Die Frauen vom Karlsplatz: Henny - Anne Stern - E-Book
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Die Frauen vom Karlsplatz: Henny E-Book

Anne Stern

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Beschreibung

Aufbruch in eine neue Zeit Lichterfelde, 1913. Das Jahrhundert ist jung, die Moderne hält auch in Berlin Einzug. Doch im Deutschen Kaiserreich ist es für Frauen noch immer schwer, ihren Träumen zu folgen. Die junge, selbstbewusste Henny hat nur ein Ziel: Sie möchte Medizin studieren – und damit die unerfüllte Sehnsucht ihrer Mutter leben, die sie nie kennengelernt hat. Aber der Weg in den Beruf der Ärztin ist für eine Frau ihrer Zeit steinig – selbst für eine Kämpferin wie Henny. Voller Eifer stürzt sie sich in Vorlesungen und die Lektüre medizinischer Fachbücher. Und sie will sich auch nicht von dem sympathischen Assistenzarzt Paul ablenken lassen. Doch schon bald macht Henny eine Entdeckung, die ihr Leben komplett auf den Kopf stellt und das Ende all ihrer Träume bedeuten könnte ... Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – Band 2 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.

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Anne Stern

Die Frauen vom Karlsplatz: Henny

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Aufbruch in eine neue Zeit

 

Lichterfelde, 1913. Das Jahrhundert ist jung, die Moderne hält auch in Berlin Einzug. Doch im Deutschen Kaiserreich ist es für Frauen noch immer schwer, ihren Träumen zu folgen. Die junge, selbstbewusste Henny hat nur ein Ziel: Sie möchte Medizin studieren – und damit die unerfüllte Sehnsucht ihrer Mutter leben, die sie nie kennengelernt hat. Aber der Weg in den Beruf der Ärztin ist für eine Frau ihrer Zeit steinig – selbst für eine Kämpferin wie Henny. Voller Eifer stürzt sie sich in Vorlesungen und die Lektüre medizinischer Fachbücher. Und sie will sich auch nicht von dem sympathischen Assistenzarzt Paul ablenken lassen. Doch schon bald macht Henny eine Entdeckung, die ihr Leben komplett auf den Kopf stellt und das Ende all ihrer Träume bedeuten könnte ...

Ein bewegendes Frauenschicksal aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – Band 2 der mitreißenden Reihe von der Bestsellerautorin Anne Stern.

 

Die Presse über «Fräulein Gold»:

 

«Tolle Frau plus Krimi plus Zeitgeist der Zwanziger – das ergibt einen spannenden Mix. Wer Volker Kutscher und ‹Babylon Berlin› liebt, mag diesen Roman ganz sicher auch.» Freundin

 

«Fesselnd und mit viel politischem Hintergrund und Berliner Lokalkolorit.» Saarländischer Rundfunk

 

«Atmosphärisch dichter Krimi mit selbstbewusster Hauptfigur. Starker Auftakt der Saga.» Hörzu

 

«Spannende Unterhaltung und bestens recherchierte historische Atmosphäre. Sehr lesenswert.» Ruhr Nachrichten

Vita

Anne Stern wurde in Berlin geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik promovierte sie in deutscher Literaturwissenschaft und arbeitete als Lehrerin und in der Lehrerbildung. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band ein Spiegel-Bestseller. In einer überarbeiteten Neuauflage erscheinen nun die vier Bände ihrer erfolgreichen Karlsplatzreihe, die das Schicksal von vier Generationen einer Berliner Familie erzählen.

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,

Aufgestanden unten aus Gewölben tief.

In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,

Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

 

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,

Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,

Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.

Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

 

Georg Heym: Der Krieg I, 1911

Prolog

Mai 1921, Lichterfelde (Berlin)

Sacht schlich der Abend heran. Auf dem roten Dach der Villa spielten ein paar schräg fallende Sonnenstrahlen, ein letzter Gruß vor der Dämmerung. Die Luft des Frühlingstages war weich gewesen und voller Gesumm und Vogelgesang. Es duftete nach frisch aufgeworfener Erde aus den Beeten, nach warmen Grashalmen und der Weißwäsche, die auf einer langen Leine im Garten trocknete.

Ein Schuss zerriss die Stille. Aufgeschreckt jagten ein paar Spatzen hoch in den hellen Himmel. Wieder knallte es. Dann war ein Kichern zu hören, und aus dem dichten Gebüsch an der Mauer kroch ein Kind hervor. Es war ein Junge von etwa sechs Jahren, mit hellbraunem Lockenkopf und leuchtenden Augen. Über seine Wange zog sich eine frische Schramme von einem widerspenstigen Zweig. Er trug ein hölzernes Luftgewehr an einem Lederriemen über der Schulter, schlich auf die menschenleere Karlstraße und blickte sich aufmerksam um, als spähte er nach einem Feind. Eine Katze tappte auf weißen Samtpfoten über das Pflaster, da nahm er die Flinte wieder zur Brust, zielte und drückte ab. Das Tier miaute bei dem lauten Knall jämmerlich und sah zu, dass es fortkam.

«Lauf, elender Verräter!», schrie der Junge. «Es wird dir nichts nützen. Ein deutscher Soldat gibt nicht auf, bis alle Feinde gestellt sind!» Er stand stramm und salutierte vor einem unsichtbaren Befehlshaber. Dann rannte er die Straße hinunter, seine schlanken Beine in den kurzen Hosen steckten in Kniestrümpfen, die bei jedem Sprung ein Stück hinunterrutschten. Im Rennen griff er in die Hosentasche und zog ein winziges braunes Kaninchen hervor.

An der nächsten Ecke blieb er stehen und spähte erneut in alle Richtungen, als erwartete er den Angriff eines feindlichen Heeres. Doch nur der stille Abend kroch weiter über die Steine heran und griff mit pudrigen Händen nach den Mauern und Zinnen der Häuser. Da packte der Junge sein Kaninchen und hob es dicht vor sein Gesicht. «Du wirst schon sehen, Kamerad», flüsterte er ihm eindringlich in die Schlappohren, «bald wird unser Land wieder Ruhm und Ehre schmecken. Der Vater muss gerächt werden! Dann tilgen wir die Verräter von Versailles von der Erdoberfläche und ziehen stärker als je zuvor in die Schlacht.»

Das Kaninchen zeigte sich unbeeindruckt und zuckte mit der Nase. Der Junge stopfte es kurzerhand wieder in seine weite Tasche, schulterte das Gewehr und trödelte zum Haus zurück, nun nicht mehr Soldat, sondern nur ein Kind, das zu Hause zum Abendbrot erwartet wurde. Eine Frau stand am Fenster, ihre Stimme schallte weit über den Karlsplatz: «Wilhelm, komm herein! Alle warten.»

Der Junge lief schneller und winkte. Die letzten Strahlen der Sonne brachen sich wie Feuerschein im Metall seiner Flinte.

1.

November 1913, Schöneberg

Immer wieder war da dieser Traum, der Martin hinabzog wie eine Schlingpflanze in das tiefe Wasser eines Ozeans. Der Druck auf seiner Brust war unerträglich. Keine Luft, kein Atemholen möglich. Das Traumbild entwischte ihm, lockte ihn spöttisch und verschwand wieder in den dunklen Höhlen, aus denen es gekommen war.

Das Rascheln eines Kleides, grobe Baumwolle, die über den Boden schleifte. Weiße Spitze darunter. Seidiges schwarzes Haar, das in den Wellen seines Traumes trieb. Ihr helles Lachen, als wäre doch noch etwas möglich. Als wären Zukunft und Vergangenheit bedeutungslos wie eine Spinnwebe, die man eilig mit der Hand fortwischen konnte. Martin stöhnte im Schlaf.

Vor den Fensterläden lauerte die Dämmerung. Doch Martins Traum wollte nicht weichen. Wieder ging es hinunter, in ungeahnte Tiefen des aufgewühlten Meeres. Dort unten wartete sie auf ihn. Die Frau, die er einst geliebt hatte. Ihre grauen Augen richteten sich auf ihn, schimmernd wie Eis, das im Schatten lag. Die Augen einer Toten. Etwas schrie, jämmerlich, hilflos, wie ein junges Kätzchen oder ein Zicklein in großer Not. Er wusste, dort schrie das Kind, das kurz vor dem Tod der Geliebten geboren worden war. Das Kind, das er verraten und verleugnet hatte bis zum heutigen Tag.

Jetzt wimmerte er so laut, knirschte gar mit den Zähnen, dass seine Frau Inge seufzend die Kissen fortwarf und sich über ihn beugte, ihn rüttelte, bis er aus dem Traum auftauchte und die Augen aufriss.

Er sah den schmalen Umriss seiner Ehefrau im Hemd, die Schlafhaube auf den ergrauten Locken, die sich wieder von ihm abgewandt hatte. Sie blieb stumm, doch ihr Rücken war eine einzige Mahnung. Sie setzte sich auf, schlüpfte in die Pantoffeln und trat in den Korridor hinaus. Mit herrischer Stimme rief sie nach dem Mädchen, es solle ihr ein Bad bereiten.

Martin hätte Inge dafür dankbar sein sollen, dass sie ihn von dem drückenden Alp befreit hatte. Stattdessen ärgerte er sich, dass er das schöne und quälende Bild hatte zurücklassen müssen.

Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dämmerung im morgendlichen Zimmer. Einen Moment lang blieb er liegen, dann schwang er die Beine aus dem Bett und stand mit einem leisen Ächzen auf. Fast hätte er den Nachttopf umgestoßen. Er war wohlgefüllt. Seine Blase war auch nicht mehr die alte, dachte er grimmig. Alles zerfiel in seine Bestandteile. Er schlurfte zum Badezimmer, doch die Tür war verschlossen.

So nahm er den Morgenmantel, der an einem Haken hing, und trat ins Esszimmer, wo eine Kanne Kaffee auf dem Frühstückstisch dampfte. Die Zeitung lag aufgeschlagen an seinem Platz, wie er es verlangte. Auf Trudi, das Mädchen, war Verlass. Hier herrschten die Aufgeräumtheit und der Friede, nach denen es ihn so dürstete. In ihm war Wüste, Chaos, doch in seinem Haus stand alles zum Besten. Seufzend ließ er sich auf den lederbezogenen Stuhl fallen und schenkte sich großzügig Kaffee ein, den er schwarz herunterzustürzen pflegte.

Dann griff er nach der Vossischen. Die kaiserliche Flotte wurde erneut erweitert, um den Wettlauf mit den anderen europäischen Mächten zu gewinnen, las er. Eine neue Steuervorlage war verabschiedet worden, zum Leidwesen der konservativen Kräfte im Land, die sich um ihre Erbschaften und den Großgrundbesitz sorgten. In Kreuzberg war ein Mann von der Straßenbahn erfasst und getötet worden.

Martin warf das Blatt voller Verdruss auf den Eichentisch. Wie ihn das alles langweilte! Als junger Mann hatte er voller Anteilnahme, oft mit glühenden Wangen, die Zeitung verschlungen und sich über die Politiker und ihre Entscheidungen echauffiert. Heute war von dieser Glut nur noch kalte Asche übrig. Das Alter, die Arbeit, die Jagd nach der Professur, nach den hohlen Ehrungen der Wissenschaft, seine lieblose Ehe – all diese Anstrengungen hatten sein inneres Feuer verlöschen lassen. Und er hatte es nicht einmal bemerkt, war nur immer weitergehetzt, hatte gearbeitet, geforscht, gebangt um seinen Ruf, bis tief in die Nacht an der Habilitationsschrift über Neurologie geschrieben, nur um ja nicht abgehängt zu werden. Nun, da er scheinbar alles hatte, stand er mit leeren Händen da.

Und wieder flimmerte ihr Antlitz vor seinem inneren Auge. Sie trug das grobe Hemd der Insassinnen der Psychiatrie, stand mit nackten Füßen auf dem Linoleum des Schlafsaals der neurologischen Abteilung der Charité, und sah ihn an. Augen wie tiefe Seen, auf deren Grund unbekanntes Getier schwamm. Er war nicht klug aus ihr geworden. Dabei hatte er sie erforscht, ihre Seele unter das Licht gehalten und ihre Leiden Stück für Stück hervorgezogen, als sezierte er behutsam ihre Psyche. Und doch hatte er sie nicht verstanden, bis zum Ende nicht. Ihr Traumbild sah ihn an, als wüsste sie alles über ihn.

Wütend grub Martin die Daumen in seine Schläfen und schloss die Augen. Sie sollte verschwinden, ihm das bisschen Leben, das er hatte, nicht weiter vergällen. Dieses Weibsbild! Er stöhnte auf und fuhr zusammen, als er die Stimme seines Sohnes hörte.

«Vater?»

Er blickte auf und sah in die besorgte Miene von Franz. Schnell beeilte er sich, ein Lächeln aufzusetzen. Die Muskeln um die Mundwinkel schmerzten von der Anstrengung. Der Junge kam näher und setzte sich, beobachtete ihn jedoch weiterhin neugierig.

«Hast du schlecht geschlafen?»

Martin winkte ab. «Es ist nichts. Nur ein schlechter Traum, der mich wach gehalten hat. Und du?»

Franz gähnte und rieb sich das Kinn, an dem erst wenige blonde Bartstoppeln sprossen. Er griff nach einer Scheibe Brot und beschmierte sie dick mit Konfitüre. «Wie ein Stein.»

Mit leichtem Neid sah Martin seinem Sohn beim Kauen zu. Wie herrlich war die Jugend, wenn man schlafen und essen konnte, als gäbe es kein Gestern und kein Morgen. Ihm dagegen war die Kehle zugezurrt, keinen Bissen würde er hinunterbekommen. Er nahm einen hastigen Schluck vom Kaffee, der inzwischen lauwarm war. Dann stand er auf und strich seinem Sohn im Vorübergehen über das zerzauste Haar. Der ließ es gutmütig über sich ergehen, dabei war er eigentlich zu alt für derlei Zärtlichkeiten. Schon dieses Jahr würde er das Abitur am Prinz-Heinrichs-Gymnasium in der Schöneberger Klixstraße ablegen.

Der Sohn schien Martin wie ein leuchtender Stern an seinem verdunkelten Himmel. Für ihn lohnte es sich, jeden Morgen aufzustehen, in die überfüllte Stadt Berlin in die Charité zu fahren, den täglichen Stumpfsinn zu ertragen. Der Junge dagegen würde einmal alles erreichen können, was er wollte. Klug war er und dazu hübsch, was Martin immer wieder aufs Neue verwunderte, da er doch Inges und sein Sprössling war, beide von durchschnittlichem Äußeren. War die nächste Generation immer besser als die vorangegangene?

Franz murmelte, mit vollem Mund und Marmelade an der Lippe, einen Abschiedsgruß, schwang die Ledertasche über die Schulter und stülpte sich die Gymnasiastenmütze auf. Martin lauschte den polternden Schritten im Treppenhaus. Wie ein ungestümer Gaul mit den langen Beinen in den Knickerbockers, dachte er und lächelte knapp. Dann ging er zum Bad und rüttelte an der Tür, doch Inge gab keine Antwort. So rasierte er sich rasch am Waschtisch in der Schlafstube, ärgerte sich wie jeden Morgen über den schmutzigen Sprung in der Porzellankanne und schlüpfte in Hemd, Hose und Jacke. Kurz betrachtete er seinen grimmigen Gesichtsausdruck im Spiegel über der Kommode.

Ein Gespräch mit seinem Doktoranden stand heute als erster Termin im Kalender, und diese Aussicht trug nicht dazu bei, dass Martins Laune sich hob. Der junge Mann war in seinen Augen ein Nichtsnutz, ein Emporkömmling ohne Begabung für die Medizin. Doch es war der Sohn eines Kollegen, und er hatte ihn nicht ablehnen können. Und leider galt die Psychiatrie als Auffangbecken für die Talentlosen, deren Hände nicht ruhig genug für die Chirurgie waren. Auch wenn er, Martin, genau wusste, welch diffizile Wissenschaft die Lehre von der menschlichen Seele war.

Die Tür der Wohnung fiel dumpf hinter ihm ins Schloss. Schon eilte er durch die baumlose Sedanstraße der Bahn zu. Immer pfiff hier der Wind, nichts hielt ihn auf. Die Straße lag da wie ein leeres Flussbett. Schöneberg nannte sich Stadt, war aber in seinen Augen nicht mehr als ein sandiges Kaff. Wenn die Wohnung wenigstens im nobleren Schöneberger Westen liegen würde, in der jüdischen Schweiz, wie das Bayerische Viertel wegen der dichten Besiedelung durch wohlhabende Juden auch bezeichnet wurde. Zwar hatte Martin diesen Leuten gegenüber ein gewisses Misstrauen, doch dort waren die Plätze herrschaftlich und die Wohnungen großzügiger als hier auf der Schöneberger Insel. Ärzte, Richter, Industrielle lebten dort. Er, Professor Spitzweg, hätte ebenfalls dorthin gehört! Doch als er die Wohnung gekauft hatte, war er noch nicht auf eine Professur berufen worden, und das Geld war knapp gewesen. Und heute, da sie es sich hätten leisten können, wollte Inge nicht mehr umziehen. Der Junge sei ohnehin bald aus dem Haus, sagte sie, und alte Pflanzen, wie sie und er es seien, schlügen in fremdem Boden keine Wurzeln mehr. Martin hatte zwar nicht das Gefühl, dass er hier in dieser leblosen Straße verwurzelt war, doch er fühlte sich zu schwach, um gegen seine Frau aufzubegehren. Er machte sich ohnehin aus den meisten Dingen nichts.

Gerade noch erwischte er die Bahn nach Berlin, Richtung Friedrich-Wilhelm-Stadt. Sie war voller Männer wie ihm, in dunklen Anzügen, mit Bowler Hats und müden Augen. Wie traurige Pinguine mit Aktentaschen hingen sie an den Griffen und schwankten während der Fahrt sacht hin und her. Vom Bahnhof Friedrichstraße waren es zehn Gehminuten bis zur Klinik.

In seinem Arbeitszimmer im vierten Stock angekommen, hatte er kaum die Jacke abgelegt, als es klopfte. Friedrich Schreiber, sein Doktorand, stand vor der Tür, im Gesicht den immer gleich eifrigen Ausdruck, der Martin so fuchsig machte. Unwirsch begrüßte er den jungen Mann und bedeutete ihm, dass er sich auf den Besucherstuhl setzen solle.

Um Zeit zu gewinnen, trat er ans Fenster und blickte hinunter in den Hof. Ein Gewimmel von Patienten, Ärzten, Pflegern und Studenten, dass es einem schwindlig wurde. Martin fühlte sich seltsam abgestoßen von dem bunten Treiben. Wann waren alle diese Menschen gekommen und hatten seine Charité erobert? Längst war sie nicht mehr die alte Klinik, zahlreiche Neubauten und Erweiterungen zeugten davon. Die frühere Irrenanstalt hatte vor zehn Jahren einen neuen Bau erhalten und hieß nun Psychiatrische und Nervenklinik.

Am meisten hatte er sich daran gewöhnen müssen, dass auch Studentinnen hier herumliefen und in den Hörsälen saßen. Sie machten ihn nervös. Erst vor wenigen Jahren waren Frauen zu den preußischen Universitäten zugelassen worden, und dass sie in einem solchen Ansturm von ihrer neuen Möglichkeit Gebrauch machen würden, hatte er nicht erwartet. Schon jeder zehnte Student war weiblich. Was für ein Irrsinn, dachte Martin und schüttelte leicht den Kopf, als er zwei solchen Exemplaren unten auf dem Hof mit den Augen folgte. Sie schienen Freundinnen zu sein, die eine hielt die andere untergehakt. Da sie ihm den Rücken zukehrten, konnte er nicht sehen, ob sie hübsch waren. Immerhin diesen Vorteil hatte die neumodische Zulassung von Weibern an die Universität, dachte er, es gab unter den Studentinnen immer wieder eine, die eine Augenweide war. Sein Blick glitt über die schmalen Taillen der jungen Frauen. Da drehte eine der beiden sich um und sah hoch zu seinem Fenster. Er erstarrte und trat einen Schritt zur Seite. Sein Herz raste. Vorsichtig näherte er sich wieder der Scheibe und lugte hinaus. Er hatte richtig gesehen. Sie war es! Das schmale Gesicht, der Ausdruck ernst. Dunkles Haar umschmeichelte ihre Züge. Und die Augen – die Augen! Sie war zu weit entfernt, als dass Martin ihre Farbe hätte erkennen können, doch er hätte geschworen, dass sie grau waren, grau wie die Havel und tief wie das Meer, das nichts preisgab und nichts verzieh. Nicht nach all den Jahren, die vergangen waren.

2.

Steglitz

Nichts auf der Welt verabscheute Henny mehr als Handarbeit. Sie war stumpfsinnig und lästig, dachte sie, während sie sich zum wiederholten Male damit abmühte, ein Loch in ihrem braunen Wollstrumpf zu stopfen. Und sie hasste diese Strümpfe, die kratzig waren und voller fadenscheiniger Stellen. Kaum hatte sie ein Loch darin notdürftig geflickt, tat sich ein anderes auf. Wie sie sich nach neuen Strümpfen sehnte, aus glattem Stoff und ohne Löcher, wie sie in einem der eleganten Kaufhäuser angeboten wurden. Zwar sah unter den knöchellangen Röcken niemand die Beine der Damenwelt, doch eine Frau wusste, ob sie darunter grobe Wolle oder weiches Gewebe trug.

Noch größer als Hennys Sehnsucht nach Strümpfen war die nach einem Kleid aus Taft oder Cheviotstoff, dessen schwerer Glanz die Silhouette umschmeichelte und bei jedem Schritt vornehm raschelte. Neidisch betrachtete sie auf ihrem Weg durch die Berliner Straßen die wohlhabenden Damen, die sich derlei Luxus leisten konnten. Erst gestern hatte sie auf ihrem Weg zur Universität ausgiebig ihren Blick über die feine russische Stickerei eines Kleides schweifen lassen, das eine fremde Dame spazieren trug. Der Rock war über und über mit Spitze bedeckt gewesen. Seine Trägerin konnte nur winzige Schritte machen, denn er war nach der Mode der Humpelröcke geschnitten. Henny fand dies eigentlich albern – weshalb sollte eine moderne Frau nicht ausschreiten können, sondern sich trippelnd und stolpernd ihren Weg durch die Welt bahnen? Von der Unmöglichkeit, sich in einem solchen Rock auf eine Straßenbahnplattform zu schwingen, ganz zu schweigen. Ja, Henny betrachtete dies als unwürdig und der Emanzipation der Frauen zuwider. Wenn das Kleid der Dame nur nicht so todschick gewesen wäre!

Sie seufzte und bohrte die Nadel mit dem festen Garn durch den Wollstoff. Das Geld reichte hinten und vorne nicht. Olga und sie brachten kaum die Miete für die kleine Wohnung in der Düppelstraße auf, sie mussten Lebensmittel besorgen und ihre Kleider in Ordnung halten. Henny brauchte Bücher und täglich einige Groschen, um sich in der Mittagspause eine Mahlzeit zu leisten. Diese war in den letzten Wochen so oft ausgefallen, dass Olga sich ihres um die Hüften schlackernden Kleides erbarmt und es an der Taille enger gemacht hatte.

Dann hatte sie Henny von sich weggehalten und sie missbilligend gemustert. «Kleine, du siehst aus, als könnte dich ein Windhauch umpusten», hatte sie gesagt, und Henny sah unter Olgas mürrischen Miene die Sorge flackern.

Sie hatte gelacht. «Olga, hast du in letzter Zeit in den Spiegel gesehen? Du bist auch nur noch eine Bohnenstange.»

Olga hatte unwirsch abgewinkt, wie üblich, wenn Henny eine eigene Meinung zu vertreten wagte. «Red keinen Unfug, Mädchen», hatte sie gefaucht und sich rasch über den Spülstein gebeugt, Geschäftigkeit vorgebend.

Doch Henny konnte sie nichts vormachen, sie kannte die Regungen in Olgas Gesicht wie die Worte eines immer wieder gelesenen Buchs. Sie ernährten sich schlecht. Seit Augustes Tod steckten sie in Schwierigkeiten.

Auguste, ihre Ziehmutter, hatte als Lehrerin gearbeitet und daher keine Zeit gehabt, auf Henny aufzupassen. Deswegen hatte sie das arbeitslose Dienstmädchen Olga eingestellt, damit sie sich in ihrer Abwesenheit um die Kleine kümmerte. So hatte Henny, die ja Waise war, zwei Mütter gehabt – ein unglaubliches Glück. Das Gefühl, doppelt geliebt zu werden, rann seit frühester Kindheit wie flüssiges Gold durch ihre Adern und schützte sie gegen jede Unbill des Lebens. Henny wuchs heran und war längst eine junge Frau, doch noch immer war die kleine Wohnung, in der sie zu dritt zusammengelebt hatten, ein Ort der Behaglichkeit und des Friedens. Ihr warmer Fuchsbau.

Dann war die Krankheit gekommen, und die Welt ihres Dreimädelhauses hatte sich verdunkelt. Ein harter Knoten war in Augustes linker Brust gewachsen und hatte sich vergrößert. Als die Schmerzen unerträglich waren, hatte Olga sie gezwungen, einen Arzt aufzusuchen. Da war es längst zu spät. Man hatte der Sterbenden Morphium verschrieben und an einem der letzten Septembertage war Auguste in ihrem Bett eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.

Olga und Henny hatten bis zum Schluss abwechselnd bei Auguste gewacht und auf dem unbequemen Sofa geschlafen, dessen Federn bei jeder Bewegung quietschten, als kitzelte man sie. In welchem Kontrast hatte dieses Geräusch gestanden zu dem Stöhnen der Todkranken, deren Schmerzen trotz des Medikaments immer wieder schneidend aufblitzten und sie wimmern ließen. In manchen Nächten hatte Henny sich die Ohren zugehalten, um Augustes Agonie nicht mit anhören zu müssen. Dann hatte sie ihr Gewissen gequält – verdiente ihre Ziehmutter nicht wenigstens die ganze Aufmerksamkeit ihrer Tochter in der wenigen Zeit, die ihr geblieben war? Olgas blasse Züge am Morgen einer solchen Nachtschicht, ein Spiegelbild ihres eigenen Schmerzes, verrieten Henny, dass auch das Dienstmädchen unter Augustes Zustand schrecklich litt. Wie ungerecht das Leben doch war!

Eine merkwürdige Stille lag über der Wohnung, seit Auguste nicht mehr da war, dachte Henny und fröstelte. Olga und sie schlichen wie Gespenster durch den engen Flur und schienen Begegnungen zu vermeiden, als wäre jedes Zusammentreffen zu zweit eine Mahnung daran, dass sie vorher zu dritt gewesen waren. Die Lücke schmerzte wie eine offene Wunde.

Manchmal meinte Henny, Olga und Auguste hinter der Tür lachen zu hören. Als wären Auguste wieder einmal die Kohlen zu Boden gefallen, und Olga rutschte halb lachend, halb schimpfend auf den Knien herum und sammelte sie ein, dabei etwas von einem «Trampel» murmelnd, der zwei linke Hände habe. Auguste hatte dem Hausmädchen die Schimpferei nicht übel genommen. Stattdessen hatte sie Olga die rußige Hand an die Wange gelegt, ihr das glatte Blondhaar aus der Stirn gestrichen und ihr dann rasch mit ihren schwarzen Fingern einen Schnurrbart gemalt, bevor Olga protestierte.

«Olgachen, in dir steckt ein Kaiser», hatte Auguste gelacht, und Olgas Zorn war nach einem kurzen Moment geschmolzen, und sie hatte in das Lachen mit eingestimmt.

Bei der Erinnerung rann Henny eine einsame Träne die Wange hinab. Rasch wischte sie sie mit dem Handrücken fort und schniefte. Sentimentalität war im Hause Baumgarten nicht üblich gewesen. Auguste pflegte zu sagen, dass nur Taten zählten, keine Träumerei. Henny erschien es wie ein Sakrileg, dass sie hier heulend saß, während sich die Arbeit türmte. Olga würde sie schelten. Dabei zeigten auch ihre Augen in den letzten Wochen immer wieder verräterische Spuren, waren gerötet und geschwollen, wenngleich ihre Miene wie immer fest blieb.

Manchmal fragte sich Henny insgeheim, was Olga und Auguste verbunden hatte. Ein so inniges Verhältnis wie ihre beiden «Mütter» hatten ein Dienstmädchen und die Herrin in anderen Häusern nicht, vermutete sie. Als Kind hatte Henny manchmal beobachtet, wie die beiden Frauen über ihren Kopf hinweg einen Blick tauschten, in dem etwas lag, das sie nicht verstand. Als teilten sie ein Geheimnis, das nur ihnen gehörte. Wenn Henny abends im Bett lag und die Tür zum Korridor halb geöffnet war – sie brauchte den Lichtschimmer, der freundlich ins dunkle Zimmer fiel –, dann hörte sie die Frauenstimmen aus der Küche, wo die beiden ihren geliebten Cognac schlürften. Auf dem Herd röstete ein Stück Brot, dessen Duft durch den Flur bis in Hennys Nase zog, und sie plauderten, die Füße auf Schemeln hochgelegt, bis tief in die Nacht. Es war das tröstlichste Geräusch, das Henny kannte, das Summen der vertrauten Stimmen, deren einzelne Worte sie nicht verstand, und das leise Singen der Gläser auf dem Spülstein.

Oft schwiegen Auguste und Olga, dann hörte Henny lange Zeit nichts und wusste doch, dass die beiden da waren und miteinander in der Küche saßen. Am liebsten aber hatte sie es, wenn die zwei Frauen sich stritten, auf eine Weise, die für einen Außenstehenden klingen mochte wie derber Zank, für sie aber die Nähe zwischen ihnen umso spürbarer werden ließ.

«Gnädige Frau sind heute wieder ganz besonders dickköpfig», fauchte Olga beispielsweise, wenn Auguste ihr zum wiederholten Male mit ihrem «Feminismusgedöns» in den Ohren lag. Und Auguste feuerte dann zurück: «Nenn mich gefälligst nicht so, Olga. Wir Frauen müssen zusammenhalten, genau das meine ich! Ich bin keine gnädige Frau, und du bist keine Dienerin. Wie oft soll ich das noch sagen?»

Olga schnaubte dann und erwiderte mit einem kessen Augenaufschlag: «Ich will mal hoffen, dass Sie das am Ende der Woche, wenn Zahltag ist, wieder vergessen haben.»

Schließlich hatten beide gelacht, und Henny hatte ebenfalls gekichert, ohne zu verstehen, worum es ging. Erst als sie älter geworden war, hatte sie bemerkt, dass die Beziehung zwischen Olga und Auguste alles andere als gewöhnlich war. Sie hatte das nicht hinterfragt, sondern genossen, dass sie von beiden geliebt wurde wie eine Tochter und Teil ihrer Dreisamkeit war.

Und nun war Auguste gestorben und hatte ihre Angestellte und ihre Ziehtochter zurückgelassen, die seither so hölzern miteinander umgingen, als hätte Auguste alles Leben und alle Wärme mit sich genommen. Dazu kam, dass sie die Ernährerin ihrer Gemeinschaft gewesen war und neben der Trauer noch etwas anderes hinterlassen hatte – bittere Armut. Zwar hatte es immer gerade so für sie drei gereicht, doch für ein Polster war am Ende des Monats nie etwas übrig gewesen. Ihr Erbe hatte Auguste damals, als sie ihr Elternhaus in Schimpf und Schande verlassen hatte, ausgeschlagen und bis auf wenige Gegenstände nichts mitnehmen können.

Seufzend warf Henny den löchrigen Strumpf auf den Nähtisch und stand auf. Sie konnte sich beim besten Willen nicht auf die Arbeit konzentrieren, wenn Auguste in ihren Gedanken herumspukte. Nebenan in der Küche hörte sie Olga leise schluchzen, ein trockenes, zehrendes Geräusch. Dazu klapperte Geschirr. Fast musste Henny lächeln. Wie traurig das Dienstmädchen auch sein mochte, sie war doch von derart preußischer Natur, dass sie darüber niemals ihre Pflichten vernachlässigt hätte. «Sich regen bringt Segen», das war ihr Motto und ihre Medizin gegen Trübsal.

Henny beschloss, sich ebenfalls eine Tätigkeit zu suchen, die sie von ihrem Kummer ablenkte. Die dumme Flickarbeit war dazu nicht geeignet. Stattdessen streckte sie die Hand nach einem dicken Buch aus, das auf der Fensterbank stand. Es war abgegriffen, als sei es schon durch viele Hände gegangen. Natürlich konnte sich Henny keine neuen Bücher leisten, sie kaufte sie für wenig Geld auf dem Gebrauchtmarkt am Alexanderplatz oder an den Ständen vor der Universität, wo man für ein paar Groschen alles bekam, was je geschrieben worden war.

Das Buch war in braunes Leinen, einen Uniformstoff, gebunden, und am Rücken mit Metallbändern verstärkt. Henny drehte es so, dass sie die Vorderseite sah. Auf ledernem Untergrund, umrahmt von roten Biesen, standen in goldener Prägung die Worte Topographische Anatomie und der Name des Autors, Corning. Der Schweizer Professor für Medizin und Anatomie lehrte in Basel, sein Buch war ein Standardwerk für jeden Medizinstudenten, auch in Preußen. Einer dieser Studenten war Henny.

Sie fasste mit beiden Händen das schwere Buch und drückte es an die Brust, als gebe es ihr Halt. So unglücklich sie in den letzten Wochen gewesen war, so brennend war noch immer ihre Freude, wenn sie daran dachte, dass sie sich eine Studentin an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin nennen durfte. Wovon so viele junge Frauen vor ihr – allen voran ihre leibliche Mutter Lotte, die sie nie kennengelernt, von der Auguste jedoch manchmal erzählt hatte – geträumt hatten, lag für Henny in greifbarer Nähe. Sie würde, wenn sie die höllisch schweren Examina bestünde, Ärztin werden. Erst 1908, vor fünf Jahren, hatten die preußischen Universitäten nach langen Kämpfen der Frauen ihre Tore für Studenten weiblichen Geschlechts geöffnet. Schon davor hatte es immer wieder Frauen gegeben, die von ihrem Recht Gebrauch machten, als Gasthörerinnen die Vorlesungen zu besuchen, und die sogar Prüfungen ablegten, ja selbst promovierten.

Auguste hatte, wenn es um dieses Thema ging, wütend geschnaubt. «Durch die Hintertür müssen wir uns schleichen, uns die Bildung erbetteln, dabei funktionieren unsere Gehirne ebenso gut wie die der Männer, ja vielleicht noch besser.» So hatte sie gewettert und Olgas Augenrollen ignoriert. Als die Proteste der Frauen endlich Gehör fanden und diese sich immatrikulieren konnten, hatte sie mit der damals vierzehnjährigen Henny einen Freudentanz in der Küche aufgeführt. «Du, meine kluge Tochter, wirst studieren. Das Geld bringen wir schon auf. Nicht wahr, Olga?»

Das Dienstmädchen hatte gebrummt, dass Hochmut vor dem Fall komme, aber beim Blick in Hennys und Augustes begeisterte Gesichter gelächelt und genickt. «Natürlich, Gnädigste. Unsere Henriette soll es besser haben als wir alten Schachteln.»

Das wiederum hatte Henny zum Lachen gebracht, denn die hübsche Olga mit ihren frischen Apfelwangen und dem blonden Engelshaar war so wenig eine alte Schachtel wie Auguste. Beide waren damals gerade dreißig Jahre alt gewesen.

Kopfschüttelnd vertrieb Henny die Erinnerungen und schlug das Buch auf. Sie musste es mit beiden Händen halten, denn es wog etwa fünf Pfund. Drinnen drängten sich die Buchstaben, als habe der Verfasser so viel Wissen als möglich auf die Seiten bannen wollen. Ein Geruch nach Papier, Druckerschwärze und Leder stieg ihr in die Nase – für Henny einer der schönsten Düfte der Welt. Neben den Texten schimmerten auf jeder Seite schwarz-weiße Abbildungen von Körperteilen, menschlichen Organen und Nerven.

Mit einer Haarnadel hatte Henny eine Seite markiert, auf der sie gestern Abend mit dem Lesen aufgehört hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr Hirn von den vielen Fachbegriffen anschwoll und von innen gegen ihre Schädeldecke drückte, um dem Wissen Platz zu machen. Dann aber schien es ihr wieder wie ein Schwamm, der nachgiebig seine Poren öffnete und alles aufsaugte, was sie sich in der Dämmerung im Licht der Glühlampe zu Gemüte führte. In diesem Kapitel ging es um die Beschaffenheit und die Aufgaben der Milz. Begierig begann sie zu lesen.

3.

August 1914, nahe Antwerpen

Liebes Muttichen, lieber Papa,

 

heute habe ich ein paar Augenblicke, um Euch zu schreiben und Euch zu versichern, dass ich wohlauf und formidabler Dinge bin. Es war bisher schlechterdings unmöglich, weil wir Tag und Nacht nicht ruhen konnten auf unserer langen Reise nach Westen. Doch nun haben wir ein Quartier bezogen. Wenn Ihr mir schreiben möchtet, hier die Adresse: I. Bataillon Reserve-Fußartillerieregiment Bornstedt. Wir liegen mit siebzig Mann in einem Haus kurz vor der belgischen Festung Antwerpen und warten auf unseren Einsatz. Es gab tüchtig zu essen, und die Stimmung ist gelöst.

Aber unser Abschied bedrückt mich und die bösen Worte, die zwischen uns gefallen sind. Dass Ihr es so gar nicht verstanden habt, wie ich mich danach sehne, in diesem Krieg meine Mitwirkung zu tun, das geht mir nicht in den Kopf. Fast geschlossen hat sich unser Gymnasium freiwillig gemeldet. War das ein Singen, als wir durch die Straßen zur Kaserne zogen, Lehrer und Schüler! Fort warfen wir die Gymnasiastenmützen und nahmen mit Freuden den Stahlhelm stattdessen. Und es ist doch so, wie ich es schon vor Monaten im Aufsatz beim alten Dr. Steinkamp schrieb: Der Tod hat eine reinigende Kraft. Unsere Leben sind nicht die höchsten Güter auf Erden, wir setzen sie mit Freuden ein für das Wahre, für das Vaterland. Dazu stehe ich heute noch mehr als im letzten Sommer, als ich nichtsahnender Primaner die Schulbank drückte. Seitdem bin ich ein Mann geworden. Wie könnten wir zulassen, dass die unheilige Allianz der Franzmänner, der Engländer und allen voran der Bolschewiken unser Deutsches Reich in die Zange nähme und zerquetschte?

Steinkamp sagte es immer wieder, mit seiner seltsam näselnden Stimme, doch voller Inbrunst: «Die allgemeine Wehrpflicht ist ein Segen für das deutsche Volk, unsere Soldaten werden den Feind in Scharen zertrampeln. Und die Jungen, die brauchen wir mehr als alle anderen, die sollen Glanz und Gloria für uns gewinnen.»

Ich sehe, dass er recht hatte, hier liegen mit mir so viele kernige, frische Jungens, die sich nicht zu schade sind, die Waffen zu ergreifen. Schon bei den Schulfesten habe ich so gern die Kaiserhymne gesungen, «Heil dir im Siegerkranz», das schmetterte durch unsere Aula, und hier sing ich es mit den Kameraden, wenn wir abends Konservenfleisch essen und ein wenig Schokolade teilen. Besonders beliebt ist der Vers: Wir alle stehen dann / mutig für einen Mann / kämpfen und bluten gern / für Thron und Reich! Ach, liebste Eltern, wenn Ihr hören könntet, wie das aus so vielen Kehlen dröhnt und uns Mut macht für die baldigen Kämpfe.

Ich versichere Euch, mir geht es fabelhaft, und ich tue das Richtige. Bitte denkt an mich und schickt mir gute Wünsche. Und auch Dauerwurst und Tabak, ohne diese Tauschwaren ist man an der Westfront nichts! Gehabt Euch wohl daheim und schreibt bald.

 

Euer ergebener Sohn

4.

Friedrich-Wilhelm-Stadt (Berlin)

Mit ruhigen Bewegungen säuberte Paul das Operationsbesteck. Er liebte seine Arbeit, sowohl die grelle, ruhmvolle Tätigkeit des Arztes dort draußen auf der Bühne des Operationssaals, der in Sekundenschnelle mit sicherer Hand Menschenleben rettete, als auch die vielen kleinen Handgriffe, die hinter den Kulissen stattfanden. Sie griffen wie Zahnrädchen ineinander und sorgten dafür, dass Behandlungen und Operationen reibungslos abliefen.

Fast zärtlich betrachtete er das glänzende Skalpell, die Scheren und Klemmen, die im Licht der großen Lampe an der Decke des Saals blinkten. Es war nicht lange her, dass die unsachgemäße Säuberung der Instrumente viele Patienten das Leben gekostet hatte. Erst seit wenigen Jahrzehnten, eigentlich erst Jahren, hatte die Medizin erkannt, dass durch verdrecktes Besteck viele Krankheiten auf die Menschen übertragen wurden und diese dann nicht an ihren ursprünglichen Leiden gestorben waren, sondern an neuen Infektionen.

Was für ein Wahnsinn, dachte Paul grimmig, während er die Metallzangen der Größe nach sortierte. Die Menschheit war erschreckend blind und taumelte von einem Irrtum zum nächsten. Umso befriedigender war es, dass er als Arzt ein wenig Ordnung in dieses Chaos bringen konnte. Die meisten seiner Patienten verließen die Klinik gesünder als zuvor. Sicher, immer wieder gab es schwere Fälle, Menschen, die ihm unter der Hand wegstarben. Dann lag er nächtelang wach, grübelte, ob er einen Fehler gemacht, ein winziges Detail übersehen hatte, und fand keinen Schlaf. Doch am nächsten Morgen, wenn er in die Klinik trat, erfüllte ihn wieder dieses berauschende Gefühl der Macht über die Natur, und er stürzte sich wie besessen in einen neuen Tag, um den Kampf gegen den Tod erneut aufzunehmen.

An der Charité zu arbeiten, war die Erfüllung der Träume aller jungen, aufstrebenden Mediziner. Berlin, das hatte einen Klang von Moderne, von Wissenschaft mit höchsten Standards. Hier war man am Puls der Zeit. Sowohl, was die medizinische Forschung anging, als auch die Lehre und die Behandlungsmöglichkeiten. Die alte Klinik war kaum wiederzuerkennen. Neue Gebäude waren entstanden, mit kleineren Krankenzimmern, hervorragend ausgestatteten Operationssälen, modernen Sanitärräumen und großzügigen Hörsälen. Dort sprachen die Koryphäen der Medizin zu atemlos lauschenden Studenten. In den vergangenen Jahren waren drei Nobelpreise an Berlin gegangen. Emil Behring, Robert Koch, Paul Ehrlich – das waren die Namen der Berühmtheiten, die jeder Medizinstudent ehrfürchtig vor sich hin flüsterte. Und sicher auch jede Medizinstudentin, fügte Paul in Gedanken hinzu, denn neuerdings durften auch Frauen das Studium aufnehmen.

Bei der Arbeit glühte Paul vor Leidenschaft. In seinem Privatleben dagegen – er schloss kurz die Augen und versuchte, das Bild von Friederike abzuschütteln, deren vorwurfsvoller Blick ihn verfolgte. Warum nur war sie ihm so fremd? Seine Verlobte war eine Schönheit, darin stimmte er all ihren Bewunderern zu. Gabriel, sein bester Freund aus Kindertagen, pflegte ihn in die Seite zu stoßen und zu sagen: «Du verdienst diese Wahnsinnsfrau nicht, Paule. Wann wird sie das endlich erkennen und sich lieber einem armen Tölpel wie mir zuwenden, der sich wirklich nach einem Mädchen wie ihr verzehrt?»

Paul musste Gabriel recht geben. Er hatte nichts getan, um sich die Gunst einer Friederike von Ebersbach zu verdienen, sie war reich, gebildet und eine Augenweide. Was war los mit ihm? Betrachtete er ihre langen, seidigen Haare, die milchige Haut und ihre dichten Wimpern, die schattige Kleckse auf ihre zarten Wangenknochen warfen, dann spürte er nichts als den Wunsch, sich umzudrehen und fortzugehen. Sosehr er dafür brannte, sich als Arzt zu beweisen und Menschenleben zu retten, so kalt fühlte er sich in ihrer Gegenwart. Lag es daran, dass eine Heirat mit ihr unausweichlich war, wenn er den langen, kostspieligen Weg als Forscher einschlagen wollte? Sie war seine Eintrittskarte in die Welt der Vermögenden, sie öffnete ihm mit ihrer Erbschaft alle Türen – doch der Weg zu seinem Herzen blieb verschlossen.

Friederike war eine Notwendigkeit, mehr nicht. Wie er ihre Berührungen fürchtete, ihre kleine Hand auf seinem Arm, die sich nicht abschütteln ließ, als wolle sie allen zeigen, dass er ihr Besitz war. Und recht hatte sie damit, denn er war ihr und ihrem wohlhabenden Bankiersvater ausgeliefert mit Kopf und Kragen. Seine eigenen Eltern waren schon vor Jahren verstorben, er war bei einem entfernten Onkel aufgewachsen, der nicht gewillt oder in der Lage gewesen war, seinem Neffen das Medizinstudium zu finanzieren. Glücklicherweise hatte Paul ein Stipendium erhalten. Doch dieses Geld war längst versiegt, der Weg zu einem nennenswerten Einkommen weit. Erst musste er die Assistenzzeit an der Charité abschließen. Seine Doktorarbeit wartete auf ihre Vollendung, anschließend die Verteidigung. Das alles kostete Zeit und Geld. Nein, an Friederike als Ehefrau führte kein Weg vorbei, und Gabriel hatte recht: Er sollte sich glücklich schätzen, dass ihm das Schicksal diese Frau geschickt hatte, die in ihm offenbar etwas erkannte, das sie dazu bewog, über seine geflickten Anzugjacken und sein immer leeres Portemonnaie hinwegzusehen.

Seufzend schloss er den Instrumentenkoffer mit einem Knall, der von den Wänden des Operationssaals widerhallte. Rüdiger Boch, sein Kollege von der Anästhesie, der gerade ein Leintuch über die schlaffe Äthermaske des Narkoseapparats breitete, hielt inne und sah belustigt herüber.

«Na, das klingt nach Kummer», sagte er und schob den Rollwagen mit dem Apparat darauf in die Ecke. Die Räder quietschten wie immer.

Paul lachte leise. «Du sagst es, Rüdiger.»

«Frauen?»

«Tja. Ich denke schon. Eigentlich nur eine.»

«Oh, eine ist immer schlecht. Viel zu wenig.»

Paul musste grinsen. Er konnte den langen Rüdiger mit der Stirnglatze und den klugen Augen hinter Brillengläsern gut leiden. Obwohl eher durchschnittlich aussehend, hatte er, soweit Paul die Blicke der Schwestern richtig deutete, keinen Mangel an Auswahl, was wohl vor allem an seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein lag. Und an der Art, wie er sein Gegenüber intensiv durch die funkelnden Gläser ansah, sodass man das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sein.

«Ja, dass du den Hals nicht vollkriegen kannst, das weiß ich schon, Rüdiger. Aber in meinem Fall, glaub mir, ist schon diese eine zu viel.»

Rüdiger öffnete seinen Kittel, zog ihn aus und knüllte ihn zusammen. «Dann, mein Lieber, ist sie die Falsche. Vergeude nicht deine Zeit und schick sie in die Wüste, ehe du einen Stau bekommst. Du weißt schon, wo.»

Mit einer derben Geste deutete er an, wo er für Paul einen Engpass befürchtete, schlug ihm dann kräftig auf den Rücken und wandte sich zum Gehen.

Paul fragte: «Gehst du morgen zum Treffen?»

Rüdiger blieb stehen und sah über die Schulter. «Klar, du etwa nicht? Es gibt einiges zu bereden. Die Sozis werden frech und frecher. Sie schnuppern Morgenluft. Es wird Zeit, dass jemand sie wieder in ihre Schranken weist.»

Paul nickte. Rüdiger und er besuchten regelmäßig die Treffen der Nationalliberalen Partei, der sie beide seit ihrer Jugend angehörten. War die Partei seit ihrer Gründung im vergangenen Jahrhundert lange stärkste Fraktion im Reichstag gewesen, so hatte sie kürzlich bei den Wahlen eine schmerzliche Schlappe hinnehmen müssen. Manchmal fragte sich Paul, ob sie alle auf dem Holzweg waren und lieber mit den anderen Liberalen eine Einheit bilden sollten. Doch eine solche war gerade wieder gescheitert. Und so diskutierten sie nach Feierabend bei Berliner Pilsner und Wurststullen immer erhitzter über den Ausbau der Flotte und die Militärpolitik von Wilhelm II. und taten so, als könnten sie irgendetwas bewirken. Die zunehmende Kriegstreiberei des deutschen und des österreichischen Kaisers war das beliebteste Thema bei ihren letzten Diskussionen. In Berlin und in Wien rasselte man mit den Säbeln, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Europa in einem Krieg explodieren würde. Paul schien dieser Gedanke seltsam fern und gleichzeitig aufregend. In seinem Leben fühlte er sich so gefangen, dass die Idee eines Ausbruchs, der gewaltsamen Zerschlagung aller bekannten Gewohnheiten, ihn verlockend im Bauch kitzelte. Das kleine Stimmchen, das ihm einflüsterte, Krieg bedeute Tod und Elend, überhörte Paul. Er genoss die Kameradschaft und die Wärme in der Bierstube zu sehr. Bei den antisemitischen Hetzreden, die unter seinen Parteifreunden zum guten Ton gehörten, dachte Paul mit einem schlechten Gewissen an Gabriel, schwieg aber. Ob aus Bequemlichkeit oder der Angst, man könne sich über ihn lustig machen, wusste er selbst nicht.

«Also dann, bis morgen Abend», sagte er zu Rüdiger, der ihm zunickte und seinen langen Körper aus der Tür schob. Auch Paul entledigte sich seines Kittels und wusch sich gründlich die Hände, ehe er die Lampen im Saal löschte und die Tür hinter sich zuzog.

Dabei dachte er über den Rat nach, den der Kollege ihm gegeben hatte: Friederike in die Wüste zu schicken. Ein verlockender Gedanke, wie er zugeben musste. Wenn es denn so einfach wäre, dachte er grimmig und lief den langen Flur hinunter, die Hände in den Taschen vergraben und den dichten rotblonden Haarschopf gesenkt.