4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Dunkle Familiengeheimnisse und zwei mutige Frauen, die sich der Vergangenheit stellen DIE FRAUEN VON USEDOM: Für ihre Abschlussarbeit recherchiert Thea zum Brückenbau im 19. Jahrhundert – und stößt dabei auf den Namen ihrer Ururgroßmutter Fedora. Ihr Schicksal scheint mit dem tragischen Einsturz der Karninbrücke zusammenzuhängen. Um mehr zu erfahren, reist sie nach Usedom. Doch trotz ihrer Bemühungen bleiben die Küstenbewohner verschlossen. Ob ihr der junge Janek Harff helfen kann, den so viel mit ihrer Familie zu verbinden scheint? DIE TÖCHTER DER HEIDEVILLA: Zilla weiß kaum etwas über die eigene Familie – bis sie eines Tages auf dem Dachboden ihres Kindheitshauses eine kleine Glaspuppe und ein altes Buch findet: die handgeschriebene Lebensgeschichte ihrer Großmutter. Doch beim Eintauchen in die Erinnerungen erkennt ihr Freund Richard die Puppe – und nach und nach begreifen sie, dass ein dunkles Geheimnis ihre beiden Familien miteinander verbindet. Zwei bewegende Schicksalsromane in einem eBook! Der perfekte Lesegenuss für Fans von Anne Jacobs und Teresa Simon.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1080
Veröffentlichungsjahr: 2024
Über dieses Buch:
DIE FRAUEN VON USEDOM: Für ihre Abschlussarbeit recherchiert Thea zum Brückenbau im 19. Jahrhundert – und stößt dabei auf den Namen ihrer Ururgroßmutter Fedora. Ihr Schicksal scheint mit dem tragischen Einsturz der Karninbrücke zusammenzuhängen. Um mehr zu erfahren, reist sie nach Usedom. Doch trotz ihrer Bemühungen bleiben die Küstenbewohner verschlossen. Ob ihr der junge Janek Harff helfen kann, den so viel mit ihrer Familie zu verbinden scheint?
DIE TÖCHTER DER HEIDEVILLA: Zilla weiß kaum etwas über die eigene Familie – bis sie eines Tages auf dem Dachboden ihres Kindheitshauses eine kleine Glaspuppe und ein altes Buch findet: die handgeschriebene Lebensgeschichte ihrer Großmutter. Doch beim Eintauchen in die Erinnerungen erkennt ihr Freund Richard die Puppe – und nach und nach begreifen sie, dass ein dunkles Geheimnis ihre beiden Familien miteinander verbindet.
Über die Autorin:
Madeleine Harstall ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Sie wurde 1958 in Genf geboren und studierte Germanistik und Sprachen. Heute lebt sie in Wangen im Allgäu.
Bei dotbooks veröffentlichte Madeleine Harstall ihre Romane »Die Frauen von Usedom« und »Die Töchter der Heidevilla«.
Unter dem Namen Christine Lehmann veröffentlichte sie bei dotbooks ihren Hundekrimi »Eiskalte Fährte« sowie die folgenden Romane:
»Der Zauber einer Inselnacht«
»Das Grand Hotel an der Ostsee«
»Die Liebesträumerin«
»Die Strandträumerin«
»Der Winterwanderer«
»Die Inselträumerin«
»Das Geheimnis des Rabenhofs«
***
Sammelband-Originalausgabe Oktober 2024
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Die Originalausgabe von DIE FRAUEN VON USEDOM erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »Die Brückenbauerin« bei Knaur Taschenbuch, München und 2014 bei dotbooks; Copyright © der Originalausgabe 2006 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München. Copyright © der Neuausgabe 2014, 2022 dotbooks GmbH, München.
Die Originalausgabe von DIE TÖCHTER DER HEIDEVILLA erschien erstmals 2004 unter dem Originaltitel »Das Geheimnis der Gräfinnen« bei Knaur Taschenbuch, München; Copyright © der Originalausgabe 2004 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München. Copyright © der Neuausgabe 2014, 2017, 2022 dotbooks GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-114-8
***
dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Madeleine Harstall
Die Frauen von Usedom & Die Töchter der Heidevilla
Zwei bewegende deutsche Familiensagas in einem Band
dotbooks.
Als die junge Thea für ihre Abschlussarbeit über den Brückenbau im 19. Jahrhundert recherchiert, stößt sie dabei plötzlich auf den Namen ihrer Ururgroßtante Fedora. Ihr Schicksal scheint untrennbar mit dem Bau der großen Karninbrücke verwoben, die Usedom mit der Küste verbinden sollte – und deren tragischer Einsturz die Inselgemeinde bis ins Mark erschütterte. Doch was geschah damals wirklich? Thea reist kurzentschlossen nach Usedom, um mehr über das Leben ihrer Vorfahrin herauszufinden. Dort, in Fedoras altem Fehnhus am Meer, trifft Thea auf Janek Harff, den viel mit ihrer Familie verbindet. Doch über das dunkle Geheimnis, das seit Generationen auf ihr lastet, wollen weder er noch die anderen Küstenbewohner mit Thea sprechen …
Für Karin Reich und ihre Tochter Natalie Reich
Langsam rollte der Zug aus dem Bahnhof Ducherow und rumpelte über die Weiche Richtung Ostseeküste. Bankier Guttwitz blickte von der Zeitung auf. Plattes Land und Birken, Kartoffeln und Getreide. Hier und da pflanzte man auch schon Zuckerrüben an.
Guttwitz zog seine Uhr aus der Westentasche. In einer Stunde würde er bei seinen Damen sein, die in Heringsdorf auf Usedom badeten. Die Strecke Berlin–Swinemünde hatte Usedom zur Badewanne Berlins gemacht, und die Ehemänner, denen es möglich war, verließen Freitag früh um zehn mit dem Strohwitwer-Express das heiße und staubige Berlin.
Der junge Bankier sah wieder in die Zeitung, um die Besprechung der Uraufführung von Wagners Parsifal in Bayreuth zu Ende zu lesen. Anschließend vertiefte er sich in den Bericht über die erste Elektrizitätsausstellung in München. Fünfundsiebzig Kilometer weit schaffte man den Strom dafür aus Miesbach heran. Ganze Städte wollten diese verrückten Ingenieure bald mit ihren Glühlampen in gleißendes Licht tauchen. Grausig, diese Vorstellung! Aber als Bankier würde er, Guttwitz, am ersten Glühlampenwerk in Berlin mitverdienen, dessen war er sich sicher.
Schnurgerade ging es auf die Küste zu, dann schoss der Zug zwischen stählernen Brückenbögen hinaus aufs Wasser des hier fünfhundert Meter breiten Peenestroms zwischen Festland und Usedom.
Guttwitz sah gerade noch die Festungsbauten des Brückenwerks, da hörte er es knirschen. Der Waggon sackte unter ihm weg und kippte. Wie Streichhölzer knickten die mächtigen Eisenstreben in sich zusammen.
Noch bevor der Zug Ducherow verließ, hatten die beiden Brückenwärter Dima Rusek aus Mönchow und Geert Koog aus Karnin begonnen, die Drehbrücke im Peenestrom für den Schiffsverkehr zu schließen, damit der Zug drüberfahren konnte.
Sie hatten auf den Vorköpfen die Schifffahrtsignale auf Halt gestellt und ruderten zum Mittelpfeiler hinaus, der die Fahrrinnen teilte und auf dem das drehbare Gleis lagerte. Dort pflanzten sie das Drehkreuz ein und begannen zu drehen, ein jeder gegen seine Querstange gelehnt, immer im Kreis herum, wie Pferde im Göpelwerk. Etwa eine Stunde dauerte das. Die Zahnräder knirschten, während sich das Brückenstück unter ihnen drehte.
Dima Rusek war ein kräftiger Mann Mitte dreißig und entschlossen, alles richtig zu machen und voranzukommen. Er hatte eine Frau und zwei Kinder in Mönchow zu ernähren, einen Sohn von zwölf Jahren und eine Tochter von vierzehn. Eine kluge Tochter und so gelehrig, dass er mit seiner Frau erwog, sie auf eine gute Schule zu schicken und sie Lehrerin werden zu lassen. Dafür arbeitete er wie ein Ochse vor dem Pflug, auch wenn ihn der Rücken schmerzte und er sich abends oft kaum noch rühren konnte.
Ein Schlag ging durch die Brücke, die Eisenteile sangen und die Kurbel stoppte abrupt Die Brücke steckte wieder einmal fest. Es lag an der Sonne. Wenn sie vormittags das Südostgleis erwärmte, dann verbog sich der ganze Schienenstrang, und Dima und Geert mussten mithilfe des Flaschenzugs das Gleis in die richtige Lage zwängen. Während Geert danach zur Inselseite ging, um den Sperrriegel umzulegen, wanderte Dima auf dem Fußsteig in Richtung Festland.
Drei mächtige Fachwerkbrückenbögen aus Stahl schwangen sich von hier nach Kamp. Fast siebzig Meter war jeder Abschnitt lang. Ein leises Summen in den Schienen verkündete, dass sich von Ducherow der Zug näherte. Aber etwas ließ Dima aufhorchen. Der Ton klang anders. Es war ein leichtes Schlagen darin.
Dima spitzte die Ohren und ging weiter. Er wollte vorwärts kommen im Leben, und wer seine Augen und Ohren offen hielt, fand vielleicht heraus, wenn was an der Brücke nicht in Ordnung war, und konnte es nach oben weitermelden und wurde vielleicht befördert.
Bis zur letzten Bogenbrücke an der Landseite lief Dima vor, ohne den Grund für die Vibrationen gefunden zu haben. Da kam auch schon der Zug mit seiner schwarzen Dampflok zwischen den Bäumen hervor, die den Bahndamm säumten, und raste über den Vorbrückendamm hinweg auf die Brücke.
Der Stahl ächzte. Dima griff nach dem Geländer, aber es gab nach. Die ganze Brücke wankte. Ein höllisches Krachen ertönte. Dima sah noch, wie der Zug zu schlingern begann, dann sprang die Lok auf ihn zu und kippte über ihn.
Der Festumzug der Anklamer Schützengilde bog gerade in die Steinstraße ein, als auf einem schweißnassen blanken Pferd ein Bursche aus Kamp in die Stadt galoppierte und schrie: »Die Brücke ist eingestürzt!«
»Was?«, riefen die Leute.
»Mit dem Strohwitwer-Express aus Berlin!«
Feuerwehrhauptmann Pöttke sprang von seinem mit Garben geschmückten Gildenwagen, vor den zwei Ochsen gespannt waren, und rannte los. Minuten später ertönte das Feuerhorn. Pöttke verwarf die Feuerspritze. Es würde auch ohne sie eine Stunde dauern, bis sie draußen in Kamp waren. Schon lange hatte er dem jungen Landrat Jennewitz in den Ohren gelegen, Vorsorge zu treffen, wenn auf der Brücke einmal etwas passierte. Aber der hatte auf die Feuerwehr von Karnin verwiesen. Doch wenn die Brücke einbrach, dann konnten eben auch die Karniner nicht mehr herüberkommen. »Mein lieber Hauptmann«, hatte Jennewitz erwidert, »bei dem vielen Eisen und Stahl, was soll denn da einbrechen?«
Und nun war es passiert Alles, was Beine, Pferde und Fuhrwerke hatte, machte sich auf den Weg nach Kamp. Pöttke sackte das Herz in die Hose, als er endlich mit seinem Wagenzug und den dampfenden Pferden am Vorbrückendamm ankam.
Zwei Waggons standen noch auf den Schienen, drei waren in den Peenestrom gekippt. Die Lokomotive lag auf dem Rücken, die Räder in der Luft, der Kessel zischte im Wasser. Pöttke wagte nicht sich auszumalen, wie es hier ausgesehen hätte, wenn auch noch der Kessel explodiert wäre.
Menschen stolperten neben dem Gleis herum, blutüberströmt, verstört, nach Anverwandten, nach Kindern schreiend. Und mittendrin wie ein guter Geist Frau Fiedler, die junge Herrin von Gut Fehnhus. Sie hatte einen Fahrdienst mit Karren und Kutschen organisiert, um die Verletzten ins Fehnhus bringen und dort notdürftig verbinden zu lassen.
Weitere Hilfe kam mit dem Sanitätsdienst aus der Anklamer Garnison. Auch Ärzte aus Greifswald trafen nach und nach ein.
Die Toten wurden von einem Güterzug aus Ducherow nach Anklam gebracht und in der Stadtschule aufgebahrt Zweiundsiebzig Zugreisende aus Berlin, darunter Bankiers, Damen der Gesellschaft, Beamte und Industrielle sowie zwei Zugschaffner und ein Brückenbediensteter aus Mönchow waren an diesem Tag im August des Jahres 1882 ums Leben gekommen.
Thea schaute zu, wie Martin sich auf dem Küchentisch eine Scheibe Brot mit Salami und Käse belegte und großzügig Ketchup darüber verteilte. »Gab es da nicht eine Ingenieurin unter deinen Vorfahren«, sagte er, während er für seine von Computertastaturen verwöhnten Finger eine Griffstelle am Brotrand suchte, »die eine Eisenbahnbrücke gebaut hat, die dann irgendwie eingestürzt ist?« Er hob das Brot, biss hinein und konnte für länger nichts mehr sagen.
Thea wartete. Sie saßen in der Küche mit Einbauzeile, Geschirrspüler, Umluftherd und Cerankochfläche in der Wohnung, die Martins Eltern dem einzigen Sohn zum Diplom geschenkt hatten. Vier Zimmer, Küche, Bad und Balkon im fünften Stock eines angejahrten Hochhausgrüppchens am Stadtrand von Stuttgart, mit dem Auto keine zehn Minuten vom Campus entfernt. Martin war ausgehungert heimgekommen – mittags aß er in der Mensa oder ging mit den anderen Doktoranden aus dem Institut zum Italiener – und hatte nur das Jackett abgelegt. Thea beobachtete den Tropfen Ketchup, der ihm beim Abbeißen auf die Manschette entwischt war und schneckenlangsam auf den Knopf zukroch.
Seit sie im Institut an dutzenden Computern mit der Finite-Elemente-Methode die Kuppel der Frauenkirche in Dresden für den Wiederaufbau berechnet hatten, trug Martin graue Anzüge und weiße Hemden.
»Schreib doch über sie«, sagte er, nachdem er den Mund so weit freigekaut hatte, dass er wieder deutlich artikulieren konnte, »mit Blick auf berühmte Brückeneinstürze im 19. Jahrhundert.«
»Hm.«
»Sie war sicher«, argumentierte er, »die erste Frau überhaupt, die eine Brücke gebaut hat.«
»Die dann prompt eingestürzt ist. Tolles Thema!«
»Aber ehe du noch ein weiteres Jahr herumüberlegst, worüber du deine Diplomarbeit schreibst ...«
Thea wollte überhaupt nichts schreiben. Sie wollte bauen. Abrutschende Hänge, komplizierte statische Verhältnisse und kilometerlange Rechnungen schreckten sie nicht, aber schreiben, das war nicht ihr Ding.
»Außerdem bin ich gar nicht direkt mit ihr verwandt. Sie war eine Schwester meines Urururgroßvaters.«
»Da piel do keie Olle«, nuschelte Martin mit vollem Mund.
Natürlich spielte es keine Rolle, da hatte er Recht. Im Grunde war sein Vorschlag ausgezeichnet. Thea hatte es im letzten Jahr etwas schleifen lassen. Zu tun gab es immer – noch ein Seminar besuchen, mit Martin nach Dresden fahren, für ihn rechnen, zeichnen, die Grafiken erstellen, die Exceldateien und so weiter. Thea war in eine Krise geraten, ohne es zu merken, auf dem besten Weg, ihren Traum aus den Augen zu verlieren.
Martin hatte es da leichter gehabt mit seinem Selbstvertrauen. Sein Vater war Ingenieur. Thea dagegen kam von einem oberschwäbischen Bauernhof im Schatten des Klosters Weingarten bei Ravensburg, wo man auf Gott vertraute statt auf Blitzableiter. Denn alljährlich am Blutfreitag nach Christi Himmelfahrt führte ein Mönch zu Pferde mit der Blutreliquie in der Hand einen Zug von dreitausend Reitern um das Kloster herum, um Schutz vor Blitz und Hagel für Stadt und Landkreis zu erbitten. Auch Theas Vater war Blutritter und holte einmal im Jahr Zylinder, Frack und Pferd hervor, um sich in den Zug einzureihen. Ansonsten führte er eine Schlachterei, die zu übernehmen keiner seiner Söhne Neigung zeigte. Wolfgang lebte als Bankangestellter mit Frau und Töchtern in Villingen-Schwenningen, und Dieter war Finanzbeamter in Freiburg und menschenscheu. Allergien gegen Tierhaare hatten verhindert, dass Thea sich in eine Zukunft als Fleischereifachverkäuferin oder Bäuerin hineindachte. Man hatte sie Abitur machen lassen. Unauffällig war sie groß geworden, zufrieden damit, Wolfgangs kaputte Spielzeugeisenbahn wieder zum Laufen zu bringen oder sich Dieters Moped zu reparieren. Aber schon als Kind hatte sie davon geträumt, eines Tages die längste Brücke der Welt zu bauen. Das hatte vor allem Oma Therese erfreut. »Wirst halt Brückenbauerin wie Fedora Fiedler.«
Und nun erinnerte sich auf einmal auch Martin wieder an ihre Urururgroßtante. Thea spielte mit der Quaste ihres langen blonden Zopfs. »Aber Fedora Fiedler hatte ein Haus in Anklam oder so ähnlich. Das ist ja sonst wo!«
»In Meck-Pomm beispielsweise«, sagte Martin.
»Na ja, dann könnte ich mir in Stralsund vielleicht auch gleich noch die Schrägseilbrücke anschauen, die sie gerade nach Rügen bauen.« Der Gedanke an die Baustelle munterte Thea etwas auf.
»Aber du musst alleine fahren«, stellte Martin klar. »Ich muss endlich mit meiner Diss vorankommen, sonst wird Michael noch vor mir fertig. Weißt du, was der heute zu mir gesagt hat ...?« Martin biss erneut ab, um es spannender zu machen, allerdings mehr für ihn selbst als für Thea. Sie schaute zu, wie Käse und Salami von der durchweichten Brotscheibe purzelten.
In den folgenden Tagen besprach Thea das Projekt eingehend mit ihrer Freundin Herrad, einer Iranerin, die Maschinenbau studierte und in einer Altbauwohnung im Stuttgarter Westen wohnte.
»Gute Idee«, befand Herrad, »obgleich sie von Martin stammt. Aber du müsstest natürlich schon mit exakten Berechnungen nachweisen können, warum Fedoras Brücke eingestürzt ist. Wo war die überhaupt?«
Im Internet fand Thea heraus, dass es sich um die Brücke handeln musste, die einst bei Anklam den Ort Kamp mit Karnin auf Usedom verbunden hatte. Allerdings hatte es dort bis Kriegsende zwei Brücken gegeben, eine alte aus dem Jahr 1876 und eine zweite aus dem Jahr 1933. Ein Internetartikel wies für die erste Brücke den Ingenieur Max Fiedler (1846 bis 1906) als Konstrukteur aus. Das war dann wohl Fedoras Ehemann gewesen. Diese Brücke war 1882 unter einem Zug eingebrochen. Wer die zweite Brücke gebaut hatte, stand nicht in dem Artikel. Vielleicht Fedora Fiedler? Allerdings wäre es dann doch nicht ihre Brücke gewesen, die eingestürzt war. Das hatte man in Theas Familie also immer falsch überliefert. Aber man hatte ja auch seit dem Krieg keinen Kontakt mehr zu diesem Zweig der Familie Kübler gehabt. »Des send älle Kommunischte!«, hatte es immer geheißen.
Thea schrieb ans Archiv von Anklam, das im Internet seine Dienste anbot, und erhielt von einer hilfsbereiten Archivarin eine E-Mail mit der Mitteilung, dass sich möglicherweise vorhandene biografische Unterlagen über die Ingenieure Max und Fedora Fiedler in Familienbesitz befanden. Anbei die Adresse eines gewissen Janek Harff, der in einem gewissen Fehnhus mit der Postadresse »An der Rosenhäger Beck 1, Rosenhagen« wohnte.
»Sehr geehrter Herr Harff«, tippte Thea umgehend in ihren Computer und stockte. Wenn Janek Harff ein Nachkomme von Fedora Fiedler, geborene Kübler, war, dann war er doch wohl ein Cousin, wenn auch nahezu unendlichen Grades.
»Lieber Janek Harff«, korrigierte sie die Anrede, »womöglich sind wir miteinander verwandt. Die Familie meines Vaters stammt aus Bergzabern, und meine Großmutter, Therese Kübler, erzählt immer wieder von ihrer Ururgroßtante namens Fedora Fiedler, die Ingenieurin gewesen ist und die Karninbrücke gebaut haben soll. Ich selbst studiere Baustatik in Stuttgart und bin auf der Suche nach einem Thema für meine Diplomarbeit. Das Anklamer Archiv hat mich an Sie verwiesen. Und darum schreibe ich Ihnen, in der Hoffnung, dass Sie noch Material besitzen, das mir weiterhelfen könnte. Ich würde mich freuen, bald von Ihnen zu hören. Mit herzlichen Grüßen, Thea Kühler.«
Sie druckte den Brief aus, steckte ihn in einen Umschlag und versuchte sich zu erinnern, wann sie zuletzt einen Brief mit einer Marke versehen und in einen Briefkasten geworfen hatte. Wenn dieser pommersche Landbewohner noch nicht mit Computern umgehen konnte, dann würde sie einige Tage auf eine Antwort warten müssen, vorausgesetzt, er konnte überhaupt schreiben. Sie wartete zwei Wochen!
»Vielleicht«, mutmaßte Martin, »hat er Angst, dass du Ansprüche auf das Haus der Familie Fiedler geltend machst.«
»So ein Blödsinn!«
»Für dich vielleicht, für die Ossis aber eine ganz reale Gefahr. Am besten, du schreibst ihm noch mal und klärst das.«
»Das werde ich nicht tun«, sagte Thea. »Wenn er nicht antwortet, dann soll es eben nicht sein. Dann schreibe ich eben nicht über diese Brücke.«
»Du willst dich ja nur drücken«, stellte Herrad fest.
Theas stille Gebete wurden nicht erhört, denn nach vier Wochen materialisierte sich dann doch eine E-Mail von Janek Harff auf Theas Bildschirm.
Sie lautete: »Sehr geehrte Frau Kühler, ich bin in der Tat Fedora Fiedlers Urururenkel in direkter weiblicher Linie. Doch leider muss ich Sie enttäuschen, schriftliche Unterlagen von Fedora Fiedler sind nicht mehr vorhanden. Janek Harff.«
Ziemlich kühl bis eisig, fand Thea. Vielleicht hätte sie doch klarstellen sollen, dass sie keine Ansprüche auf Familienbesitz erhob. Sie dachte zwei Tage darüber nach, dann setzte sie sich wieder an den Computer, schlug ihrem Cousin das verwandtschaftliche Du vor und fragte, ob er wenigstens Fedoras Lebensdaten habe. Diesmal kam die Antwort schneller. »Fedora«, schrieb Janek Harff, »wurde am 2. April 1851 als älteste Tochter und zweites Kind von Pfarrer Wilhelm Kübler und Frau Anna in Bergzabern in der Rheinpfalz geboren, studierte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, heiratete dort den Ingenieur Max Fiedler aus Potsdam, bereiste mit ihm zwei Jahre lang Amerika und zog 1875 ins Fehnhus bei Anklam. Dort wurde sie dann am 2. Mai 1945 von einem Offizier der Roten Armee erschossen. Mehr kann ich dir nicht sagen. J.«
»Und welche der beiden Brücken hat sie nun gebaut?«, erkundigte sich Thea.
Darauf kam keine Antwort mehr. Sehr konsequent, nachdem Janek angekündigt hatte, dass er nicht mehr sagen könne. Thea war sich ziemlich sicher, dass sie diesen Cousin nicht mochte.
Beim Sommerfest erzählte sie Martins Doktorvater, Prof. Schrader, von der Idee, sich mit Eisenbahnbrückenunglücken des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen. Als sie den Namen Fiedler erwähnte, fiel Schrader ein, dass Max Fiedler nach dem Zugunglück im schweizerischen Münchenstein 1891 das Gutachten geschrieben hatte. »Materialermüdung durch unberechenbare Schwingungen und Pfusch beim Bau, soweit ich weiß.«
Thea nickte, obgleich sie keine Ahnung hatte.
»Doch, ja«, sagte Schrader, »die frühen Zugunglücke sind ein hochinteressantes Thema, Frau Kübler. Machen Sie das.«
Den Sommer verbrachte Thea jedoch mit Martin in Dresden, wo die Frauenkirche kurz davorstand, in alter barocker Pracht zu erstrahlen, dann war ein vierzehntägiger Urlaub auf Island angesagt. Erst im September kam Thea dazu, sich in Zugunglücke und Brückeneinstürze einzulesen und die wenigen Spuren zu verfolgen, die Fedora Fiedler beispielsweise im Archiv von Bad Bergzabern und im Matrikelverzeichnis der ETH hinterlassen hatte. Die Brückenpläne im Eisenbahnarchiv in Berlin waren jedoch alle eindeutig mit dem Namen Max Fiedler unterzeichnet.
Erneut schickte Thea eine E-Mail an die Ostseeküste.
»Lieber Janek, Anfang Oktober will ich für ein paar Tage nach Vorpommern fahren, um mir die Reste der Gleisanlagen der Karninbrücke und andere historische Brücken Vorpommerns anzuschauen. Dabei würde ich auch gern dem Haus, in dem Fedora gewohnt hat, einen kurzen Besuch abstatten. Es wäre schön, wenn das möglich wäre. Herzliche Grüße, Thea.«
Die Antwort des Küstenbewohners lautete: »Liebe Thea, leider geht es nicht. Ich bin beruflich unterwegs. J.«
Der Wind fegte aus den Alleebäumen gelbe Blätter und trieb sie über die Straße in die Böschungen. Die Allee war wie mit dem Lineal durch kahl geschorene Mais- und Leinfelder gezogen, die bis zum Horizont reichten. In den Stoppeln tummelten sich riesige graue Vögel mit schwarzen Schwänzen und Hälsen. Waren das wirklich Kraniche? Thea war sich nicht ganz sicher.
Die Autos hier hatten Nummernschilder mit OVP für Ostvorpommern. Offenbar war kaum ein Städtchen groß genug für ein eigenes Kennzeichen. Und überall Windkraftanlangen, die meisten allerdings aus dem Wind gedreht und erstarrt. Darum muss man sich mal kümmern, dachte Thea, dass diese Dinger ihren Betrieb nicht einstellen, wenn richtig Wind weht.
Sie hatte die Autobahn schon vor längerer Zeit verlassen. In den Rückspiegeln verabschiedete sich der lichte Westen, vorn ballten sich Sturmwolken über den trotzigen Türmen von Anklam. Das alte Hansestädtchen mit den sozialistischen Wohnblocks schien von Wind und Regen leer gefegt. Ein paar Autos verflüchtigten sich in Seitenstraßen. Der Marktplatz war von beklemmender Weite. Vor einer tropfnassen Einkaufsgalerie Lilienthal ragte ein phallisches weißes Monument empor. »Die Macht des Verstandes wird auch im Fluge dich tragen«, stand auf dem Sockel.
Richtig! Otto Lilienthal war in Anklam geboren, der Mann, der als Erster bewiesen hatte, dass der Mensch fliegen kann, wenn er die Gesetze der Aerodynamik beherrscht. Bis es ihn in einer Sonnenböe verzwirbelt hatte. Als Drachenfliegerin kannte Thea das – ein plötzlicher Aufwind. Schon zehn Jahre nach Lilienthals Tod – das 20. Jahrhundert hatte kaum begonnen – war das erste Flugzeug mit Benzinmotor losgeschnurpelt.
Wie viele Forscher hatten einst ihre Pionier taten mit dem Leben bezahlt?, fragte Thea sich wieder einmal. Damals, als Wissenschaft noch Bauen und Ausprobieren bedeutete. In diesen Zeiten hätte sie leben müssen.
Sie hielt ihren Polo Fox am Straßenrand an, um den Stadtplan zurate zu ziehen. Der gotische Stadtturm aus Ziegeln mit spitzbogiger Durchfahrt und treppenförmigen Blendgiebeln vor ihr hieß Steintor. Dort war auch das Stadtmuseum untergebracht, wo sie am Montag mit der Archivarin verabredet war. Das also wusste sie schon mal. Die Pension, die sie sich per Internet ausgesucht hatte, lag in der Friedländer Straße in der Südstadt. Das war komplizierter.
Theas Blick fiel auf die Uhr. Es war erst kurz vor vier nachmittags, auch wenn das Zwielicht den Verdacht aufkommen ließ, dass die Erde sich schneller in den Abend gedreht hatte als sonst. Thea versuchte abzuwägen. Wenn sie sich zuerst in die Pension begab, war es sicher zu dunkel oder garstig, um noch ans Meer zu fahren und wenigstens einen Blick auf den alten Bahndamm und die Brückenreste zu werfen. »Was du heute kasch b’sorge, des verschiebe itt uff morge!«, pflegte Oma zu sagen. Obgleich es wirklich keinen vernünftigen Grund gab, das alles nicht auch am nächsten Tag ausgeruht und mit mehr Plan zu tun. Hätte Thea geahnt, was sie erwartete, sie wäre wohl nicht gefahren.
Sie prägte sich die Linien auf der Karte ein. Zwölf Kilometer über Land an der Peene entlang nach Kamp, das war nicht weit. Allerdings half die Beschilderung wenig. Zum Lilienthal-Museum führten alle Wege. Und zweimal kam sie an einer riesigen Zuckerfabrik vorbei, ehe sie auf der Bluthslusterstraße den Ausweg in die Marsch fand.
Doch unversehens hoppelte sie über eine surrealistisch verworfene Kopfsteinpflasterallee, kaum breiter als ein Auto. Die Achsen des Fox krachten, das Bodenblech schrammte, Thea bremste und schaltete auch innerlich zwei Gänge runter. Hinter dem Spalier der Alleebäume breitete sich im Regen plattes, zerzaustes Land aus, vor Jahrhunderten dem Meer abgerungen, von Entwässerungsgräben durchzogen.
Der Albtraum aller Ölwannen endete in einem grauen Ort namens Gnevezin. Ein Schild wies zur Anklamer Fähre. Thea zauderte. Zur Fähre wollte sie eigentlich nicht. Aber weiter vorn ging jemand. Den konnte man fragen. Sie rollte vor und kurbelte das Fenster runter. »Nach Kamp?«
Unter der Kapuze einer Regenjacke hervor blickte sie eine ältere Frau an. »Dor«, antwortete sie und deutete geradeaus. »Achtern Bargischow.«
»Und das Fehnhus? Ist das hier?«
»Dat Fehnhus? Dor spukt de Janek sin Vadder herum, und et kommt nie nich wieder, wokeen bei Lüchten un Dunner ins Fehn fahrt.«
Der Regen sprühte zum Fenster herein. »Ah!«, sagte Thea. »Danke.« Sie kurbelte das Fenster hoch und gab Gas. Was hatte die Einheimische erzählt? Dass es im Moor spuke? Dass niemand wiederkomme? Das musste sie falsch verstanden haben.
Doch was nun folgte, erschütterte endgültig Theas Vertrauen in die bekannte Welt und die gelben Linien auf Landkarten. Zwei Spuren aus Betonplatten, das war die Straße – konische gegeneinander verlegte Platten, von der Zeit zerbröselt und auseinander getrieben. Jeder Meter ein Schlag in die Achsen. Die Grasnarbe zwischen den Fahrspuren bestand aus Kratern, in denen sich Pfützen gebildet hatten, aufgewühlt von Regen und Wind. Auch sahen die Kanäle zuseiten des Fahrdamms aus, als würden sie demnächst überlaufen. Thea wurde es mulmig. Die letzten Häuser waren längst verschwunden. Nur ein alter Wachturm stand inmitten der Einöde. Wer hatte da gesessen? Die Nationale Volksarmee oder Wehrmachtssoldaten? Die Grenze zu Polen war ja nicht weit.
Noch nie hatte es Thea so sehr an den Rand der bekannten Welt verschlagen. Hier hörte alles auf, auch die Fahrspuren begannen in sich vereinigenden Pfützen zu versickern. Einen Rückweg gab es nicht, Wenden war unmöglich. Thea schaute sich nach dem Wachturm um, aber auch den hatten Zwielicht und Regen verschluckt. Das Scheinwerferlicht verfing sich in einem Schleier von Regentropfen.
Einmal sah Thea in der Ferne Bäume, aber der Weg lenkte sie woandershin. Dann war ihr, als würde irgendwo ein Licht funkeln. Auch die Zeit machte Sprünge. Eben noch war es kurz vor vier gewesen, jetzt zeigte die Uhr am Armaturenbrett Viertel nach fünf. Dabei waren es doch eigentlich nur zwölf Kilometer gewesen.
Thea fasste den Lenker fester. Nicht einschüchtern lassen! Das Licht da vorn war Zivilisation, ein Haus. Unbewusst musste sie beschleunigt haben, und instinktiv trat sie auf die Bremse. Ihr Fox schlitterte von den Betonplatten. Die blockierten Vorderreifen gruben sich in die Böschung. Die war so aufgeweicht, dass sie nicht hielt. Der vom Regen aufgeraute Wasserspiegel des Kanals sprang auf den Kühler zu. Der Motor erstarb zischend, die Lichter gingen aus.
Stille, wenn man vom Geprassel des Regens absah. Weißer Dampf wölkte aus dem Kühler. Gott sei Dank saß der Fox mit dem Bodenblech noch fest auf der Böschung.
Thea atmete aus und griff nach dem Handy. Aber wen um Himmels willen sollte sie anrufen? Welcher Pannendienst würde sie hier herausziehen? Zumal sie kaum sagen konnte, wo sie war. Vorsichtig öffnete sie die Autotür. Immerhin war fester Boden in Fußreichweite. Aber der Regen stürzte sich kalt und biestig auf sie. Thea hastete zum Kofferraum und zog ihre Regenjacke an. Für den Fall, dass die Zivilisation den Weltuntergang irgendwann wieder besiegen würde, zog Thea das Warndreieck aus dem Kofferraum und stellte es fünfzig Meter rückwärts auf die Böschung. Dann legte sie einen Zettel mit ihrer Handynummer ins Rückfenster des Autos und hängte sich die Reisetasche über die Schulter.
Wind und Regen trieben sie vor sich her. Wasser rann ihr in den Kragen und quakte in ihren Sportschuhen. Zu blöd, im Auto hätte sie Gummistiefel gehabt, die Ausrüstung für ungeplante Baustellenbesichtigungen. Aber umkehren? Nee!
Nach einem oder zwei Kilometern zweigte ein Weg ab, nur kenntlich an der besonderen Anordnung der ineinander übergehenden Pfützen, die auf eine Brücke zielten, die mit Mauern links und rechts und spiegelndem schwarzrotem Kopfsteinpflaster steil über einen prall gefüllten Kanal buckelte. Dahinter rückte Gehölz an den Weg heran, und unvermittelt wuchsen backsteinerne Pfosten aus dem Boden. Ein schmiedeeisernes Tor hing offen in rostigen Angeln. Halb kahle Birken klapperten im Wind.
Und dann sah Thea erneut das Licht – ein erleuchtetes Fenster, ein Haus, mächtig und still unter schweren Wolken. Nur ein einziges Fenster war erleuchtet, rechts unten in der Ecke. Das von Vorhängen gefilterte Licht spiegelte sich in den Pfützen eines Vorplatzes aus Kopfsteinpflaster wider.
Thea patschte auf den Eingang zu. Unter dem Vordach hörten Wind und Regen endlich auf an ihr zu zerren. Sie schob den Gurt der Reisetasche von der schmerzenden Schulter, ließ sie auf den Boden fallen und drückte das Wasser aus ihrem Zopf. Und nun klingeln. Aber eine Klingel gab es nicht. Beim Suchen kam Thea mit den Fingerknöcheln an eine Schnur. Sie zog daran. Im Haus rasselte ein Glöckchen.
Gleich darauf schlug ein Hund an, ein großer Hund. Thea zupfte die Jeans zurecht, die an den Schenkeln klebten, und strich sich übers triefende Gesicht. Die Nacht im Auto auf der Kippe in den Kanal zu verbringen wäre lebensmüde gewesen. Und zu Fuß zwischen Gräben nach Anklam zu irren auch, zumal die Frau in Gnevezin Gewitter vorhergesagt hatte. Dunner, Donner, Gewitter.
Immer noch bellte der Hund, sonst tat sich nichts.
Thea zog nochmals an der Glocke. Vielleicht waren Licht und Hund nur Teil des Spuks, von dem die Frau in Gnevezin außerdem gesprochen hatte. Schon sah Thea sich bibbernd auf der Türschwelle nächtigen. Und morgen früh gab es das Haus nicht mehr, und sie irrte für immer in ausweglosen Birken- und Schwarzerlenwäldchen zwischen Kanälen umher.
Ziemlich uncool riss sie zum dritten Mal am Glockenseil.
Diesmal wurde das Hundegebell lauter. Das Tier war jetzt unmittelbar hinter der Tür. Auch blitzte auf einmal Licht unter der Türritze hervor.
Thea schluckte trocken.
Das Erste, was sie sah, als sich die Tür öffnete, war der aufgerissene Rachen und die Reißer eines nachtschwarzen Neufundländers. Thea wich zurück, aber eine kräftige Hand hielt die Bestie am Halsband fest. Den Mann erkannte sie nur schemenhaft. Sein erdfarbener Pullover war an den Ärmelbündchen ausgefranst.
»Grüß Gott«, sagte Thea. »Äh ... guten Abend.«
»Moin«, antwortete der Mann im Gegenlicht.
Womöglich verstand, wer so einsam wohnte, nur Platt. »Tut mir Leid, wenn ich störe«, haspelte sie, »aber ich hatte einen Unfall mit meinem Auto. Ich bin in einen Kanal gerutscht.«
Der Hund senkte die Stimme zu einem leidenschaftlichen Knurren.
»Und da habe ich Licht gesehen und ... und gedacht, vielleicht könnte ich hier Hilfe finden.«
»Hilfe wobei?« Die Augen des Mannes blitzten farblos wie Pfützen.
»Vielleicht könnte mich jemand nach Anklam bringen.«
»Wer?« Das Licht der Flurlampe streifte ein unrasiertes Gesicht, und der Hund knurrte mit neuer Inbrunst.
»Na dann«, sagte Thea, »vielen Dank auch. Ich denke, bis Kamp finde ich den Weg.«
»Nei, achtern Diek is Land unter.«
»Und was mache ich jetzt?« Thea kam sich vor wie eine Halbschuhtouristin im Hochgebirge.
»Na, Sie haben Ihre Reisetasche ja schon dabei.« Der Mann ließ den Hund los und öffnete die Tür. Thea zuckte zurück. Doch der Hund war schlagartig still geworden und blickte auf einmal bärgemütlich drein. »Kommen Sie rein«, sagte sein Herr. »Ich fresse Sie nicht. Zumindest nicht gleich.«
Hatte Thea eine Wahl?
Der Mensch sah bei Licht jünger aus, als Thea vermutet hatte. Er mochte Anfang dreißig sein. Aber mit seinem Dreitagebart und ohne erkennbaren Haarschnitt wirkte er nicht gerade zivil. Vielleicht hatte sie in diesem abgelegenen Haus hinter der Brücke einen Einbrecher aufgestöbert, der ebenso wie sie auf eine trockene Nacht aus war.
Thea zögerte. Doch in diesem Augenblick nagelte sich ein Blitz ins Moor, und der Mann zog sie ins Haus und schloss die Tür. Dass er auf Anhieb den Lichtschalter in der Küche fand, beruhigte Thea etwas. Auch der Hund schien sich heimisch zu fühlen und sah im Gegensatz zu seinem Herrn prächtig und gepflegt aus. Die Küche empfing Thea mit den vertrauten Annehmlichkeiten der Zivilisation – fließendes Wasser, ein Elektroboiler, Tisch und Eckbank am Fenster, ein emaillierter Spülstein, ein Gasherd. Daneben stand ein eiserner Herd aus Großmutters Zeiten, den man mit Holz befeuern musste. Auch die Geschirr- und Küchenschränke hatten sich aus vorigen Jahrhunderten herübergerettet, waren aber abgeschliffen und neu gebeizt.
Auf der spiegelblanken Sitzbank in der Fensterecke markierte ein einziges Sitzkissen den Stammplatz des Besitzers, der sie von oben bis unten musterte. Thea zog unwillkürlich die nasse Wetterjacke fester um ihre kalten Knochen.
»Sie möchten vermutlich ein heißes Bad nehmen«, sagte der Mann unverhofft verständnisvoll.
»Übrigens, ich heiße Thea Kübler ...« Sie blickte ihn erwartungsvoll an, aber er reagierte mit keiner Miene. »Ich komme aus Stuttgart.«
Er schob die Fäuste in die Taschen seiner verschlissenen Jeans – ein ziemlich großer Mann mit farblos grauen Augen, einem ironischen Zucken auf den Lippen und ungeahnten Kräften unter einem viel zu weiten, ausgefransten Pullover.
»Und Sie?«, erkundigte sich Thea unverdrossen.
»Oh, ich. Ich bin hier geboren.«
Thea lachte nachsichtig. »Und getauft auf den Namen ...?«
»Bei uns hieß das Namensweihe. Und später kam die Jugendweihe.«
Damit hatte die Tochter des Blutritters nicht gerechnet. »Entschuldigen Sie mein ... mein Ungeschick. Darf man dennoch Ihren Namen erfahren?«
Er deutete ein Lächeln an. »Ich bin ... nun, ich bin Janek Harff.«
»Ah! Sie sind ... du bist ...«
»Das überrascht dich doch nicht wirklich«, sagte er. »Gut eingefädelt. Aber um Einlass in mein Haus zu bekommen, wäre es nicht nötig gewesen, das Auto in den Graben zu fahren.«
»Das hatte ich auch gar nicht vor. Außerdem hattest du geschrieben, du seist auf Reisen.«
»Das war gelogen.«
»Oh!«, machte Thea. »Und wieso?«
»Ich habe nichts für Familiengeschichten übrig, und deshalb will ich auch mit dir nichts zu tun haben.«
Thea lachte verblüfft auf.
»Aber nun ist’s nicht mehr zu ändern«, fuhr er fort. »Komm, ich zeige dir, wo du übernachten kannst.«
»Aber nur, wenn es keine Umstände macht.«
Janek lachte. »Natürlich macht es Umstände! Aber wer würd een seute Deern, äh ... ein süßes Mädchen aus der Stadt bei diesem Wetter vor die Tür setzen?«
Hinter seinem breiten Rücken her stolperte Thea eine Holztreppe hinauf. Janek führte sie einen Gang entlang und öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer mit Schrank, Tisch, Bett und knarrenden Dielen. »Und hier ist das Bad«, erklärte er und stieß die Tür gegenüber auf. Es war ein geräumiges Badezimmer mit Schrank, Wäschekorb, Waschmaschine, moderner Wanne und Dusche. »Duschen geht allerdings momentan nicht. Es sei denn eiskalt oder brühheiß. Der Durchlauferhitzer geht aus, sobald man zusätzlich kaltes Wasser aufdreht.«
Damit überließ er Thea sich selbst.
Auf der Ablage unterm Spiegel lagen Zahnpastatube, Zahnbürste, Rasierapparat und Kamm. Keine Spuren einer Frau, nicht der Schatten eines Lippenstifts.
Thea drehte den Heißwasserhahn der Wanne auf. Sie musste ihn ganz aufdrehen, damit die Gasflammen im Durchlauferhitzer ansprangen. Während das Wasser dampfend in die Wanne rumpelte, legte sie in ihrem Zimmer die durchfeuchteten Kleider aus ihrer Reisetasche über Schranktüren, Stuhl und kalter Heizung zum Trocknen aus. Nachdem sie sich in der Badewanne aufgetaut hatte, zog sie sich die Jeans und das braune Twinset an, die am wenigsten Nässe abgekriegt hatten. Mit Schraubenzieher und Zange huschte sie über den Gang ins Badezimmer zurück und bastelte und putzte so lange am Durchlauferhitzer, bis der Sensor eine Wassertemperatur von dreißig Grad tolerierte, ohne eine Sicherheitsabschaltung vorzunehmen.
Mittlerweile war es stockfinstere Nacht geworden. Was auch immer Janek trieb, er tat es lautlos. Thea hörte nur ihren Magen knurren. Sie streckte sich auf dem Bett aus und griff nach dem Handy, um Martin und ihre Freundin Herrad anzurufen. Aber der Akku war leer. Sie suchte die nächste Steckdose und beschloss dann, auf ihren Magen zu hören und in die Küche hinunterzugehen.
Auf dem Weg machte sie eine Tür auf – Bett, Schrank, Nachttischchen und Tisch aus Kiefernholz. Hinter der nächsten Tür erneut ein nicht bezogenes Bett, Tisch und Schrank wie in einem Hotel. Hinter der dritten Tür aber tat sich eine geräumige Stube auf, in der ein alter Sekretär, ein grünes Kanapee und ein biedermeierlich runder Tisch auf drei dünnen Beinen standen, dabei verschnörkelte Sesselchen, eine geschwungene Kommode, verglaste Bücherschränke, in denen Gesamtausgaben mit Goldprägung und Folianten mit ledernen Einbänden schimmerten. An den Fenstern waren geraffte gelb-grün-violette Vorhänge mit Quasten.
Thea zog die Tür leise wieder zu. Ein Gang mit knarrendem Schmuckparkett führte längs durchs ganze Gebäude. Er endete an einer Tür mit Buntglas im oberen Feld, hinter der sich ein enges Dienstbotentreppenhaus befand. Knarzende Holzstufen, bräunlichgrün gestrichene Wände. Die Treppe führte noch weiter nach oben. Thea konnte nicht widerstehen. Die Stufen passierten einen dritten Stock, der niedriger war als die beiden unteren – auch hier ein Gang, aber düsterer, vermutlich der Gesindestock –, und endete an einem Absatz vor einer Tür zum Dachstuhl, die zwar wackelte, aber nicht zu öffnen war. Im Dach seufzte der Wind. Ehe Thea noch etwas anderes seufzen hörte, kehrte sie lieber um. Sie folgte der Gesindetreppe bis nach unten und kam an einem Seitenhauseingang heraus, von dem zwei Türen abgingen, die sie nicht probierte. Eine hölzerne Zwischenwand trennte auch hier den Dienstbotenbereich vom Haus. Der untere Gang war statt mit Dielen mit roten Klinkern ausgelegt. Darauf lag ein ausgetretener brauner Läufer. Über der Eingangstür hing die Messingglocke, die Thea vorhin betätigt hatte. Ihr Seil lief durch ein Löchlein im Holzrahmen nach draußen. Einfachste Hebelgesetze ohne elektrische Vermittlung.
Gegenüber der Haustür ging die Haupttreppe nach oben, und am anderen Ende des Gangs lag der schwarze Hund vor einer Tür und blickte Thea mit trichterförmig geweiteten Nüstern an. Seine Schlappohren verschwanden im Fell, die Deckenleuchte spiegelte sich in seinen haselnussbraunen Augen. An dem kam keiner vorbei. Glücklicherweise lag er nicht vor der Küchentür. Die Küche befand sich auf der Gesindeseite des Hauses. Thea trat ein, knipste das Licht an und wollte die Tür gerade wieder schließen, als der Hund seinen Kopf durch den Spalt schob und ebenfalls hereinkam.
»Na? Auch Hunger?«
Der Hund wedelte leicht mit dem Schwanz.
»Ich jedenfalls habe tierisch Hunger.« Thea schloss die Tür und blickte sich um. Gleich rechts führte eine Tür ins Dienstbotentreppenhaus. Daneben stand ein Geschirrschrank mit Glastüren, der eher in ein prachtvolles Esszimmer gepasst hätte als in eine Küche. In den Schliffkanten des Glases brachen sich die dahinter stehenden Kristallgläser und das gestapelte Porzellan aus früheren Tagen. Thea machte aber auch küchenfremden Krempel aus wie Taschenlampe, Fahrradschlauch, Telefonbücher, Prospekte, aufgeschlitzte Briefe, Bonuspunktkärtchen, einen Gummiball, Handschuhe. Wieder fehlte jegliches weibliche Beiwerk wie Vasen mit Trockenblumen oder Platzdeckchen auf dem Tisch. Auf dem Fensterbrett stand lediglich eine Petroleumlampe aus Messing mit ziemlich verrußtem Glaszylinder.
Im Kühlschrank fand Thea drei Flaschen Wernesgrüner Bier, Käse und Hartwürste, ein Glas Senf, sehr viele ziemlich kleine Eier in Eierkartons, mehrere angebrochene Tuben Tomatenmark, ein Glas Sardellen und ein halb volles Glas Peperoni. Das Gemüsefach war voll gestopft mit Kohlrabi, Pastinaken, Lauch, Roter Bete und Fenchelknollen. Ungewöhnlich für einen Mann. In den Schränken lagerten Spaghettipakete, Reis und Gläser mit Grieß, Haferflocken, Müsli, Nüssen und Hirse. Zur Abwehr der bei solchen Produkten fälligen Mehlmotten waren Schachteln mit Klebestreifen ausgelegt, die mithilfe von Sexualduftstoffen die männlichen Motten anlockten.
»Was meinst du«, wandte Thea sich wieder an den Hund, »ob dein Gebieter etwas dagegen hat, wenn ich mir ein Omelett mache?«
Der schwarze Hund schüttelte den Kopf.
Thea hatte eben die Packung Eier und eine Stange Lauch aus dem Kühlschrank geholt, als mit lautem Krachen in unmittelbarer Nähe ein Blitz einschlug und das Licht ausging. Auf einmal war es stockfinster. Aber so etwas von finster!
Im Moment des Blitzschlags hatte Thea sich instinktiv in Richtung des Geschirrschranks gedreht und sah nun im Nachbild ihres Auges die Taschenlampe vor sich, die dort hinter der Scheibe stand. Ehe dieses Nachbild verging und völlige Desorientierung sich ihrer bemächtigte, setzte sie sich in Marsch, die Eier und den Lauch in der Hand. Mit dem Fuß stieß sie alsbald gegen Holz, und mit der freien Hand tastete sie die verglasten Schranktüren ab. Irgendwo musste es da einen Eingang geben. Sie hörte ihren Atem und den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln, den Wind, der ums Haus pfiff und an den Fensterläden zerrte, und das leise Klacken der Hundekrallen auf dem Kachelboden. Sehen konnte sie nichts außer flüchtigen farbigen Kreisen, die ihre genarrten Augen fabrizierten. Auf dem Land war die Dunkelheit wahrhaft biblisch.
Das Klacken der Hundekrallen auf dem Kachelboden wurde plötzlich hektisch. Auch Thea hörte Schritte. Die Küchentür ging auf, und ein wahres Feuerwerk von Licht sprühte herein, so jedenfalls kam es Thea vor. Aber es rührte nur von einer flackernden Kerze in Janeks Hand her, die aus seinem Gesicht die Maske eines unrasierten Untoten und aus dem Neufundländer den Hund von Baskerville machte.
Janek steuerte direkt auf die Petroleumlampe zu, die auf dem Fensterbrett stand, stellte sie auf den Tisch, nahm den Zylinder ab und bestrich den Docht mit der Kerzenflamme. Nach einigen Versuchen flackerte auch die Lampe auf. Janek stülpte den Glaszylinder über den Ölbrenner, blies die Kerze aus, nahm die Petroleumlampe und wandte sich der Küchentür zu. Erst jetzt bemerkte er Thea. »Ah, hier bist du«, sagte er und stellte die Öllampe wieder auf den Tisch. »Ich wollte gerade oben nach dir sehen.«
»Kommt das öfter vor? Stromausfall, meine ich.«
»Gelegentlich.« Janek musterte die Schachtel Eier und den Lauch in Theas Hand.
»Ich wollte uns etwas zu essen machen«, erklärte sie.
»Uns? Kaum eine Frau im Haus, und schon herrscht Verköstigungsterror.«
»Bei uns im Allgäu bietet man Gästen was zu essen an. Auch wenn’s schmerzt.«
Janek schmunzelte, nahm ihr die Eier und den Lauch aus der Hand und legte alles auf den Tisch. »Wieso Allgäu? Ich denke, du kommst aus Stuttgart?«
»Meine Eltern haben einen Hof bei Ravensburg. Mein Vater ist Metzger.«
Janek lachte. »Ich habe Hühner draußen. Wenn du eines schlachten möchtest ...« Er blickte sie prüfend an. »Doch nicht? Vegetarierin?«
Thea schwieg. In ihrem Kopf ging gerade gar nichts mehr. Was hatte sie diesem Stoffel eigentlich getan?
Janek stellte die Eier zurück in den dunklen Kühlschrank und holte Pfanne und Topf aus dem Küchenschrank neben dem Herd. Die Pfanne stellte er auf den Herd, den Topf füllte er unterm Hahn mit Wasser. Dann entzündete er eine Gaskochfläche und schob den Wassertopf darüber. Mit vier Tomaten, die auf der Arbeitsfläche neben dem Herd lagen, einem Messer und einem Brettchen kam er an den Tisch zurück, setzte sich und begann die Tomaten zu vierteln. »Was wolltest du denn machen?«
»Ein Omelett.«
»Kochen ist wohl nicht dein Ding.«
Was sollte sie darauf sagen? Wortlos rutschte Thea auf die Eckbank am Fenster. Glücklicherweise, dachte sie, haben wir einen Gasherd. Unbewusst griff sie nach der Lauchstange, die vor ihr lag, und drehte sie in den Händen. »Warum magst du eigentlich Familiengeschichten nicht?«
Das Petroleumlicht flackerte in Janeks grauen Augen, die zu ihr hinüberzuckten.
»Meine Oma«, sagte Thea, »war immer mächtig stolz auf Fedora Fiedler, die erste Brückenbauerin der Welt, wie sie behauptete. Und immer wenn ich bei uns daheim etwas repariert habe, dann hat sie gemeint: Das ist der Geist von Fedora Fiedler. Obgleich wir nicht direkt von ihr abstammen, sondern von einem Bruder von ihr.«
Janek nahm ihr die Lauchstange weg, schlitzte sie beherzt der Länge nach auf und erhob sich, um sie unter dem Wasserhahn zu waschen.
»Meine’ Oma hat wohl auch mal versucht mit euch Kontakt aufzunehmen«, plauderte Thea weiter. »Aber sie hat auf ihren Brief nie eine Antwort bekommen. Eigentlich schade, nicht? Übrigens, mein Freund Martin meint, ich hätte unbedingt klarstellen müssen, dass ich keinerlei Ansprüche auf dieses Haus erheben will.«
Janek lachte nur und schüttelte das Wasser aus dem Lauch.
»Und was machen deine Eltern so?«, fragte Thea.
Janek kam zurück zum Tisch, nahm wieder Platz und griff nach dem Messer, um den Lauch zu schneiden. »Thea, das ist genau das, worüber ich mich nicht mit dir unterhalten werde.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
Janek ließ das Messer fallen und stand erneut auf. Dabei nahm er die Petroleumlampe und stellte sie neben den Herd. Mit routiniertem Schwung goss er kaltgepresstes Olivenöl in die Pfanne. Dann entzündete er die Gasflamme darunter. Im Topf nebenan hatte das Wasser zu summen begonnen.
Thea griff nach dem Messer und dem Lauch und begann ihn klein zu schneiden. Mit diesem Kerl war eben nichts anzufangen. Doch als hätte er sie denken hören, begann Janek plötzlich zu reden.
»Meine Mutter«, sagte er, »ist gestorben, als ich neun Jahre alt war. 1980 war das. Sie war Physikerin. Erst neun Jahre nach ihrem Tod erfuhr ich, dass es kein Autounfall in Moskau gewesen war, sondern dass auf der Weltraumbasis Plesetsk eine Wostok-Rakete explodiert war und meine Mutter und fünfzig Soldaten in den Tod gerissen hatte.«
»Oh, das tut mir Leid.«
Janek holte den Lauch und die Tomaten vom Tisch und fegte sie vom Brett ins heiße Öl. Dann fächerte er Spaghetti ins kochende Wasser und ließ Salz dazu rieseln. »Der Fortschritt fordert eben Opfer. Aber im Arbeiter- und Bauernstaat durfte niemand wissen, dass eine Wostok-Rakete explodieren konnte. Wostok heißt Osten. Mit der Wostok 1 hat 1961 unser Kosmonaut als erster Mensch die Erde umkreist«
»Das Wostok-Programm«, konnte Thea sich nicht verkneifen zu sagen, »war doch sehr erfolgreich.«
»Aber es gab auch Pannen. Die gibt es immer. Meine Mutter war an einem geheimen sowjetischen Weltraumprogramm beteiligt.«
»Was für ein Programm?«
»Das weiß ich nicht. Mein Vater konnte oder wollte mir nichts sagen. Ich habe erst mit sechzehn verstanden, warum immer so viel Besuch aus Berlin kam und immer ein Herr Nadler aus Stralsund. Der hatte eine Tasche mit doppeltem Boden, in der eine Pistole versteckt war. Und mein Vater und ich durften niemals ins Ausland reisen, auch nicht ins befreundete sozialistische Ausland. Ein Briefwechsel mit euch aus dem Westen wäre undenkbar gewesen. Dafür wurden wir bei der Zuteilung von Sommerquartieren auf Rügen bevorzugt behandelt, und mein Vater – ein einfacher Russischlehrer – fuhr einen Wartburg, auf den andere fünfzehn Jahre warten mussten.«
»Ah so!«, sagte Thea, ohne recht zu begreifen.
»Meine Mutter war Geheimnisträgerin«, erklärte Janek. »Jeder Westkontakt barg die Gefahr der Spionage. Und mein Vater und ich wurden gleich mit in Sippenhaft genommen. Erst ein paar Jahre vor dem Zusammenbruch der DDR fand mein Vater auf einem Spaziergang auf dem alten Bahndamm nach Kamp den Mut, mir das zu erklären.«
Thea zog die Brauen hoch.
»Solche Spaziergänge machte man, wenn man etwas zu besprechen hatte, was niemand sonst hören sollte. Als mein Vater nach der Wende den Elektriker kommen ließ, damit er die historischen Leitungen erneuerte, stellte sich heraus, dass das ganze Haus verwanzt war, elektronisch, nicht biologisch.«
»Oje!«
»Dabei war meine Urgroßmutter über jeden Zweifel erhaben. Sie war Trägerin des Vaterländischen Ordens für besondere Verdienste im Kampf der internationalen Arbeiterbewegung gegen den Faschismus und für den Aufbau und die Festigung der Deutschen Demokratischen Republik.«
Thea musste lachen.
Janek deutete ein Lächeln an, während er nach einer Flasche Rotwein langte und einen Schwapp in das sich weich köchelnde Gemüse in der Pfanne goss. »Auf unserem Spaziergang nach Kamp«, fuhr er fort, »wurde mir klar, dass ein Schatten auf uns liegt. Mein Vater hatte Angst.«
»Wovor?«
Janek zuckte mit den Schultern. »Ich, weiß es nicht.«
»Hast du ihn nie gefragt, auch nach dem Mauerfall nicht?«
»Da haben wir uns nur noch gestritten. Er hat auch bald wieder geheiratet, eine Frau, die er auf Mallorca kennen gelernt hatte, und ist nach Spanien übergesiedelt. Er besaß ein schönes Haus in Dénia, direkt am Berg. Dieser Berg war eine ökologische Kostbarkeit, solange die Jäger das Unterholz pflegten. Steineichen, Kiefern, Orchideen, Steinadler. Dann kamen die Naturschützer und verboten Jagd und Pflege. Vor vier Jahren brach ein Feuer aus, das reichlich trockenes Gezweig zur Nahrung fand, und vernichtete alles, auch einen Teil der Feriensiedlung, in der mein Vater und meine Stiefmutter ihr Haus hatten.« Janek drehte sich zu Thea um. Sein Gesicht lag im Schatten. »Beide kamen um.«
»O Gott!«
Plötzlich verstand Thea, was die Frau von Gnevezin ihr mitgeteilt hatte. »Das Fehnhus? Dor spukt de Janek sin Vadder herum, und et kommt nie nich wieder, wokeen bei Lüchten un Dunner ins Fehn fahrt«, klang es in ihrem Kopf wider.
»Bitte?«, fragte Janek.
Thea schrak zusammen. »Was?«
»Hattest du was gesagt?«
»Nein.«
Janek angelte mit dem Kochlöffel eine Nudel aus dem kochenden Wasser und probierte ihre Härte. »Ich studierte damals in Hamburg. Das Fehnhus stand leer. Als ich kam, um die Papiere für die spanischen Behörden zu holen, musste ich feststellen, dass bis auf Geburts- und Heiratsurkunden aus den Regalen im Arbeitszimmer meines Vaters alle Belege und Unterlagen über meine Mutter und ihre Vorfahren bis hin zu Fedora Fiedler verschwunden waren. Deshalb kann ich dir auch nichts mehr geben.«
»Und wer ... wieso?«
»Entweder hat mein Vater alles vernichtet, bevor er nach Spanien ging, oder jemand hat es sich danach geholt«
Thea fröstelte. »Und wer?«
»Ich bin nach Stralsund gefahren und habe Herrn Nadler, unsern ehemaligen Stasimann, zur Rede gestellt. Doch der bestritt alles, und es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sogar abgestritten, dass er Gunter Nadler heißt. Und Stasi, was war das?«
Janek stellte das Gas unter der Gemüsepfanne aus und holte Teller aus dem Hängeschrank über dem Herd, die er auf dem Tisch verteilte.
»Aber was könnte die Stasi interessiert haben?«, erkundigte sich Thea.
»Ich weiß es nicht. Meine Mutter arbeitete in Peenemünde. Aber mir wurde erst nach der Wende klar, wofür Peenemünde steht. Bis dahin hatte ich es für ein kleines Dorf im Norden von Usedom gehalten, wo ein paar Schiffe lagen, die auf Republikflüchtlinge Jagd machten.«
»Die Heeresversuchsanstalt der Nazis!«, entfuhr es Thea. »Dort startete 1942 die erste Rakete des Wernher von Braun. Sie wurde erstmals mit Flüssigsauerstoff betrieben.«
»Siehst du, das ist der große Unterschied zwischen uns«, bemerkte Janek. »Ihr Westler seht in Peenemünde die Wiege der Raumfahrt, uns verschreckt die Verstrickung von Wissenschaft in den Krieg.«
Thea schluckte ihren Protest hinunter.
»Verstehst du jetzt, Thea, warum es mir keinen Spaß macht, über Familienangelegenheiten zu plaudern?«
»Hm.«
Janek goss die Nudeln ab, warf einen Untersetzer auf den Tisch und stellte den Topf darauf. »Nein, das verstehst du nicht, Thea. Seit ich sechzehn bin, stelle ich mir die Frage, ob sich meine Mutter schuldig gemacht hat. Nicht nur, weil mit ihr fünfzig Soldaten starben, sondern weil sie augenscheinlich ihr wissenschaftliches Genie in den Dienst sowjetischer Kriegstechnik gestellt hat.«
Er legte eine Hand voll Besteck auf den Tisch. Thea nahm es und verteilte es neben den Tellern, während er an den Herd zurückkehrte.
»Das ist Fedoras Fluch«, sagte Janek wie nebenbei. »Er hat alle Töchter von Fedora und die Töchter der Töchter getroffen. Alle haben sie Schuld auf sich geladen. Meine Großmutter Meta zum Beispiel baute das Postwesen der Deutschen Demokratischen Republik mit auf. In ihrem Amtsbezirk Magdeburg gab es bei Langenwedding einen beschrankten Bahnübergang, über den quer ein Telefonkabel hing. An einem heißen Sommertag im Juli 1967 hing es dermaßen durch, dass es unter die Schranke geriet, als der Wärter sie schließen wollte. Das Kabel durchreißen wollte er nicht, also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Schranke wieder hochzukurbeln, in der Hoffnung, er könne das Kabel beiseite schieben. Das missverstand leider der Fahrer eines Minol-Tanklastzugs. Er fuhr los. In den Tanklaster hinein raste ein Zug auf dem Weg in den Harz voller Kinder, die Ferien machen wollten. Der Tankwagen explodierte. Mindestens vierundneunzig Menschen starben, darunter vierundvierzig Kinder. Nicht zu reden von all den Verletzten mit schwersten Verbrennungen.«
»O Gott! Aber dafür konnte doch deine Großmutter nichts.«
»Das Problem mit dem hängenden Kabel war der Post und namentlich meiner Großmutter bekannt.«
»Aber wie hätte sie ahnen können, dass es eine derartige Katastrophe auslöst?«
»Eben.« Janek kam zum Tisch und stellte die Petroleumlampe darauf. Dann setzte er sich Thea gegenüber. »Das ist Technik! Kleinste Fehler lösen größte Katastrophen aus. Ihr Ingenieure könnt die Folgen eures Tuns überhaupt nicht abschätzen.« Er schob Thea die Spaghettizange hin. »Bitte, greif zu.«
Thea nahm sich, obgleich ihr der Appetit vergangen war. An was für einen Wahnsinnigen war sie da geraten? Oder war es in Vorpommern ganz normal, an Geister und Flüche zu glauben?
»Aufgewachsen bin ich mit meinem Vater und meiner Urgroßmutter«, erklärte Janek. »Von ihr habe ich das Fehnhus geerbt, als sie kurz vor der Wende starb.«
Die Petroleumlampe gluckerte leise. Die Gabeln klirrten. Eine Weile aßen sie schweigend. Dabei entdeckte Thea allmählich ihren Hunger wieder und entschloss sich, das Thema zu wechseln.
»Wie lange«, fragte sie, »dauert das wohl noch mit dem Stromausfall?«
»Ein oder zwei Stunden.«
»Übrigens, ich habe die Einstellung am Durchlauferhitzer im Bad geändert. Jetzt kann man das Wasser wieder mischen.« Janek erstarrte. Plötzlich sah er aus, als hätte sie ihm die Faust in den Magen gerammt. Wortlos griff er sich die Lampe, stand auf und lief aus der Küche. Thea blieb verwundert im Stockdunkeln zurück und hörte hastige Schritte die Treppe hinaufeilen. Dann nichts mehr. Dann kamen sie zurück. Janek trat wieder in die Küche, stellte die Petroleumlampe auf dem Tisch ab, setzte sich und nahm seine Gabel.
»Und was war das jetzt?«, erkundigte sich Thea.
»Ich habe das Gas im Bad ausgestellt.«
»Warum das denn?«
»Es wäre zwar nicht schade um mich, wenn das Haus in die Luft fliegt, aber ...« Janek strich dem Hund über den Kopf. »Aber wir haben ja eine gewisse Verantwortung unseren Haustieren gegenüber, nicht?«
Thea lachte verblüfft. »So ein Durchlauferhitzer kann gar nicht explodieren. Er stellt das Gas ab, sobald die Wachflamme erlischt. Ich hab’s extra getestet. Nach drei Sekunden.«
»Eines möchte ich hiermit ein für alle Mal klarstellen, Thea. Du schraubst in meinem Haus an nichts herum ...«
»Aber ...«
»... du öffnest keine verschlossenen Türen, und du gehst nicht an meinen Computer. Und solltest du dich nicht daran halten, werfe ich dich raus, egal, ob es draußen stürmt oder schneit. Verstanden?«
Thea biss sich auf die Lippe.
»Okay.« Janek wickelte die Spaghetti um seine Gabel.
Thea merkte, dass ihre Hand zitterte, als sie wieder nach ihrer Gabel griff.
Mit gerafften Röcken eilte Elsie Fiedler über den Markt von Anklam. Sie hatte beim Uhrmachermeister Kurth die Taschenuhr ihrer Mutter abgeholt, auf deren Rückseite lupenfein eine schweizerische Landschaft emailliert war, und befand sich nun auf dem Weg zur Adlerapotheke.
Rund um das Kaiser-Wilhelm-Denkmal waren die Händler mit ihren Pferdefuhrwerken aufgefahren und hatten zwischen den Bankhäusern Droysen, Goldstein und Koesler ihre Marktstände aufgebaut. Aber Elsie hatte keinen Blick für Kartoffeln, Flachs, Zuckerrüben, den pechfarbenen Rübensirup, den die Bäuerinnen jetzt aus Rübenschnitzeln kochten, Käse, Gerste, Bürsten, Kalk, Eimer, Pferdegeschirre und unreife Mohnkapseln für Babyschnuller. Denn ihr Vater lag im Sterben.
Vor zwei Tagen war Elsie mit der Preußischen Eisenbahn von Berlin nach Anklam gefahren, wo der Kutscher sie erwartet hatte, um sie zum Gutshaus an der Rosenhäger Beck zu bringen, denn leider hielt der Zug Berlin–Swinemünde nicht in Kamp. Von dort wäre es nur eine Kutschfahrt von zehn Minuten zum Moorhaus oder Fehnhus, wie die Leute hier sagten, gewesen. Von Anklam dauerte die Fahrt durch die Zuckerrübenfelder über eine Stunde.
Elsie hätte auch ohne die drei Jahre, die sie mittlerweile Medizin studierte, sofort erkannt, dass ihr Vater eine schwere Lungenentzündung hatte. Natürlich hatte er sich von ihr nicht mit dem Stethoskop abhören lassen. Nicht einmal den Puls hatte sie ihm fühlen dürfen. Vater war altmodisch. Er vertraute dem alten Dr. Brüning und seinen Schröpfköpfen, Laudanum-Tinkturen und Einläufen, obgleich der von Asepsis noch nichts gehört hatte und sich immer noch nicht die Hände wusch, bevor er einen Patienten untersuchte.
Es war Oktober. Ein kalter Wind wehte. Die Kinder der Marktleute husteten, und in der Adlerapotheke drängten sich Bürgerinnen und Dienstmägde, die etwas gegen Schleimfluss haben wollten. Der Apotheker Wolff empfahl das neue Pulver Aspirin, das er in Papiertütchen zu hundert Gramm bereithielt. Aber die Magd der Landrätin Jennewitz ließ sich das Fläschchen für die Herrin unverdrossen mit Laudanum füllen, jener Universalmedizin aus Opium, Zimt, Safran und anderen Zutaten, die Dr. Brüning den Damen gegen Nervosität, Frauenleiden und Schlafstörungen verschrieb. Die Alte, die vor Elsie dran war, klagte über Gicht und bekam Opodeldok, eine Mischung aus Kampfer und den Ölen von Rosmarin und Thymian.
Endlich sprach Apotheker Wolff sie an. »Fräulein Fiedler, womit kann ich dienen?«
Elsie blickte demonstrativ auf den Zettel in ihrer Hand und buchstabierte, als verstünde sie nichts: »Gentianaviolett.«. »Enzianwurzel, Fräulein Fiedler?«, fragte Wolff zurück. »Meinen Sie das?«
Elsie überlegte, wie lange es ihr nützte, wenn sie sich dumm stellte. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ein Mann sie fixierte, der die Apotheke nach ihr betreten hatte. Er trug einen langen nussbraunen Paletot. Den Zylinder hatte er abgenommen, Haupthaar und Vollbart waren rotblond. Elsie entschied sich noch einmal für weibliche Blödheit.
»Herr Wolff, Sie wissen doch, mein Vater hat das Lungenfieber, und es geht ihm von Tag zu Tag schlechter. Dr. Brüning ist schon ganz bei uns eingezogen. Vor drei Tagen hat meine Mutter mir telegrafiert, dass mein Vater im Sterben liegt. Und meine Tante in Berlin hat mir das hier aufgeschrieben: Gentianaviolett, eine Alkohollösung.«
Der Apotheker erlaubte sich ein Lachen. »Damit färbt man Stoffe für die Damentoilette, Fräulein Fiedler.«
»Und man kann Bakterien damit töten!«, widersprach Elsie. »Das hat Dr. Paul Ehrlich in Berlin bewiesen.«
»Tatsächlich?«
»Verzeihen Sie, dass ich mich einmische«, sagte da der Mann hinter Elsie. »Dr. Ehrlich hat Methylenblau benutzt, einen anderen Farbstoff aus Steinkohleteer. Trotzdem hat das Fräulein Fiedler nicht Unrecht. Die Möglichkeiten der Teerfarbstoffe sind noch kaum erforscht. Viele wirken aseptisch. Karbol, das kennen Sie doch?«
»Natürlich, Dr. Kleeth«, antwortete der Apothekermeister. »Behandeln Sie jetzt unseren verehrten Herrn Prof. Fiedler?«
»Nein. Er ist bei Dr. Brüning in den allerbesten Händen«, antwortete Kleeth artig. Er hatte eine für seine große Gestalt helle und klingende Stimme. »Zudem sind die Farbstoffe bislang nur äußerlich angewandt worden.« Damit wandte er sich an Elsie. Er hatte ungeheuer blaue Augen. »Fräulein Fiedler, erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Franz Kleeth ist mein Name. Ich habe vor zwei Monaten in der Demminstraße eine Praxis aufgemacht. Mein Vater hat das Kolonialwarengeschäft in der Steinstraße.«
»Oh, der ungezogene Student!« Elsie musste unwillkürlich lächeln. »Entschuldigen Sie, Dr. Kleeth, aber meine Tante Griseldis nennt Sie immer so, denn sie hat Ihnen nie verziehen, dass Sie das Pech hatten, ihr beim Garnisonenball auf die Schleppe zu treten. Ich war ja nicht dabei, ich war noch zu klein, aber ich kenne meine Tante, und hätte sie nicht das noch größere Ungeschick besessen, mit ihrer üblichen Gewalt vorwärts zu stürmen, dann hätte sich die Naht sicherlich nicht aufgetrennt und sie wäre nicht beinahe nackend dagestanden.«
Kleeth stöhnte. »Oh, erinnern Sie mich nicht an die peinlichste Stunde meines Lebens. Die Schuld lag übrigens ganz und gar bei mir und zu keinem Teil bei Ihrer Tante Griseldis. Ist das jene Tante in Berlin?«
»Ebendiese«, antwortete Elsie. »Sind Sie ihr denn in Berlin nie begegnet?«
»Oh, ich habe nicht in Berlin studiert«, erwiderte er, »sondern in Greifswald.«
»Etwa bei Friedrich Loeffler?«, platzte Elsie heraus, »Robert Kochs ehemaligem Assistenten? Der den Erreger der Maul- und Klauenseuche identifiziert hat?«
Kleeth lächelte. »Auch bei Loeffler. Aber die Chirurgie liegt mir mehr. Und leider habe ich keine Ahnung, wie bei einer Lungenentzündung eine Farblösung dorthin kommen könnte, wo die Erreger wüten, nämlich in die Lunge hinein.«
»Wir stehen alle in Gottes Hand«, meinte der Apotheker.
»Das hat man vor fünfzig Jahren auch gesagt«, bemerkte Elsie etwas ungehalten, »wenn die Mütter im Kindbettfieber starben. Aber dann kam Dr. Semmelweis, und seitdem redet man von Asepsis. Doch gegen eine Lungenentzündung soll nichts helfen außer beten?«
»Ich kann Ihre Verzweiflung verstehen, Fräulein Fiedler«, sagte Kleeth mit seiner beruhigend weichen Stimme, »aber leider gibt die Natur ihre Geheimnisse nicht preis, nur weil wir es wollen.«
»Da irren Sie sich«, entgegnete Elsie. »Nur wenn wir es wirklich wollen, gibt sie ihre Geheimnisse preis.«
Kleeth deutete eine ergebene Verbeugung an und wandte sich dann wieder an den Apotheker. »Können Sie eine Gentianaviolettlösung herstellen?«
»Ich denke schon.«
»Und wie lange würde das dauern?«
»Ich müsste wegen des Farbstoffs nach Berlin schreiben.«