Die Frauenburg - Marita Spang - E-Book
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Die Frauenburg E-Book

Marita Spang

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Beschreibung

Ein großer historischer Roman über die Gräfin Loretta von Starkenburg-Sponheim, die im Mittelalter etwas für eine Frau vollkommen Unerhörtes wagt Die Pfalz im 14. Jahrhundert: Nach dem frühen Tod ihres Gatten muss die junge Gräfin Loretta von Starkenburg-Sponheim die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn übernehmen. Auf der Starkenburg hoch über der Mosel regiert sie mit Weitsicht und Klugheit und schafft es, die über Jahrzehnte ausgebeutete Landbevölkerung für sich zu gewinnen. Doch nicht nur der brutale Wildgraf Friedrich von Kyrburg hat ein Auge auf Lorettas Ländereien geworfen. Schließlich findet die junge Gräfin einen mächtigen Verbündeten: den Kurfürsten Balduin von Trier, der auch ihr Herz nicht kalt lässt. Als Loretta sich jedoch entschließt, eine Burg zu erbauen – ein unerhörtes Ansinnen für eine Frau ihrer Zeit –, ändert sich alles… Exzellent recherchiert und mitreißend erzählt zeichnet die HOMER-Preisträgerin Marita Spang das Leben einer faszinierenden Frau nach, die im deutschen Mittelalter ihresgleichen sucht. Loretta von Starkenburg-Sponheim war ihrer Zeit im 14. Jahrhundert weit voraus – der Mittelalter-Roman »Die Frauenburg« würdigt die Lebensleistung einer ebenso klugen wie mutigen Frau.

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Seitenzahl: 1040

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Marita Spang

Die Frauenburg

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein großer historischer Roman über eine Frau, die für ihre Zeit Unerhörtes wagte.

Das Römisch-Deutsche Reich im Jahr 1324. Die junge Gräfin Loretta von Starkenburg-Sponheim übernimmt nach dem frühen Tod ihres Gatten die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn. In dem Kurfürsten Balduin von Trier findet sie einen mächtigen Verbündeten gegen ihre zahlreichen Feinde und nach einer unglücklichen Ehe Erfüllung in ihrer geheimen Liebe.

Auf dem Höhepunkt ihres Glücks entschließt sich Loretta, eine Burg zu erbauen, unerhört für eine Frau ihrer Zeit. Ihr Plan verändert alles …

Exzellent recherchiert und mitreißend erzählt, zeichnet die HOMER-Preisträgerin Marita Spang das Leben einer faszinierenden Frau nach, die im deutschen Mittelalter ihresgleichen sucht.

Inhaltsübersicht

Karte 1

Karte 2

Widmung

Zitate

Dramatis Personae

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil 2

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil 3

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 4

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil 5

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Teil 6

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Wahrheit und Fiktion

Verzeichnis der wichtigsten Quellen

Glossar

 

 

 

Meinen Eltern gewidmet, die mir die Liebe zur Geschichte vererbt haben

 

 

 

»Zu den wenigen Frauen, die in der (…) Geschichte des Spätmittelalters aktiv handelnd hervorgetreten sind, gehört Loretta, Gräfin von Sponheim.«

Johannes Mötsch, 1991

 

»Man kann sich wirklich darüber wundern, wie einem solch mächtigen Herrn (dergleichen geschehen ist …). Wie das aber verlaufen ist und warum, wissen (nur) die Götter, denen nichts verborgen bleibt.«

Aus dem Neuhochdeutschen frei übersetzt und zitiert aus dem Sponheimer Buch des Historikers Peter Maier von Regensburg im 16. Jahrhundert (aus Julia Eulenstein, 2013)

Dramatis Personae

Es werden nur die handlungstragenden Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet. Damit es zu keinen unnötigen Verwechslungen kommt, wurden die gleichlautenden Vornamen einiger historischer Persönlichkeiten verändert.

Lorettas Herkunftsfamilie

Loretta von Salm, später von Starkenburg-Sponheim*, Tochter von Jeanne und Johann von Salm, Gattin Heinrichs von Starkenburg-Sponheim und spätere Regentin der Grafschaft

Johann I. (im Buch Bernhard)von Salm*, Lorettas Vater

Jeanne von Salm*, Lorettas Mutter

Rüdiger, Klaus* und Mechthild*, Lorettas Geschwister

Balduins Herkunftsfamilie

Balduin von Luxemburg*, Erzbischof und Kurfürst von Trier

Kaiser Heinrich VII.*, Balduins älterer Bruder

Margarete von Brabant*, Heinrichs Gemahlin

Walram von Luxemburg*, Balduins zweitältester Bruder

König Johann von Böhmen*, Balduins Neffe, Sohn seines Bruders Heinrich

Die Familie von Starkenburg-Sponheim

Johann II. von Starkenburg-Sponheim*, regierender Graf und Lorettas Schwiegervater

Katharina von Ochsenstein*, seine Gemahlin (im Buch die leibliche Mutter von Heinrich (Martin), in der Realität seine Stiefmutter)

Heinrich* (im Buch Martin), Johanns ältester Sohn und Lorettas Ehemann

Johannes* (genannt Hänsel), Lorettas und Martins ältester Sohn

Gottfried* und Heinrich* (im Buch Robert), Lorettas und Martins jüngere Söhne

Pantaleon von Starkenburg*, Priester, Martins Bruder und Lorettas Schwager

Blancheflor von Veldenz*, Martins Schwester und Lorettas Schwägerin

Blanche von Veldenz, Lorettas angeheiratete Nichte

Heinrich von Starkenburg* (im Buch Matthias), Dompropst zu Aachen, Lorettas angeheirateter Onkel und späterer Berater

Lorettas Widersacher

Wildgraf Friedrich von Kyrburg*

Gottfried*, sein Sohn

Graf Walram von Kastellaun*, Verwandter Lorettas aus der Vorderen Grafschaft Sponheim-Kreuznach

Johann (im Buch Bertram) von Enkirch*, Verwalter in Lorettas Diensten

Remigius, Priester und Schreiber in Balduins Diensten

Lorettas Getreue und Gefolgsleute

Hilda, Kräuterfrau, Hebamme und Kinderfrau von Lorettas Söhnen

Kathi, ihre Tochter, Kammermagd Lorettas

Volker von Starkenburg* (im Buch von Falkenstein), Lorettas treuester Gefolgsmann

Johannes von Brunshorn*, Nikolaus von Schonenberg, Hugo und Emmerich von Breitenfels, Egbert von Randeck, Lorettas Ritter

Thaddäus Walch, jüdischer Bankier zu Kirchberg

Miriam, seine Frau

Weitere, überwiegend historisch belegte Personen von Bedeutung

Peter von Aspelt*, Matthias von Buchegg*, Erzbischöfe und Kurfürsten zu Mainz

Heinrich von Virneburg*, Erzbischof und Kurfürst zu Köln

Tebaldo Brusato*, Anführer der Aufständischen in Brescia

Nikolaus* und Johannes von Hunolstein*, Erbvögte in Hunolstein

Ägidius von Daun*, Erbvogt im Kröver Reich

Elisabeth von Katzenelnbogen, Gemahlin Walrams von Kastellaun

Papst Johannes XXII.*, mit Amtssitz in Avignon

Prolog

Im Dom zu Trier,
Mai 1308

Mit klopfendem Herzen näherte sich Loretta an der Hand ihrer Mutter der Hohen Domkirche zu Trier. Staunend hob sie ihren Blick zu den mächtigen Türmen empor, die mit ihren Spitzen den maiblauen Himmel zu berühren schienen.

Der Dom war das prachtvollste Gebäude, das sie jemals gesehen hatte. Geradezu armselig wirkte dagegen die elterliche Burg in Blieskastel mit ihrem klobigen Bergfried.

Während sie vor dem mit biblischen Figuren geschmückten Portal auf Einlass warteten, ließ Loretta ihre Hand über den blankpolierten grauen Stein gleiten, der links neben dem Eingang lag und ihr fast bis zur Schulter reichte. Er fühlte sich so glatt wie Seide an.

»Wer hat diesen riesigen Stein hierher geschafft und warum?«, flüsterte sie ihrer Mutter zu.

Gräfin Jeanne von Salm hob halb amüsiert, halb ärgerlich die Augenbrauen. Neugierde und Wissbegier waren die zwei hervorstechendsten Charakterzüge ihrer ältesten Tochter. Ihrem für ein Mädchen ungewöhnlich scharfen Verstand entging kaum etwas von Bedeutung. Oft war sie darin sogar den Erwachsenen voraus.

Im halbherzigen Versuch, mütterliche Strenge zu zeigen, legte sie der Neunjährigen den mit einem schlichten Goldring geschmückten Zeigefinger auf den Mund. »Schon wieder Fragen, Loretta. Zu viel Neugier schickt sich nicht für ein sittsames Mädchen, zumal bei einem so denkwürdigen Anlass.«

Loretta blieb unbeeindruckt und sah ihre Mutter bittend an. Ihre dunkelblauen Augen funkelten vor Wissbegierde. Jeanne von Salm konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Rasch warf sie einen Seitenblick auf ihren Gatten Bernhard. Er war offensichtlich ins Gespräch mit einem neben ihm wartenden Edelmann vertieft, der ein prächtiges, mit Goldfäden durchwirktes Obergewand trug. Sein eigenes aus taubenblau gefärbtem feinem Leinen wirkte dagegen schlicht und unauffällig. Einen Augenblick lang huschte ein Schatten über Jeannes Gesicht.

Loretta bemerkte es beklommen. Tag und Nacht suchte ihr Vater Bernhard von Salm das Unheil abzuwenden, das ihm und seiner ganzen Familie drohte. Aber trotz seiner Bemühungen wurde ihre Lage von Jahr zu Jahr schlimmer. Verfolgten ihn und die Mutter die Sorgen selbst heute am Tag der feierlichen Einführung des neuen Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg in sein hohes Amt?

Ihre Mutter schüttelte sich leicht, als wolle sie ihren düsteren Gedanken entkommen, und beugte sich zu ihr hinunter. »Man sagt, der Teufel selbst habe den Stein vor das Domportal geworfen«, raunte sie Loretta zu.

Das Mädchen sog erschrocken den Atem ein. »Warum hat er das getan?«

Ihre Mutter lächelte wieder. »Als der Baumeister das mächtige Gotteshaus vor vielen Jahren errichtete, konnte er die schweren Säulen, die das Gewölbe tragen sollten, nicht herbeischaffen lassen. Kein Fuhrwerk war groß genug, sie daraufzulegen, kein Ochsengespann stark genug, es zu ziehen. So behalf sich der Baumeister mit einer List.«

Die Gräfin stockte und warf erneut einen verstohlenen Seitenblick auf ihren Mann. Der war noch immer abgelenkt. Ungeduldig zerrte Loretta an ihrer Hand. »Was war das für eine List?«

»Der Baumeister machte dem Teufel weis, er wolle das größte Wirtshaus der Welt in Trier errichten. Der freute sich, denn er hoffte auf viele sündige Seelen, die ihm derart in die Hände fallen würden. Also erklärte er sich bereit, die schweren Säulen vom Steinbruch im fernen Odenwald durch die Lüfte bis nach Trier zu tragen.«

Die Gräfin unterbrach sich erneut, denn nun ging es in der Schlange der Wartenden ein Stück voran. In die Farben des Erzbischofs gekleidete Dienstmannen geleiteten alle Gäste der hohen Messe persönlich an die ihnen zugewiesenen Plätze. Aber noch war es für die Familie derer von Salm nicht so weit. Kurz vor der Kirchentür stockte der Zug. Der Graf schnaubte unwillig, wandte sich dann aber wieder seinem Gesprächspartner zu.

»Und was weiter?« Ein zweites Mal zog Loretta ungeduldig an der Hand ihrer Mutter.

»Der Teufel hielt sich an sein Versprechen und schaffte so viele Steine heran, dass der Bau zügig voranschritt. Eines Tages war es so weit, dass die erste Messe im neuen Gotteshaus gelesen werden konnte. Schon von weitem hörte der Teufel den feierlichen Gesang und erkannte, dass er betrogen worden war. In seiner Wut schleuderte er den Stein, den er gerade trug, gegen den Dom, um ihn zu zerstören. Aber Engel eilten den Gläubigen zu Hilfe und lenkten den Stein aus der Bahn, so dass er keinen Schaden anrichten konnte. Seither liegt er hier vor der Kirchentür als ein Zeichen des Sieges über das Böse, und die jungen Burschen rutschen dem Teufel zum Spott darauf herum.«

Loretta runzelte die Stirn. Eine kurze Weile überlegte sie. »Warum hat der Baumeister die Engel nicht gleich um Hilfe beim Bau des Domes gebeten? Dann hätte er den Teufel doch gar nicht gebraucht!«

Die Gräfin war verblüfft. Gleichzeitig war der Graf auf die leise Unterredung aufmerksam geworden und zischte empört. Zum Glück ging es genau in diesem Moment weiter.

Staunend betrat Loretta das Innere des Doms und vergaß angesichts der prachtvollen Ausstattung ihre unbeantwortete Frage. Ein Mönch sang schwermütig feierlich klingende Choräle. Hunderte von süß duftenden Wachskerzen beleuchteten das Gewölbe, der Fußboden war mit feinen Mosaiken ausgelegt, die fremdartige Pflanzen und Tiere zeigten. In den zahlreichen Nischen standen steinerne Figuren. Manche stellten Menschen dar. Aus den fein gearbeiteten Baldachinen über ihren Köpfen schloss Loretta, dass es wahrscheinlich Heilige waren oder zumindest Könige. Andere Figuren schienen unmittelbar der Hölle entstiegen zu sein. Mit einem leisen Schauder betrachtete Loretta ein Ungeheuer mit gefletschten Zähnen und gefährlich anmutenden Krallen. Woher wussten die Bildhauer eigentlich, wie die Höllenbewohner aussahen?

Bevor Loretta den Mund zu einer weiteren Frage an ihre Mutter öffnen konnte, waren sie an ihrem Platz angelangt. Es war nur ein Stehplatz in der dritten und letzten Reihe vor den Säulen, die das mittlere Gewölbe trugen. Der finsteren Miene ihres Vaters sah Loretta an, dass er sich ärgerte. Nur allzu deutlich zeigte die Platzzuweisung, wie Erzbischof Balduin über das Geschlecht derer von Salm dachte, welches aufgrund schon Jahre währender Erbstreitigkeiten zu verarmen drohte.

Loretta stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber noch immer nicht erkennen, was im Dom vor sich ging. Die breiten Rücken der Erwachsenen vor ihr raubten ihr jede Sicht. Spontan versuchte sie, sich durch die Reihen nach vorne zu drängeln, und fühlte sich augenblicklich hart an der Schulter zurückgerissen.

Ihr Vater starrte sie drohend an. Unwillkürlich füllten sich Lorettas Augen mit Tränen. Über Wochen hinweg hatte sie gebettelt und gefleht, all ihre Haushaltspflichten getreulich erfüllt, dreimal täglich der Andacht in der Burgkapelle beigewohnt, nur um der Erlaubnis willen, ihre Eltern auf die Reise nach Trier begleiten zu dürfen. Erst im letzten Moment war sie erteilt worden, als sich herausstellte, dass ihre beiden älteren Brüder Wurst aus der Speisekammer stibitzt und sich daran den Magen verdorben hatten.

Sollten jetzt alle Mühe und sogar dieser unerwartete Zufall umsonst gewesen sein? Sollte sie rein gar nichts von der feierlichen Zeremonie sehen?

Als hätte er ihren Kummer gespürt, drehte sich der Edelmann, mit dem sich ihr Vater vor der Kirchentür unterhalten hatte, just in diesem Moment um und erhaschte einen Blick auf ihr unglückliches Gesicht. Ohne den Grafen von Salm um Erlaubnis zu fragen, zog er Loretta vor sich in die erste Reihe.

Gerade zur rechten Zeit. Denn nun näherte sich der Festzug. Kirchenmänner mit kostbaren Gewändern in allen Farben des Regenbogens kamen heran, flankiert von Messdienern mit schweren Weihrauchgefäßen, die einen betäubenden Duft verbreiteten. Wie gebannt starrte Loretta auf den stolzen, hochgewachsenen Mann, der unter dem erzbischöflichen Baldachin den langen Gang entlangschritt. Sie fühlte sich magisch von ihm angezogen. Sein knielanges Oberkleid war das prächtigste, das sie je gesehen hatte – aus rotem Samt, über und über mit Goldfäden und funkelnden Juwelen bestickt. An den Fingern beider Hände trug er Ringe mit kostbaren Steinen.

Atemlos sah ihn Loretta vorbeischreiten. Der Bischof war ein noch junger Mann mit regelmäßigen Gesichtszügen und energischem Blick aus dunklen Augen. Loretta erinnerte sich an Gespräche ihrer Eltern, die sie in ihrer Fensternische auf Burg Blieskastel heimlich mit angehört hatte. Balduin entstammte dem edlen Geschlecht derer von Luxemburg und zählte erst zweiundzwanzig Lenze. Damit war er der jüngste Erzbischof seit Jahrzehnten und gleichzeitig einer der sieben Kurfürsten des Reiches.

Gebannt verfolgte Loretta jede Einzelheit der Zeremonie, mit der Balduin nach seiner Weihe durch den Papst im französischen Poitiers nun sein Amt im Erzbistum und Kurfürstentum Trier antrat. Die Messe zelebrierte Peter von Aspelt, selbst Kurfürst und Erzbischof von Mainz, der dem Haus Luxemburg in Freundschaft verbunden war, wie Loretta aus den Gesprächen ihrer Eltern wusste.

»Was für ein schöner Mann! Einen solchen hätte ich gern zum Gemahl!«

»Leider ist dies nicht möglich, kleines Fräulein!« Entsetzt merkte Loretta, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Einen Erzbischof kann man nicht heiraten!« Der Edelmann, der ihr den Platz in der ersten Reihe ermöglicht hatte, zwinkerte ihr lächelnd zu. Loretta errötete bis zum Ansatz ihrer blonden Locken, die ein schmales Schapel aus der Stirn hielt. Beschämt senkte sie den Blick und betrachtete angelegentlich das Rankenmuster des Mosaiks zu ihren Füßen.

Auf einmal war ihr, als ob sich der hell erleuchtete Kirchenraum um sie herum plötzlich verdunkelte. Ein kühler Luftzug verursachte ihr heftiges Frösteln. Schaudernd schlug sie die Arme um ihr ärmelloses hellblaues Obergewand aus feinem Linnen und barg die Hände in den weiten Seitenschlitzen, durch die das zartgelbe Untergewand hervorblitzte. Beunruhigt sah sie sich um. Doch die Menschen in ihrer Umgebung schienen nichts zu bemerken.

Die Zeremonie näherte sich ihrem Ende. Schon formierte sich die Prozession aus geistlichen Würdenträgern zum festlichen Auszug aus dem Dom, vor dem eine jubelnde Menschenmenge wartete. In ihrer Mitte ging wieder Balduin, nun gekrönt mit der goldenen Mitra, die ihm der Mainzer Erzbischof auf dem Höhepunkt der Messe feierlich aufs Haupt gesetzt hatte. Kerzengerade und mit hocherhobenem Kopf schritt er den Gang entlang.

Der kühle Luftzug wurde eisig, als sich der Zug Lorettas Standort näherte. Gleichzeitig ergriff sie eine immer stärker werdende Unruhe. Nun war Balduin auf ihrer Höhe angekommen.

Plötzlich verspürte Loretta einen unwiderstehlichen Drang. Sie stürzte auf Balduin zu und rammte ihn mit der ganzen Kraft ihres schmächtigen Mädchenkörpers. Völlig überrascht von dem unvermuteten Angriff, taumelte der Erzbischof zur Seite und stürzte ebenso wie Loretta in zwei Edelleute, die ihn geistesgegenwärtig auffingen. Verblüfft blieben die Träger des Baldachins stehen.

Keinen Wimpernschlag später löste sich ein mächtiger Stein aus einem der Kapitelle der Säulen und stürzte mit ohrenbetäubendem Krachen genau an der Stelle nieder, an der Balduin gerade noch gestanden hatte. Die Menge schrie auf, Menschen sprangen in Panik vor den umherspritzenden Marmorteilen zurück, strauchelten und fielen übereinander. Es glich einem Wunder, dass niemand ernstlich verletzt wurde.

Loretta kam wie nach einer schweren Betäubung wieder zu sich und blinzelte in das Licht der Kerzen. Fassungslose Menschen standen um sie herum. Halb in Trance, sah Loretta ihre Eltern, die sich durch die Menge zu ihr hindurchdrängten.

Noch bevor sie sie erreichten, stand jedoch der Erzbischof vor ihr und ging in die Hocke, bis er ihr direkt in die Augen sehen konnte.

»Wie es scheint, verdanke ich dir mein Leben, junges Fräulein.« Seine wohltönende Stimme zitterte noch ein wenig aufgrund des erlittenen Schreckens. »Wäre ich ungehindert weitergegangen, hätte mir der Stein womöglich den Schädel zerschmettert. Wie ist dein Name?«

»Loretta von Salm, allergnädigster Herr«, flüsterte Loretta.

»Nun, Loretta, woher wusstest du, dass mir ein Unheil droht?«

Loretta schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß es nicht, hoher Herr.« Sie sprach so leise, dass er sich noch weiter zu ihr vorneigen musste. »Da war plötzlich ein Gefühl, dem ich folgen musste.«

»Ein Gefühl?«

»So ist es, hoher Herr. Eine rastlose Unruhe, die von mir Besitz ergriff. Euch beiseitezustoßen, war wie ein innerer Zwang.«

»Sonderbar, in der Tat. Doch von überaus großem Nutzen.«

Mittlerweile waren auch ihre Eltern herangekommen. Balduin richtete sich auf. »Wie es scheint, bin ich Eurer Tochter zu ewigem Dank verpflichtet, edle Dame von Salm.« Er verbeugte sich in vollendeter höfischer Geste vor Lorettas Mutter. »Auch wenn sie sich nicht erklären kann, wieso sie von der herannahenden Gefahr wusste.«

Trostheischend ergriff Loretta die Hand ihrer Mutter. Sie war eiskalt und feucht. Totenblass sah die Gräfin zu ihr hinab. »Du kannst nicht erklären, woher du wusstest, dass dem ehrwürdigen Erzbischof Gefahr droht?«, wiederholte sie mit einem fiebrigen Glanz in ihren Augen.

Loretta schüttelte wieder den Kopf. Verwirrt und verängstigt verbarg sie ihr Gesicht in den Röcken der Mutter.

Sie ahnte deren nahezu lautlos geflüsterten Worte mehr, als dass sie sie hörte. Trotzdem war sie sicher, sie genau verstanden zu haben.

»Heilige Jungfrau Maria, steh meiner Tochter zur Seite. Sie hat die Gabe.«

Teil 1

Vor Tagesanbruch

Kapitel 1

Burg Blieskastel,
September 1311

Mitten in der Nacht wachte Loretta auf. Sie war sofort hellwach.

Oh nein, nicht schon wieder! Ein eisiges Gefühl breitete sich von der Magengrube her in ihrem ganzen Körper aus. Sie spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten und sie zu frösteln begann, als stünde sie im Hemd in einem kühlen Wind. Ihre Haut fühlte sich eiskalt an. Um sich zu wärmen, kroch sie tiefer unter die Decke und kuschelte sich eng an ihre jüngere Schwester Mechthild, die friedlich neben ihr schlief.

All ihre Sinne waren bis aufs äußerste geschärft. Ängstlich lauschte sie in die Dunkelheit. Es war nichts Verdächtiges zu hören. Hinter dem leichten Tuch, das vor dem nicht verglasten Fenster hing, schien ein blasser Mond. Von ferne rief ein Käuzchen. Obwohl die Nacht noch spätsommerlich warm war, fror Loretta immer stärker.

Zu der Kälte, die ihren ganzen Körper erstarren ließ, gesellte sich die ihr schon bekannte Unruhe. Gefahr, jemand ist in Gefahr. Die Worte dröhnten in ihrem Kopf. Unwillkürlich presste Loretta beide Hände gegen den Schädel und zog die Knie bis zur Brust hinauf.

Ich musste es dem Vater versprechen!

Erst gestern war Bernhard von Salm nach Blieskastel zurückgekehrt, besiegt und geschlagen in der Fehde gegen den mächtigen Bischof von Metz. Es war beileibe nicht die erste Niederlage. Schon zu Lebzeiten ihres Großvaters hatten die Erbstreitigkeiten um den Nachlass ihrer Urgroßmutter begonnen. Die von Salm hatten alle verloren.

Und auch meine Mutter wird wieder gescholten werden, wenn ich diesem seltsamen Ruf in mir folge!

Schon als ihr Vater am Vortag mit seinen Mannen in den Burghof geritten war, hatte sich das Gesicht ihrer Mutter, die neben ihr am Fenster der Kemenate stand, verwandelt. Jeanne von Salm war von Natur aus eine fröhliche, lebensbejahende Frau. War ihr Gatte auf Reisen, wurde in den Frauengemächern noch immer gelacht und gesungen. Abends erzählte die Mutter ihren gebannt lauschenden Töchtern und Kammermägden Sagen und Legenden aus der Normandie und Britannien, wo ihre Vorfahren lebten.

Doch kehrte der Vater zurück, verbittert durch seine zahlreichen Misserfolge und die zunehmende Verarmung seines Geschlechts, welkte ihre Mutter dahin wie eine Blume ohne Wasser. Ihre schlanke hohe Gestalt sank in sich zusammen, die lebhaften Augen verloren ihren Glanz.

Loretta wusste, dass zum einen die Sorge um den fortschreitenden Land- und Vermögensverlust dafür verantwortlich war. Statt einen Teil des umstrittenen Erbes zurückzugewinnen, verlor die Familie infolge der Fehden immer mehr Güter an den Metzer Bischof. Die noch verbliebenen Ländereien waren zum großen Teil verpfändet. Die Schulden wurden von Jahr zu Jahr drückender.

Doch weit schlimmer war es für Jeanne und sie selbst, dass der Vater immer unduldsamer und strenger gegenüber seiner Familie und dem Burggesinde auf Blieskastel wurde. Während er seinen Bauern weiterhin als gerechter und im Zweifelsfall gnädiger Grundherr galt, ließ er seinen Unmut über die verzweifelte Lage immer häufiger am heimischen Herd aus. Bevorzugt galt sein Tadel dabei seiner Ehefrau Jeanne, die er wegen ihrer Fröhlichkeit und Lebenslust der Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit zieh.

Und gestern Abend war es besonders arg. Beim Gedanken an das trostlose Nachtmahl verkrampfte sich Loretta noch stärker. Mittlerweile zitterte sie vor Kälte am ganzen Körper, während sie sich an die Szene erinnerte.

An allem hatte der Vater etwas auszusetzen gehabt. Die Speisen seien zu reichlich für einen Werktag, meinte er, und darüber hinaus zu fade gewürzt. Das Wasser sei nicht frisch genug, der Wein zu warm. Das Tafeltuch habe Flecken, auch die Schürzen der Mägde, die die Mahlzeit auftrugen, wären nicht reinlich.

Vor ihren Augen war Lorettas Mutter geradezu zusammengeschrumpft. Zuletzt war ihre tonlose Stimme kaum mehr zu verstehen gewesen, als sie ihren Gatten um Verzeihung für die zahlreichen Vernachlässigungen ihrer hausfraulichen Pflichten bat.

Dabei lag der Grund für die schlechte Laune Bernhards von Salm ganz woanders. Als Sühne für die erneut verlorene Fehde musste er diesmal den Stammsitz seiner Ahnen in den Vogesen an den Metzer Bischof abtreten, erzählte Lorettas älterer Bruder Rüdiger ihr vor dem Zubettgehen. Er hatte heimlich ein Gespräch seiner Eltern belauscht.

Lorettas Zähne begannen, leise zu klappern. Sie presste sich mit dem Rücken noch enger an Mechthild. Ihre Schwester bewegte sich und rückte im Schlaf von ihr ab. Nun wurde es Loretta noch kälter. Auch ihre innere Spannung wurde stärker und stärker. Gefahr, jemandem droht Gefahr! Jede Faser ihres Körpers schien zu vibrieren.

Sie klammerte ihre Hände um die Decke, als wolle sie sich daran festhalten. Ich kann jetzt nicht aufstehen. Was wird der Vater sagen, wenn ich nachts im Hemd durch die Burg schleiche und er mich dabei ertappt?

In jüngster Zeit war auch Loretta zur Zielscheibe seiner Kritik geworden. Und wieder lastete Bernhard von Salm die Schuld für die »Eitelkeit seiner Tochter« vor allem der Mutter an.

Dabei kann ich doch nichts dafür. Es überfällt mich einfach und nimmt Besitz von mir!

Nach der Episode im Trierer Dom, wo sie dieses merkwürdige Gefühl von Kälte und drohender Gefahr zum ersten Mal gespürt hatte, war es lange Zeit nicht mehr zum Vorschein gekommen. Die bohrenden Fragen und besorgten Blicke ihrer Mutter wurden seltener und hörten schließlich ganz auf.

Loretta selbst vergaß den Vorfall allerdings nicht. Viel zu stolz war sie darauf, dem mächtigen Kurfürsten von Trier das Leben gerettet und dafür seinen persönlichen Dank empfangen zu haben. Und sie fand sich damit ab, dass es keine Erklärung für ihre Vorahnung gab. Sie hatte vor dem Unfall im Dom weder etwas Auffälliges gesehen noch gehört. Die Unruhe befiel sie damals aus heiterem Himmel. Vielleicht hatte die Jungfrau Maria wirklich ihre schützende Hand über Balduin gehalten und Loretta als Werkzeug für dessen Errettung gewählt, wie es der Blieskasteler Burgkaplan behauptete.

Doch plötzlich trat das Gefühl wieder auf. An einem der ersten warmen Frühlingstage in diesem Jahr spielte sie mit ihrem Kätzchen Minni im Burghof. Das Tier war ihr besonders lieb, seitdem ihr Rüdiger erzählt hatte, dass es zusammen mit seinen Geschwistern von einem Stallknecht in einen Sack gesteckt und in die Blies geworfen worden war.

Sie ließ das Kätzchen im Burghof zurück, als ihre Mutter nach ihr rief. Gerade lief sie die steile Stiege von der großen Halle zur Kemenate hinauf, als sie das Gefühl wie ein Blitzschlag traf und einen Augenblick lang lähmte. Vor Aufregung zitternd, rannte sie zurück in den Burghof und sah, wie der Hofhund auf das schutzlose Kätzchen zustürzte. Mit dem Mut der Verzweiflung packte sie Minni im letzten Moment, barg das Tierchen an ihrer Brust und schrie laut um Hilfe, während der Hund sie knurrend umkreiste und anzuspringen drohte. Schließlich kam ihr der Stalljunge Hänsel zu Hilfe, griff den Hund am Strick und zerrte ihn von ihr weg.

Loretta drehte sich im Bett auf den Rücken und streckte vorsichtig die mittlerweile schmerzenden Beine. Mechthild stöhnte im Schlaf und zog an der Decke, in die sich Loretta zur Hälfte eingewickelt hatte. Um ihre Schwester nicht auch noch aufzuwecken, lag Loretta mucksmäuschenstill. Doch die Gedanken rasten weiter durch ihren Kopf.

Damals hat noch niemand etwas gemerkt. Der Vater war unterwegs, und die Mutter wusste nicht, dass ich auf der Treppe umgekehrt und in den Hof zurückgegangen bin. Doch danach geschah es wieder.

Es war Juni. Hänsel, der Sohn eines hörigen Bauern, braune, wirre Locken, blitzende dunkle Augen, immer ein verwegenes Lächeln im Gesicht, blieb ihr nach der Rettung des Kätzchens nicht gleichgültig. Anfangs wollte Loretta nicht wahrhaben, dass sie, gerade einmal zwölf Jahre alt, ihr Herz zum ersten Mal an einen Burschen verloren hatte. Es war nur natürlich, dass sie den zwei Jahre Älteren im Stall aufsuchte, um sich bei ihm zu bedanken. Und dabei die Pferde streichelte, die sie über alles liebte.

Danach fand sie immer neue Vorwände, um wiederzukommen. Anfangs führten sie trauliche Gespräche in einem verschwiegenen Winkel. Dann hielten sie sich an den Händen, und eines Tages begannen sie sogar, unschuldige Küsse auszutauschen.

Natürlich konnte Loretta nur in die Stallungen gehen, wenn ihr Vater nicht da war. Er hatte ihr schon vor Monaten das Reiten verboten, da es in seinen Augen keine angemessene Betätigung für eine Jungfrau darstellte. Aber die Treffen mit Hänsel waren ihr schnell zur lieben Gewohnheit geworden, auf die sie nicht mehr verzichten mochte. Und so nahm das Unglück seinen Lauf.

»Mein Vater kehrt morgen nach Hause zurück«, erklärte sie Hänsel niedergeschlagen, nachdem sie die Neuigkeit erfahren hatte. »Jetzt werde ich dich nicht mehr sehen können.«

Der Junge streichelte ihre Hand. »Nun sei nicht so traurig, Loretta.« Er zeigte sein verwegenes Lächeln. »Ich weiß einen verschwiegenen Ort, an den so gut wie nie jemand hinkommt.«

Es war das Kellergelass unter dem Bergfried. Dort befand sich die Regenwasserzisterne. Sie war für den Fall angelegt worden, dass die Burg belagert wurde und der Feind den Zugang zum Hofbrunnen abschnitt. Hänsel hatte entdeckt, dass der Riegel morsch geworden war, der die Tür verschloss. In diesem Gelass trafen sie sich zweimal, während der Vater sie bei der Andacht in der Burgkapelle oder bei Handarbeiten in der Kemenate wähnte.

Doch bei der dritten Verabredung ging alles schief. Ihre Mutter Jeanne lag wieder mit den schlimmen Kopfschmerzen zu Bett, die sie nahezu blind machten. Nach der Einnahme eines Kräutertrunks war sie in einen unruhigen Schlummer gefallen. Loretta nutzte die Gelegenheit und gab Hänsel aus dem Fenster der Kemenate das verabredete Zeichen, als er gerade den Hof überquerte.

Unter dem Vorwand, einen frischen Kräutertrunk für die Mutter aus der Küche zu besorgen, verließ Loretta die Kemenate. Doch ihr Vater erwischte sie auf der Stiege zum großen Saal und tadelte sie mit strengen Worten. »Was ficht dich an, hier herumzustreunen? Geh sofort zurück und beauftrage eine Magd mit diesem Gang, wie es sich geziemt!«

Die zunehmende Unruhe, die Loretta ergriff, als sie ihren Platz in der Fensternische des Frauengemachs wieder einnahm, hielt sie anfangs für Betrübnis über das versäumte Treffen mit Hänsel. Erst als ihr trotz des freundlichen Sommertags immer kälter wurde, erkannte sie, dass es erneut das Gefühl war. Diesmal überfiel es sie stärker als je zuvor: Gefahr, es ist jemand in Gefahr!

Sofort hielt es sie nicht mehr auf ihrem Platz. Unter den erstaunten Blicken der Kammermägde stürmte sie aus der Kemenate hinaus und die Stiege hinab. Sie wich ihrem Vater aus, der in der Halle mit dem Stallmeister sprach und ihr in den Weg treten wollte. Blindlings rannte sie über den Burghof in den Bergfried und dort hinab ins Kellergeschoss. Mit ihrem Vater und dem Stallmeister dicht auf den Fersen, erreichte sie die Kellertür und riss sie auf.

Im Licht der einzigen blakenden Fackel, die in einem Wandhalter steckte, sah sie sofort, was geschehen war. Aus unerfindlichen Gründen war Hänsel in die Regenwasserzisterne gestürzt. Er konnte nicht schwimmen und trieb leblos im Wasser. Im letzten Moment riss sie ihr Vater am Arm zurück, als sie in die Zisterne springen wollte, obwohl auch sie nicht schwimmen konnte.

Mit der Stange, an der das Netz befestigt war, mit dem die Wasseroberfläche von Zeit zu Zeit gereinigt wurde, stießen die Männer Hänsels Körper an den Rand und zerrten ihn mit vereinten Kräften aus dem Wasser. Gerade noch rechtzeitig. Der Junge war bereits dunkelblau im Gesicht und kam im Burghof hustend und spuckend nur mühsam wieder zur Besinnung, als der Stallmeister das Wasser aus seinen Lungen presste.

In der nächtlichen Kemenate stand Loretta Hänsels blau angelaufenes Gesicht jetzt so deutlich vor Augen, als läge er wieder leblos vor ihr. Sie ließ die Bettdecke los und schlug die Hände vor den Mund. In ihrer Hilflosigkeit begann sie zu weinen. Wäre ich Hänsel damals nicht zu Hilfe geeilt, wäre er ertrunken. Was für ein Unheil geschieht nun dort draußen? Doch noch immer wagte sie nicht, aufzustehen und nachzusehen.

Denn die Begebenheit mit der Regenwasserzisterne war weder ihr noch Hänsel gut bekommen. Wäre der Junge nicht schon halbtot gewesen, hätte ihr Vater ihn wohl auf der Stelle verprügelt. So blaffte er nur den Stallmeister an: »Was hat dieser Bursche im Keller des Bergfrieds zu suchen, anstatt den Mist aus den Ställen zu karren? Erfüllst du so deine Aufsichtspflicht?«

Loretta hatte Hänsel seither nicht wieder gesprochen, doch wahrscheinlich hatte dieser für den Tadel an seinem Meister später büßen müssen.

Über Loretta fiel Bernhard von Salm her wie beim Jüngsten Gericht. »Was hast du, ein Fräulein von hohem Geblüt, mit diesem rotznäsigen Bengel zu schaffen? Woher wusstest du, dass er sich in das Kellergelass geschlichen hatte? Ich habe dich schon zuvor auf der Stiege erwischt. Wart ihr im Bergfried etwa zu einem heimlichen Stelldichein verabredet?«

Loretta war zu erschüttert, um sich schlüssige Ausreden zu überlegen, und gab alles zu. »Doch glaubt mir, verehrter Vater, wir haben nichts Unrechtes getan«, beteuerte sie immer wieder. Bernhard von Salm schnaubte verächtlich.

Nach einem Tag Fasten im Kammerarrest setzte er das Verhör in Gegenwart ihrer wieder vom Kopfweh genesenen Mutter fort. »Woher wusstest du, dass der Bursche beinahe ertrunken ist?«

Loretta hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht, verehrter Herr Vater. Es war das gleiche Gefühl wie im Dom zu Trier. Ich kann es mir nicht erklären.«

»Und wie vor einigen Monaten, als der Hofhund mein Kätzchen umbringen wollte«, ergänzte sie.

Jeanne hörte anfangs nur schweigend zu und betrachtete ihre Tochter mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck, den Loretta nicht deuten konnte. Endlich meldete sie sich leise zu Wort.

»Ich sagte es Euch bereits in Trier, werter Gemahl. Ich glaube, Loretta besitzt die Gabe. Sie war einst unter den Frauen meiner Vorfahren weit verbreitet.«

Loretta erinnerte sich vage. Tatsächlich hatte ihre Mutter damals etwas Ähnliches erwähnt. Doch ihr Vater ließ Jeannes Begründung nicht gelten, sondern fuhr sie stattdessen an. »Stammt das aus einem dieser heidnischen Märchen, die Ihr Euren Töchtern erzählt? Soll sie am Ende glauben, sie hätte das zweite Gesicht?«

Jeanne blieb stumm und senkte die Augen. Das machte Bernhard von Salm nur noch wütender: »Eure Pflicht als Mutter ist es nicht, abergläubischen Unfug zu fördern, sondern Eure Töchter Demut, Bescheidenheit und Gehorsam zu lehren. Und«, er erhob die Stimme noch mehr, »vor allem auf ihre Tugend zu achten. Wie soll ich für dieses halbe Kind einen standesgemäßen Gatten finden, wenn ich durch Eure Nachlässigkeit nunmehr sogar um ihre Keuschheit fürchten muss? Oder wollt Ihr, dass ich sie einem meiner hörigen Bauern als Eheweib andiene?«

Wieder sagte Jeanne nichts und schüttelte nur den Kopf. Die roten Flecken auf den bleichen Wangen verrieten ihren inneren Aufruhr. So wehre dich doch endlich!, flehte Loretta stumm. Doch wie schon so oft zuvor, unterwarf ihre Mutter sich auch diesmal der Willkür ihres Eheherrn und schwieg, um seinen Zorn nicht noch weiter herauszufordern.

»Nun, was habt Ihr also zu sagen?«, insistierte ihr Vater. »Ich verspreche Euch, Loretta besser zu beaufsichtigen und Euch keinen Grund mehr zur Klage zu geben.«

»Und du?«, fuhr ihr Vater zu ihr herum.

Widerstreitende Gefühle tobten in Lorettas Brust. Wut und Mitleid mit ihrer Mutter mischten sich mit Trotz und Angst vor dem Vater. Schließlich überwog die Angst.

»Auch ich verspreche, Euch in Zukunft in allem gehorsam zu sein.«

»Und sich zu benehmen, wie es sich für ein Fräulein von Adel geziemt?«

»Auch das verspreche ich, verehrter Herr Vater.«

»Und ihr beide sprecht mir auch nicht wieder von dieser zweifelhaften Gabe!« Die Frauen stimmten mit gesenktem Blick zu.

»So will ich diesmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Aber rechne nicht noch einmal mit meiner Milde, Loretta. Das nächste Mal kommst du mir nicht so wohlfeil davon.«

Er wandte sich wieder an Jeanne. »Und auch Ihr nicht, vielliebe Gemahlin.«

Soll ich mein Versprechen nun brechen? Das Herz schlug Loretta bis zum Hals. Nun wurde ihr abwechselnd heiß und kalt, als litte sie an Fieber. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Heilige Jungfrau Maria, so hilf mir doch. Was soll ich nur tun? Die Unruhe wuchs sich zur Panik aus. Da draußen geschieht etwas Furchtbares.

Am Ende erlahmte ihr Widerstand. Als würde sie von unsichtbaren Fäden gezogen, trieb es sie aus dem Bett. Sie griff hastig nach einem Umschlagtuch und verließ die Kammer mit bloßen Füßen.

Im Dom zu Aachen,
September 1311

An der rechten Seite des Erzbischofs von Köln schritt Balduin auf seinen Bruder Heinrich zu. Mit beiden Händen trug er das Salbgefäß aus kostbarem Marmor, das noch aus der Römerzeit stammte. An Heinrich von Virneburgs linker Seite ging Peter von Aspelt, der Mainzer Erzbischof. Er trug die reich bebilderte Bibel in ihrem vergoldeten Ledereinband, auf die der König nach seiner Salbung den Treueid auf die Kirche ablegen würde, bevor ihm der Kölner die Krone aufs Haupt setzte.

Heinrich stand inmitten der prächtigen achteckigen Pfalzkapelle und sah ihnen entgegen. In seiner Miene spiegelten sich Freude, Zufriedenheit und Stolz. Es waren die gleichen Gefühle, die auch Balduin empfand.

So war das ehemals unbedeutende Grafengeschlecht der Luxemburger also endlich am Ziel. Wer hätte das noch vor wenigen Jahren gedacht?

Seitdem ihr Vater 1288 in der Schlacht von Worringen gefallen war, zumal als Parteigänger des besiegten Erzbischofs von Köln, schien das Haus Luxemburg ein für alle Male in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten. Schließlich waren nicht nur Balduins Vater, sondern auch drei seiner Onkel auf dem Schlachtfeld geblieben.

Mit großer Mühe hatte ihre Mutter Beatrix die Regentschaft für ihre damals noch unmündigen Söhne behauptet, nur unterstützt von einigen treuen Ratgebern. Es grenzte bereits an ein Wunder, dass Balduins sieben Jahre älterer Bruder Heinrich überhaupt sein Amt als Graf von Luxemburg antreten konnte.

Doch seitdem dieser die Zügel in die Hand genommen hatte, schien dem Haus Luxemburg wieder alles zu gelingen. Mit Hilfe des französischen Königs, dem sich Heinrich als Lehnsmann unterwarf, gelang es ihm, sich endgültig gegen die territorialen Begehrlichkeiten seiner adligen Nachbarn zu behaupten. Balduin, als der jüngste Sohn seit jeher für die geistliche Laufbahn bestimmt, wurde schon mit zweiundzwanzig Jahren zum Erzbischof von Trier gewählt.

Ein weiterer kluger Schachzug war die Ehe Heinrichs mit Margarete, der schönen Tochter des Herzogs von Brabant, eines der Sieger von Worringen. Obwohl die Verbindung aus rein politischen Gründen geschlossen wurde, stand sie von Anfang an unter einem guten Stern.

Ärgerlich und beschämt zugleich spürte Balduin einen Anflug von Eifersucht auf seinen Bruder, die ihn auch heute, am Tag des höchsten Glanzes seiner Familie, heimsuchte. Zwar begehrte er Margarete trotz ihrer Schönheit nicht, das wusste er mit Sicherheit. Aber das Glück einer erfüllten Ehe würde ihm auf ewig versagt bleiben.

Dabei lebte Balduin – wie so viele geistliche Fürsten − keineswegs keusch. Aber die Frauen, ledig oder jung verwitwet, stahlen sich wie Diebinnen in der Nacht in seine Gemächer und entfernten sich, bis zur Unkenntlichkeit vermummt, weit vor Tagesanbruch wieder. Und obwohl die meisten geduldig warteten, bis Balduin sie durch einen verschwiegenen Boten zum nächsten Stelldichein rufen ließ, waren es doch gestohlene Stunden, die ein merkwürdig schales Gefühl in ihm zurückließen.

Nun hatten die drei Erzbischöfe den zukünftigen König erreicht. Balduin straffte sich und verscheuchte die unangebrachten Empfindungen. Während einer der Mönche ein feierliches Tedeum anstimmte, ließ er seine Gedanken wieder schweifen.

Nie würde er den trüben Tag im Mai vergessen, an dem Heinrich ihn aufgesucht hatte. »König Albrecht ist ermordet worden«, teilte er dem bestürzten Balduin mit. »Man munkelt, dass Philipp von Frankreich den Kurfürsten seinen Sohn Karl als Nachfolger auf dem deutschen Thron andienen will.«

Balduin nickte nachdenklich. »Wir haben Philipp viel zu verdanken. Auf meine Stimme kann Karl daher zählen.«

Heinrich sah ihn mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an. »So billigt Ihr tatsächlich, dass schon wieder ein Ausländer die deutschen Lande regieren soll?« Noch hatte niemand im Reich die furchtbare Zeit des Interregnums nach dem Tod des letzten Staufers vergessen, während der der Engländer Richard von Cornwall und der Spanier Alfons von Kastilien um die deutsche Krone gestritten und das Reich dabei fast zugrunde gerichtet hatten.

Doch Balduin zuckte die Schultern. »Warum nicht? Habt Ihr bereits vergessen, dass auch Albrecht seine Krone mit Gewalt erobert hat? Vielen im Reich werden die Habsburger zu mächtig. Sie werden kaum einen Nachfolger wählen, der aus diesem Geschlecht stammt. Und wer stünde sonst zur Verfügung?«

Heinrich grinste. »Was haltet Ihr von mir?«

Balduin musterte ihn entgeistert. »Macht Ihr Scherze, Bruder?«

Heinrich schüttelte lächelnd den Kopf. »Überlegt doch einmal, Balduin. Mit Peter von Aspelt, dem Mainzer Erzbischof, der ebenfalls aus Luxemburg stammt, und Euch hätte ich bereits zwei Kurfürsten auf meiner Seite. Es wird uns einiges kosten, auch den Kölner Erzbischof zu gewinnen. Doch gelingt es, bringt uns der Virneburger auch die Stimmen von Sachsen und Brandenburg.«

Damals verspürte Balduin zum ersten Mal einen Anflug des Triumphes, der ihn heute, am Tag der Krönung seines Bruders, ganz und gar erfüllte. Schon immer hatte er Heinrich für seine Tatkraft und seinen Mut, ungewöhnliche Wege zu beschreiten, bewundert. Und auch diesmal sollte sein Bruder recht behalten.

Das Tedeum des Mönches verklang. Wie im Traum beobachtete Balduin, dass Heinrich sein Haupt senkte und der Kölner Erzbischof sein rotblondes Haar mit dem duftenden Salböl beträufelte. Dann leistete Heinrich den Treueid auf die heilige Mutter Kirche.

Unvermittelt überkam Balduin trotz des hehren Moments ein anderes ungutes Gefühl. Diesmal betraf es den Zeitpunkt der Krönung. Den Gerüchten zufolge war der Papst über die Wahl seines Bruders zum deutschen König durchaus erfreut gewesen. Zu groß war der Einfluss, den Philipp von Frankreich auf den Heiligen Stuhl zu nehmen versuchte, seitdem die Päpste vor wenigen Jahren ihren Amtssitz von Rom nach Avignon verlegt hatten.

Allerdings hätte Heinrich nach seiner Wahl unbedingt die offizielle Zustimmung des höchsten Würdenträgers der Kirche, Approbation genannt, abwarten müssen, bevor er sich in Aachen krönen ließ.

Doch dafür war sein Bruder zu ungeduldig gewesen. Zumal dem Haus Luxemburg schon die nächste unerhörte Ehre ins Haus stand. Heinrichs halbwüchsiger Sohn Johann würde Elisabeth, die letzte Erbin der Premysliden, heiraten und den Luxemburgern damit nach der deutschen auch noch die böhmische Krone einbringen.

Jetzt näherte sich der Kurfürst von Sachsen mit dem Krönungsmantel aus Purpurstoff, der über und über mit Goldfäden bestickt und mit kostbarem Hermelin verbrämt war. Danach trat der Pfalzgraf bei Rhein mit Zepter und Reichsapfel heran. Auf einem purpurnen Kissen trug der Kurfürst von Brandenburg die mit edlen Juwelen besetzte Krone.

Balduin schüttelte das nagende Gefühl kommenden Unheils ab. Heute wurde seiner Familie die höchste Ehre zuteil. Konzentriert beobachtete er, wie Heinrich der kostbare Mantel umgelegt wurde, er hernach die Reichsinsignien entgegennahm und der Kölner ihm schließlich die Krone aufs Haupt setzte.

Als auch seine Ehefrau Margarete mit einem schlichteren Reif zur Königin gekrönt worden war, geleitete die Prozession Heinrich feierlich zum vergoldeten Thron Karls des Großen, der auf einem Podest hinter dem Altar der achteckigen Krönungskapelle stand.

Während des ganzen restlichen Hochamts, das der Mainzer Erzbischof zelebrierte, erfüllte Balduin eine übermächtige Dankbarkeit. Inbrünstig wie nie zuvor sprach er die heiligen Formeln und Gebete mit. Endlich verklangen die letzten Töne des Abschlusschorals.

An der Seite seines Bruders schritt Balduin aus dem Dom, wo eine jubelnde Menschenmenge auf das Königspaar wartete. Diener warfen Silbermünzen unter das Volk, das sich jubelnd darum balgte. Dann strömte die Menge zu den Festwiesen, wo riesige Tafeln aufgebaut worden waren. Jedermann wurde heute mit so viel Fleisch, Brot und Wein verköstigt, wie er essen und trinken konnte.

Mit einer Mischung aus Stolz und Zufriedenheit musterte Heinrich die Menge. Dann wandte er sich zu Balduin um. »Der erste Schritt ist getan, Bruder«, raunte er ihm ins Ohr.

Balduin war verblüfft. »Was meint Ihr damit?«

Wieder sah ihn Heinrich mit jenem unergründlichen Ausdruck an, mit dem er Balduin schon einmal bedacht hatte, als er ihm von den Plänen für seine Kandidatur auf den deutschen Thron erzählte.

»Nun, heute bin ich zum König gesalbt worden. Im nächsten Jahr möchte ich Kaiser werden. Sobald der Frühling ins Land zieht, geht es nach Rom.«

Burg Blieskastel
September 1311, in der gleichen Nacht

Auf dem Gang vor Lorettas Schlafkammer spendete ein einzelner Kienspan ein wenig trübes Licht. Es war niemand zu sehen. Vorsichtig schlich Loretta die Stiege des Palas hinab in den Rittersaal, in dem das Gesinde schnarchend und prustend auf den verdreckten Binsen lag. Sie mussten dringend gewechselt werden. Im Haushalt des Grafen von Salm fehlte es mitunter selbst am Nötigsten.

Behutsam, um keinen der Schläfer zu wecken, tastete Loretta sich an der kalten Wand entlang bis zum schweren Portal, das in den Burghof führte. Ihr Herz raste noch immer, das Blut rauschte in ihren Ohren. Endlich erreichte sie die eisenbeschlagene und des Nachts mit zwei dicken Riegeln gesicherte Tür.

So leise sie konnte, zerrte Loretta an dem ersten Riegel. Heilige Jungfrau Maria, hilf! Er rührt sich nicht vom Fleck! Auch den zweiten Riegel konnte sie kein Jota von der Stelle bewegen.

Plötzlich öffnete eine der Mägde die Augen und starrte sie an. Es war Liese, die in der Küche den Abwasch, das Anfeuern und andere niedrige Arbeiten besorgen musste. Die Köchin und die Knechte stießen die Magd oft herum. Gerade deshalb war Loretta immer besonders nett zu ihr.

Nun sollte sich ihre Freundlichkeit auszahlen. »Bitte komm und hilf mir«, flüsterte sie verzweifelt. Liese ließ sich nicht zweimal bitten und sprang auf. Dabei stieß sie unsanft an ihren Nebenmann, einen der Waffenknechte der Burg namens Gisbert, der nun ebenfalls erwachte und sich aufrichtete.

»Was ficht euch an, Weibsvolk?«, fuhr er die Mädchen respektlos an. Erst dann erkannte er Loretta. »Was tut Ihr hier zu nächtlicher Stunde, mein Fräulein?«, brummte er erstaunt.

Jetzt war es mit Lorettas Beherrschung vorbei, zumal sich die Riegel auch mit Lieses Hilfe kaum bewegen ließen.

»Zu Hilfe, zu Hilfe!« Kreischend zerfetzte ihr Schrei die Stille und weckte weitere Schläfer. »Helft uns, da draußen schwebt jemand in Todesgefahr!«

Sofort waren mehrere Knechte auf den Beinen. »Wer ist es, mein Fräulein?«, riefen sie durcheinander, während sie die schweren Riegel scheinbar mühelos zurückzogen und das Portal aufstemmten.

Loretta konnte nicht antworten. Ihre Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt. Endlich war der Türspalt groß genug, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Wie von Furien gehetzt, rannte sie über den matschigen Burghof auf die Stallungen zu. Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase. »Es brennt«, hörte sie entsetzte Schreie hinter sich. »Weckt alle auf und holt Wasser vom Brunnen, es brennt!«

Jetzt war Loretta an der Tür zu einem Holzschober angelangt und riss sie auf. Dichter Qualm drang heraus und nahm ihr die Sicht und den Atem. Wie in Trance versuchte sie trotzdem, hineinzugelangen. Doch Gisbert, der ihr nachgeeilt war, hielt sie zurück. »Ihr könnt Euch den Tod holen«, schrie er sie an. Dann riss er sein Hemd herunter, hielt es sich vor Mund und Nase und stürzte in den Qualm, gefolgt von zwei anderen Knechten.

Nur kurze Zeit später erschienen sie hustend und spuckend wieder im Freien und schleiften zwei Gestalten mit sich, deren Mienen geschwärzt und kaum zu erkennen waren. Es schien ein junges Pärchen zu sein. Beide rührten sich nicht.

»Bringt Wasser!«, schrie Gisbert. Sofort eilten zwei Mägde mit Eimern herbei, die sie bereits an der Pferdetränke gefüllt hatten. Gisbert schüttete das Wasser über die leblosen Körper. Das Mädchen bewegte sich nicht, aber der Junge kam, keuchend vor Atemnot, langsam wieder zu Bewusstsein.

Erst jetzt erkannte Loretta, wer es war, und starrte ihn wie betäubt an. Also hatte ich recht! Er war schon fast tot. Und das Mädchen? Tränen der Verzweiflung schossen ihr in die Augen. Lebt es noch? Oder habe ich zu lange gewartet?

In diesem Moment kamen ihre Eltern über den Hof gerannt, Jeanne ohne Kopfbedeckung mit fliegenden Haaren, beide ebenfalls barfuß und im Hemd, über das sie Mäntel geworfen hatten.

»Was ist hier geschehen?«, schnauzte ihr Vater die Knechte an. Die Männer hoben abwehrend die Hände. »Wir wissen es auch nicht, Herr. Ein junges Paar hat sich wahrscheinlich zu einem heimlichen Stelldichein in der Holzscheune getroffen. Dort ist ein Schwelbrand ausgebrochen und hat sie betäubt. Hätte Eure Tochter Loretta uns nicht gewarnt, hätte die ganze Burg abbrennen können.«

Jeanne von Salm schrie leise auf. Bernhard von Salm beachtete ihren Ausruf nicht weiter. »Wer sind die beiden? Sind sie zu Schaden gekommen?«

Eine Magd beugte sich über die regungslose Gestalt des Mädchens und legte zwei Finger an seinen Hals. Dann richtete sie sich langsam wieder auf.

»Lene ist tot, wahrscheinlich erstickt, hoher Herr«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Sie ist die Tochter des Schäfers.«

Dann zeigte sie auf den immer noch keuchenden und nach Luft ringenden Jungen. »Doch der allmächtige Herr sei gelobt. Rüdiger, Euer Ältester, lebt.«

Burg Blieskastel
September 1311, Am Morgen nach dem Brand

»Was faselt Ihr mir schon wieder von dieser Gabe?«, wetterte Bernhard von Salm.

Loretta, die gerade zu ihren Eltern in die Kammer neben dem großen Saal befohlen worden war, stockte vor der spaltbreit geöffneten Tür. Trotz ihrer Beklommenheit konnte sie ihre Neugier nicht bezähmen. Zu gerne wollte sie mehr über diese geheimnisvolle Gabe erfahren!

Wenn mich der Vater beim Lauschen erwischt, werde ich noch härter bestraft, schoss es ihr durch den Kopf. Dann übermannte sie wieder die Empörung über die bodenlose Ungerechtigkeit ihres Vaters, der sie schon in der Nacht ohne ein Wort der Anerkennung barsch in ihre Kammer zurückgeschickt hatte. Dort war sie bis zum Morgengrauen schlaflos geblieben.

Habe ich meinen Bruder nicht vor einem furchtbaren Tod bewahrt? Sollte er mir nicht dankbar sein, anstatt mich zu schelten? Sie fasste einen Entschluss. Noch hatten die Eltern sie nicht bemerkt. Sie verharrte hinter der Tür und lugte vorsichtig durch den Spalt.

Als sie ihre Mutter erblickte, war Loretta aufrichtig überrascht. Jeanne saß kerzengerade auf ihrem Schemel und blickte ihrem Gemahl geradewegs in die Augen. Als sie antwortete, klang ihre Stimme fest.

»Es ist eine Gabe, die seit Generationen in der weiblichen Linie meines Geschlechts vererbt wird, werter Gemahl. Zuletzt besaß sie Marguerite, die Tante des heiligen französischen Königs Ludwig. Dank ihr half sie seiner Mutter Blanche von Kastilien, die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn zu erhalten, bis er das Mannesalter erreichte.«

Während Loretta diese Neuigkeit verarbeitete, verfärbte sich das Gesicht ihres Vaters dunkelrot. Gleichzeitig wurde seine Stimme gefährlich ruhig.

»So ist das also, vielliebe Gattin. Ihr lasst wahrlich keine Gelegenheit aus, mir Eure edlere Abstammung unter die Nase zu reiben, neben der sich mein Stammbaum in der Tat unbedeutend ausnimmt. Doch …«

Zu Lorettas Überraschung schnitt Jeanne Bernhard diesmal das Wort ab.

»Das ist nicht wahr, mein Gemahl, und Ihr wisst es. Nun hört mich an! Anfangs habe ich selbst nicht glauben wollen, dass Loretta die Gabe besitzt. Als sie den Erzbischof Balduin in seiner eigenen Kirche vor dem herabstürzenden Stein bewahrte, redete ich mir nach dem ersten Schrecken ein, es sei nur ein Zufall gewesen. Doch nun hat sie bereits zwei weiteren Menschen das Leben gerettet, zuletzt Eurem ältesten Sohn und Erben.«

»Törichtes Weibergeschwätz«, knurrte Bernhard. »Soll ich Euch sagen, warum meine halbwüchsige Tochter mitten in der Nacht notdürftig bekleidet durch die Burg schlich? Sie wollte Eurem Taugenichts von Sohn das Tor öffnen, damit der nach seinem unkeuschen Treiben unbemerkt zurück in seine Kammer gelangen kann.«

Loretta stockte der Atem. Wie kam ihr Vater auf diese absurde Idee? Jeanne schien den gleichen Gedanken zu hegen.

»Das glaube ich nicht. Warum hätte Loretta das tun sollen?«

»Ich habe bereits mit Rüdiger gesprochen. Er hat diese Machenschaft nach strenger Befragung eingestanden. Im Gegenzug dafür, dass er Loretta trotz meines Verbots ab und an reiten lässt, hat sie seine Liebelei mit der Schäferdirne gedeckt.«

Vor der Tür knirschte Loretta mit den Zähnen. Das sah Rüdiger ähnlich! Was war ihr Bruder doch nur für ein erbärmlicher Feigling! Um den Zorn des Vaters zu besänftigen und von sich selbst abzulenken, war ihm jedes Mittel recht, selbst eine faustdicke Lüge.

Aber der Vorhalt des Vaters verfehlte seine Wirkung auf ihre Mutter nicht. Jeanne gab sich geschlagen. Loretta beobachtete, dass sie sich auf die Lippen biss und den Blick senkte. »So verzeiht meinen Irrtum, werter Gemahl«, murmelte sie. »Ich wusste es eben nicht besser.«

Ihre plötzliche Nachgiebigkeit besänftigte Bernhard von Salm. »So hört, was ich Euch nun zu sagen habe. Rüdiger ist durch den Tod seines Liebchens und seine durch den Qualm verätzte Kehle für diesmal genug gestraft. Ich habe ihm ernsthaft ins Gewissen geredet, und er hat mir auf die heilige Bibel geschworen, dass er von nun an keusch bleiben wird, bis ich ihm eine Gemahlin erwähle.«

Er machte eine Pause. »Größere Sorgen mache ich mir dagegen um unsere Tochter Loretta, liebwerte Gattin. Sie hat sich seit der Sache mit dem Stalljungen nicht wirklich gebessert. Selbst mir gibt sie Widerworte. Das kann ich nicht länger dulden.«

Loretta ergriff eine tiefe Traurigkeit. Immerzu hatte ihr Vater etwas an ihr auszusetzen. Unwillkürlich brannten auf einmal Tränen in ihren Augen.

Doch Jeanne verteidigte sie. »Loretta ist ein gutes Mädchen, mein Gemahl«, beteuerte sie. »Etwas ungebärdig und wild, da habt Ihr recht. Und sie widerspricht, wenn sie glaubt, dass man ihr unrecht tut. Aber sie ist sehr gelehrig und gescheit für ihr Alter und behandelt ihre Geschwister und das Gesinde freundlich und ohne Hoffart. Klaglos erfüllt sie ihre Pflichten im Haushalt und ist eine fleißige Schülerin. Fragt Bruder Blasius, er wird es Euch bestätigen.«

»Dessen bedarf es nicht, meine Liebe. Was Ihr beschreibt, ist das mindeste, was ein Vater von seiner Tochter erwarten kann«, entgegnete Bernhard von Salm. »Wäre es nicht in diesen unsicheren Zeiten von Nutzen, hätte ich schon längst bereut, dass ich sie lesen und schreiben und sogar Latein lernen lasse wie ihre Brüder. Doch wenn ihr Gemahl dereinst ins Feld ziehen muss, so wie ich, ist es von Vorteil, wenn auch sein Weib die Geschäfte der Burg in seiner Abwesenheit führen kann.«

»Aber«, nun erhob er wieder die Stimme, »sollte ich weiter befürchten müssen, dass Loretta die Tugenden ihres Geschlechtes vermissen lässt, schicke ich sie zu den Zisterzienserinnen, auf dass sie dort die Strenge erfährt, die Ihr oft nicht walten lasst.«

Insgeheim atmete Loretta auf. Dies war eine leere Drohung, denn Bernhard von Salm hatte keinen Groschen übrig, um den Schwestern den dafür nötigen Obolus zu entrichten. Auch Jeanne wusste das, obwohl sie demütig nickte. Doch Bernhard von Salm war noch nicht fertig.

»Insbesondere erwarte ich, vielliebe Jeanne, dass Loretta niemals wieder unerlaubt die Frauengemächer verlässt, schon gar nicht des Nachts. Auch hat sie sich von den Stallungen fernzuhalten. Es ist ihr ausdrücklich verboten zu reiten. Erst wenn ich sie verlobt habe, mag sie sich im Umgang mit einem Zelter üben, sofern ihr zukünftiger Gatte damit einverstanden ist.«

Erneut erfüllte Empörung Lorettas Brust und drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Gerade erst hatte ihr Vater den einzigen Zelter verkauft, der noch zum Gestüt gehörte, um Schulden zu begleichen. Sie wusste, wie sehr ihre Mutter an dem sanften Tier hing und dass diese jetzt zudem keine Möglichkeit mehr hatte, die Burg zu verlassen.

Doch Jeanne hatte ihre heutige Lektion gelernt und schwieg still.

»Noch ein letztes Wort, werte Gemahlin. Ich habe Euch schon einmal ermahnt. Erwähnt diese sogenannte Gabe nicht mehr! Mädchen in Lorettas Alter haben oft eine blühende Phantasie. Solches Gerede vergiftet das junge Herz Eurer Tochter nur mit nichtigen Eitelkeiten.«

»Ja, mein Gemahl«, stimmte Jeanne ihm ergeben zu.

»Gelobt Ihr es?«

»Ich gelobe es.«

»Gut. Ich freue mich über Eure Einsicht. So werde ich auch diesmal von einer strengeren Bestrafung Lorettas absehen.«

Trotz der letzten Worte ihres Vaters war Loretta tief enttäuscht. Jetzt werde ich niemals erfahren, was es mit diesen Vorahnungen auf sich hat.

In diesem Moment wandte Bernhard von Salm den Kopf zur Tür.

»Wo bleibt dieses Mädchen denn nur?«

Loretta wartete, bis ihr Vater den Blick wieder abwandte. Dann straffte sie sich, holte tief Luft und stieß die Tür auf.

»Guten Morgen, verehrter Herr Vater, verehrte Frau Mutter.« Sie versank in einen Knicks. »Ihr habt mich rufen lassen?«

Kapitel 2

Königliches Heerlager vor Brescia,
Juni 1313

Diese verfluchte Schwüle!« Erschöpft wischte sich Heinrich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Nimmt das denn nie ein Ende?«

Balduin sah seinen älteren Bruder mit einem Anflug von Missbilligung an. »Nicht, solange Ihr dem Ersuchen des Papstes nicht nachgebt, Brescias Bevölkerung und die Stadt zu schonen, wenn sie Euch ihre Tore öffnet.«

Heinrich schnaubte. »Ich denke gar nicht daran, Bruder. Ich muss diesem aufrührerischen Gesindel ein für alle Mal zeigen, wer ihr Herr und König ist.«

Balduin schwieg bedrückt. Und doch bist du dereinst nach Italien gekommen, um den nach innen und außen zerstrittenen lombardischen Städten den Frieden zu bringen, dachte er bei sich.

Zu seinem Erstaunen sprach Heinrich weiter, als hätte er seine Gedanken gelesen.

»Sie haben all meine guten Absichten zunichtegemacht, Balduin. Habe ich nicht Freund und Feind gleichermaßen gerecht behandelt? Nahezu jede Stadt wurde von zwei miteinander verfeindeten Familien beherrscht. Nicht nur Brescia, auch Mailand, Asti, Pavia, Parma und wie sie alle heißen. Ich habe die bis aufs Blut Zerstrittenen miteinander versöhnt und den Verbannten erlaubt heimzukehren. Sie haben sogar ihre konfiszierten Güter zurückerhalten.«

Sein Tonfall wurde eine Spur schärfer. »Und jetzt wendet sich dieser Verräter Tebaldo Brusato gegen mich und zettelt einen Aufstand in Brescia an, anstatt mir seine Dankbarkeit zu erweisen.« Er schüttelte die Faust gegen die Mauern der Stadt, auf denen Wachsoldaten in der flimmernden Mittagshitze auf und ab gingen.

Mit einer Mischung aus Mitgefühl und Unduldsamkeit betrachtete Balduin den Älteren. Heinrich war kleiner von Gestalt als er und schmächtiger als ihr Bruder Walram, der Zweitälteste und leidenschaftlichste Kämpfer der drei Brüder und folgerichtig einer der Heerführer. Heinrichs Haar wurde schon dünn und klebte an seiner hohen Stirn. Schweißtropfen perlten auf seinen Wangen.

»Natürlich habt Ihr es gut gemeint, Bruder.« Die Hitze führte nun doch dazu, dass sich Balduin entgegen seinem Vorsatz nicht länger beherrschen konnte.

»Doch schon seitdem die Mailänder den Aufstand wagten, nur wenige Monde nach Eurer Krönung zum langobardischen König in ihrem eigenen Dom, war es offensichtlich, dass die lombardischen Städte keinen Friedensboten wollen. Jede Partei in jeder dieser unseligen Städte versucht, uns auf ihre Seite zu ziehen. Niemand will Euch als Schlichter, alle buhlen darum, welcher Seite Ihr schließlich recht geben werdet. Statt Frieden habt Ihr daher nur …« Er brach ab und presste die Lippen zusammen.

Heinrich vollendete seinen Satz. »Ihr meint, Bruder, dass ich ihnen letztendlich nur noch größere Missgunst und Streitlust gebracht habe?«

Nach einem kurzen Moment des Zögerns nickte Balduin. »So ist es, Heinrich. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Ihr habt zwar Tebaldo Brusato zur Rückkehr aus dem Exil nach Brescia verholfen, ihn aber nicht dabei unterstützt, wieder die Regentschaft über die Stadt zu erlangen. Stattdessen herrschte dort Euer eigener Vikar, bis Brusato das Volk gegen ihn aufhetzte und der Vikar mitsamt Euren Anhängern aus der Stadt fliehen musste.«

Heinrich nickte grimmig. »Genau deshalb will ich diesmal ein Exempel statuieren, Balduin. So wohlfeil wie Cremona kommt mir Brescia nicht davon. Doch seht, was geschieht dort?«

Aufgeregt zeigte er auf das östliche Stadttor, aus dem soeben ein Trupp Reiter hervorbrach.

Balduin kniff die Augen gegen die gleißende Sonne zusammen. »Es scheint, als versuchten sie einen Ausfall. Da!« Er deutete auf einen Trupp Esel, die sich dem Heerlager, schwer mit Säcken beladen, über die sumpfige Ebene näherten. »Wahrscheinlich versuchen sie, an Lebensmittel zu kommen und unseren Nachschub zu rauben.«

Heinrich knirschte mit den Zähnen. »Diese Bastarde! Das hätten sie vor wenigen Wochen noch nicht gewagt. Erst seit dieses elende Fieber mein Heer geschwächt hat, kommen sie wie die Ratten aus ihren Löchern.«

Er stockte. Balduin ahnte seine Frage, kam ihm aber nicht entgegen.

»Wie viele sind diese Nacht gestorben?«, presste der König schließlich hervor.

»Fünfzehn Männer, alles Soldaten, und drei Weiber aus dem Tross. Dazu vier Kleinkinder. Ich habe heute Morgen für alle die Totenmesse gelesen.«

Heinrich nickte stumm. In diesem Moment preschte eine Gruppe königlicher Söldner den Kämpfern aus Brescia entgegen. An ihrer Spitze wehte das Banner mit dem luxemburgischen Wappen.

»Schaut, das ist Walram! Er wird die Kerle das Fürchten lehren!«

Angespannt verfolgten die Brüder gegen die Sonne das Kampfgeschehen. Jetzt trafen die feindlichen Truppen aufeinander. Schwerter und Lanzen blitzten auf, selbst aus dieser Entfernung hörte man das ohrenbetäubende Krachen, als die geharnischten Reiter in voller Rüstung zusammenprallten.

Der Kampf wogte hin und her, Männer und Pferde stürzten zu Boden. Schließlich nahm der aufsteigende Staub Balduin und Heinrich die Sicht.

Plötzlich lösten sich vier oder fünf Reiter aus dem Getümmel und rasten im Galopp auf das Stadttor zu.

»Sieg, Bruder, Sieg! Sie fliehen wie die Hasen!« Heinrich jubilierte. »Walram treibt sie in ihren Bau zurück.«

Balduin legte die Hand über die Augen, um besser zu sehen. Er war beunruhigt. »Warum werden sie nicht verfolgt? Der Feind muss den Fliehenden das Tor öffnen. Warum nutzt Walram die Gelegenheit nicht, um die Wachen zu attackieren?«

Heinrich winkte ab. »Weil es noch zu viele kräftige Kämpfer in Brescia gibt, Balduin. Sie haben noch nicht genug gehungert. Selbst wenn Walram durch das Tor in die Stadt eindringen würde, hätte er keine Chance gegen die Übermacht und würde mit seinen Mannen niedergemacht werden. Dieser Ausfall kam überraschend, das Gros unserer Streitmacht war nicht darauf vorbereitet. Wir können froh sein, dass Walram überhaupt so rasch reagiert hat. Seht nur, die Esel mit den kostbaren Getreidesäcken werden unbeschadet ins Lager geführt.«

Ein flüchtiger Blick bestätigte Balduin, dass Heinrich recht hatte. Doch die Unruhe blieb.

Da lösten sich zwei Reiter aus Walrams Gruppe und ritten auf Heinrich und Balduin zu. Vor dem König angelangt, senkten sie grüßend die Lanzen. Es waren zwei Lehnsmannen Heinrichs, Luxemburger wie er selbst.

»Ich grüße Euch, Egbert von Fleckenstein. Was bringt Ihr für Kunde?«

»Wir haben den Anführer der Aufständischen gefangen genommen, mein Herr und König.«

»Tebaldo Brusato? Führte er den Ausfalltrupp an?«

»So ist es, Herr.«

Strahlend drehte sich Heinrich zu Balduin um. »Wir haben ihn, Bruder. Jetzt machen wir ihm als Majestätsverbrecher den Prozess.«

Doch Balduin beachtete Heinrich gar nicht. Stirnrunzelnd betrachtete er die Boten, die die Blicke gesenkt hielten. Ihre Kiefer mahlten, als ob sie an einem übergroßen Bissen würgten.

Balduin holte tief Luft. »Dies ist nicht die einzige Kunde, die Ihr bringt, Egbert. Sprecht freiheraus, was Euch auf dem Herzen liegt.«

Zögernd hob der Angesprochene den Kopf. »Ich fürchte, wir bringen auch schlechte Nachrichten, Herr.« Er stockte.

Heinrichs Lächeln gefror. Balduins Puls wurde schneller. Er beherrschte sich mühsam.

»So sprecht.«

»Es geht um den edlen Herrn Walram, Euren Bruder. Er ist im Scharmützel gefallen.«

Burg Blieskastel,
Juni 1313

»Wer sind diese Ritter?«, flüsterte Loretta ihrer Mutter verstohlen zu, als ihr Vater in Begleitung zweier gerüsteter Männer in den Burghof von Blieskastel einritt. Die Wappen auf den Waffenröcken hatte sie noch nie gesehen.

Statt einer Antwort trat Jeanne von Salm vor, den mit Wein gefüllten Willkommensbecher in beiden Händen. »Seid willkommen auf Burg Blieskastel, edle Herren von Hunolstein. Seid auch Ihr willkommen, werter Gemahl.« Nacheinander reichte sie den Angesprochenen den Trunk.

Einen Moment war Loretta verwirrt. Herren von Hunolstein? Burg Hunolstein an der Dhron lag im Hunsrück und war eine der letzten Burgen im Besitz ihres Vaters. Dann ging ihr ein Licht auf.

Dies mussten die Erbvögte der Burg sein, von denen ihr Vater vor seiner Abreise erzählt hatte. Hunolstein war vor langer Zeit im Besitz des Trierer Erzbistums gewesen. Mit Burg und Land waren die von Salm, mit der davon unabhängigen Gerichtsbarkeit jedoch die Vorfahren des heutigen Erbvogts Nikolaus belehnt worden. Die jeweiligen Rechte übten beide Geschlechter seit Generationen aus, da die Lehnsherrschaft Kurtriers unter den Vorgängern Balduins längst in Vergessenheit geraten war.

Nun saßen die Herren ab und verneigten sich höflich vor ihrer Mutter. Als sie auch auf Loretta zutraten, die mit ihren nun vierzehn Jahren als erwachsen galt, erschrak sie und begann zu frösteln. Auch wenn sie nicht mehr darüber sprach, vertraute sie ihren Vorahnungen seit dem Brand. Noch heute machte sie sich Vorwürfe, zu lange gezaudert zu haben, um auch die Tochter des Schäfers zu retten.

Trotzdem war sie froh, dass eine Zeitlang nichts mehr das Gefühl