mir am Ende der Sitzung Zeit.

Aber ich vertraue auch meinen Instinkten und Beobachtungen. Wenn diese Mädels sagen, sie wollen einen Sexy-Beach-Look, dann weiß ich, dass sie in Wirklichkeit wie Gigi Hadid auf dem Cover des Magazins, das auf dem Zweiersofa liegt, aussehen wollen.

«Und was studieren Sie?», frage ich.

«Kommunikationswissenschaften. Wir wollen beide in die PR.» Mandy klingt gelangweilt, als wäre ich die nervige Erwachsene, die sie fragt, was sie mal werden will, wenn sie groß ist.

«Das ist bestimmt spannend», sage ich, während ich einen Stuhl direkt unter die Deckenlampe ziehe, die das hellste Licht gibt.

Mit Taylor fange ich an. Ich habe fünfundvierzig Minuten, um den Look zu kreieren, den sie im Spiegel sehen will.

«Sie haben eine tolle Haut», sage ich. Eine weitere Regel. Finde etwas, worüber du der Kundin ein Kompliment machen kannst. In Taylors Fall ist das nicht schwer.

«Danke», sagt sie, ohne den Blick vom Telefon abzuwenden. Sie kommentiert ihren Instagram-Feed: «Braucht wirklich jemand noch ein Cupcake-Foto?» – «Jules und Brian sind so verliebt, das ist ja ekelhaft.» – «Inspirierender Sonnenuntergang, schon klar … freut mich, dass du einen Megafreitagabend auf deinem Balkon hast.»

Während ich arbeite, wird das Geplapper der jungen Frauen zu bloßem Hintergrundrauschen, wie das Brummen eines Föhns oder Verkehrslärm. Ich konzentriere mich ganz auf die verschiedenen Grundierungen, die ich auf Taylors Kinnpartie verblende, um ihren Hautton genau zu treffen, und den Wirbel aus Kupfer- und Sandtönen, die ich auf meiner Hand vermische, um die goldenen Flecken in ihren Augen zu betonen.

Als ich Bronzer auf ihre Wangen pinsele, klingelt ihr Handy.

Taylor, die gerade Gefällt-mir-Herzen verteilt, hält das Telefon in die Höhe: «Unbekannt. Soll ich drangehen?»

«Klar!», sagt Mandy. «Es könnte Justin sein.»

Taylor rümpft die Nase. «Aber wer geht an einem Freitagabend schon ans Telefon? Er kann eine Nachricht hinterlassen.»

Kurz darauf lässt sie die Nachricht über Lautsprecher abspielen, und eine Männerstimme ertönt.

«Hier ist Ben Quick, Dr. Shields’ Assistent. Ich möchte Ihre Termine an diesem Wochenende bestätigen: morgen und Sonntag von acht bis zehn Uhr morgens. Wie gesagt in der Hunter Hall, Raum 214. Ich hole Sie in der Eingangshalle ab.»

Taylor verdreht die Augen, und ich ziehe den Mascarapinsel zurück.

«Würden Sie Ihr Gesicht bitte stillhalten?»

«Sorry. Was habe ich mir dabei gedacht, Mandy? Ich werde viel zu verkatert sein, um morgen früh aufzustehen.»

«Lass es einfach sausen.»

«Klar. Aber das sind fünfhundert Ocken. Das sind, was weiß ich, zwei Pullis von rag & bone.»

Das reißt mich aus meiner Konzentration. Fünfhundert Dollar sind zehn Schminksitzungen.

«Bäh. Vergiss es. Ich stelle mir doch wegen so einer blöden Umfrage nicht den Wecker», sagt Taylor.

Muss schön sein, denke ich und werfe einen Blick auf den zusammengeknüllten Pulli in der Ecke.

Dann entfährt mir unwillkürlich: «Eine Umfrage?»

Taylor zuckt die Achseln. «Irgendein Psycho-Prof braucht Studenten für eine Umfrage.»

Was die in dieser Umfrage wohl wissen wollen? Vielleicht ist es so etwas wie ein Myers-Briggs-Persönlichkeitstest.

Ich trete zurück und mustere Taylors Gesicht. Sie ist auf eine klassische Art hübsch und hat eine beneidenswerte Knochenstruktur. Bei ihr brauche ich gar nicht die vollen fünfundvierzig Minuten.

«Da Sie lange unterwegs sein werden, konturiere ich Ihre Lippen, bevor ich Gloss auftrage», sage ich. «So hält die Farbe.»

Ich hole mein Lieblingslipgloss mit dem BeautyBuzz-Logo auf der Tube heraus und streiche ihn auf Taylors volle Lippen. Als ich fertig bin, geht sie ins Bad und sieht in den Spiegel, Mandy im Schlepptau. «Wow», höre ich Taylor sagen. «Sie ist richtig gut. Lass uns ein Selfie machen.»

«Vorher brauche ich mein Make-up!»

Ich räume die Kosmetika, mit denen ich Taylor geschminkt habe, wieder ein und überlege, was ich für Mandy brauchen werde. Da fällt mir auf, dass Taylor ihr Telefon auf dem Stuhl liegen gelassen hat.

Meinen Megafreitagabend werde ich damit verbringen, mit Leo, meinem kleinen Terriermischling, Gassi zu gehen und meine Make-up-Pinsel zu reinigen – nachdem ich mit dem Bus in die Lower East Side gefahren bin, wo ich in einem winzigen Apartment wohne. Ich bin so geschafft, dass ich wahrscheinlich schon im Bett liegen werde, bevor Taylor und Mandy im Club ihren ersten Cocktail bestellt haben.

Noch einmal werfe ich einen Blick auf ihr Telefon.

Dann sehe ich zur Badezimmertür. Sie ist halb geschlossen.

Ich wette, Taylor macht sich nicht einmal die Mühe, zurückzurufen und ihren Termin abzusagen.

«Ich muss unbedingt den Highlighter kaufen, den sie benutzt hat», sagt sie gerade.

Fünfhundert Dollar wären eine große Hilfe bei der Miete diesen Monat.

Meinen Arbeitsplan für morgen habe ich im Kopf. Den ersten Termin habe ich erst mittags.

«Ich lasse mir die Augen von ihr irgendwie dramatisch schminken», sagt Mandy. «Ob sie künstliche Wimpern dabeihat?»

Hunter Hall von acht bis zehn Uhr morgens – das weiß ich noch. Aber wie hießen der Arzt und sein Assistent?

Es ist nicht einmal eine bewusste Entscheidung: Gerade betrachte ich noch das Telefon, und im nächsten Augenblick liegt es in meiner Hand. Nicht einmal eine Minute ist vergangen, es ist noch nicht wieder gesperrt. Aber um die Mailbox aufzurufen, muss ich den Blick vom Bad abwenden.

Ich tippe aufs Display, um die neueste Nachricht abzuspielen, dann drücke ich mir das Telefon fest ans Ohr.

Die Badezimmertür öffnet sich vollends, und ich fahre herum. Mandy kommt heraus, und mir schlägt das Herz bis zum Hals. Ich kann das Telefon nicht zurücklegen, ohne dass sie es sieht.

Ben Quick.

Ich kann so tun, als wäre es vom Stuhl gefallen, denke ich hektisch. Taylor sage ich einfach, ich hätte es gerade aufgehoben.

«Warte, Mand!»

Dr. Shields’ Assistent … acht bis zehn Uhr morgens …

«Soll sie mal einen dunkleren Lippenstift ausprobieren?»

Komm schon, denke ich und wünschte, die Nachricht spielte schneller ab.

Hunter Hall, Raum 214.

«Vielleicht», sagt Mandy.

Ich hole Sie in der Eingangsh–

An diesem Punkt lege ich auf. Gerade als ich das Telefon auf den Stuhl fallen lasse, tut Taylor den ersten Schritt zurück ins Zimmer.

Hat sie es mit dem Display nach oben oder nach unten liegen gelassen? Aber schon steht Taylor neben mir.

Sie betrachtet ihr Telefon, und mein Magen krampft sich zusammen. Ich habe es vermasselt. Mist.

Ich schlucke schwer und suche nach einer Ausrede.

«Hey», sagt sie.

Ich reiße den Blick vom Telefon los und sehe sie an.

«Gefällt mir total gut. Aber könnten Sie es mal mit einem dunkleren Lipgloss probieren?»

Sie lässt sich wieder auf den Stuhl plumpsen, und ich atme langsam aus.

Ich schminke ihre Lippen noch zweimal neu, zuerst in einem Beerenton, dann wieder im ursprünglichen Farbton, und dabei stütze ich den rechten Ellenbogen mit der linken Hand ab, weil meine Hand so zittert. Bis ich damit fertig bin, hat mein Puls sich wieder normalisiert.

Als ich die Wohnung nach einem zerstreuten «Danke» und ohne Trinkgeld wieder verlasse, steht mein Entschluss fest.

Ich stelle meinen Handywecker auf 7.15 Uhr.

Samstag, 17. November

Am nächsten Morgen überdenke ich mein Vorhaben gründlich.

Manchmal kann eine impulsive Entscheidung das ganze Leben verändern.

Und ich will nicht, dass das noch einmal passiert.

Ich warte draußen vor der Hunter Hall und sehe in Richtung von Taylors Wohnung. Es ist ein bewölkter, dunstiger Morgen, und so verwechsele ich zunächst eine junge Frau, die in meine Richtung jagt, mit ihr. Aber es ist nur eine Joggerin. Als Taylor um fünf nach acht offenbar immer noch schläft, betrete ich die Eingangshalle, wo ein Mann in einer Khakihose und einem blauen Button-down-Hemd auf seine Uhr sieht.

«Tut mir leid, dass ich zu spät komme!», rufe ich.

«Taylor?», fragt er. «Ich bin Ben Quick.»

Ich hatte recht daran getan, darauf zu setzen, dass Taylor nicht absagen würde.

«Taylor ist krank und hat mich gebeten, die Umfrage an ihrer Stelle mitzumachen. Ich bin Jessica. Jessica Farris.»

«Oh.» Ben blinzelt und mustert mich gründlich von oben bis unten.

Ich trage hohe Chucks statt meiner Ankle Boots und habe mir einen schwarzen Nylonrucksack über eine Schulter gehängt. Es kann bestimmt nicht schaden, wenn ich wie eine Studentin wirke.

«Würden Sie einen Moment warten?», sagt er schließlich. «Ich muss bei Dr. Shields nachfragen.»

«Klar.» Ich bemühe mich um den etwas gelangweilten Tonfall, den Taylor gestern Abend hatte.

Im schlimmsten Fall sagt er mir, dass ich nicht teilnehmen darf, rede ich mir gut zu. Kein Ding, dann besorge ich mir einen Bagel und mache mit Leo einen schönen langen Spaziergang.

Ben entfernt sich ein Stück von mir und holt sein Handy aus der Tasche. Ich würde zu gern hören, was er sagt, aber er spricht zu leise.

Dann kommt er zu mir zurück. «Wie alt sind Sie?»

«Achtundzwanzig», antworte ich wahrheitsgemäß.

Verstohlen sehe ich zur Eingangstür, um mich zu vergewissern, dass Taylor nicht etwa doch in letzter Minute angeschlendert kommt.

«Sie wohnen gegenwärtig in New York?», fragt Ben.

Ich nicke.

Er hat noch zwei weitere Fragen an mich: «Wo haben Sie sonst noch gelebt? Irgendwo außerhalb der Vereinigten Staaten?»

Ich schüttele den Kopf. «Nur in Pennsylvania. Da bin ich aufgewachsen.»

«Okay.» Ben steckt das Telefon weg. «Dr. Shields sagt, Sie können an der Studie teilnehmen. Zuerst brauche ich Ihren vollständigen Namen und Ihre Anschrift. Dürfte ich irgendein Ausweispapier sehen?»

Ich nehme den Rucksack ab und durchwühle ihn, bis ich meine Brieftasche finde. Dann reiche ich ihm meinen Führerschein.

Er macht ein Foto davon und notiert sich die übrigen Angaben. «Ich kann Ihnen die Bezahlung morgen nach Ende Ihrer Sitzung per Venmo überweisen, falls Sie einen Account haben.»

«Habe ich. Taylor hat mir gesagt, es seien fünfhundert Dollar. Stimmt das?»

Er nickt. «Ich schicke das alles schnell an Dr. Shields, und dann bringe ich Sie rauf in den Raum.»

Kann es wirklich so einfach sein?

KAPITEL ZWEI

Samstag, 17. November

Du bist nicht die Testperson, die heute Morgen erwartet wurde.

Doch du erfüllst die demographischen Kriterien für die Studie, und der Slot wäre sonst vergeudet gewesen, daher führt mein Assistent Ben dich zu Raum 214, einem großen, rechteckigen Zimmer mit vielen Fenstern in der nach Osten hin liegenden Wand. Auf dem glänzenden Linoleumboden stehen drei Tischreihen mit Stühlen. An der Stirnwand hängt ein ausgeschaltetes Smartboard. Weit oben an der hinteren Wand hängt eine altmodische runde Uhr. Ein x-beliebiger Seminarraum, der sich auf jedem Campus in jeder Stadt befinden könnte.

Bis auf einen Punkt: Du bist die einzige Person in diesem Raum.

Er wurde ausgewählt, weil es darin kaum etwas gibt, was dich ablenken könnte, damit du dich besser auf deine Aufgabe konzentrieren kannst.

Ben erklärt dir, dass auf dem Computer Anweisungen erscheinen werden. Dann schließt er die Tür.

Es ist still im Raum.

Auf einem Tisch in der ersten Reihe steht ein Laptop für dich. Er ist bereits aufgeklappt. Deine Schritte hallen, während du darauf zugehst.

Du lässt dich auf den Stuhl sinken und ziehst ihn an den Tisch heran. Die metallenen Stuhlbeine scharren über den Boden.

Auf dem Bildschirm wartet eine Nachricht für dich.

Testperson 52: Danke für Ihre Teilnahme an Dr. Shields’ Forschungsprojekt zu Ethik und Moral. Durch die Teilnahme an dieser Studie verpflichten Sie sich zur Geheimhaltung. Ihnen ist ausdrücklich verboten, mit Dritten über die Studie und ihre Inhalte zu sprechen.

Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Entscheidend ist, dass Sie ehrlich sind und die erste Antwort geben, die Ihnen in den Sinn kommt. Ihre Erläuterungen sollten ausführlich sein. Bevor eine Frage vollständig beantwortet ist, können Sie nicht zur nächsten übergehen.

Fünf Minuten vor Ablauf Ihrer zwei Stunden erhalten Sie eine Benachrichtigung.

Drücken Sie die Entertaste, wenn Sie bereit sind zu beginnen.

Hast du irgendeine Vorstellung von dem, was dich erwartet?

Du führst deinen Finger zur Entertaste, drückst sie aber noch nicht. Mit diesem Zögern bist du nicht allein. Auch einige der einundfünfzig Testpersonen vor dir zeigten in unterschiedlichem Ausmaß Verunsicherung.

Es kann beängstigend sein, Seiten an sich kennenzulernen, deren Existenz man nicht gern zugibt.

Schließlich drückst du die Taste.

Du wartest und beobachtest den blinkenden Cursor. Deine haselnussbraunen Augen sind aufgerissen.

Als die erste Frage auf dem Bildschirm erscheint, zuckst du zusammen.

Vielleicht fühlt es sich seltsam an, dass jemand in einer so sterilen Umgebung intime Bereiche deiner Psyche erforscht, ohne aufzudecken, warum diese Informationen so wertvoll sind. Es ist nur natürlich, wenn man davor zurückscheut, sich verletzlich zu machen, aber du wirst dich diesem Prozess unterwerfen müssen, wenn der Test Erfolg haben soll.

Denk an die Regeln: Sei offen und ehrlich und vermeide, dich von der Scham oder dem Schmerz, den diese Fragen womöglich auslösen, abzuwenden.

Falls diese erste, vergleichsweise harmlose Frage dich aus der Fassung bringt, dann bist du vielleicht eine der Frauen, die ausgesiebt werden. Manche Testpersonen kommen nicht wieder. Dieser Test ist nicht für jede geeignet.

Du blickst noch immer auf die Frage.

Vielleicht raten deine Instinkte dir zu gehen.

Du wärst nicht die Erste.

Doch du legst die Hände auf die Tastatur und beginnst zu schreiben.

KAPITEL DREI

Samstag, 17. November

Als ich in diesem unnatürlich stillen Seminarraum auf den Laptop sehe, bin ich ein bisschen nervös. In den Anweisungen stand zwar, es gebe keine falschen Antworten, aber wird eine Befragung zum Thema Moral nicht eine Menge über meinen Charakter enthüllen?

Es ist kalt hier, und ich frage mich, ob das Absicht ist, damit ich aufmerksam bleibe. Fast höre ich Phantomgeräusche – Papierrascheln, dumpfe Schritte auf den harten Böden, Studenten, die sich anrempeln und miteinander scherzen.

Mit dem Zeigefinger drücke ich die Entertaste und warte auf die erste Frage.

Könnten Sie lügen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?

Ich pralle zurück.

Das ist nicht das, was ich erwartet habe, nachdem Taylor die Studie so abfällig erwähnte. Ich habe wohl nicht damit gerechnet, dass ich über mich selbst schreiben soll. Aus irgendeinem Grund nahm ich an, es würde eine Multiple-Choice- oder Ja/Nein-Befragung sein. Mit einer Frage konfrontiert zu sein, die sich so persönlich anfühlt, so, als wüsste Dr. Shields schon zu viel über mich, als wüsste er, dass das mit Taylor gelogen war … na ja, das bringt mich mehr als nur ein bisschen aus dem Konzept.

Ich rufe mich zur Ordnung und lege die Finger auf die Tastatur.

Es gibt viele Arten von Lügen. Ich könnte über Lügen durch Auslassung schreiben oder über die großen, das Leben verändernden Lügen – die ich nur zu gut kenne –, aber ich wähle eine harmlosere Variante.

Natürlich, tippe ich. Ich bin Visagistin, aber keine von denen, über die man liest. Ich arbeite nicht mit Models oder Filmstars. Ich schminke Teenager aus der Upper East Side für den Abschlussball und ihre Mütter für schicke Benefizveranstaltungen. Ich mache auch Hochzeiten und Bat Mizwas. Insofern ja, ich könnte einer nervösen Mutter erzählen, sie müsse bestimmt immer noch ihren Ausweis vorzeigen, oder eine unsichere Sechzehnjährige davon überzeugen, dass mir ihr Pickel nicht einmal aufgefallen sei. Zumal es die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie mir ein hübsches Trinkgeld geben, wenn ich ihnen schmeichele.

Ich drücke die Entertaste, ohne zu wissen, ob dies die Art von Antwort ist, die der Professor haben will. Aber ich mache es wohl richtig, denn im Nu erscheint die zweite Frage.

Schildern Sie eine Situation, in der Sie betrogen haben.

Hoppla. Das klingt ja wie eine Unterstellung.

Aber vielleicht betrügt jeder manchmal, und sei es nur als Kind beim Monopoly. Ich denke ein bisschen darüber nach, dann schreibe ich: In der vierten Klasse habe ich bei einer Klassenarbeit gepfuscht. Sally Jenkins konnte in unserer Klasse am besten buchstabieren, und während ich auf dem rosa Radierer an meinem Bleistift kaute und überlegte, ob «tomorrow» mit einem oder zwei R geschrieben wird, konnte ich auf ihr Blatt sehen.

Offenbar mit zwei R. Ich schrieb das Wort so hin und dankte Sally im Stillen, als ich ein Sehr gut bekam.

Ich drücke die Entertaste.

Schon komisch, dass mir das so detailliert wieder eingefallen ist, obwohl ich seit Jahren nicht mehr an Sally gedacht habe. Wir waren zusammen auf der Highschool, aber die letzten Klassentreffen habe ich ausgelassen, deshalb habe ich keine Ahnung, was aus ihr geworden ist. Wahrscheinlich hat sie zwei oder drei Kinder, einen Teilzeitjob und ein Haus in der Nähe ihrer Eltern. Das ist bei den meisten Frauen so, mit denen ich aufgewachsen bin.

Die nächste Frage ist noch nicht da. Wieder drücke ich die Entertaste. Nichts.

Ob das Programm sich irgendwie aufgehängt hat? Als ich schon den Kopf zur Tür hinausstrecken will, um nachzusehen, ob Ben in der Nähe ist, erscheinen wieder Buchstaben auf dem Bildschirm, einer nach dem anderen.

Als ob jemand sie in diesem Moment eingibt.

Testperson 52, Sie müssen mehr in die Tiefe gehen.

Unwillkürlich zucke ich zusammen und sehe mich um. Die dünnen Kunststoffjalousien an den Fenstern sind hochgezogen, doch an diesem düsteren Tag ist draußen niemand. Rasen und Gehweg sind verwaist. Gegenüber steht ein weiteres Gebäude, aber ob sich jemand darin aufhält, ist nicht zu erkennen.

Vom Kopf her ist mir klar, dass ich allein bin. Es fühlt sich bloß so an, als flüsterte jemand ganz in meiner Nähe.

Ich schaue wieder auf den Laptop. Eine weitere Nachricht ist erschienen.

War das wirklich das Erste, was Ihnen instinktiv einfiel?

Beinahe hätte ich nach Luft geschnappt. Woher weiß Dr. Shields das?

Unvermittelt schiebe ich den Stuhl zurück und will schon aufstehen. Dann kapiere ich, wie er darauf gekommen ist: Es muss mein Zögern gewesen sein, bevor ich anfing zu tippen. Daran hat er erkannt, dass ich meinen ursprünglichen Gedanken verworfen und eine harmlosere Antwort gewählt habe. Ich ziehe den Stuhl wieder heran und atme langsam aus.

Eine weitere Anweisung kriecht über den Bildschirm:

Gehen Sie über das Oberflächliche hinaus.

Es ist verrückt, zu glauben, Dr. Shields könne wissen, was ich denke, sage ich mir. Der Aufenthalt in diesem Raum geht mir offenbar an die Nerven. Wenn hier noch andere Leute wären, würde es sich nicht so schräg anfühlen.

Nach einer kurzen Pause erscheint die zweite Frage erneut auf dem Bildschirm.

Schildern Sie eine Situation, in der Sie betrogen haben.

Okay, denke ich. Du willst die schmutzige Wahrheit über mein Leben? Ich kann ein bisschen mehr in die Tiefe gehen.

Gilt es als Betrügen, wenn man nur die Komplizin ist?

Ich warte auf eine Antwort. Doch auf meinem Bildschirm tut sich nichts, nur der Cursor blinkt. Ich schreibe weiter.

Manchmal schleppe ich Männer ab, die ich nicht so gut kenne. Oder vielleicht will ich sie auch einfach nicht so gut kennenlernen.

Nichts. Ich fahre fort.

Bei meiner Arbeit habe ich gelernt, Menschen bei der ersten Begegnung sorgfältig einzuschätzen. Aber in meinem Privatleben, besonders nach ein, zwei Drinks, kann ich den Blick ganz bewusst unscharf werden lassen.

Vor ein paar Monaten habe ich einen Bassisten kennengelernt. Ich ging mit zu ihm. Es war offensichtlich, dass dort auch eine Frau wohnte, aber ich habe ihn nicht nach ihr gefragt. Ich habe mir eingeredet, sie sei nur eine Mitbewohnerin. War es falsch von mir, einfach Scheuklappen aufzusetzen?

Ich drücke die Entertaste und frage mich, wie dieses Geständnis ankommen wird. Meine beste Freundin Lizzie weiß von einigen meiner One-Night-Stands, aber ich habe ihr nie erzählt, dass ich an jenem Abend Parfümflakons und einen rosa Rasierer im Bad gesehen hatte. Sie weiß auch nicht, wie oft ich so etwas mache. Vermutlich habe ich Angst, dass sie mich dafür verurteilt.

Buchstabe für Buchstabe bildet sich ein einzelnes Wort auf dem Bildschirm heraus:

Besser.

Eine Sekunde lang bin ich einfach froh darüber, dass ich allmählich den Bogen heraushabe.

Dann wird mir klar, dass ein Wildfremder meine Bekenntnisse über mein Sexleben liest. Ben mit seinem gestärkten Hemd und der Hornbrille wirkte professionell, aber was weiß ich eigentlich über diesen Psychiater und seine Studie?

Vielleicht nennt er sie bloß eine Studie zu Moral und Ethik. Aber es könnte wer weiß was sein.

Woher will ich wissen, ob dieser Kerl überhaupt Professor an der NYU ist? Taylor wirkt nicht wie jemand, der Details überprüft. Sie ist eine schöne junge Frau, und vielleicht hat man sie deshalb zu dieser Studie eingeladen.

Ehe ich entscheiden kann, was ich tun soll, erscheint die nächste Frage:

Würden Sie eine Verabredung mit einer Freundin wegen eines besseren Angebots absagen?

Meine Schultern entspannen sich. Diese Frage wirkt völlig harmlos, wie etwas, das Lizzie fragen könnte, wenn sie einen Rat braucht.

Wenn Dr. Shields irgendetwas Schmutziges im Sinn hätte, würde er das Ganze nicht an der Uni veranstalten. Außerdem hat er mich nicht nach meinem Sexleben gefragt, rufe ich mir in Erinnerung. Ich habe von mir aus darüber geschrieben.

Ich beantworte die Frage: Natürlich, weil meine Arbeitszeiten nicht regelmäßig sind. Ich habe Wochen, in denen ich mich vor Arbeit nicht retten kann. Manchmal habe ich sieben oder acht Kundinnen am Tag, über ganz Manhattan verstreut. Und dann gibt es wieder mehrere Tage hintereinander, an denen ich nur ein, zwei Kundinnen habe. Arbeit abzulehnen, kann ich mir nicht leisten.

Ich will schon die Entertaste drücken, da wird mir klar, dass Dr. Shields mit dem, was ich geschrieben habe, nicht zufrieden sein wird. Ich befolge seine Anweisung und gehe mehr in die Tiefe.

Meinen ersten Job bekam ich mit fünfzehn in einem Sandwichladen. Vom College bin ich nach zwei Jahren abgegangen, weil ich es nicht stemmen konnte. Selbst mit finanzieller Unterstützung musste ich an drei Abenden pro Woche kellnern und Studienkredite aufnehmen. Ich fand es furchtbar, Schulden zu haben. Ständig Angst haben zu müssen, dass das Konto im Minus ist, gezwungen zu sein, nach Feierabend heimlich ein Sandwich mitgehen zu lassen …

Mittlerweile geht es mir ein bisschen besser. Aber ich habe kein finanzielles Polster wie meine beste Freundin Lizzie. Ihre Eltern schicken ihr jeden Monat einen Scheck. Meine sind ziemlich abgebrannt, und meine Schwester hat besondere Bedürfnisse. Von daher ja, kann sein, dass ich eine Verabredung mit einer Freundin absagen muss. Ich muss auf meine Finanzen achten. Denn wenn es hart auf hart kommt, kann ich mich nur auf mich selbst verlassen.

Ich betrachte den letzten Satz.

Klingt das weinerlich? Ich hoffe, Dr. Shields kapiert, was ich sagen will: Mein Leben ist nicht perfekt, aber wessen Leben ist das schon? Das Schicksal hätte mir schlechtere Karten austeilen können.

Ich bin es nicht gewohnt, so über mich selbst zu schreiben. Geheime Gedanken zu offenbaren, ist, als würde man das Make-up entfernen, sodass das nackte Gesicht zum Vorschein kommt.

Ich beantworte noch ein paar Fragen, darunter: Würden Sie jemals die Textnachrichten Ihres Ehemanns/Partners lesen?

Falls ich glaube, dass er mich betrügt, dann schon, tippe ich. Aber ich war bisher nicht verheiratet und habe noch nie mit jemandem zusammengelebt. Ich hatte nur ein paar mehr oder weniger feste Freunde und nie Grund, an ihnen zu zweifeln.

Als ich mit der sechsten Frage fertig bin, fühle ich mich wie schon lange nicht mehr. Ich bin so aufgedreht, als hätte ich zu viel Kaffee getrunken, aber ich bin nicht mehr nervös, sondern total konzentriert. Außerdem habe ich komplett das Zeitgefühl verloren. Ich könnte seit einer Dreiviertelstunde in diesem Raum sitzen oder auch schon doppelt so lang.

Nachdem ich über etwas geschrieben habe, was ich meinen Eltern niemals erzählen könnte – dass ich heimlich einige von Beckys Arztrechnungen bezahle –, erscheinen wieder nach und nach Buchstaben auf dem Bildschirm.

Das muss schwer für Sie sein.

Ich lese diese Nachricht einmal und dann noch einmal langsamer, überrascht darüber, wie tröstlich Dr. Shields’ mitfühlende Worte auf mich wirken.

Nachdenklich lehne ich mich zurück, spüre, wie die harte Metallrückenlehne gegen meine Schulterblätter drückt, und überlege, wie Dr. Shields wohl aussieht. Ich stelle ihn mir als stämmigen Mann mit einem grauen Bart vor. Er ist aufmerksam und mitfühlend. Wahrscheinlich hat er schon alles Mögliche gehört. Er verurteilt mich nicht.

Es ist schwer, denke ich und blinzele ein paarmal.

Unwillkürlich schreibe ich: Danke.

Nie zuvor hat jemand so viel über mich wissen wollen. Die meisten Leute geben sich mit oberflächlichem Geplauder zufrieden, wie Dr. Shields es nicht mag.

Vielleicht sind meine Geheimnisse doch schwerwiegender, als ich dachte, denn nachdem ich Dr. Shields davon erzählt habe, fühle ich mich leichter.

Ich beuge mich ein Stück vor und spiele an den drei Silberringen an meinem Zeigefinger herum, während ich auf die nächste Frage warte.

Es kommt mir so vor, als dauerte es länger als bei den letzten Fragen, bis sie erscheint.

Dann ist sie da.

Haben Sie jemals einen Menschen, der Ihnen wichtig ist, tief verletzt?

Es verschlägt mir beinahe den Atem.

Ich muss die Frage zweimal lesen. Unwillkürlich sehe ich zur Tür, obwohl mir klar ist, dass niemand durch die Glasscheibe späht.

Fünfhundert Dollar, denke ich. Jetzt scheint mir dieses Geld nicht mehr so leicht verdient zu sein.

Ich will nicht zu lange zögern. Sonst weiß Dr. Shields, dass ich einem wunden Punkt ausweiche.

Leider ja, schreibe ich, um Zeit zu schinden. Ich drehe mir eine Locke um den Finger, dann tippe ich weiter. Als ich noch neu in New York war, war da ein Mann, den ich gernhatte, und eine Freundin von mir war auch in ihn verknallt. Er fragte mich, ob ich mit ihm ausgehe …

Ich breche ab. Diese Geschichte ist nicht der Rede wert. Sie ist nicht das, was Dr. Shields will.

Langsam lösche ich, was ich geschrieben habe.

Bisher war ich ehrlich, genauso wie die Teilnahmebedingungen es verlangen. Aber jetzt überlege ich, ob ich mir etwas ausdenken soll.

Dr. Shields könnte merken, dass ich nicht die Wahrheit sage.

Und ich frage mich … was wäre es für ein Gefühl, wenn ich es täte?

Manchmal glaube ich, ich habe jeden verletzt, den ich je geliebt habe.

Ich sehne mich danach, das zu schreiben. Dr. Shields würde mitfühlend nicken, male ich mir aus, und mich ermuntern, fortzufahren. Wenn ich ihm erzähle, was ich getan habe, antwortet er vielleicht wieder etwas Tröstliches.

Es schnürt mir die Kehle zu. Ich wische mir die Augen.

Wenn ich den Mut dazu hätte, würde ich Dr. Shields zuerst erklären, dass ich mich einen ganzen Sommer über um Becky gekümmert hatte, während meine Eltern arbeiten gingen; dass ich mich für eine Dreizehnjährige ziemlich verantwortungsvoll verhalten hatte. Becky konnte lästig sein – ständig platzte sie in mein Zimmer, wenn ich Freundinnen zu Besuch hatte, lieh sich Sachen von mir und lief mir hinterher –, aber ich liebte sie.

Liebe sie, denke ich. Ich liebe sie immer noch.

Es tut nur so weh, in ihrer Nähe zu sein.

Ich habe noch kein einziges Wort geschrieben, da klopft Ben an die Tür und sagt mir, ich hätte noch fünf Minuten.

Bedächtig tippe ich: Ja, und ich würde alles dafür geben, es ungeschehen zu machen.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, drücke ich die Entertaste.

Ich fixiere den Bildschirm, aber Dr. Shields antwortet nicht.

Das Blinken des Cursors wirkt wie ein Herzschlag auf mich. Es ist hypnotisierend. Meine Augen brennen.

Falls Dr. Shields jetzt etwas schreibt, falls er mich bittet fortzufahren und sagt, ich dürfe ruhig überziehen, dann mache ich es. Ich würde alles herauslassen, würde ihm alles erzählen.

Mein Atem wird flach.

Ich habe das Gefühl, am Rand einer Klippe zu stehen und darauf zu warten, dass jemand sagt: Spring!

Immer noch starre ich auf den Laptop, obwohl ich weiß, dass mir nur noch etwa eine Minute bleibt.

Der Bildschirm ist leer bis auf den blinkenden Cursor, aber in meinem Kopf pulsieren plötzlich Worte, im selben Rhythmus wie der Cursor: Erzählen Sie. Erzählen Sie.

Als Ben die Tür öffnet, muss ich den Blick regelrecht vom Bildschirm fortreißen, um ihm zunicken zu können.

Ich drehe mich um, ziehe langsam die Jacke von der Stuhllehne und hebe meinen Rucksack auf. Dann werfe ich einen letzten Blick auf den leeren Bildschirm.

Sobald ich stehe, schlägt eine Welle der Erschöpfung über mir zusammen. Ich bin völlig erledigt. Meine Glieder sind schwer, und mein Kopf ist wie mit Watte gefüllt. Ich will nur noch nach Hause und mit Leo unter die Decke kriechen.

Ben steht draußen vor der Tür und sieht auf ein iPad. Ich erspähe Taylors Namen ganz oben auf dem Display, und darunter drei weitere Frauennamen. Jeder hat Geheimnisse. Ich frage mich, ob diese Frauen die ihren preisgeben.

«Bis morgen um acht», sagt Ben auf der Treppe hinunter in die Eingangshalle. Es fällt mir schwer, mit ihm Schritt zu halten.

«Okay», sage ich. Ich halte mich am Geländer fest und konzentriere mich, um keine Stufe zu verfehlen.

Als wir unten ankommen, bleibe ich stehen. «Ähm, ich habe eine Frage. Was für eine Studie ist das genau?»

Ben wirkt ein bisschen gereizt. Er ist irgendwie sehr proper mit seinen glänzenden Slippern und seinem schicken Stylus. «Es ist eine umfassende Studie über Moral und Ethik im 21. Jahrhundert. Dr. Shields befragt Hunderte von Teilnehmern zur Vorbereitung auf einen bedeutenden wissenschaftlichen Aufsatz.»

Dann sieht er an mir vorbei zu einer Frau, die in der Eingangshalle wartet: «Jeannine?»

Ich verlasse das Gebäude und ziehe den Reißverschluss meiner Lederjacke hoch. Draußen bleibe ich stehen, um mich zu orientieren, dann mache ich mich auf den Heimweg.

Alle Menschen, denen ich begegne, scheinen ganz normalen Aktivitäten nachzugehen: Ein paar Frauen mit bunten Yogamatten unterm Arm betreten das Studio an der Ecke. Zwei Männer schlendern händchenhaltend vorüber. Ein kleiner Junge saust auf einem Roller vorbei. Sein Vater jagt ihm hinterher und ruft: «Nicht so schnell, Kumpel!»

Noch vor zwei Stunden hätte ich keinem von ihnen größere Beachtung geschenkt. Aber jetzt ist es irritierend, wieder draußen in der lärmenden, hektischen Welt zu sein.

An einer Ampel muss ich stehen bleiben. Es ist kalt, und ich taste in meinen Taschen nach den Handschuhen. Als ich sie anziehe, sehe ich, dass der farblose Nagellack, den ich gestern erst aufgetragen habe, schon Macken hat.

Ich muss daran geknibbelt haben, während ich überlegte, ob ich jene letzte Frage beantworten sollte.

Bibbernd verschränke ich die Arme vor der Brust. Ich fühle mich, als bahnte sich eine Erkältung an. Heute habe ich vier Kundinnen, aber ich weiß nicht, wie ich die Energie aufbringen soll, meinen Koffer durch die Stadt zu schleppen und Smalltalk zu machen.

Ob die Befragung wohl da weitergeht, wo sie aufgehört hat, wenn ich morgen in diesen Seminarraum zurückkehre? Aber vielleicht lässt Dr. Shields mich diese letzte Frage ja überspringen und stellt mir eine neue.

Ich biege um die letzte Ecke, und mein Haus kommt in Sicht. Müde schließe ich die Tür auf, gehe hinein und ziehe sie fest zu, bis ich höre, dass das Schloss einrastet. Dann schleppe ich mich die drei Treppen hinauf, betrete meine Wohnung und lasse mich auf meinen Futon fallen. Leo springt auf und rollt sich neben mir zusammen. Manchmal scheint er zu spüren, wenn ich Trost brauche. Ich habe ihn vor zwei Jahren beinahe aus einer Laune heraus in einem Tierheim adoptiert, in dem ich mir eigentlich Katzen ansehen wollte. Er bellte oder winselte nicht, sondern saß einfach in seinem Käfig und sah mich an, als hätte er auf mich gewartet.

Ich stelle mir den Wecker in meinem Telefon so, dass er in einer Stunde klingelt, dann lege ich die Hand auf Leos kleinen warmen Körper.

Während ich so daliege, frage ich mich, ob es das wert war. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass es eine so intensive Erfahrung sein oder so viele unterschiedliche Gefühle in mir wecken würde.

Dann drehe ich mich auf die Seite, schließe die Augen und sage mir, dass es mir bessergehen wird, wenn ich mich ein bisschen ausgeruht habe.

Ich weiß nicht, was morgen passieren wird, was Dr. Shields noch wissen will. Aber keiner zwingt mich dazu, rufe ich mir in Erinnerung. Ich könnte behaupten, ich habe verschlafen. Oder à la Taylor einfach nicht auftauchen.

Ich muss nicht wieder dahin, denke ich, bevor ich ins Vergessen sinke.

Aber ich weiß, ich mache mir nur etwas vor.

KAPITEL VIER

Samstag, 17. November

Du hast gelogen, was ein eigenartiger Einstieg in eine Studie zu Moral und Ethik ist. Überdies zeigt es Initiative.

Du warst kein Ersatz für den Acht-Uhr-Termin.

Die ursprüngliche Teilnehmerin rief um 8.40 Uhr an und sagte ab, weil sie verschlafen habe, also lange nachdem man dich in den Testraum gebracht hatte. Dennoch durftest du weitermachen, da du bereits bewiesen hattest, dass du eine faszinierende Testperson bist.

Erste Eindrücke: Du bist jung. Dein Führerschein belegt, dass du wirklich achtundzwanzig bist. Deine kastanienbraunen Locken sind lang und eine Spur widerspenstig, und du trugst Lederjacke und Jeans. Einen Ehering trugst du nicht, aber drei schmale silberne Stapelringe am Zeigefinger.

Deinem legeren Äußeren zum Trotz haben deine Umgangsformen etwas Professionelles. Du hattest keinen Coffee-to-go-Becher dabei, hast nicht gegähnt oder dir die Augen gerieben, und du hast zwischen den Fragen nicht verstohlen auf dein Telefon gesehen.

Was du in deiner ersten Sitzung preisgegeben hast, war ebenso wertvoll wie das, was du nicht bewusst preisgegeben hast.

Von der ersten Frage an begann sich ein subtiler roter Faden abzuzeichnen, der dich von den bisher befragten einundfünfzig jungen Frauen abhebt.

Zuerst hast du geschildert, inwiefern du lügen kannst, um eine Kundin zu beruhigen und ein höheres Trinkgeld zu erhalten.

Dann schriebst du, du würdest eine Abendverabredung mit einer Freundin absagen, allerdings nicht, weil du in letzter Minute Konzertkarten bekommen oder ein vielversprechendes Date hast, wie die meisten anderen angaben. Vielmehr wandten deine Gedanken sich erneut der Aussicht auf Arbeit zu.

Geld ist sehr wichtig für dich. Es scheint einer der Grundpfeiler deines Verhaltenskodexes zu sein.

Wenn Geld und Moral aufeinandertreffen, kann das Ergebnis faszinierende Erkenntnisse über den menschlichen Charakter liefern.

Verschiedene Hauptmotive veranlassen die Menschen, entgegen ihrem Wertekompass zu handeln: Überleben, Hass, Liebe, Neid, Leidenschaft. Und Geld.

Weitere Beobachtungen: Deine Lieben kommen bei dir an erster Stelle, was daraus hervorgeht, dass du deinen Eltern Informationen vorenthältst, um sie zu schützen. Dennoch hast du dich als Komplizin bei einer Handlung geschildert, die eine Beziehung zerstören könnte.

Doch es war die eine Frage, die du nicht beantwortet hast, die Frage, mit der du gerungen hast, während du an deinen Nägeln geknibbelt hast, die am faszinierendsten ist.

Dieser Test kann dich befreien, Testperson 52.

Gib deinen Widerstand auf.

KAPITEL FÜNF

Samstag, 17. November

Mein Nickerchen verdrängt alle Gedanken an Dr. Shields und seinen seltsamen Test. Ein starker Kaffee hilft mir, mich wieder auf meine Kundinnen zu konzentrieren, und als ich nach der Arbeit nach Hause komme, bin ich schon wieder fast die Alte. Die Vorstellung, morgen eine weitere Sitzung zu absolvieren, schüchtert mich nicht mehr ein.

Ich bringe sogar die Energie auf, Ordnung zu machen, hauptsächlich, indem ich die Kleidungsstücke, die sich über der Stuhllehne türmen, wieder in den Schrank hänge. Mein Apartment ist so klein, dass es keine Wand gibt, die nicht mit einem Möbelstück zugestellt ist. Wenn ich mir eine Mitbewohnerin suchen würde, könnte ich mir auch eine größere Wohnung leisten, aber ich habe mich schon vor Jahren dafür entschieden, allein zu wohnen. Meine Privatsphäre ist mir die Abstriche wert.

Ein Streifen Spätnachmittagslicht fällt durch mein einziges Fenster. Ich setze mich auf den Rand meines Futons, nehme mein Scheckbuch und denke, dass es mir diesen Monat dank der zusätzlichen fünfhundert Dollar nicht so davor grauen wird, meine Rechnungen zu bezahlen.

Als ich mich daranmache, einen Scheck für Antonia Sullivan auszustellen, kommt es mir vor, als wäre Dr. Shields wieder in meinem Kopf:

Haben Sie jemals etwas vor einem geliebten Menschen geheim gehalten, um ihn nicht aufzuregen?

Meine Hand erstarrt.

Antonia ist eine private Logo- und Ergotherapeutin, eine der besten in Philly.

Der staatlich finanzierte Therapeut, der dienstags und donnerstags mit Becky arbeitet, erzielt kaum Fortschritte. Aber wenn Antonia kommt, geschehen kleine Wunder: der Versuch, sich die Haare zu flechten oder einen Satz zu schreiben. Eine Frage zu dem Buch, das Antonia ihr vorgelesen hat. Eine verloren geglaubte Erinnerung.

Antonia kostet 125 Dollar die Stunde, doch meine Eltern glauben, sie hätte Staffelpreise und berechne ihnen nur einen Bruchteil davon. Den Rest übernehme ich.

Heute gestehe ich mir die Wahrheit ein: Wenn meine Eltern wüssten, dass ich Antonia zum größten Teil bezahle, wäre mein Vater beschämt, und meine Mutter würde sich Sorgen machen. Möglicherweise würden sie meine Hilfe zurückweisen.

Besser, sie bekommen keine Gelegenheit dazu.

Ich bezahle Antonia jetzt seit achtzehn Monaten. Nach ihren Besuchen ruft meine Mutter mich jedes Mal an und berichtet.

Mir war gar nicht bewusst, wie anstrengend dieses Versteckspiel ist, bis ich in der Sitzung heute Morgen darüber schrieb. Als Dr. Shields antwortete, das müsse schwer sein, war es, als hätte er mir die Erlaubnis gegeben, mir endlich meine wahren Gefühle einzugestehen.

Ich stecke den Scheck in einen Briefumschlag. Dann springe ich auf und hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank.

Heute Abend will ich meine Entscheidungen nicht mehr analysieren, das werde ich früh genug wieder tun müssen.

Ich greife zum Handy und schreibe Lizzie: Können wir uns ein bisschen früher treffen?

 

Ich betrete The Lounge und lasse den Blick durch den Raum wandern, aber Lizzie ist noch nicht da. Das wundert mich nicht, denn ich bin zehn Minuten zu früh. Ich entdecke zwei freie Barhocker und sichere sie uns.

Sanjay, der Barkeeper, nickt mir zu. «Hey, Jess.» Ich komme oft her. Es ist nur drei Blocks von meiner Wohnung entfernt, und in der Happy Hour kostet das Bier nur drei Dollar.

«Sam Adams?», fragt er.

Ich schüttele den Kopf. «Wodka-Cranberry-Soda, bitte.» Die Happy Hour ist seit fast einer Stunde vorbei.

Als ich meinen Drink halb ausgetrunken habe, trifft Lizzie ein und schält sich noch im Gehen aus Schal und Jacke. Ich nehme meine Tasche vom Hocker neben mir.

«Heute ist mir was total Schräges passiert», sagt Lizzie, während sie mich kurz, aber fest umarmt und sich auf den Hocker plumpsen lässt. Mit ihren roten Wangen und der blonden Mähne sieht sie aus wie eine Farmerstochter aus dem Mittleren Westen, und genau das war sie auch, ehe sie nach New York kam, in der Hoffnung, hier als Kostümbildnerin beim Theater den Durchbruch zu schaffen.

«Dir? Kann nicht sein», sage ich. Als ich das letzte Mal mit Lizzie sprach, erzählte sie mir, sie habe einem Obdachlosen ein Truthahnsandwich ausgeben wollen, und er habe sich geärgert, weil sie nicht geahnt hatte, dass er Veganer war. Einige Wochen davor hatte sie im Supermarkt jemanden gefragt, wo die Badehandtücher seien. Die Frau war allerdings keine Angestellte des Supermarkts gewesen, sondern hatte sich als die oscarnominierte Schauspielerin Michelle Williams erwiesen. «Aber sie wusste, wo die Badehandtücher waren», hatte Lizzie erzählt.

«Ich war im Washington Square Park … Warte mal, ist das Wodka-Cranberry-Soda? Ich nehme auch einen, Sanjay, und wie geht’s übrigens deinem scharfen Freund? Jedenfalls, wo war ich, Jess? Oh, das Häschen. Es hockte da mitten auf dem Weg und blinzelte zu mir hoch.»

«Ein Häschen? Wie Klopfer?»

Lizzie nickt. «Der ist so süß! Er hat diese langen Ohren und eine klitzekleine rosa Nase. Ich glaube, er ist jemandem weggelaufen. Er ist ganz zahm.»

«Jetzt ist er bei dir zu Hause, stimmt’s?»

«Nur weil es draußen so kalt ist!», beteuert Lizzie. «Am Montag frage ich in allen Schulen in der Gegend nach, ob sie ein Klassenmaskottchen wollen.»

Sanjay schiebt Lizzies Drink herüber, und sie nippt daran. «Und bei dir? Irgendwas Interessantes?»

Ausnahmsweise einmal hatte ich einen Tag, der mit ihrem mithalten kann, aber als ich ihr davon erzählen will, habe ich die Worte auf dem Laptop wieder vor Augen: Durch die Teilnahme an dieser Studie verpflichten Sie sich zur Geheimhaltung.

«Nichts Besonderes», sage ich und senke den Blick, während ich in meinem Drink rühre. Dann wühle ich in meiner Tasche nach Vierteldollarmünzen und springe auf. «Ich suche ein paar Songs aus. Irgendwelche Wünsche?»

«Rolling Stones», sagt sie.

Ich wähle für Lizzie «Honky Tonk Women» aus, dann lehne ich mich an die Jukebox und sehe mir die übrige Auswahl an.

Lizzie und ich haben uns kennengelernt, kurz nachdem ich hierhergezogen war. Wir arbeiteten beide backstage bei einer Off-Off-Broadway-Produktion, ich als Maskenbildnerin, und sie gehörte zur Kostümbildnertruppe. Die Produktion wurde nach zwei Abenden abgesetzt, aber da waren wir schon Freundinnen. Ich stehe ihr näher als so ziemlich jeder andere Mensch. Einmal war ich über ein langes Wochenende bei ihr zu Hause und habe ihre Familie kennengelernt, und als meine Eltern vor ein paar Jahren zu Besuch nach New York kamen, verbrachte sie ein bisschen Zeit mit ihnen und Becky. Jedes Mal, wenn wir in unserem Lieblingsdeli essen, gibt sie mir die Gurken auf ihrem Teller, weil sie weiß, wie sehr ich die liebe, ebenso wie ich weiß, dass, wenn ein neuer Roman von Karin Slaughter erscheint, sie ihre Wohnung so lange nicht verlässt, bis sie ihn ausgelesen hat.

Obwohl sie definitiv nicht alles über mich weiß, fühlt es sich komisch an, mein heutiges Erlebnis nicht mit ihr teilen zu können.

Ein Mann stellt sich neben mich und liest die Songtitel.

Lizzies Song setzt ein.

«Stones-Fan, was?»

Ich drehe mich um und sehe ihn an. Er hat garantiert Wirtschaftswissenschaften studiert, denke ich. Diesen Typ sehe ich täglich in der U-Bahn. Er hat so eine Wall-Street-Ausstrahlung, mit seinem Crewneck-Pulli und seiner ein bisschen zu engen Jeans. Sein dunkles Haar ist kurz, und die Stoppeln am Kinn wirken eher wie ein echter Bartschatten und nicht wie irgendeine hippe Bartkreation. Auch seine Armbanduhr verrät ihn. Es ist eine Rolex, aber keine, die auf alten Geldadel hindeuten würde, sondern ein neueres Modell, das er wahrscheinlich selbst gekauft hat, vielleicht von seinem ersten Bonus.

Zu nett und adrett für mich.

«Sie sind die Lieblingsband meines Freunds», sage ich.

«Der Glückspilz.»

Ich lächele ihn an, um meine Zurückweisung abzumildern. «Danke.» Ich wähle «Purple Rain» aus, dann gehe ich zurück an meinen Platz.

«Du hältst Flopsy in deinem Bad?», fragt Sanjay gerade.

«Ich habe es mit Zeitungspapier ausgelegt», erklärt Lizzie. «Meine Mitbewohnerin ist allerdings nicht so richtig glücklich darüber.»

Sanjay zwinkert mir zu. «Noch eine Runde?»

Lizzie holt ihr Telefon heraus und hält es mir und Sanjay hin. «Wollt ihr mal ein Foto von ihm sehen?»

«Niedlich», sage ich.

«Ooh, da ist ja eine neue Nachricht», sagt Lizzie und sieht auf ihr Telefon. «Erinnerst du dich an Katrina? Sie hat auf ein paar Drinks zu sich eingeladen. Hättest du Lust?»

Katrina ist eine Schauspielerin, die mit Lizzie zusammen bei einer neuen Produktion arbeitet. Ich habe vor einer ganzen Weile mit ihr beim selben Stück gearbeitet, aber dann ging ich vom Theater weg, und seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Im Sommer hat sie sich mal bei mir gemeldet und wollte sich treffen und reden. Aber ich habe sie nie zurückgerufen.

«Heute Abend?», frage ich, um Zeit zu schinden.

«Genau», sagt Lizzie. «Ich glaube, Annabelle geht hin, und Cathleen vielleicht auch.»

Ich mag Annabelle und Cathleen. Aber wahrscheinlich sind noch andere Theaterleute eingeladen. Und es gibt einen, den ich lieber nicht wiedersehen würde.

«Gene wird nicht da sein, keine Angst», sagt Lizzie, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Ich merke, dass Lizzie gern hingehen würde. Das sind noch immer ihre Freunde. Außerdem arbeitet sie an ihrem Lebenslauf. Das New Yorker Theater ist eine verschworene Gemeinschaft, und Netzwerken ist die beste Möglichkeit, an Jobs heranzukommen. Aber sie wird trotzdem ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ohne mich hingeht.

Es ist, als hörte ich Dr. Shields mit tiefer, beruhigender Stimme sagen: Könnten Sie lügen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?

Ja, antworte ich ihm.

Lizzie sage ich: «Ach, das ist es nicht. Ich bin bloß total müde. Und ich muss morgen früh raus.»

Dann gebe ich Sanjay ein Zeichen. «Lass uns noch ein schnelles Gläschen trinken, und dann muss ich ins Bett. Aber du solltest hingehen, Lizzie.»

 

Zwanzig Minuten später verlassen Lizzie und ich die Bar. Wir müssen in unterschiedliche Richtungen, daher umarmen wir uns auf dem Bürgersteig zum Abschied. Sie riecht nach Orangenblüten. Ich weiß noch, wie ich mit ihr das Parfüm ausgesucht habe.

Als sie sich auf den Weg zur Party macht, sehe ich ihr hinterher, bis sie um die Ecke biegt.

Lizzie sagte, Gene French werde nicht da sein, aber ich gehe nicht nur ihm aus dem Weg. Ich bin nicht sonderlich erpicht darauf, irgendjemanden aus dieser Phase meines Lebens wiederzusehen, obwohl ich in meinen ersten sieben Jahren in New York ganz in dieser Szene aufging.

Das Theater hat mich in diese Stadt gezogen. Es ist mein großer Traum, seit ich als kleines Mädchen mit meiner Mutter in einer Aufführung von Der Zauberer von Oz war. Hinterher kamen die Schauspieler in die Lobby, und da merkte ich, dass sie alle – der Blechmann, der Feige Löwe, die Böse Hexe – bloß ganz normale Leute waren. Der kreidige Gesichtspuder, die künstlichen Sommersprossen und die grüngetönte Grundierung hatten sie verwandelt.

Nachdem ich das College abgebrochen hatte, zog ich nach New York, fing bei Bloomingdale’s an der Bobbi-Brown-Theke an und stellte mich bei jedem Stück, das ich bei Backstage.com fand, als Maskenbildnerin vor. Dabei lernte ich, dass die Profis ihre Contouring-Paletten, Grundierungen und künstlichen Wimpern in ausklappbaren schwarzen Schminkkoffern statt in Matchbeuteln transportieren. Zunächst arbeitete ich sporadisch bei kleinen Aufführungen, wo ich manchmal nur mit Freikarten bezahlt wurde, aber nach ein paar Jahren bekam ich leichter Jobs, und der Kundenkreis wurde größer, sodass ich im Kaufhaus kündigen konnte. Allmählich wurde ich weiterempfohlen und sogar von einer Agentur unter Vertrag genommen – die allerdings unter anderem auch einen Zauberkünstler vertrat.

Diese Phase meines Lebens war berauschend – die intensive Kameradschaft mit den Schauspielern und anderen Mitgliedern der Truppe, der Triumph, wenn die Zuschauer aufstanden und unserer Schöpfung applaudierten –, aber jetzt als Kosmetikerin verdiene ich viel mehr. Und nicht jedermann ist es vergönnt, dass seine oder ihre Träume wahr werden, das habe ich schon vor langer Zeit erkannt.

Dennoch muss ich unwillkürlich an damals denken und frage mich, ob Gene noch genauso ist.

Als wir einander vorgestellt wurden, gab er mir die Hand. Seine Stimme war tief und fest, wie es sich für einen Theatermenschen gehört. Obwohl er erst Ende dreißig war, war er schon auf dem besten Wege, groß herauszukommen. Letztlich schaffte er es sogar noch schneller, als ich gedacht hatte.

Das Erste, was er zu mir sagte, während ich versuchte, nicht rot zu werden, war: Du hast ein tolles Lächeln.

Die Erinnerungen kehren immer in dieser Reihenfolge zurück: Ich, die ihm eine Tasse Kaffee bringt und ihn behutsam aus seinem kurzen Nickerchen im dunklen Zuschauerraum weckt. Er, der mir einen Theaterzettel zeigt, frisch aus dem Drucker, und mir meinen Namen unter den Mitwirkenden zeigt. Wir beide allein in seinem Büro. Er, der mir unentwegt in die Augen sieht, während er seinen Hosenstall öffnet.

Und das Letzte, was er je zu mir sagte, während ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten: Komm gut nach Hause, okay? Dann winkte er ein Taxi heran und gab dem Fahrer einen Zwanziger.

Ob er manchmal an mich denkt?, frage ich mich jetzt.

Es reicht, sage ich mir. Ich muss das hinter mir lassen.

Aber wenn ich jetzt nach Hause gehe, kann ich garantiert nicht schlafen. Entweder spiele ich die Szene an unserem letzten gemeinsamen Abend wieder und wieder durch und überlege, was ich hätte anders machen können, oder ich denke über Dr. Shields’ Studie nach.

Ich drehe mich zum Lounge um. Dann ziehe ich die Tür auf und gehe wieder hinein. Der dunkelhaarige Banker spielt mit seinen Freunden Darts.

Ich gehe direkt zu ihm. Er ist höchstens fünf Zentimeter größer als ich in meinen flachen Boots. «Hi noch mal.»

«Hi.» Er zieht das Wort in die Länge, verwandelt es in eine Frage.

«Ich habe eigentlich keinen Freund. Kann ich dir ein Bier ausgeben?»

«Das war aber eine kurze Beziehung», kommentiert er, und ich lache. «Lass mich die erste Runde besorgen», sagt er dann. Er reicht die Pfeile einem seiner Freunde.

«Wie wäre es mit einem Fireball-Shot?», schlage ich vor.

Als er zur Bar geht, sieht Sanjay zu mir her, und ich wende den Blick ab. Hoffentlich hat er nicht gehört, dass ich Lizzie gesagt habe, ich wolle nach Hause.

Der Banker kommt mit unseren Shots und stößt mit mir an. «Ich bin Noah.»

Ich trinke einen Schluck und spüre den Zimt auf meinen Lippen brennen. Nach heute Abend werde ich Noah nicht wiedersehen wollen, das weiß ich jetzt schon. Also nenne ich ihm den erstbesten Namen, der mir in den Sinn kommt: «Ich bin Taylor.»

 

Behutsam hebe ich die Decke an, schlüpfe darunter hervor und sehe mich um. Ich brauche einen Moment, bis mir wieder einfällt, dass ich in Noahs Wohnung auf der Couch liege. Nach ein paar weiteren Shots in einer anderen Bar sind wir hier gelandet. Als uns beiden auffiel, dass wir das Abendessen ausgelassen hatten und halb verhungert waren, lief Noah schnell zum Deli an der Ecke.

«Rühr dich nicht vom Fleck», befahl er mir und schenkte mir ein Glas Wein ein. «Bin in zwei Minuten wieder da. Ich brauche Eier, um French Toast zu machen.»

Ich muss sofort eingeschlafen sein. Er hat mir anscheinend die Boots ausgezogen und mich zugedeckt, anstatt mich zu wecken. Außerdem hat er mir einen Zettel auf den Couchtisch gelegt: Hey, Schlafmütze, den French Toast mache ich dir dann zum Frühstück.

Meine Jeans und das Oberteil habe ich noch an. Wir haben uns bloß geküsst. Ich schnappe mir meine Boots und den Mantel und schleiche zur Tür. Sie knarrt, als ich sie öffne, und ich zucke zusammen, aber in Noahs Schlafzimmer regt sich nichts. Behutsam schließe ich die Tür hinter mir, ziehe meine Boots an und gehe zum Aufzug. Auf der Neunzehnetagenfahrt nach unten streiche ich mein Haar glatt und reibe unter meinen Augen entlang, um verschmierte Mascara zu entfernen.

Der Portier blickt von seinem Handy auf. «Gute Nacht, Miss.»

Ich winke ihm kurz zu. Draußen muss ich mich zuerst orientieren. Die nächste U-Bahn-Station ist vier Blocks entfernt. Es ist fast Mitternacht, und nur noch ein paar Leute sind unterwegs. Ich mache mich auf den Weg zur U-Bahn und hole unterwegs schon meine Fahrkarte heraus.

Mein Gesicht brennt in der kalten Nachtluft, und ich betaste die Stelle am Kinn, die Noah mit seinen Bartstoppeln ganz leicht aufgeschürft hat, als wir uns küssten.

Diese kleine Unannehmlichkeit ist irgendwie angenehm.

KAPITEL SECHS

Sonntag, 18. November

Deine nächste Sitzung beginnt genauso wie die erste: Ben holt dich in der Eingangshalle ab und bringt dich in Raum 214. Während ihr die Treppe hinaufsteigt, fragst du, ob der Ablauf derselbe sein wird wie gestern. Er bestätigt das, kann dir jedoch nicht viel mehr dazu sagen. Ihm ist nicht gestattet, das wenige, was er weiß, weiterzugeben; auch er hat eine Geheimhaltungserklärung unterzeichnet.

Wie beim letzten Mal steht der schlanke silberne Laptop in der ersten Reihe. Deine Anweisungen warten bereits auf dem Bildschirm, zusammen mit einer Begrüßung: Schön, dass Sie wieder da sind, Testperson 52.