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Die Fassungslosigkeit darüber, wie die Erwachsenen mit ihr umgingen und sie missbrauchten, begleitet die Autorin seit ihrer Kindheit. Bereits früh war sie sich sicher, dass Gott das so niemals gewollt haben kann. Allem Schweigen, allen Leugnungen und Drohungen der Erwachsenen zum Trotz hört sie nicht auf, nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu fragen und zu forschen. Auf sich allein gestellt baut sie sich ein Leben auf, in dem sie als Krankenschwester über sich hinauswächst. Aber die tiefen inneren Verletzungen lassen sich nicht langfristig ignorieren und nur eine Mischung aus tiefem Glauben, erfrischendem Humor und wahrhaftem Mitgefühl erlaubt es ihr, in allen Krisen, Zusammenbrüchen und Neuanfängen die Hoffnung auf ein besseres Leben nicht zu verlieren.
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Seitenzahl: 854
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
office@novumverlag.com
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0388-3
ISBN e-book: 978-3-7116-0389-0
Lektorat: Falk-M. Elbers
Umschlagabbildungen: Mara Joana Melcher
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Einleitung
Babys haben weiße reine Herzen. Wenn der Tatendrang dann erwacht, werden sie grün, wie der erwachende Frühling. Mit der ersten Liebelei färben sich die Herzen zartrosa. Und mit der ersten großen Liebe werden sie feuerrot. Hat eine Liebe dann Bestand, bleibt ein warmes, wohliges orangerot.
Doch was, wenn weiße Herzen weinen?
Was, wenn weinende Herzen bluten??
Was, wenn blutende Herzen verstummen???
Und was, wenn verstummte Herzen erfrieren ...
Wie sieht dann die Reihenfolge aus?
Babys haben weiße Herzen. Wird dann aber der erwachende Tatendrang gedämpft, erdrückt, erstickt, dann werden weiße Herzen grau. Sie füllen sich mit blauen Tränen. Und blaue Herzen weinen stumm. Lernen sie dann rotes kennen, leiden sie oft Qualen, denn rote Herzen bluten stark und immer wieder neu ...
Und ewig sehnen wir uns nach einem grünen Herzen, nach der Zeit, in der Herzen erkunden, erblühen und sich nach Unbeschwertheit sehnen, eben nach dieser großen Freiheit, die sich alle wünschen.
Doch niemand dreht die Zeit zurück. Und so bleiben grüne Herzen unsere ewige Sehnsucht. Aber mit viel Arbeit und Geduld kommt man ganz nah dran.
Vorwort
Ein Wort an/zu …
Es hat sehr lange gebraucht, dieses Buch zu schreiben und letztendlich zu Ende zu bringen. Nicht allein wegen der Dramatik der Dinge, sondern auch noch aus anderen Gründen, die ich hier kurz erläutern möchte.
Ein Wort zu: meiner Mutter
Meine Mutter hat sich nicht immer richtig verhalten, mir gegenüber. Sie hatte selbst eine schlimme Geschichte, die ein ganzes Buch füllen würde. Und nur allzu oft überträgt man das Erlebte auf die nächste Generation. Das habe ich stets berücksichtigt und auch immer wieder damit entschuldigt. Und trotz all dem habe ich sie bis zum Schluss geliebt.
Ein Wort an: meine Geschwister
Auch wenn wir die gleichen Eltern hatten und viele Dinge zusammen erlebt haben, so würden doch mit Sicherheit sechs völlig unterschiedliche Werke zustande kommen, würde jeder von euch seine ganz eigene Geschichte niederschreiben. Ganz einfach deshalb, weil jeder eine ganz andere, seine ganz eigene Gefühls- und Sichtweise und auch Belastbarkeitsgrenze hat. Ja, seine ganz eigene Sicht der Dinge. Und jeder hätte recht damit. Genau aus diesem Grund möchte ich betonen, dass dieses Buch aus meiner ganz eigenen Sicht geschrieben ist. Und wenn es für den einen oder anderen an einigen Stellen vielleicht nicht ganz so scheint: ihr habt alle nach wie vor einen festen Platz in meinem Herzen und ich werde nie aufhören, euch zu lieben.
Ein Wort an: alle Mitbetroffenen
Es geht hier nicht darum, irgendwelche Therapien oder Therapeuten (und Ärzte und Kliniken) anzupreisen. Deshalb habe ich nähere Angaben darüber ganz bewusst weggelassen.
Auch genauere Methoden oder Inhalte verschiedener Behandlungen sollten nicht im Vordergrund stehen.
Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass beinahe achtzig Prozent der Heilung von den Patienten selbst bewältigt werden muss! Das ist leider eine bittere Tatsache, auch wenn wir zu hundert Prozent unschuldig daran sind, was man an uns verbrochen hat. Andere können nur Hilfestellungen geben, in ihren jeweiligen Positionen und Kapazitäten (dazu gehören Ärzte, Therapeuten, Kliniken, Pflegepersonal, Freunde, Verwandte und auch Medikamente).
Wichtig ist auch, sich immer wieder Oasen zu schaffen, um all das bewältigen zu können.
Ich wünsche euch allen ganz, ganz viel Kraft und Geduld dafür.
Ein Wort an: alle Ärzte, Therapeuten, medizinischen Pflegekräfte, Betreuer, Sozialarbeiter, Berater
Im Großen und Ganzen weiß ich noch gut, wer was wann und wo gesagt und mit mir besprochen hat. Dennoch gibt es Sätze und Begebenheiten, die ich selbst nicht mehr eindeutig zuordnen kann, die aber dennoch wichtig sind, erwähnt zu werden. Daher ist es möglich, dass die eine oder andere Bemerkung jemand anderem zugeordnet wurde. Da es im Wesentlichen darum geht, wie ich manche Dinge gesehen, erkannt und bearbeitet habe, ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, wer tatsächlich was wann und wo gesagt hat. – Ich bitte um Nachsicht.
Ein Wort an: alle Kritiker von Jehovas Zeugen
Dieses Buch soll keine Plattform sein, um zu missionieren. Die allermeisten Menschen kennen inzwischen unsere Religionsgemeinschaft und wissen, dass man uns überall antreffen und ansprechen kann, da wir alles öffentlich und nichts im Geheimen machen. Deshalb brauche ich dieses Buch nicht, um meinen Glauben zu erklären. – Von meinen Geschwistern teilt niemand meine Glaubensansichten und ich bin auch nicht religiös erzogen worden. Ich habe mich erst im Erwachsenenalter dafür entschieden. – Ich möchte hier lediglich zeigen, dass mein Glaube, meine Überzeugung, mir ganz persönlich eine enorme Kraftquelle ist, um mit all den Ereignissen klarzukommen und die Welt zu verstehen. Und wenn ich für mich nicht überzeugende, stichhaltige Antworten gefunden hätte, hätte ich mich nie dafür entschieden. Denn ich konnte noch nie irgendetwas einfach annehmen, nur weil es gut klingt. Ich brauchte stets Beweise, die MICH überzeugten. Und da mag es für jeden Menschen etwas anderes geben, was ihn überzeugt. – Es hat mein Leben einschneidend geformt, gefestigt und bereichert. Deshalb konnte ich das auch auf keinen Fall außen vor lassen. Und da mag jeder für sich ganz eigene Kraftquellen haben, die ihm den nötigen Halt geben (zum Beispiel Ehepartner, Familie, ein Ehrenamt mit Kindern, kranken oder älteren Menschen, mit Tieren, ein Sportverein oder was auch immer). In meinem ganz persönlichen Fall ist es mein Gott und Freund Jehova.
Teil 1
Mein traumatisches Leben
Der Umzug
Es war alles ganz aufregend. Ein heilloses Durcheinander. Doch an den witzigen Bemerkungen und dauerndem Gelächter merkten wir Kinder, dass etwas Schönes geschieht.
Viele bekannte Männer und Frauen waren da und räumten unsere Wohnung aus. Alles wurde in einen großen Lastwagen gebracht. Und als alle so weit waren, sich in verschiedene Autos zu verteilen, wurde auch der Lastwagen verschlossen. Mein Onkel Rudi sollte ihn fahren. Plötzlich hüpften wir drei Mädchen, ich war die Mittlere, um unseren Onkel herum und riefen alle durcheinander: „Dürfen wir mit dir mitfahren? Bitte, bitte, bitte!!!“
Meine Mutter protestierte. Doch Rudi hatte sie rasch überredet. So lud er uns Zwerge einen nach dem anderen in seinen Laster auf den Beifahrersitz. Zuerst die zweieinhalb- jährige Lorah, dann mich, die dreieinhalbjährige Mara, und schließlich die viereinhalbjährige Gerda. Unsere jüngste Schwester Gina durfte mit ihren eineinhalb Jahren nicht mit auf den LKW. Ganz aufgeregt hopsten wir auf dem Sitz auf und ab und hin und her. Als unser Onkel einstieg, fragten wir mit großen Augen: „Wo fahren wir hin?“
„In eure neue Wohnung.“ Er lachte ganz verheißungsvoll.
Dann schilderte er in den schillerndsten Farben, wie toll wir jetzt wohnen würden, sodass wir es gar nicht abwarten konnten, alles zu erkunden. Doch erst einmal waren wir stolz wie Oscar, hoch über dem Boden im Führerhaus eines LKWs zu sitzen und durch dieses riesige Fenster scheinbar die ganze Welt sehen zu können. Es war ein ganz seltsames Gefühl von Freiheit, was da in mir aufkam, trotz meiner erst dreieinhalb Jahre. Und die Fahrt kam uns irre lang vor. Dabei waren es höchstens zwanzig Minuten, nur zwei Ortschaften weiter. Es war ein angenehmer, warmer Tag im August 1966.
Als wir ankamen, setzte Rudi den LKW zurück an einen der vier Eingänge des großen, rot-weiß gestrichenen Häuser-blocks. Das Haus gegenüber hatte drei Eingänge und war ganz weiß. Beide Häuserblocks hatten vier Stockwerke, unsere Wohnung lag im linken Parterre.
Ui, sie war wirklich riesig im Gegensatz zu unserer alten Wohnung, die bloß zwei Zimmer hatte. Diese hier hatte vier große Zimmer: ein großes Esszimmer, eine kleinere Küche, einen langen Flur, ein separates Bad und WC und zwei Balkone, vorne der kleinere, hinten der größere.
Wir wirbelten durch die Räume und rannten auf den Flur und wieder rein und wieder raus auf die Straße. Es herrschte eine ausgelassene, fröhliche Stimmung, bis auf eine kleine, zierliche Person mit kastanienroten Haaren. Sie schien die Einzige zu sein, die sehr angespannt und schon etwas genervt wirkte. Sie delegierte alle Möbelstücke an ihren vorgesehenen Platz. Es war unsere Mutter. Und ich wunderte mich, dass sie nicht selbst so mit anpackte, wie sie es sonst immer tat. Sie konnte arbeiten wie ein Mann. Doch wenn sie zupacken wollte, da fiel öfter der Satz: „Lass das, du bist schwanger.“
„Schwanger“, ging es mir durch den Kopf, „das habe ich doch schon mal gehört. Was bedeutet das noch?“ Doch ich fand nicht gleich die Antwort. Und so ging der Gedanke gleich wieder in unserem ausgelassenen Nachlaufspiel unter.
Erst als wir unsere Mutter fragten, warum wir jetzt hier wohnen, sagte sie: „Na, die Mama bekommt doch noch ein Baby. Und die alte Wohnung war einfach zu klein für so viele Kinder. Jetzt habt ihr zwei große Kinderzimmer.“
„Wir bekommen noch ein Baby?“, wollten wir nochmal genauer wissen. „Ja.“
„Und wann?“
„Im Winter, nach Weihnachten.“
„So lange noch?“
Aber die Neugier und die Spannung auf ein weiteres Geschwisterchen gingen im Trubel des Umzugs schon bald wieder unter.
Stattdessen erkundeten wir ganz aufgeregt die neue Wohnung.
Noch spannender fanden wir die Umgebung. Die Häuser waren von außen noch nicht ganz fertig, es fehlten die Haustüren und Wege und Vorgärten. Um ins Haus zu gelangen, musste man über lange Holzbretter balancieren, die dann jedes Mal wie Gummi nachwippten. Ganz schön umständlich und riskant für die Umzugshelfer, aber Abenteuer pur für uns Kinder.
Schließlich saßen wir Kinder rechts und links der Bretter im Sand und ließen unserer Fantasie freien Lauf. Da es eine ganz neu erbaute Siedlung vom Leverkusener Bayerwerk war, dort arbeitete mein Vater nämlich als Chemiefacharbeiter, fanden sich noch mehr Möbelwagen mit kinderreichen Familien ein (natürlich nicht als Fracht – hihihi). Schnell wurden Freundschaften geschlossen, unter uns Kindern sowieso, aber auch unter den Erwachsenen. Es war, als hätten wir uns alle in einem Ferienlager getroffen. Ob die Erwachsenen das damals auch so sahen, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit nachrecherchieren. Es war die erste große Veränderung in meinem Leben.
Und es sollte nicht die letzte sein. Aber es sollte die schönste bleiben, wenn ich es rein an den tief empfundenen Gefühlen ausmache. Auch diese machte leider nicht lange Freude, denn was sich anfangs als so großer Segen erwies, stellte sich schnell als schlimmster Fluch heraus.
Der Albtraum begann
Mein Vater war selten zu Hause, denn auch er machte viele neue Bekanntschaften, die entweder aus Thekenkumpels oder aus allzu willigen und freizügigen Nachbarinnen bestanden, die es nicht zu stören schien, dass er Ehemann und Familienvater war. Wenn er dann mal nach Hause kam, war er stets betrunken und äußerst aggressiv. Er entlud sich an uns Kindern durch Prügel und Schimpfe. Wenn meine Mutter dazwischen ging, bekam sie seine ganze Brutalität zu spüren. Erst wenn sie blutüberströmt und regungslos liegen blieb, ging er wieder weg. Nach dem schrecklichen Knallen der Wohnungstür folgte eine noch schrecklichere Stille. Wir Kinder hockten wie Trauben zusammengekauert unter dem kleinen Tisch im Kinderzimmer.
Nach einer ewigen Minute sahen wir uns mit großen Augen ängstlich an. Ohne ein Wort schlichen wir den langen Flur in Richtung Esszimmer. Dabei kam der Flur uns jedes Mal zehnmal so lang vor. Wenn sie nicht im Esszimmer lag, schlichen wir weiter ins Wohnzimmer. Wenn wir sie entdeckten, blieben wir wie versteinert stehen. Und dann flüsterten vier kleine Mädchen: „Lebt sie noch? – Ist die tot? – Sie atmet noch! – Wer geht mal gucken?? …“
Und immer war ich es, die scheinbar ganz mutig auf sie zuging. Aber es war alles andere als Mut. Denn am liebsten hätte ich losgeheult und in die Hose gemacht. Doch der Drang, zu erfahren, was los war, war schließlich stärker. Vorsichtig streckte ich meine kleine, zitternde Hand aus, legte sie auf ihre Schulter und flüsterte mit erstickter Stimme: „Mama?“
Sie rührte sich nicht. Fragend drehte ich mich zu meinen Schwestern um.
„Nochmal“, flüsterten sie mir zu.
Völlig verkrampft rüttelte ich ein wenig an ihrer Schulter.
„Mama? – Mama, sag doch was.“
„RAAAUUSS“, schrie sie plötzlich auf. Und wie vom Blitz getroffen, rannten wir wie um unser Leben ins Kinderzimmer unter den Tisch. Zitternd klammerten wir uns eng aneinander. Wir wagten nicht einmal, etwas lauter zu atmen, nur um jedes noch so kleine Geräusch, das wir vernahmen, zuordnen zu können.
Nach einer weiteren endlosen Stille hörten wir unsere Mutter wütend, verzweifelt weinen. Sie ging ins Bad. Wir hörten Wasser. Wir warteten gespannt, dass sie zu uns kam. Aber sie kam nicht. Sie kam einfach nicht zu ihren völlig verängstigten Kindern. Wir hörten, wie sie in die Küche ging. Langsam brach unsere Starre und wir atmeten tief durch. Dann versuchte jeder in seiner ganz eigenen kleinen Welt mit dem Geschehen zu leben. Jeder nahm sich irgendetwas und tat so, als ob er im Spiel versunken die Welt um sich herum vergisst. Das war für mich jedes Mal einer der härtesten und schmerzerfülltesten Momente in meinem noch so jungen Leben. Geweint hat keiner von uns.
An solchen Tagen sehnte ich die Nacht herbei. Ich hoffte jedes Mal: „Wenn ich nur ganz, ganz, ganz tief schlafe, dann wache ich nicht mehr auf. Dann ist Ruhe, einfach nur Ruhe.“
Und meine Mutter erzählte mir später oft, dass ich tatsächlich so tief schlafen konnte, dass ich selbst einen Presslufthammer nicht registriert hätte. Oder dass sie ohne weiteres hätte mein Bett beziehen können, ohne dass ich aufgewacht wäre.
Und in solchen Nächten hatte ich stets den gleichen Traum. Er war so real, dass ich immer wieder krampfhaft überlegte, wo ich da war. Es war warm und meist dunkel. Manchmal leuchtete alles ganz rot und orange und dann wurde es noch wärmer. Ich hörte gedämpfte Stimmen um mich herum, die mich aber in keiner Weise interessierten. Ich hatte riesige Hände und spielte mit einem Ball oder einem dicken Seil. Dort ging es mir gut. So gut, dass ich mich fast jede Nacht dorthin träumte, ohne zu wissen, wo ich da war. Nur manchmal waren die gedämpften Stimmen sehr laut. Dann spürte ich gleichzeitig eine geballte Wut, die aber nicht von mir kam. Sie machte mir Angst und ich zog mich in die dunkelste Ecke dieser Höhle zurück. Und manchmal war es so, als ob ich dort hinschwimme oder tauche. Und am Morgen danach immer wieder die bohrende Frage: „Wo war ich da?? Wo war ich da bloß?“ – Aber ich bekam keine Antwort. Ich konnte sie mir selbst nicht geben und andere schon gar nicht, denn ich erzählte ja nie davon. Ich sehe mich oft schlaftrunken aus dem oberen Etagenbett krabbeln und manchmal bis zum Mittag in Gedanken versunken, um herauszufinden, wo ich da war. Ein heftiger Schlag auf den Kopf und die Stimme meiner Mutter holten mich in die brutale Realität zurück: „Wo bist du bloß wieder mit deinen Gedanken?! Geh raus spielen, die anderen sind auch schon draußen.“
Mit der Frage im Kopf „Warum hat sie mich jetzt geschlagen?“ ging ich traurig, einsam raus. Solange noch überall gebaut und ausgebessert wurde, fand ich das sehr spannend und interessant: Arbeiter, Bagger, Bretter, Schutt.
Alles nahm langsam Formen an; die Haustüren und Klingeln wurden angebracht, Vorgärten entstanden, Wege und eine geteerte Straße als Wendehammer. Ja, und dann waren da zwei Spielplätze vor dem Haus. Sandkästen wurden ausgehoben, Klettergerüste nach und nach angeschleppt und installiert, mal aus Holz, mal aus Metall und Eisen. Ich wollte alles genau sehen. Ich musste einfach allem genau auf den Grund gehen – wie etwas entsteht, warum und wodurch es hält, wie es funktioniert. Sogar die Bagger und andere Baugeräte zogen mich in ihren Bann.
Mama rief des Öfteren: „Lass die Arbeiter in Ruhe. Geh spielen!“
„Ach lassen Sie nur. Sie stört uns nicht“, riefen die Arbeiter amüsiert. Doch Mama ließ sich nicht in ihre Erziehung reinreden. Also bestand sie darauf, dass ich dort wegging. Beleidigt ging ich zu ein paar spielenden Kindern und hoffte, sie würden mich nicht bemerken. Aus dem Augenwinkel sah ich meine Mutter vom Balkon in die Wohnung gehen.
Das war mein Moment, mich in einem Gebüsch zu verstecken, um alles nur zu beobachten, ohne beobachtet zu werden. Ich hatte Angst vor den Kindern, die so unbeschwert schienen, dass sie mir so albern und dumm vorkamen, dabei sehnte ich mich so sehr danach, auch so zu sein. Doch meine Angst gewann jedes Mal die Oberhand. Und so kam es, dass ich manchmal bis zu vier, fünf Stunden in meinem Versteck ausharrte und mächtig stolz darauf war, dass mich niemand entdeckt hatte. Oh Mann, war das krank! Aber es gab mir neue Kraft und Selbstwertgefühl. Ja, obwohl ich so gar kein Selbstbewusstsein hatte, so war mein Selbstwertgefühl mir immer heilig. Das mag etwas verwirrend klingen, doch für mich gab es da einen großen Unterschied: Selbstbewusst war ich nie als Kind. Ich fühlte mich dumm und hässlich und in jeder Hinsicht untalentiert. Das bekam ich ja auch tagtäglich zu hören und zu spüren. Und ich bekam keine Gelegenheiten, geschweige denn Gehör, das Gegenteil zu beweisen. Und dennoch ging mir bereits damals durch den Kopf: „Aber ich bin doch auch auf dieser Welt, wie alle anderen auch. Also habe ich doch auch ein Recht, zu leben. Ich muss doch irgendetwas wert sein. Oder zumindest für irgendjemanden. Es muss nur mal jemand sehen …“
Aber weil es niemand sah und es niemanden kümmerte, hasste ich diese Welt der Erwachsenen. So wollte ich nicht werden. Und so wollte ich nicht leben. Aber ein Kind sucht sich immer wieder Oasen der Hoffnung – Strohhalme – Stille Ecken – Gebüsche …
Die laute, dunkle Stimme meiner Mutter ertönte jeden Abend vom Balkon auf die Straße: „Alles, was Melcher heißt, reinkommen!“
Vielen entlockte das ein Lachen. Uns Kinder lockte es aus unseren Ecken und Verstecken. Und wie Magnete steuerten wir aus allen Himmelsrichtungen auf unsere Haustüre zu. Bis wir alle so langsam runterkamen, mit dem, was jeder so erlebt und gespielt hatte, ging es etwas laut und chaotisch zu. So lange, bis Mama rief: „Schluss jetzt! Schlafanzüge an und hinsetzen!“
Hinsetzen hieß, an den Esstisch setzen und zu Abendbrot essen. Das waren meist geschmierte doppelte Brote mit Wurst oder Käse und Tee dazu. Danach durften wir noch etwas fernsehen: Flipper, Lassie, Fury, Daktari, Barbapapa und was es da alles gab. Kaum zu Ende ertönte der laute Befehl: „So! Ab ins Bett!“
Als wir dann nach einer Weile alle im Bett lagen, kam Mama rein, gab jedem einen Kuss auf die Wange und wir ihr auch, aber stets ohne uns dabei in den Arm zu nehmen, ein nüchternes, kaltes Ritual. Dann schloss sie die schweren, dunklen Gardinen und ging zum Lichtschalter. Sie schaute nochmal in die Runde.
„Mama, wo ist der Papa?“
„Der ist noch weg“, kam es barsch und knapp zurück.
„Wo denn?“, wollte der Nächste wissen.
Noch etwas schärfer und genervter kam dann: „Das geht euch nichts an! Und jetzt rumdrehen und schlafen!“
Damit löschte sie das Licht und schloss die Tür. Sie selbst setzte sich wieder vor den Fernseher, immer bis spät in die Nacht, unser Vater war bis dahin immer noch nicht wieder zu Hause. Sie war nicht zu beneiden.
Meine Mutter
Als Älteste von drei Kindern musste sie viel im Haushalt helfen und sich zusätzlich um ihre beiden jüngeren Geschwister kümmern. Und wenn irgendetwas mit den beiden war und sie weinten, bekam meine Mutter dafür Schläge. Als ihre Mutter dann starb, war sie zwölf Jahre alt. Das war mitten im Zweiten Weltkrieg. Doch ihr Vater wollte sich nicht um die Kinder kümmern und steckte sie ins Waisenhaus. Auch dort fühlte sie sich verantwortlich für ihren Bruder und ihre Schwester. Die Zucht im Waisenhaus hat tiefe Spuren hinterlassen, die auch wir immer wieder zu spüren bekamen. Als junge Frau lernte sie einen stattlichen jungen Mann kennen. Sie verlobten sich auch. Doch als er erfuhr, dass sie ein Kind erwartete, da ließ er sie sitzen. Ein uneheliches Kind kam zur damaligen Zeit einer mittelschweren Katastrophe gleich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als in ein sogenanntes Mütterheim zu ziehen.
Im November 1954 brachte sie dann unsere älteste Schwester Elisabeth, Lisa, zur Welt. Nun, im Mütterheim hatte sie nicht gerade das, was man als guten Umgang bezeichnete. Und ewig Pech mit Männern. So brachte sie zwei Jahre später unseren Bruder Rolf zur Welt, ebenfalls ohne Vater. Doch das Baby starb sechs Stunden nach der Geburt. Dann lernte sie einen Mann kennen, mit dem es dann tatsächlich zum Standesamt gehen sollte. Doch er kam nicht. Zwei Tage später fand man ihn tot im Rhein mit einem ordentlichen Alkoholpegel im Blut. All das will erst mal verkraftet sein!
Und dann tauchte der vermeintliche Prinz auf, der sie liebte und den sie aus tiefstem Herzen liebte. Schwarze Haare, schwarze Augen, lebenslustig, freigiebig, großzügig und überall beliebt. Sie zogen zusammen und bekamen bald ihre erste Tochter. Das Glück schien perfekt. Doch der Schein trog. Er trank immer mehr und machte sich dadurch schließlich mehr Feinde als Freunde. Das Geld wurde knapper, die angeblichen Freunde rarer. Er wurde zusehends aggressiver und gewalttätiger. Trotz all dem hielt meine Mutter fest zu ihm. Als ich dann als zweite Tochter meines Vaters kam und sechs Wochen alt war, wurden Gerda und ich getauft und gleichzeitig haben die beiden geheiratet, was mir bis heute unbegreiflich ist. Meine Mutter hoffte wohl immer noch auf das Wunder, dass mein Vater sich änderte. Doch davon war er meilenweit entfernt.
Oft, wenn er dann betrunken in der Nacht heimkam, wollte er uns Kinder noch sehen. Nicht immer schaffte es Mama, ihn davon abzuhalten. Dann wurden wir von den wütenden Kämpfen der beiden wach oder erst, als sich Papa über uns beugte, um uns einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Doch gequält und unwillig stießen wir ihn weg, wenn uns Zigarettenrauch und Alkoholwolken weckten. Manchmal mit den ehrlichen Worten eines Kindes: „Hm, nein – geh weg, Papa, du stinkst!“
Und damit er nur ja schnell wieder ging, gaben wir ihm „seinen“ Gute-Nacht-Kuss. Manchmal umarmten wir ihn noch. Mama machte das jedes Mal rasend. Und wir hörten ängstlich, wie sie sich noch im Schlafzimmer stritten oder gar prügelten. Dann erzwang er sich nicht selten ihre ehelichen Pflichten. Und wieder einmal flüchtete ich mich in meine warme, dunkle Höhle, in der sofort meine großen Hände und Finger nach diesem Ball griffen. Und dieser Griff war so wohlig und vertraut, dass ich gleich darauf in den erlösenden Schlaf fiel – und jeden neuen Morgen neue Hoffnung auf Besserung der Umstände. Doch Morgen für Morgen bröckelte etwas von dieser anfangs so panzerstarken Hoffnung und ließ sich auch nicht wieder kitten. Und das, was abbröckelte, baute ich still für mich als Schutzmauer um mich herum auf.
Mama bei den Nachbarn
Der Sommer und Herbst 1966 war die Zeit des Kennenlernens der Nachbarschaft. Und so kam es, dass Mama oft bei Nachbarn zum Kaffee eingeladen war. Und manchmal trafen sich ganz viele bei uns. Das fand ich immer ganz spannend und interessant. Ich erfuhr so viel von der „Erwachsenenwelt“, die uns Kinder immer „nichts anging“. Doch in meinem scheinbaren Spiel konnte ich zuhören und dennoch den Anschein erwecken, dass ich nichts davon mitbekam oder gar verstand. Doch das zwang mich auch manchmal ganz knallhart, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen, egal ob aus Freude, aus Entsetzen, aus Trauer oder aus Wut. Ich durfte mich ja schließlich nicht verraten.
So sagte zum Beispiel einmal eine Nachbarin zu meiner Mutter: „Das kannst du doch nicht erzählen, die Mara hört das doch alles.“
Doch was Mama dann antwortete, das ging so furchtbar tief rein und kostete mich alles an Kraft und Schauspielkunst, was ich bis dahin je aufgebracht hatte. Nicht nur, was sie sagte, sondern mit welcher Abfälligkeit sie es sagte, das war wie tausend Messerstiche: „Ach was. Die ist so blöd und dauernd so abwesend. Sowas kriegt die gar nicht mit.“
Als die Nachbarinnen sie manchmal in die Schranken weisen wollten mit einem empörten „Hanni“, da fuhr sie überzeugt fort: „Passt auf: Mara?“
Ich durfte natürlich nicht reagieren. Aber das bedeutete für meine Mutter und alle anderen, dass ich zu dämlich war. Das tat so weh!
„Mara?“, rief sie noch einmal.
Mit Magenschmerzen und erstickten Tränen blieb ich ganz unbeteiligt. Ihre Stimme wurde lauter und fester.
„Maraa!“
Ich tat nun völlig überrascht. „Ja?“
„Seht ihr!“, sagte sie triumphierend in die Runde. „Die kriegt nichts von ihrer Umwelt mit.“
Ich musste das Spiel weiterspielen und fragte: „Was ist denn?“
„Ach nichts!“, sagte sie mit einer abfälligen Handbewegung und längst wieder den Nachbarinnen zugewandt. „Spiel weiter“, schob sie noch hinterher, ohne mich weiter zu beachten. Sie entließ mich in meine kleine Welt und ich kämpfte verzweifelt mit den Tränen. Die beißende Frage im Kopf: „Warum ist meine Mutter so?! Warum?“
Mein Vater
Und so kam es dann auch, dass Mama eines Morgens wieder zu Nachbarn ging. Papa saß im Wohnzimmer und blätterte in einer Zeitschrift. Wir standen auf und kamen zu ihm ins Wohnzimmer. Neugierig, wie Kinder sind, wollten wir wissen: „Was ist das?“
Und wie selbstverständlich sagte er: „Kommt her, ich zeig es euch.“
So tippelten wir vier Mädchen in unseren zu groß geratenen Schlafanzügen zu ihm hin und standen nun zwischen ihm und dem Tisch. Er hielt uns wie eine Henne schützend in seinen Armen. Wir starrten irritiert, beschämt, neugierig und kichernd in diese Zeitschrift. Lauter nackte Menschen, Männer, Frauen und sogar Kinder, die zu zweit oder zu mehreren aneinander und ineinander verschlungen waren, wobei die Geschlechtsteile besonders auffällig dargestellt waren. Und ganz in seinem Element erklärte uns Papa dann Dinge, die wir gar nicht verstanden. Es dauerte auch nicht lange, da war es uns genug und wir rannten ins Kinderzimmer und spielten.
Doch von da an zeigte uns Papa immer öfter diese Hefte und erklärte alles Mögliche dabei, was wir eigentlich gar nicht wissen wollten. Irgendwann saß er dann nackt auf dem Sessel. Er trank Bier, wir fragten ihn, ob wir mal probieren durften. Und dann machte er es wie ein spannendes Wettspiel, wie eine Mutprobe, indem er sagte: „Wer meinen Penis in den Mund nimmt, darf Bier trinken.“
Obwohl wir uns fürchterlich dagegen sträubten, äußerlich und mehr noch innerlich, sagte Papa zu uns: „Wenn ihr das nicht macht, dann habt ihr Papa nicht lieb.“
Aber allen Protest unsererseits ließ er nicht gelten. Und was sollten so kleine, hilflose, manipulierte Kinder, die ihren Vater liebten und von ihm geliebt werden wollten, schon ausrichten!?
Aber alles in mir schrie: „Das ist bestimmt nicht richtig!!!“
Die Dinge nahmen ihren Lauf und gingen immer weiter. Es gab keinen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage. Und auch meine Schwestern schienen darunter extrem zu leiden. Aber wie und vor allen wem sollten wir uns mitteilen?! Sollte das jetzt immer so bleiben?
Immer wieder gab er uns Alkohol, um uns gefügig zu machen. Aber immer nur so viel, dass wir alles noch mitbekamen, uns aber nicht mehr wehren konnten. Schließlich erweckte er Gefühle in uns kleinen Würmchen, die manche mit zwanzig noch nicht kennen. Ich war total erschrocken darüber und von da an ekelte ich mich vor meinem noch kleinen Körper.
Ich wollte mich nicht mehr bewegen, weil ihn das anmachte, ob ich nun was anhatte oder nicht. Wir sollten nackt vor ihm Turnübungen machen, an denen er sich dann aufgeilte. Ich hasste diesen Blick an ihm. Es war so entwürdigend. Ja, auch schon so kleine Kinder haben Schamgefühl, ein Gespür für Privatsphäre, Würdegefühle. Doch das wurde langsam, aber systematisch zugeschüttet.
Wo ist Mama? Weiß sie nicht, was da passiert? Ist es überall so, wie unser Vater uns immer wieder einredete?! „Das machen nur Väter, die ihre Kinder sehr, sehr lieben. Und wenn sie das den Kindern zeigen, müssen die Kinder sehr dankbar sein und alles tun, was der Vater dann möchte.“ Für Kinderohren klingt das ganz schön logisch. Doch Kinderherzen tut es unsagbar weh. Und Kinderseelchen sterben ab.
Wenn Papa von der Arbeit kam, auf seinem Fahrrad mit dieser besonderen Klingel, dann kamen wir aus allen Ecken angerannt und gaben ihm ein Küsschen. Alle Nachbarn fanden das rührend. Wenn er noch nichts getrunken hatte, dann war er beinahe der beste Vater der Welt. Er brachte uns kniffelige Bastelarbeiten bei, er malte mit uns und zeigte uns dabei sehr brauchbare Tricks und Tipps, wie ein Bild lebendig wirkt. Und wie er sich über unsere rasche Auffassungsgabe und unsere Talente freute. Das machte uns mächtig stolz, aber ihn noch viel mehr. Er baute Schiffe, Flugzeuge mit Flugzeugträgern in Miniaturausgaben. Und jede Frage dazu beantwortete er mit dem großen Stolz eines Vaters.
Oft ging er mit uns zum Rhein runter und versuchte uns das Schwimmen beizubringen. Doch wir sprangen lieber von unserer selbstgebauten Liane mit Schwung ins Wasser. Er freute sich einfach an allem, was uns zum Lachen brachte. Deshalb kitzelte er uns oft bis zur Erschöpfung, spielte mit uns Nachlaufen, Verstecken und suchte mit uns Unrat am Rhein, woraus wir irgendetwas Interessantes bauten. So hätten er und meine Mutter im Grunde sechs Talente fördern können. Die Welt hätte uns offengestanden. Doch Alkohol und Herzenshärte erstickten alles gnadenlos.
Ein Brüderchen
Der Sommer ging langsam zu Ende, der Herbst brach an; die Übergriffe gingen weiter und wurden immer schlimmer und perverser. Der Winter brach an und es folgte das erste Weihnachtsfest in der neuen Wohnung. Wir wünschten uns so sehr, dass die Idylle dieses Weihnachtsfestes immer so blieb und für alles Vergangene entschädigte. Doch unsere Wünsche blieben Wünsche.
Eines Abends, es war kurz nach Silvester, wir Mädchen lagen im Bett, viel früher als sonst, aber wir waren total aufgekratzt, weil wir mitbekamen, dass irgendetwas passierte. Papa war nicht da, Mama hatte Schmerzen und rief bei einer Nachbarin eine Frau an, die wir nicht kannten (wir hatten nämlich kein Telefon). Aus dem Kinderzimmer hörten wir Mama stöhnen und ein bisschen schreien. Und die Frau beruhigte sie und gab Kommandos, sehr liebevoll und aufmunternd. Während wir uns noch fragten, was da passiert, hörten wir plötzlich ein Baby schreien. Mit aufgerissenen Augen sahen wir uns ganz aufgeregt an. Dann sprangen wir aus unseren Betten, den Flur lang, durchs Esszimmer ins Wohnzimmer.
Mama schrie: „Geht ihr wohl wieder ins Bett!“
Doch die Frau sagte sanft und verständnisvoll: „Och, lassen Sie sie doch.“
Mama ergab sich nur widerwillig: „Na gut, kommt rein. Ihr dürft ihm ein Küsschen geben. Und dann aber sofort wieder ins Bett.“
Aufgeregt drängelten wir uns zum Wohnzimmertisch. Dort lag ein wunderschönes, glattes, kräftiges Baby auf Tüchern und schrie. Wir strichen ihm sanft über den Bauch, gaben ihm ein Küsschen auf die Wange, auf die Händchen, auf den Bauch.
Als die Hebamme zärtlich sagte: „Das ist euer Brüderchen“, da sahen wir sie groß an. „Unser? Bleibt der hier?“
„Ja“, sagte sie lächelnd.
Jetzt waren wir noch aufgeregter. Meine Schwestern hatten tausend Fragen: „Wie heißt der denn?“
„Manfred – Manni“, sagte Mama.
„Was machen wir mit dem? Wo schläft der? Was isst der?“ Und so weiter, und so weiter. Dagegen interessierte ich mich vielmehr für das, was die Hebamme tat und was mit meiner Mutter geschah.
Ich wollte alles genau wissen. Doch Mama rief streng: „Guck nicht so. Geh ins Bett!“
Traurig rannte ich den anderen hinterher. In unseren Betten waren wir völlig aufgedreht, wir hockten jeder auf seinem Bett und redeten aufgeregt durcheinander. Was uns jedoch am meisten Kopfzerbrechen machte, war die Frage: „Das ist ein Junge; was machen wir mit dem??“
Natürlich gewöhnten wir uns schnell an unser neues Brüderchen. Doch mit einem Mal drängte sich uns auch eine andere Frage auf: „Warum wohnt Lisa nicht bei uns?“ Mama sagte: „Weil wir nicht genug Platz haben.“ Das konnten wir schon beim Umzug nicht verstehen. Und jetzt noch viel weniger.
„Wenn ein neues Brüderchen hier sein kann, dann doch erst recht Lisa. Sie war doch zuerst da und sie gehört doch viel mehr zu uns.“
Doch wir bekamen keine zufriedenstellende Antwort. Für uns war es einfach unbegreiflich, dass Lisa im Kinderheim leben musste. Aber ein neues Baby durfte einfach hierbleiben.
Wir wussten, dass Mama sich immer schon einen kleinen Manni gewünscht hatte. Tja, und jetzt gab es ihn endlich. Doch Papa sollte ihn beim Standesamt anmelden. Und da er viele Dinge aus einer momentanen Laune entschied, wurde kurzerhand aus Manni Gunnar. Denn er war gerade ganz dick befreundet mit unserem Onkel Gunnar, seinem Schwager, dem Mann seiner Schwester. Und dagegen konnte meine Mama gar nichts mehr machen. Es änderte jedoch nichts daran, dass sie ihren ersehnten Sohn hatte und dieses Kind abgöttisch liebte. Seltsamerweise waren wir nicht eifersüchtig auf ihn. Für mich war es schön zu sehen, dass Mama zärtlich und liebevoll sein konnte. All die Liebe, die wir Mädchen nie bekommen hatten, all diese Liebe gab sie nun Gunnar.
Lisa, unsere älteste Schwester
In den Ferien kam Lisa zu uns und blieb jeweils drei bis sechs Wochen. Und noch viel weniger haben wir dann verstanden, warum sie nicht für immer bei uns bleiben konnte. Wir wollten sogar zu zweit in einem Bett schlafen, nur damit Lisa bei uns bleiben konnte. Wir liebten sie so sehr. Sie brachte uns Lieder, Spiele und jede Menge Blödsinn bei, was sie im Kinderheim „lernte“. Manchmal haben wir sie auch dort besucht. Und es tat so weh, sie dort zu lassen und nicht mit nach Hause zu nehmen. Dann hasste ich jedes Mal die Erwachsenen, die alles so furchtbar kompliziert machten. Für Kinder ist alles viel einfacher und machbarer. Aber wir kannten ja den eigentlichen Grund zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Und wie immer erklärte ihn uns auch niemand.
Manchmal fuhr Papa mit mir allein nach Brück, um Lisa zu besuchen. Dann ging er mit Lisa und mir, ich war drei bis fünf Jahre alt, Lisa war neun bis elf, in den angrenzenden Wald. Er machte mit Lisa all das, was ich aus seinen Heften kannte, und ich musste jedes Mal zusehen. Ich sah, wie Lisa sich quälte, und wünschte mir jedes Mal, dass Leute kamen. Wenn Leute da waren, geschah uns nichts. Deshalb liebte ich Besuch und fremde Menschen. Sie gaben mir Sicherheit und Schutz. Meine ganze Welt stand Kopf. Ein Kind blickt sehr wohl und manchmal sehr schnell hinter die Kulissen, es kann sich nur nicht so ausdrücken wie die Erwachsenen. Dafür fühlt es intensiver.
Schlimmere Übergriffe
Nachdem Papa uns anfangs nur tagsüber oder am frühen Abend missbrauchte, kam er auch immer öfter nachts. Dann holte er aber nur jeweils einen von uns. Er missbrauchte mich sogar im Ehebett, während Mama schlief. Wie sehr ich mir auch wünschte, dass sie wach würde und mich beschützt, so sehr hatte ich auch Angst, sie zu berühren. Denn dann hätte es womöglich wieder Blutvergießen gegeben. Und wenn Mama dabei sterben würde, dann könnte ich doch gar nicht mehr leben. Es war alles so schrecklich.
Einmal, als Papa nachts wieder ins Kinderzimmer kam, da wusste ich, dass er wieder mich holen wollte, wie meistens. Mein ganzer kleiner Körper verkrampfte sich. Ich hatte fürchterliche Ohrenschmerzen und tränenüberströmt krallte ich meine Finger ins Kopfkissen und dachte erschöpft: „Oh nein! Bitte nicht jetzt!“
Er kam an mein Bett und wollte mich gerade rausziehen, da hörte er, dass ich weinte. Wie der liebste und besorgteste Vater der Welt fragte er ganz aufrichtig: „Hey, was ist denn los?“
„Ich habe so Ohrenschmerzen“, wimmerte ich.
„Aber warum sagst du denn nichts? Da quälst du dich hier rum. Ich komme gleich wieder.“
Er ging raus. Ich überlegte, ob ich ihm jetzt sagen sollte, dass das, was er mit uns macht, eigentlich viel schlimmer ist als Ohrenschmerzen. Doch ich wusste gar nicht wie und welche Worte es dafür gab. Er kam rasch wieder mit einem Wattebausch und Ohrentropfen. Er träufelte etwas davon auf den Wattebausch und tat es mir ganz sachte in mein linkes Ohr. Dann blieb er noch einen Moment sitzen und streichelte meine Stirn über die Haare hinweg. Als ich aufhörte zu weinen, gab er mir einen sanften Kuss auf die Wange und wünschte mir eine gute Nacht. Dann ging er. Er ging wahrhaftig von meinem Bett weg und ich dachte sehnsüchtig: „Ach, kann das nicht immer so sein!?“
Das erste Mal empfand ich eine zärtliche Liebe zu meinem Vater. Aber nur drei Sekunden. Da zog er nämlich meine schlaftrunkene Schwester aus ihrem Bett. Sie wehrte sich. Doch er sagte leise: „Schsch, ganz ruhig. Komm mit zum Papa …“
Ein entsetzlicher Stich fuhr durch meinen Bauch, mein Herz und mein Ohr. Ich warf mich auf den Bauch, krallte meine Finger noch tiefer in die Kissen und schluchzte noch heftiger, sodass ich am ganzen Körper zitterte. Damit die anderen nicht wach wurden, presste ich mein Gesicht ganz fest ins Kopfkissen und zog mir die Decke über den Kopf. Und der Satz im Kopf „Ich bin schuld, dass er sie holt“ ließ nicht zu, dass ich mich beruhigte. Ich wollte tot sein, nichts mehr fühlen, nichts mehr sehen, keine Qualen und Schmerzen mehr, keine Schuld mehr an irgendetwas. Nein, ich wollte tot sein. Dabei war ich doch erst fünf Jahre alt.
Meine Gefühle
Immer wieder suchte ich verzweifelt nach einem Grund, nach irgendeinem Sinn. Werde ich auch mal so? Dann will ich nie erwachsen werden. Wer bestimmt das alles? Sieht uns jemand? Hilft uns irgendwann jemand hier raus? Warum muss ich leben, wenn ich es doch gar nicht will? Vielleicht gehöre ich ja gar nicht zu dieser Familie. Mama hat doch gesagt, dass ich die Einzige war, die im Krankenhaus geboren wurde. Vielleicht bin ich ja vertauscht worden, und, und, und. Mit lauter solchen Fragen habe ich mir den Kopf zerbrochen, noch ehe ich in die Schule kam. Ich wurde immer verstörter und mein kleiner Körper immer schwerer, bis ich schließlich das Gefühl hatte, eine zentnerschwere Bleikugel zu sein.
Irgendwann hatte ich dann sogar Angst vor der Dunkelheit. Und die schweren, dunklen Gardinen im Kinderzimmer kamen mir immer bedrohlicher vor. Und kaum, dass Mama und Papa das Zimmer verließen, schlich ich mich zum Fenster, um Luft zu holen und Lichter zu sehen. Eines Abends schien es heller als sonst. Ich schaute zum Himmel empor und sah den tollen Schein des Vollmondes. Er war so groß. Lange schaute ich hinein, als ob ich darauf wartete, dass er mich anlacht.
„Hey“, sagte ich irgendwann ganz leise. „Hast du alles hier gemacht? Du siehst mich doch! Du leuchtest mich ja an. Warum ist das alles so? Muss ich wirklich hierbleiben? Warum darf ich mich nicht wehren? Nur weil ich ein Kind bin? Papa sagt, dass es in allen Familien so ist. Stimmt das wirklich? Warum sind denn die anderen Kinder so glücklich damit?! Was mache ich denn falsch? …“
Wenn mir vor Müdigkeit die Augen dauernd zufielen, legte ich mich schlafen und war nach dem „Gespräch“ sogar ruhiger, obwohl der Mond keine einzige meiner Fragen beantwortet hatte. Aber ich kam mir vor, als hätte ich endlich einen Verbündeten.
Am nächsten Morgen beim Frühstück fragte ich Mama geradeheraus: „Mama, kann es sein, dass die mich im Krankenhaus bei der Geburt vertauscht haben?“ Erwartungsvoll, mit der Unschuld eines Kindes, war ich gespannt auf die Antwort. Die kam dann auch prompt in Form einer schallenden Ohrfeige. Das Gluckern und Kichern meiner Geschwister auf meine Frage wurde damit abrupt gestoppt. Mein traurig fragender Blick zu meiner Mutter rief ein wütendes „Frag nicht immer so einen Scheißdreck!“ hervor.
Solche und ähnliche Äußerungen verrieten uns stets, dass jetzt jede weitere Frage oder Bemerkung einem Todesurteil gleichkäme. Also starrte ich für den Rest des Frühstücks resigniert vor mich hin und würgte mir jeden weiteren Bissen runter. Dadurch saß ich natürlich noch lange, nachdem die anderen fertig waren, am Tisch. Und jede weitere Ohrfeige mit der Bemerkung, ich solle mich beeilen, bewirkte bloß das Gegenteil. Bis jeder einzelne Schluck und Bissen eine regelrechte Qual wurde, an dem ich glaubte zu ersticken. Als ich es schließlich geschafft hatte, sollte ich mit Übelkeit und Bauchschmerzen rausgehen und genau wie meine Geschwister mit den anderen spielen. Nur, danach war mir nun wirklich nicht zumute. Also flüchtete ich wieder in mein Versteck und weinte leise vor mich hin.
„Warum darf ich nie was fragen?“ Ich war müde und wollte am liebsten wieder ins Bett. Doch daran durfte ich im Traum nicht denken. So blieb ich in meinem Gebüsch und kam langsam wieder zur Ruhe. Als Mama uns am Abend rein rief, freute ich mich einfach nur auf mein Bett und auf den Mond. Denn sonst hörte mir ja niemand zu. Aber irgendwann war ich auch auf den Mond wütend, weil er mir keine Antwort gab und mich immer nur stumm ansah. Außerdem war er dauernd verschwunden und sah jedes Mal anders aus. Ich wusste das alles nicht einzuordnen.
Das erste „Gebet“
Eines Abends, als Papa uns gute Nacht sagte, da blieb er ganz gespannt an der Tür stehen.
Dann sagte er: „Wir sprechen jetzt ein Gebet. Ich sage es vor und ihr sagt es mir nach.“
Wir knieten in unseren Betten und waren ganz neugierig.
Er fing an: „Ich bin klein, mein Herz ist rein.“
Wir wiederholten.
Er fuhr fort: „Mein Popo ist schmutzig; ist das nicht putzig?!“
Das konnten wir nicht wiederholen, denn wir brachen in Gelächter aus. Dann kam Papa nochmal zu jedem Einzelnen und kitzelte uns durch. Da stand plötzlich Mama im Türrahmen und brüllte wütend: „Was soll das denn? Du machst sie ja alle wieder wach!? Los, hinlegen und rumdrehen.“
Wir gehorchten sofort. Und als Papa uns nochmal ein Küsschen gab und langsam zur Tür ging, konnte ich natürlich wieder nicht meinen Mund halten.
„Papa?“
„Ja?“
„Gibt es den lieben Gott wirklich?“
„Ja, natürlich, und er passt immer auf euch auf.“
Damit ging er raus und ich dachte so bei mir: „Hm! Schlechter Aufpasser! …“
Ich hatte ja hier und da bereits mitbekommen, dass es ihn geben soll. Doch so, wie die Erwachsenen von ihm redeten, konnte er nicht unbedingt wichtig sein. Sie machten sich über ihn lustig oder gaben ihm an allem die Schuld. „Ganz schön gemein“, dachte ich.
„Ach, was wissen schon die Erwachsenen! Vielleicht ist er ja ganz anders. Vielleicht sieht er mich ja. Vielleicht kann er mir ja helfen. Oder vielleicht weiß er ja auch, warum alles so ist, wie es ist. Wenn er im Himmel ist, dann muss er das doch sehen und wissen. Von da aus kann er doch alles sehen. Warum tut er dann nichts gegen all das Schlechte? Ich glaube einfach nicht, dass ihm das egal ist. Er hat bestimmt einen guten Grund dafür. Und irgendwann wird er ihn mir sagen …“
Ich wollte diesen großen Unbekannten kennenlernen. Und wenn er mir auch keine vernünftigen Antworten gibt, dann kann ich immer noch wütend auf ihn sein. Und tief zufrieden mit diesem Vorsatz, schlief ich bald ein.
Musik gab mir Trost
Ob auf der Straße, beim Spiel, im Fernsehen, im Radio, auf Schallplatten, im Gespräch unter den Nachbarn – in einfach allem suchte ich nach Antworten, um meine Welt zu verstehen.
So kam es, dass ich bald feststellte, wie sehr mich Musik tröstete und mir Hoffnung gab. Ich hörte akribisch genau auf die Texte. Und abends dann, im Bett, gingen sie mir immer wieder durch den Kopf. Wie viele in den Sechzigern so hörte auch unsere Familie gern Heintje. Schnell kristallisierten sich einige Lieder von ihm als sehr wichtig für mich heraus. Sie sprachen aus, was ich fühlte, aber nie aussprechen konnte oder durfte. Sie wurden zum Zugang zu meiner Seele. Das waren zum Beispiel:
„Deine Tränen sind auch meine“
Dabei stellte ich mir vor, dass dieser mir unbekannte Gott das zu mir sagt. Dass Heintje hier von seiner Mutter sang, habe ich erst viele Jahre später begriffen. Ich hätte meine Mutter auch niemals damit in Verbindung gebracht, so abwegig war mir dieser Gedanke.
Weißt du, wie viel Sternlein stehen …
… an dem blauen Himmelszelt?
Gott, der Herr, hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen große Zahl (…)
Weißt du, wie viel Kinder frühe
stehen aus ihrem Bettlein auf (…)
Gott im Himmel hat an allen
seine Lust, sein Wohlgefallen,
kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.
Ist das tatsächlich so? Es gibt diesen Jemand, der mich kennt? Der mich lieb hat? Er kennt meinen Kummer und meine Schmerzen und ist immer für mich da? – Wo denn? Was muss ich denn tun, damit er mit mir spricht? Kann er überhaupt mit uns reden?
Die Erwachsenen sagen, es gibt ihn nicht. Oder: „Er tut ja nichts.“ Und: „Wo ist oder wo war denn Gott?“, wenn ein Unglück passiert. Aber warum fragen die Menschen immer erst dann nach Gott, wenn etwas passiert ist? Er kann doch auch so unser Freund sein und uns helfen. Und immer, wenn was Schlimmes passiert, dann sind doch die Menschen selber schuld daran und nicht Gott. Dabei dachte ich an die Hungersnot in Ägypten. Auch wenn ich nicht allzu viel davon verstand damals. Aber aus den Äußerungen der Erwachsenen und den Bildern im Fernsehen wusste ich, dass Menschen daran schuld waren.
Es gab so vieles auf der Welt, was ich nicht kannte. Werde ich das jemals kennenlernen oder einfach nur verstehen? Werde ich jemals von hier wegkommen? Was werde ich wohl machen, wenn ich groß bin? Auch wenn zu Hause alles so furchtbar traurig und anstrengend ist, kann ich mir gar nicht vorstellen, ohne meine Eltern zu leben. Aber es ist wohl so, dass alle erwachsen werden und irgendwann eigene Kinder haben. Meine Kinder dürfen alles fragen und lachen, wann sie wollen. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Aber wenn ich Kinder habe, dann muss ich ja auch einen Mann haben. Nein, das will ich aber nicht! Ach, ist das alles furchtbar!!
Mit solchen Gedanken beschäftigt sich normalerweise kein Kind. Und schon gar nicht mit vier bis sechs Jahren. Aber ich hatte so entsetzlich viele Fragen, die mir einfach niemand beantworten wollte, und so flüchtete ich mich weiter in die Musik.
Es gab noch viele andere Lieder, die mir Trost und Hoffnung gaben. Meine Mutter kaufte jeden neuen, deutschen Schlager, der auf den Markt kam. Wir hatten eine beachtliche Sammlung an Schallplatten. Eines Tages war auch ein Lied dabei, das mich mein Leben lang begleiten sollte. Als ich es zum ersten Mal hörte, wurde ich ganz ruhig und es lief mir kalt den Rücken runter. Wenn ich es später hörte, brach ich oft in Tränen aus. Es war von Peter Alexander:
„Ich will dir helfen“
An meiner Reaktion auf dieses Lied, konnte ich erkennen, wie schwer ich doch an meiner Last trug. Bis heute liebe ich dieses Lied. Und heute verbinde ich es sogar mit einem Bibeltext, aus Jesaja, Kapitel 41, Vers 10:
»Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Sei nicht ängstlich, denn ich bin dein Gott. Ich werde dich stärken, ja, ich will dir helfen …«
Das hat er immer getan, ich wusste es damals nur noch nicht.
Angst vor Feuer
Mein kleiner Körper schien mir mit jedem Tag schwerer zu werden. Jeder neue Tag wurde zu einem erneuten Kampf. Oft sogar zu einem Kampf ums Überleben. Dann nämlich, wenn meine Eltern sich um die „Erziehung“ stritten. Wobei es ihnen längst nicht mehr um ihre Kinder ging, sondern nur um ihr persönliches Recht, ihre Macht.
So war es auch an jenem Morgen. Mama kam ins Spielzimmer und wollte uns anziehen. Als sie mir den Schlafanzug auszog, rief sie entsetzt: „Was ist das? Wer war das?“
Ich war von oben bis unten blau und grün und gelb und rot geprügelt. Angst stieg in mir hoch. Ich blieb stumm und sah an mir runter. Auch meine Geschwister sahen betreten von einem zum andern. Denn sie hatten gestern Abend mitbekommen, was geschehen war. Mama rüttelte mich wütend.
„Wer war das!?“
Leise wimmerte ich: „Papa hat mich gestern geschlagen, mit dem Pantoffel.“
Keine Sekunde mehr zögernd stand sie vom Boden auf, riss mich am rechten Arm, so nackt, wie ich war, hinter sich her, den langen Flur entlang ins Esszimmer, wo mein Vater am offenen Kohlenofen stand, um ihn anzuzünden.
Dort angekommen, riss mich meine Mutter mit einer heftigen Handbewegung zwischen sich und meinen Vater, dass ich dachte, sie kugelt mir den Arm aus. Mit dem Rücken auf meinen Vater gerichtet, fauchte sie ihn förmlich an: „Was hast du da gemacht?? Was soll das?“
„Sie hat es nicht anders verdient! Sie hat mich provoziert!“, schrie er zurück.
Und während sie mich von einem zum anderen schubsten und sich immer lauter und hysterischer anbrüllten, merkten sie nicht, dass mich ständig die Flammen schlugen, die mittlerweile aus dem Ofen traten. Verzweifelt versuchte ich, den beiden und den Flammen zu entkommen. Doch sie zerrten und schubsten weiter an mir, als sei ich ein schmutziges Wäschestück. Ihre Beschuldigungen und Beleidigungen hatten längst nichts mehr mit mir zu tun. Und meine ohnehin geringe Geborgenheit zu Hause bekam endgültig den Todesstoß.
Von nun an war ich nur noch „auf der Flucht“. In ständiger Anspannung vor dem nächsten Übergriff; ob verbal, in Form von Schlägen oder sexuell. Und davon waren Schläge noch das Harmloseste. Ich lebte wie auf einem Minenfeld, wo jeder Schritt, aber auch jeder Blick, jede Äußerung, jede Nichtäußerung und sogar Nichtstun zur Explosion führen konnte. Ich hatte keine Richtung mehr, was richtig oder falsch war, weil meine Eltern nur noch nach ihren Launen reagierten.
Da ich trotz allem immer wieder Fragen stellte, flüsterten meine Geschwister mir oft zu: „Hör doch auf zu fragen. Du bekommst ja doch nur wieder Schläge.“
Wie recht sie hatten. Nicht nur das, was ich tat oder nicht tat, sondern auch alles, was ich sagte und nicht sagte und vor allem fragte, fasste meine Mutter als einen persönlichen Rachefeldzug gegen sie auf. Es wurde immer schwerer, mir Oasen der Ruhe zu suchen.
Es fing bereits mit dem Aufstehen an. Sie platzte jedes Mal wie eine Furie ins Zimmer, riss die schweren Gardinen auf, die an Metallröllchen an einem Kölner Brett befestigt waren und deshalb einen höllischen Krach auslösten, sodass wir senkrecht im Bett standen, und brüllte „Aufstehen!“ wie ein Feldwebel, wobei sie uns die Bettdecken wegriss. Im Bad ging es weiter. Beim Duschen in der Badewanne hielt sie mir so lange die Brause ins Gesicht, bis ich keine Luft mehr bekam. Wenn ich beim Duschen gähnte, dann richtete sie sofort die Brause auf mein Gesicht, sodass ich erschrak oder mich verschluckte.
Nach dieser Tortur mussten wir ins Wohnzimmer gehen und aufräumen. Aufräumen hieß, die Überreste des vorigen Abends wegzuräumen. Zunächst mal schlug uns ein entsetzlicher Alkohol- und Zigarettengeruch entgegen, als wir die Tür öffneten. Dann wuchteten wir die schweren Wollgardinen von dem etwa vier Meter breiten Fenster und nochmal eineinhalb Meter Balkon beiseite. Den Balkon sollten wir öffnen, im Sommer wie im Winter. Der Tisch war voller leerer Colaflaschen, Bierflaschen und anderer alkoholischer Getränke, überquellender Aschenbecher und leerer Zigarettenschachteln. Manchmal lagen Kartenspiele oder Würfel noch durcheinander. Wir mussten alles aufräumen und zusammensuchen und sauber machen.
Es widerte mich jedes Mal derart an, dass danach die nächste Tortur anstand. Das Frühstück. Immer noch den ekeligen Geruch des kalten Rauches im Hals und den Biergeruch in der Nase bekam ich kaum einen Bissen runter. Ich konnte einfach nicht mehr schlucken, so als ob dieser Reflex zerstört wäre. Und so saß ich oft noch am Tisch, während die anderen längst im Spielzimmer oder draußen waren. Dann riss meine Mutter meinen Kopf nach hinten, hielt mir die Nase zu und stopfte mir alles in den Mund. Was sie mir dabei alles an den Kopf warf, tat tausendmal mehr weh als die härtesten Schläge. Wenn ich dann weinte, drohte sie wütend: „Halt bloß den Mund, sonst schlag ich dich windelweich.“
Jetzt musste ich nicht nur das Essen und den Kakao runterschlucken, sondern auch noch meine Tränen. Bis ich endlich erlöst war, war es beinahe Mittag.
Mit Papa am Rhein
Im Sommer, wenn Papa frei hatte, ging er oft mit uns zum Rhein runter. Der Weg bis dorthin dauerte dreißig bis vierzig Minuten mit uns fünf Kleinen. Und genau diese Zeit konnte ich mal durchatmen. Niemand tat mir was. Niemand wollte was von mir. Wir gingen den langen „schwarzen Weg“ ins Dorf runter. Dann durchs Dorf durch, an einem Bauernhof, einer Schule, einer Kirche und einem Friedhof vorbei zu den letzten Ausläufern des Dorfes, die aus ein paar Einfamilienhäusern bestanden. Vorbei am Schulsportplatz den Damm rauf. Dort blieben wir immer stehen und betrachteten unsere kleine Welt von dort oben. Dann die letzten zehn Minuten, die ich am meisten genoss. An einem duftenden Kornfeld vorbei, auf riesige alte Bäume zu, die laut im Wind rauschten. Den Geruch des Rheins bereits in der Nase hörte man immer lauter das Klatschen des Wassers von den vorbeifahrenden Frachtschiffen.
An „unserem Platz“ angekommen, zogen wir die Sandalen von den Füßen und rannten barfuß in den weißen Sand. Wir hatten Decken und Kissen dabei, Essen und Trinken. Nur kein Spielzeug. Das brauchten wir nicht, denn wir gingen stets auf Entdeckungstour. Aus all dem Unrat, Ästen, Rinden, dem Sand und Wasser bauten wir Boote, Straßen und Häuser. Außerdem hatte uns Papa an einem Baum nah am Wasser eine Liane befestigt, von der aus wir ins Wasser springen konnten, wovon wir auch ausgiebig Gebrauch machten. Wenn Papa all das mit uns machte, durften wir endlich mal nur Kinder sein. Doch das war nie lange und auch nie entspannt, denn ständig schwang die Angst mit, dass uns das alles sowieso wieder kaputt gemacht wird.
Oft hatten wir eine Frau aus dem Dorf dabei, die wir nicht mochten. Wir konnten das nicht verstehen, dass er diese Frau küsste, wo doch eigentlich Mama zu ihm gehörte. Außerdem nahm sie uns den Papa weg, der endlich mal Zeit für uns hatte. Irgendwann sagte er dann zu uns „drei Großen“, wir sollten auf die „zwei Kleinen“ aufpassen. Dann verschwand er mit der Frau.
Weil wir natürlich neugierig und sauer noch dazu waren, schlichen wir ihnen hinterher. Was wir dann zu sehen bekamen, schockierte uns noch mehr. Und wir beschlossen die Frau zu hassen. Glücklicherweise verfügen Kinder über das erstaunliche Talent, sich Gefühle nicht unbedingt anmerken zu lassen. Deshalb lenkten wir uns rasch wieder mit Spielen und Erkunden ab; ganz allein, ganz einsam, ohne Papa.
Einmal war Papa mit uns allein am Rhein. Doch unsere anfängliche Freude schlug bald in Entsetzen um. Er verkündete uns, dass er jetzt mal den Rhein durchqueren möchte. Und wenn er drüben wäre, würde er uns zuwinken. Wir hatten entsetzliche Angst. Doch er stellte es so hin, als ob wir total stolz auf ihn sein könnten. Und so schwamm er los. Wir standen bangend mit den Füßen im Wasser in einer Reihe, starr vor Schreck, mit weit offenen Augen.
Als das erste Frachtschiff ankam, schrien wir: „Papa, ein Schiff! Papaaa!“
Wir hielten uns die Hände vor den Mund und starrten abwechselnd auf das Schiff und unseren Vater. Sie kamen sich immer näher, immer näher, immer näher. Dann tauchte er ab. Weg! – Keiner von uns sagte zunächst was. Das Schiff schipperte weiter, als hätte es ihn gar nicht bemerkt.
„Was machen wir jetzt?“, fragte der erste ganz leise.
„Sollen wir nach Hause gehen?“, fragte der nächste auch ganz leise. „Was sagen wir denn Mama?“
Wir konnten uns zu nichts entschließen. Bei dem Gedanken an Mama wurde mir ganz mulmig. Sie würde uns die Schuld geben. Sie würde uns das nie verzeihen. Inzwischen kamen zwei weitere Schiffe vorbei. Immer noch standen wir wie versteinert da. Plötzlich sprang jemand am anderen Ufer aus dem Wasser auf die Treppe und stieg ein paar Stufen hoch und winkte uns mit ausgestreckten Armen zu.
Noch ungläubig sagten wir durcheinander:
„Das ist er.“
„Da ist Papa.“
„Er hat es geschafft.“
Dann fielen wir uns mit Jubelschreien in die Arme und hüpften und winkten wie die Wilden. Unsere ganze Anspannung entlud sich nun. Bis er mit einem Kopfsprung wieder in den Rhein sprang.
Wieder verstummten wir, unsere Freude erstickte jäh. Durcheinander kamen die verschiedensten Bemerkungen nun von unseren Lippen:
„Warum ruht er sich nicht erst aus?“
„Zweimal schafft er das nicht.“
„Er schafft das!“
„Er ertrinkt, da kommen zwei Schiffe!“
„Das schafft er nicht! Eins von da und eins von da.“
„Er hat keine Kraft mehr.“
„Doch, er schafft das.“
„Er muss das schaffen.“
Banges Warten. Wieder tauchte er ab. Wieder die gleichen Zweifel und Ängste. Aber auch Hoffnung, weil er es einmal geschafft hatte. Als die Schiffe vorbei waren, sahen wir still übers Wasser. Wieder schwand unsere Hoffnung.
Da, plötzlich, er tauchte auf und winkte uns aus der Mitte des Rheins zu. Diesmal waren unsere Jubelrufe etwas verhaltener. Doch wir konnten ihn jetzt sehen, bis er völlig erschöpft bei uns ankam. Nach ein paar Schritten warf er sich mit dem Rücken in den Sand und lachte: „Euer Papa ist der Größte!“ Und siegessicher hob er die Faust.
Wir tanzten wie Indianer um den Marterpfahl: „Jaaa, unser Papa ist der Größte! Jaaa.“
Und dann erzählten fünf aufgebrachte Kindermäulchen, was sie alles dachten und fühlten und sahen und glaubten. Doch Papa lachte bloß. Wir sagten, dass er das nie wieder tun dürfe, wir hätten solche Angst gehabt. Doch er lachte. Wir wussten ja gar nicht, wie lebensmüde das tatsächlich war.
Nun, das machte uns unsere Mama dann deutlich klar. War ja klar, dass wir darüber nicht schweigen konnten. Und scheinbar wollte Papa das auch gar nicht. Er war mächtig stolz auf sich. Nur Mama holte ihn von seinem hohen Ross runter, indem sie ihn mit den übelsten Vorwürfen überschüttete, ihm Verantwortungslosigkeit vorwarf, Egoismus und noch allerhand mehr. Zwar sprach sie im Grunde all das aus, was wir am Rheinufer empfunden hatten, dennoch tat es mir weh, dass sie so gar kein gutes Haar an ihm ließ. Und vor allem fiel es mir schwer, ihr ihre Sorgen um uns abzunehmen. Denn sie fragte mit keinem einzigen Wort, wie es uns ging. Sie schickte uns ins Zimmer, wo wir wieder mal mit unseren aufgewühlten Seelchen alleine waren. Bedient machte sich Papa aus dem Staub. Er flüchtete in die Marktschänke.
„Zieht euch schon mal die Schlafanzüge an. Ich bin gleich wieder da.“
Sie schloss die Wohnungstüre ab und ging zur Nachbarin ins Nebenhaus. Wir spielten still vor uns hin und ich fühlte mich entsetzlich einsam und alleingelassen, in solchen Momenten. Papa holte sich seine Bestätigung bei seinen Kumpels in der Kneipe. Mama erzählte sich ihren Kummer und Ärger bei der Nachbarin von der Seele. Nur uns nahm wieder niemand wahr, geschweige denn ernst oder nur in den Arm.
Als Mama nach geraumer Zeit wieder ankam, deckte sie den Tisch. Weil wir den ganzen Tag am Rhein waren, hatte sie für den Abend gekocht.
„Mara, geh deinen Vater holen aus der Wirtschaft!“, befahl sie mir.
Ich ging ins Zimmer zurück.
„Wo gehst du hin?“, fragte sie wütend.
„Ich geh mich wieder anziehen“, gab ich zurück.
„Quatsch! Geh so! Bis du umgezogen bist, ist Weihnachten“, warf sie mir genervt, beleidigend an den Kopf.
Verzweifelt, entsetzt sagte ich: „Aber ich kann doch nicht im Schlafanzug gehen.“
„Raus jetzt!!“, schrie sie mich an. „Und beeil dich!“
Wenigstens meine Geschwister sahen mir mitfühlend nach. Sie waren ja genauso hilflos wie ich. Es war noch hell draußen. Ich musste unsere Straße schräg überqueren, die nächste Straße auch nochmal und schließlich noch quer über den ganzen Marktplatz laufen. Oh, wie entsetzlich ich mich schämte. Viele Kinder waren noch draußen, die mich erst entsetzt ansahen, mich aber dann lauthals auslachten. Nicht genug der Kinder. Auch Erwachsene, die noch auf den Balkonen hingen, machten Bemerkungen, die mich ins Lächerliche zogen. Total verkrampft hielt ich meine Schlafanzughose am Bund zusammengeknüllt fest. Vor lauter Angst, dass einer der Jungs auf die Idee kam, mir die Hose runterzuziehen.
An der Kneipe angekommen, hatte ich Mühe, die schwere Tür aufzuziehen. Bereits völlig eingeschüchtert sah ich mich ängstlich um. Männer mit Bierfahnen starrten mich amüsiert an. Die Wirtin zapfte gerade ein frisches Bier, als sie lachend rief: „Jochen, guck mal, wer da steht!“
Als er sich umsah, ging ich langsam auf ihn zu, vorbei an all diesen Männern, von denen jeder mir wie eine Bedrohung vorkam. Papa streckte mir stolz und übertrieben die Arme entgegen und rief genauso übertrieben aus: „Aaahh, meine Prinzessin.“
Auch ich streckte ihm meine Arme entgegen. Er hob mich auf einen Barhocker. Dann reichte er mir sein Bier und ich wollte gerade trinken, ich war es ja schließlich schon gewohnt, da protestierte die Wirtin plötzlich empört: „Sach, häs du se noch all?“ (Sag, hast du sie noch alle?)
Sie holte ein Glas, und während sie es füllte, fragte sie mich: „Möchtest du eine Limo?“
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