Die Frauen seines Lebens - Ahepka Yves Moïse N'Guessan - E-Book

Die Frauen seines Lebens E-Book

Ahepka Yves Moïse N'Guessan

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Beschreibung

Die Vier-Millionen-Metropole Abidjan an der Elfenbeinküste, heute: Der junge Arzt Marco hat es geschafft. Er hat eine erfolgreiche Karriere, seine stolze Mutter liebt ihn über alles, mit seiner Ehefrau Linda hat er die gemeinsame Tochter Anastasia großgezogen. Doch die Fassade bröckelt. Denn sie fußt auf Traumata, Verdrängung und dem Korsett gesellschaftlicher Zwänge. Als Marco nach Jahrzehnten der Selbstverleugnung beschließt, seine unterdrückte Homosexualität auszuleben, gerät seine von Disziplin und äußerem Erwartungsdruck zusammengehaltene Welt aus den Fugen. Nicht nur werden ihm schlagartig die Versäumnisse seines bisherigen Lebens klar, die Entscheidung hat auch prompte Reaktionen auf Seiten von Mutter und Ehefrau zur Folge. Beide sehen sich in ihrer Existenz bedroht und auf Unterdrückungserfahrungen aus der eigenen von Zwangsehe, Beschneidung und patriarchaler Willkür gezeichneten Vergangenheit zurückgeworfen. Die Situation eskaliert, als Anastasia auf die Situation mit einem perfiden Plan reagiert. In "Die Frauen seines Lebens" legt Ahepka Yves Moïse N'Guessan anhand der Biografien seiner Protagonist*innen die Wunden der von Kolonialzeit, Bürgerkrieg und politischen Krisen geprägten Gegenwart der Elfenbeinküste offen. Der unfreie Umgang mit dem Thema Homosexualität wird dabei zum Sinnbild einer Kultur, die zwischen Tradition und Fortschritt, Aufbruch und Stillstand feststeckt. Zwar sind homosexuelle Handlungen in dem afrikanischen Land – anders als bei den Nachbarn Liberia und Ghana – nicht gesetzlich verboten, dennoch werden sie von der Mehrheit der ivorischen Gesellschaft abgelehnt. Am Ende nutzt N'Guessan die lokalen Bezüge aber nur als Blaupause für eine universelle Geschichte über veraltete Männer- und Frauenbilder sowie die Ursprünge von Tabus und deren Folgen. "Die Frauen seines Lebens" ist ein erhellendes und ergreifendes, vor allem aber zutiefst humanistisches Plädoyer für die Freiheit, den eigenen Weg gehen zu dürfen.

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Seitenzahl: 200

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


DIE FRAUEN SEINES LEBENS

AHEPKA YVES MOÏSE N’GUESSAN

DIE FRAUEN SEINES LEBENS

ROMAN

Aus dem Französischen von Christiane Landgrebe

Inhalt

Verlagsinformation

Impressum

Widmung

Kapitel 1: Gestern hatte ich Sex

Kapitel 2: Du sollst nicht lieben

Kapitel 3: An der Schwelle zum Erwachsenenleben

Kapitel 4: Als Frau geboren werden

Kapitel 5: Generation 2.0

Verlagsinformation

Die ivorische Vier-Millionen-Metropole Abidjan, heute: Marco ist als Arzt erfolgreich, seine stolze Mutter liebt ihn über alles, mit Ehefrau Linda hat er die gemeinsame Tochter Anastasie großgezogen. Doch die mustergültige Fassade ist nur Schein. Denn Marco ist schwul und leidet seit Jahrzehnten unter der Verdrängung seiner Homosexualität. Zwar ist gleichgeschlechtliche Liebe in der Côte d’Ivoire – anders als in den Nachbarländern Liberia und Ghana – nicht gesetzlich verboten, aber sie wird von der Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt. Auch Marcos religiöse Mutter ist strikt gegen jene Lebensweise, die im dritten Buch Mose als «Gräuel» bezeichnet wird. So hat sie ein Coming-out ihres Sohnes stets gezielt verhindert. Als Marco von Linda beim Sex mit einem Mann erwischt wird, fallen bei allen Beteiligten die Masken und die Abgründe der Vergangenheit tun sich auf.

Vier Schicksale, vier Stimmen: Ahepka Yves Moïse N’Guessan lässt in Die Frauen seines Lebens nicht nur den geläuterten Marco sprechen, sondern auch dessen Mutter, Ehefrau und Tochter. Der multiperspektivische Ansatz verdeutlicht nicht nur die unterschiedlichen Standpunkte der Hauptfiguren, sondern verfolgt sie in radikal persönlichen Schilderungen zu ihren Ursprüngen zurück. So greift der Roman neben Homosexualität auch die Themen Drogenmissbrauch, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung auf. Ein erschütterndes Gleichnis über die zerstörerische Sprengkraft von Tabus.

Ahepka Yves Moïse N’Guessan studierte an der Universität von Abidjan, Côte d’Ivoire. Die Lektüre von Aimé Césaires »Notizen von einer Rückkehr in die Heimat« inspirierte ihn dazu, selbst gegen soziale Ungerechtigkeiten anzuschreiben. »Die Frauen seines Lebens« ist sein erster Roman. 2022 wurde er für das Buch mit dem ivorischen Literaturpreis La Plume du Jeune Écrivain ausgezeichnet. N’Guessan lebt in Abidjan.

Christiane Landgrebe war Lektorin in verschiedenen Verlagen, ist Autorin von Biografien über Rousseau, Diderot, Madame Roland und Madame de Staël und übersetzte u. a. Bücher von Philippe Claudel, Henri Alain-Fournier und Elie Wiesel.

Die Originalausgabe dieses Buches von

Ahepka Yves Moïse N’Guessan erschien 2019 unter

dem Titel Les femmes de sa vie bei NEI-CEDA, Abidjan.

© NEI-CIDA, 2019

1. Auflage

© 2024 Albino Verlag, Berlin

Salzgeber Buchverlage GmbH

[email protected]

Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth

unter Verwendung eines Fotos von pixabay.com/gabrielberophs

Satz: Robert Schulze

Printed in the Czech Republic

ISBN 978-3-86300-377-7

Mehr über unsere Bücher und Autor*innen:

www.albino-verlag.de

An alle Marcos, Anastasies und Lindas.

Macht es möglich, zu lieben und geliebt zu werden.

KAPITEL 1

GESTERN HATTE ICH SEX

MARCO

23. April

«Gestern haben wir uns geliebt. Wie schön das klingt. Die Symbiose zweier Seelen, die sich finden, verheiraten, vereinen, die zusammenkommen und auseinanderdriften, sich treffen, den physikalischen Gesetzen von Anziehung und Abstoßung beugen, einander voller Kraft, Sanftmut, Zärtlichkeit und Ehrfurcht hingeben, im Rhythmus der stillen, berauschenden Melodie ihrer Körper, die in fortwährender Reibung Energien tauschen und das gemeinsame Abenteuer in einer Explosion befreiter Lust vollenden, als zwei zerbrechliche Hüllen, die sich umschlingen, liebkosen, neues Leben einhauchen, für einen Moment erstarrend in der Erregung, die ihre Herzen im Augenblick größtmöglicher Nähe erfahren. Liebe machen … Ja, das ist eine wirklich schöne Formulierung. Viel zu schön, um meine Empfindungen auszudrücken. Ein Euphemismus für den abrupten Akt, der mich mit steifen Beinen und den unauslöschlichen Spuren der Hände, die meinen nackten Körper entweiht hatten, zurückließ, für den Schmerz in Leib und Seele und das getrübte Bewusstsein, dass ich jetzt für immer verdammt bin, denn: Gestern habe ich mich ficken lassen …»

Es schüttelt mich, wenn ich diese Worte in dem Tagebuch lese, das ich als Heranwachsender geschrieben habe. Sie geben mir das Gefühl, in eine andere Zeit zu springen, die Zeit meiner turbulenten Jugend. Es ist viel passiert seit jenem Tag, an dem ich zum ersten Mal Sex hatte. Er liegt etwa zwanzig Jahre zurück. Sie sind mit irrer Geschwindigkeit vergangen. Ich denke mit einer gewissen Sehnsucht an diese Zeit zurück, in der ich jung und frei war und mich noch nicht von den Krallen der Ehe hatte einfangen lassen. Ich habe in meiner Jugend einige Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, aber das Leben geht nun mal weiter. Ich kann nicht die Zeit zurückdrehen, um zu ändern, was ich damals getan habe. Könnte ich es, wäre heute vielleicht alles anders.

Gerade habe ich Anastasie, meine fünfjährige Tochter, ins Bett gebracht, der ich jeden Abend vorm Zubettgehen Geschichten von Prinzessinnen erzähle, damit sie zur Ruhe kommt. Danach schläft sie friedlich wie ein Engel. Im Haus ist es still. Ich sitze in einem Schaukelstuhl neben dem Bett meiner kleinen Prinzessin. Nehme erneut das Tagebuch von damals zur Hand. Der erste Eintrag stammt vom 15. Januar. Das war vier Monate vor dem Tag, an dem sich alles radikal änderte. Wieder tauche ich ein in die Geschichte meines Lebens und seiner Irrwege. aber begegnete keiner Menschenseele in dieser Zwischenwelt, die außerhalb jeglicher Realität zu liegen schien. Dann, gerade als meine Verzweiflung übermächtig zu werden begann, tauchte plötzlich eine Tür auf. In der Dunkelheit dahinter erklang eine Stimme, die mich aufforderte einzutreten. Seltsamerweise hatte ich keine Angst. Ich wusste, ich kam zu meinem Wohltäter. Er sah aus wie mein Sportlehrer. Der Anblick seiner perfekten Muskeln, seiner glatten Haut und seiner sinnlichen Lippen weckte in mir den Wunsch, ihn zu küssen. Er sagte, ich solle meine Kleider zum Trocknen aufhängen. Wenig später stand ich in Unterwäsche vor ihm, und er verschlang mich mit seinen Blicken. Er kam langsam näher. Küsste mich. Zerriss mein Unterhemd. Er trug mich ins Schlafzimmer und wir hatten Sex, ganz sanft, immer wieder, in blütenweißer Bettwäsche …

Gott, mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich will das alles nicht mehr. Aber gleichzeitig wächst das Verlangen, dass der Traum Wirklichkeit wird, mit jedem Tag mehr. Gib mir die Kraft, es zu überwinden, sonst tue ich bald etwas Unverzeihliches, das sich nie wieder rückgängig machen lässt.»

30. Januar

«Heute war ich im Cybercafé, um für meine Geschichtsarbeit zu recherchieren. Wie üblich war es brechend voll. Hauptsächlich junge Internet-Betrüger, die einsame Europäer anchatten, die sich nach Liebe sehnen. Es war irre heiß. Man stelle sich einen Ort von fünfzehn Quadratmetern vor, durchschlängelt von hunderten Kabeln, ohne Ventilator, dafür vollgestopft mit zwanzig Computern und dreißig Leuten. So ähnlich muss es in der Hölle zugehen.

Ich bin auf einer Website gelandet, die mit einem echten Sexgott warb. Ein Schwarzer mit schönen vollen Lippen und Bauchmuskeln, die ein perfektes Sixpack bildeten. Diesmal nahm ich ‹Schlampe› als Profilnamen. Manchmal komme ich auf verrückte Ideen.

Ich bekam viele Nachrichten. Offenbar stehen die Leute im Internet auf Schlampen. Die meisten sagten nicht mal Hallo. Sie wollten nur wissen, wo ich wohne, ob ich auf der Stelle für ein Sexabenteuer bereitstehe und was ich beim Sex mag. Ich ging voll auf das Spiel ein, antwortete, ich würde gerne knutschen, Schwänze lutschen, mir den Hals und die Brustwarzen lecken lassen und mich hingeben wie eine Nutte. Ich amüsierte mich ganz gut beim Chatten mit den Leuten. Aber es erregte mich auch. Meine Shorts wurden ganz feucht.

All das macht mir Angst. Von Tag zu Tag werde ich geiler und leichtsinniger. Manche User wohnten ganz in der Nähe. Ich hätte fast der Versuchung nachgegeben, ihnen meinen jungfräulichen Körper anzubieten, um endlich die verbotenen Genüsse aus meinen Träumen kennenzulernen.»

10. Februar

«Heute war ich in der Messe. Der Pfarrer redete in seiner Predigt über ‹Unzucht›. ‹Ihr seid gottlos, wenn ihr schamlos lebt›, sagte er. ‹Das einzige Schicksal, das euch dann erwartet, ist die Hölle.› Er meinte auch, dass Gott die Unzüchtigen hasst und verabscheut, dass sie in seinen Augen nicht mehr wert sind als Dreck, weil sie Ungläubige sind. Seine Worte waren streng, grausam, unerbittlich. Ich bekam beim Zuhören Bauchschmerzen vor Angst, aber sagte am Ende zusammen mit den anderen Gemeindegliedern Amen. Eigentlich darf ich sowieso keinen Sex haben und müsste meine Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit bewahren. Ich sollte meine langen schlanken Beine verstecken und meine junge glatte Haut verhüllen, meinen knackigen runden Hintern, mein fein geschnittenes Gesicht, meine sehnsüchtigen rosafarbenen Lippen, meine aufrechte Haltung und meinen lässigen Gang, wegen denen mich schon öfter Frauen angemacht haben.»

19. Februar

«Ich führe ein Dasein im Verborgenen, umhülle mich mit Schweigen. Den Großteil meiner Freizeit verbringe ich hinter der verschlossenen Tür meines Zimmers. Dort fühle ich mich am sichersten. Ein Raum von neun Quadratmetern. An allen Wänden hängen religiöse Bilder: die Jungfrau Maria mit ihrem Sohn auf dem Arm, ein Kruzifix und die Zehn Gebote in riesigen Lettern. Ich denke an Mama, Papa und frage mich, was sie tun würden, wenn ihnen meine wahre Natur, meine teuflischen Gelüste bekannt wären. Es beschämt mich, dass ich mich immer mehr in eine von sexuellen Trieben geleitete Kreatur verwandele. Ich werde zum Monster.»

28. Februar

«Heute werde ich über mich und meine Eltern sprechen. Diese bescheuerte Idee kam mir heute Morgen in den Kopf.

Ich bin achtzehn Jahre alt und gehe in die oberste Klasse der naturwissenschaftlichen Schule. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern, Monsieur und Madame Kouo. Mama sagt, ich sei ein Geschenk des Himmels, das Gott ihnen nach langen Jahren der Prüfung gemacht habe. Und dass sie sehr glücklich waren, mich empfangen zu können und mir mehr Liebe geschenkt hätten, als man einem Kind überhaupt geben kann. Doch wenn mich ihr kalter Blick trifft, während sie diese Worte sagt, glaube ich, sie sind nur leeres Gerede.

Meine Eltern sind nicht reich, aber sie haben stets dafür gesorgt, dass ich auf die besten Schulen ging, an Feiertagen meine feinsten Klamotten trug und immer zufrieden lächelte. Mama ist Vorsitzende der Frauengruppe ihrer Gemeinde, eine dem Herrgott treu ergebene Dienerin. Sie ist auf allen Ebenen des Gemeindelebens aktiv und schwört auf ihren Pfarrer. Alle seine Vorschriften befolgt sie. Die wichtigste besteht darin, sich selbst rein zu halten, indem man den Freuden der Welt entsagt, mit dem Ziel, dadurch an den Freuden im Jenseits teilhaben zu können, wo auf ewig der Gnade und dem Glanz Gottes gehuldigt wird. In Sachen Religion finde ich meine Mutter oft naiv, aber ich behalte meine Meinung für mich. Ich nehme an, der Glaube ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Sie und ich haben ja nicht einmal dieselbe Konfession. Ich bin Katholik, wie Papa, der sich mit der Sonntagsmesse zufriedengibt und dem es wichtiger ist, Geld nach Hause zu bringen als andere Dinge. Sie dagegen ist eine überzeugte, von brennendem Eifer beseelte evangelikale Christin. Manchmal ist sie auch ein bisschen übereifrig. Sie hat aus unserer Wohnung einen Gebetstempel gemacht. Es ist meine Pflicht, an der täglichen Andacht teilzunehmen, bei der wir stundenlang laut beten, um Dämonen und andere böse Geister fernzuhalten. Danach habe ich immer steife Knie und meine Stimme ist heiser. Meine Mutter redet ununterbrochen über das fromme Leben, das ich führen muss, damit ich nicht verdammt werde und meine Seele für immer in der Hölle schmoren muss. Um das zu verhindern, hat sie ein ganzes Reservoir an Bibelversen aus dem dritten Buch Mose parat, die sie dauernd aufsagt. Sie weiß auch genau, wo sie stehen. Ihr liegt viel daran, dass wir alle gerettet werden. Ich höre mir das immer alles an, ohne mit der Wimper zu zucken, und sage mir, dass das wohl ihre Art ist, mir ihre Liebe zu zeigen.»

12. März

«Mir bricht der kalte Schweiß aus. Die psychischen Probleme, die ich im Zusammenhang mit meiner Sexualität habe, kommen wieder an die Oberfläche, die ständigen Zweifel wegen der sexuellen Orientierung bereiten mir schlaflose Nächte. Ich verstehe das einfach nicht. Wie ist es möglich, dass ich eine so starke Anziehung zu Menschen meines eigenen Geschlechts empfinde? Meine gesamte Kindheit über begleitete mich dieser Sog. Ich bin aufgewachsen im Schatten dieses Geheimnisses, es lastet auf mir und zerfrisst mich von innen. Heute kamen wir in der Familie auf das Thema Homosexualität zu sprechen. Mama hat sich lang und breit darüber ausgelassen. Wenn es nach ihr ginge, so meinte sie, würde sie die Homosexuellen alle eigenhändig umbringen. Ihr Blick war so hasserfüllt dabei, dass mir das Blut in den Adern gefror. Sofort begann ich, mich zu hassen. Ich verfluche mich selbst, weil ich nicht bin wie die anderen Jungen meines Alters. Meine Gedanken verdüstern sich, oft denke ich an Selbstmord. Es macht mich fertig, dass ich keine Schulter habe, an der ich mich ausweinen kann. Alles muss ich für mich behalten, die Zusammenbrüche passieren immer nur versteckt in meinem Innern. Ich fühle mich völlig alleingelassen und traurig.»

18. März

«Die ganze Woche lang habe ich über meine Situation nachgedacht. Ich habe beschlossen, das Wagnis einzugehen und alle meine Zweifel und Ängste beiseitezuschieben, um endlich Klarheit über meine sexuelle Orientierung zu gewinnen. Charlène, ein Mädchen aus der Schule, ist scharf auf mich. Sie ist wirklich schön und gefällt mir sehr. Mit ihrem ovalen Gesicht und ihrem durch ein Grübchen auf der rechten Wange betonten Lächeln, ihrem schönen runden Hintern und den spitzen Brüsten. Wenn sie an mir vorbeigeht, lächelt sie mir zu und sieht mich verführerisch an. Ich denke, bei diesem Mädchen könnte ich starke Empfindungen entwickeln.»

28. März

«Heute habe ich Charlène mit nach Hause genommen. Sie trug ein super sexy Top, durch das man ihre Brustwarzen sehen konnte. Ihr Lächeln war aus der Nähe betrachtet noch schöner als sonst. Am Anfang war ich schüchtern, aber als sie sich hinlegte und das Top hochschob, um mir ihre Brüste zu zeigen, habe ich sie geküsst, ihren zarten Körper gestreichelt, ihre festen Brüste berührt und ihren prallen Hintern angefasst. Ich habe alles gemacht, was man in dieser Situation von mir verlangen konnte, aber ich habe nichts gespürt. Absolut nichts.

Wer bin ich nur?»

12. April

«Oft denke ich, dass meine Eltern mich nicht lieben. Oder besser gesagt nur halb, weil sie nicht wissen, wer ich wirklich bin. Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie mit meiner Andersartigkeit umgehen würden, wenn sie von ihr wüssten, aber ich weiß, sie könnten mich nie verstehen und noch weniger akzeptieren. Mama würde mit allen Mittel versuchen, mich zu heilen, mich zu erretten, zur Not durch einen Exorzismus, denn sie würde denken, dass ich vom Dämon besessen bin. Wenn ihre Gebetskampagnen keine Wirkung hätten, würde sie anfangen, mich zu verleugnen, am Boden zerstört, weil sie meine Seele nicht hat retten können, davon überzeugt, dass der Dämon mich gänzlich in seiner Gewalt hat. Ein Leben in Schande zeichnet sich für uns am Horizont ab. Meine Angst wächst, meine Seelenqual ebenfalls. Und mein Verlangen ist unerträglich.»

23. April

«… Ich habe etwas Abscheuliches getan. Das Böse war stärker als ich. Ich habe der Versuchung eines Typen auf der Dating-Seite nachgegeben. Gérôme. Während wir gechattet haben, schien mir, dass in seinen Worten eine gewisse Zärtlichkeit mitschwang. Als er beschrieb, was er mit mir machen würde, wenn ich jetzt bei ihm wäre, bekam ich Herzklopfen. Ich hatte schon immer den Eindruck, dass Worte die Gefühle ihrer Verfasser offenbaren können, und die von Gérôme haben mich verzaubert. Er wohnt in meinem Viertel, und wir haben uns für eine halbe Stunde später verabredet. Ursprünglich hatte ich die Seite nur besucht, um mir wie sonst ein bisschen die Zeit zu vertreiben und danach direkt heimzugehen. Doch stattdessen wartete ich fünfundzwanzig Minuten später am Ort unserer Verabredung, Chez Clovis, die neue In-Kneipe der Gegend.

Gérôme kam fünf Minuten zu spät. Ich erkannte ihn sofort daran, dass er in alle Richtungen schaute, und an den blauen Shorts, von denen er zuvor gesagt hatte, dass er sie tragen würde. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trat ich näher und sah ihn mir an. Auf der Website gibt es keine Möglichkeit, Fotos zu schicken. Er sah nicht besonders gut aus und gefiel mir eigentlich nicht. Sein Gesicht war länglich, seine Erscheinung durchschnittlich, seine Augen schmal, sodass es wirkte, als wäre er müde. Er schien jünger zu sein als fünfundzwanzig, das Alter, das er in seinem Profil angegeben hatte. Im Internet lügen alle.

Wir redeten ein paar Minuten, gingen dann zu einer Baustelle, die seiner Mutter gehört und nicht weit entfernt lag. Ich blieb hinter ihm. Gérôme wollte wegen meines auffälligen Gangs nicht in meiner Gesellschaft gesehen werden. Er sah nach allen Seiten, um sicherzugehen, dass niemand guckte. Die Baustelle ist ein dreistöckiges Haus, die dritte Etage noch eingerüstet. Als wir ankamen, hatten die Arbeiter bereits Feierabend gemacht. Es war achtzehn Uhr und die Sonne stand schon tief am Horizont. Das Szenario war eher düster. Gérôme führte mich in das hinterste Zimmer. Später, wenn das Haus fertig ist, wird dort der Raum für den Wächter sein. Auf dem Boden lagen Zigarettenstummel, Zementsäcke und Reste von Lebensmitteln. Im Halbdunkeln zog Gérôme mich mit den Augen aus. Ich empfand nicht das geringste Maß an Zuneigung für ihn, aber mein Körper wollte das verbotene Geheimnis lüften. In meinem Innern wechselten sich Neugier und Angst ab. Es kam mir vor, als stünde ich am Fuß eines Berges, der mich einsaugte und meinen Körper in die Tiefe zog. Ich hatte Angst, die letzte Schranke zu durchbrechen, denn ich wusste, danach gab es kein Zurück mehr. Ich würde zu den Parias gehören, den Kreaturen, die verflucht waren, wie meine Mutter es so schön ausdrückte.

Gérôme sah mich begierig an. Er durchschaute meine Befangenheit und meine inneren Kämpfe. Näherte sich ohne Vorwarnung, küsste mich heftig und hinderte mich auf diese Weise daran, weiter zu grübeln.

Das war der Urknall. Schlagartig wurde alles andere bedeutungslos. Nichts außer uns beiden existierte mehr und ich war zu allem bereit, um die Sinnesfreuden der Lust kennenzulernen. Im Schutz der Schwerelosigkeit zwischen Himmel und Erde fühlte ich mich unangreifbar. Endlich erhielt ich Antwort auf die Fragen, die mich meine ganze Jugend hindurch beschäftigt hatten. Nun wusste ich, warum ich immer noch auf dieser Erde weilte: für diesen Tag, für diese Stunde, in der Gérôme mich küsste. Er nahm mich in Besitz, ich gehörte ganz ihm. Von ihm erfuhr ich all den Schmerz und das Glück der Liebe.

Nach dem Sex bat mich Gérôme, schon loszugehen, während er das Gebäude abschloss. Mir war klar, dass er nicht in meiner Gesellschaft gesehen werden wollte, also sagte ich, er müsse mich nicht nach Hause begleiten, und machte mich auf den Weg. Mein Abschied von ihm war voller Hast, und doch hätte ich mir gewünscht, dass er ewig dauert. Draußen kam es mir vor, als würde das Wort Homo in greller Leuchtschrift auf meiner Stirn stehen. Wie ein Verfolgter sah ich mich immer wieder nach allen Seiten um. Ich fühlte mich schuldig und schmutzig und hatte den Eindruck, alle die mir begegneten, könnten mir die unzüchtige Erfahrung ansehen, die ich hinter mir hatte. Eine verborgene Tür in meiner Erinnerung, die ich für lange Zeit sorgsam geschlossen gehalten hatte, brach auf, und sämtliche Predigten über Sodom und Gomorrha, die uns der Pfarrer jeden Sonntag auftischte, stürzten auf mich ein: Schwule sind verflucht, Gott hasst sie, sie sind Kreaturen gegen die Natur, sie müssten verbrannt werden … All das kam jetzt wieder hoch. Zuvor hatte ich diese beißenden, bitteren Worte nicht wirklich an mich herangelassen, aber jetzt galten sie unmissverständlich mir. Nun war ich einer der Verdammten, die brennen sollten. In einem Park setzte ich mich auf eine Bank und weinte leise. Dann löschte ich Gérômes Nummer aus meinen Kontakten. Ich will ihn nie wiedersehen.

Ich bin total verunsichert. Heute Morgen habe ich es nicht geschafft, aus dem Bett aufzustehen und in die Messe zu gehen, aus Angst, das Feuer des Himmels könnte mich treffen, sobald ich durch die Kirchentür trete. Ich habe lange über meine Situation nachgedacht. Ich bin so gut wie sicher, dass ich schwul bin und niemals eine Frau so werde lieben können wie einen Mann. In Gérômes Armen habe ich eine tiefe Erfüllung gespürt, einen Seelenfrieden, der mir für einen kurzen Augenblick das Gefühl gab, eins zu sein mit dem Universum. Das war magisch, aber ich hasse mich dafür. Ich darf nicht schwul sein. Es wäre gegen jede Regel. Ich habe nicht das Recht, meinem Verlangen nachzugeben. Würde ich künftig als Schwuler leben und weiter mit Männern wie Gérôme ins Bett gehen, wäre ich ein Verräter. Ich würde meinen Eltern damit sehr weh tun – ihnen einen Kummer bereiten, der sie bis ins Grab verfolgt. Das könnte ich mir nie verzeihen.

Jeder muss auf dieser Welt eine Partitur spielen und gewissen moralischen Pflichten gerecht werden. Meine Eltern haben die ihren voll und ganz erfüllt, sich für mich aufgeopfert und mich in Würde und Liebe aufwachsen lassen. Nun ist es an mir, meine Partitur zu spielen, indem ich den vorbildlichen Sohn abgebe, den sie immer haben wollten. Alles andere würde Mama nicht überleben. Ein homosexuelles Kind geboren zu haben, wäre für sie das schlimmste Unglück. Die Frauen der Gemeinde würden sie gnadenlos dafür verachten. In deren Augen wäre sie eine sittenlose Sünderin, die Gottes Strafe für schändliche Taten aus der Vergangenheit erhalten hat. Was würde man über unsere Familie sagen? In weniger als einer Woche hätte sich die Sache wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Alle wüssten, dass ich ein Verräter bin. Auf Familientreffen würde nur noch getuschelt werden und Mama wäre die Unaussprechliche, die den Wechselbalg zur Welt gebracht hat. Man würde ihr vorwerfen, mich verhätschelt zu haben, und sie würde als Ausgestoßene sterben. Nein! Das kann ich ihr nicht antun. Das darf ich meinen Eltern nicht antun. Ich kann unmöglich meinen Egoismus über ihre Interessen stellen und homosexuell leben. Mein Herz rast. Wäre ich doch bloß normal, so wie es die Gesellschaft verlangt …

In meiner Kindheit war alles anders. Den Berichten meiner Mutter zufolge war ich der reizendste Junge auf Erden. Ich weiß noch, wie sie mich immer ansah, mich zärtlich in die Wangen kniff. Dann lachte ich, und sie gab mir einen Kuss auf die Schläfe und sagte, ich sei so süß und so entzückend, ihr Himmelsgeschenk, ihre Sonne. Wir waren fast immer zusammen. Morgens brachte sie mich zur Schule, wir gingen gemeinsam auf den Markt, ich stand neben ihr, wenn sie kochte. Sie war meine liebe Mama, und das Leuchten in ihren Augen, wenn ihr Blick auf mich fiel, machte mich glücklich. Aber im Lauf der Jahre veränderte ich mich. Ich schoss in die Höhe, mein Gang wurde schlaksig, meine Gestik zu ausladend, meine Stimme zu hoch. Dadurch veränderte sich der Blick meiner lieben Mutter. Oft sah sie mich verstohlen aus den Augenwinkeln an, seltsam erstaunt, als sähe sie mich zum ersten Mal. In diesen Blicken lagen zahllose Fragen über den jungen Mann, zu dem ich heranwuchs. Sie betrafen Dinge, die offensichtlich waren, die in jedem meiner Worte mitklangen, sich schon bei kleinsten Bewegungen mitteilten. Ich merkte intuitiv, dass ich in ihren Augen nun nicht mehr der süßeste Junge der Welt war, sondern eine im Entstehen begriffene Sünde. Damals fing sie an, mich das dritte Buch Mose zu lehren. ‹Wenn ein Mann mit einem anderen Mann schläft wie mit einer Frau, ist das ein Gräuel. Sie werden beide mit dem Tod bestraft.› Sie hat mir beigebracht, dass Homosexuelle vor Gott die schlimmsten Sünder sind, und sie hat mir beigebracht, solche Menschen zu hassen, weil auch Gott sie hasst.

Ich war in der neunten Klasse, als sich mir das Problem in vollem Ausmaß offenbarte. Es zeigte sich in Form eines tiefen Verlangens, das mich mit der Zeit dazu trieb, mich von der Welt abzuschotten und von jeglicher Versuchung fernzuhalten. Eine Zeitlang kam Serge, mein Banknachbar in der