Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Yannis von einer Dienstreise zurückkehrt, findet er ein leeres Haus vor. Seine Frau Leonie hat sich anscheinend auf und davon gemacht. Tags darauf findet er sie im Krankenhaus wieder. Nach einem rätselhaften Unfall ist das nicht das einzig Skurrile: Sie behauptet, wer anders zu sein. Yannis stellt Nachforschungen an und stöbt dabei auf noch Merkwürdigeres. Leonie wuchs in einem Kinderheim auf und die einzige Frau, die sie wirklich kannte, ist vermutlich ermordet worden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ich widme diese Zeilen meiner Lieben Tabea. Du bist meine Muse. Danke dafür.
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
Recht erschöpft hob die junge Frau den Kopf. Die vielen Stunden der Verkrampfung hatten nicht nur bei ihr sichtliche Spuren hinterlassen, auch der Geburtshelferin war anzusehen, wie viel Kraft und Schweiß die Geburt sie gekostet hatte. »Und, was ist es?«
»Sie haben nun eine wunderschöne Tochter!«, sagte die Hebamme, während sie das Neugeborene der wartenden Kinderärztin übergab.
»Ein Mädchen!«, flüsterte die junge Frau glücklich und ließ sich langsam zurück auf das Kissen sinken. »Bitte, geben Sie es mir!« Sie war froh, dass die Geburt vorbei war und niemand sie hier gefunden hatte.
»Nachher. Im Moment kümmert sich ein Ärzteteam um die Gesundheit ihrer Tochter.«
»Wieso, was ist denn mit meiner Kleinen?«
»Ihr Baby wollte zu früh auf die Welt, das wissen Sie doch! Aber machen Sie sich keine Gedanken, es ist wirklich in den besten Händen. Und in zwei, drei Wochen spielt das alles keine Rolle mehr, dann gehen Sie mit einem gesunden, süßen Mädchen nach Hause.«
Aufgelöst beobachtete die junge Mutter durch die Scheibe die Gruppe junger Ärzte, die im Nebenraum um das Leben ihrer Tochter kämpfte. Bange Minuten vergingen, bis endlich der ersehnte Schrei des Babys zu ihr herüberdrang.
Zwei, drei Wochen? O Gott, nein, so lange konnte sie auf keinen Fall hierbleiben. Sie hatte Pläne, und sie durfte definitiv an keinem Ort Spuren hinterlassen, wollte sie diese Pläne nicht gefährden.
Nach tagelangen schweren Unwettern hatten die Behörden für weite Teile des Landes den Notstand ausgerufen. Die Kleinstadt ächzte unter der Last des tobenden Sturmes, und die sintflutartigen Regenfälle der letzten vierundzwanzig Stunden hatten derweil auch das Krankenhaus stark in Mitleidenschaft gezogen.
Die Stromversorgung war obendrein in der Nacht zusammengebrochen, und das eingeschaltete Notstromaggregat tauchte die Flure in ein diffuses Licht.
»Jetzt dürfen wir hoffen, dass es recht bald aufhört«, seufzte Schwester Maria und schickte einen flehenden Blick nach oben.
»Was meinen Sie? Kriegen die das mit dem Strom im Laufe der Nacht wieder hin?«
Die junge Kinderärztin steckte ihr Stethoskop in die Kitteltasche und warf einen zufriedenen Blick auf das schlafende Baby. Dann sah sie zu Maria und hob die Schultern. »Es ist wohl ein größerer Schaden, wie ich eben gehört habe. Also machen wir uns mal nicht allzu viel Hoffnung. Aber etwas anderes: Hat unsere kleine Prinzessin hier inzwischen einen Namen?«
Schwester Maria streichelte liebevoll die winzige Hand des Säuglings. »Ihr Name ist Finja.«
Aus der Kitteltasche der Ärztin drang der unüberhörbare Ton ihres Pagers. Nach einem kurzen Blick darauf schaltete sie ihn ab und wandte sich zum Gehen. »Ich werde in der Notaufnahme gebraucht. Wenn irgendetwas ist, wissen Sie ja, wo Sie mich finden!« Sie deutete lächelnd auf den Pager und verließ das Zimmer.
Maria Cunningham beugte sich noch einmal über das kleine Mädchen. Sechs Tage war es gerade alt und natürlich viel zu klein für diese Welt, dafür aber eine Kämpferin, die ihres gleichen suchte. »Aus dir wird bestimmt einmal etwas ganz Besonderes!«, flüsterte sie und verließ nach einem prüfenden Blick auf die übrigen Bettchen ebenfalls den Raum.
Kurz nach Mitternacht waren beinahe alle Geräusche auf der Station verstummt, außer dem Dröhnen des Windes herrschte eine fast gespenstische Stille. Schwester Maria ließ sich erschöpft auf den Stuhl hinter ihrem Monitor fallen und rieb sich die übermüdeten Augen. Die gestillten Babys waren zurück in ihren Bettchen, ihre Mütter schliefen, und eigentlich war es an der Zeit, die Planungen für den nächsten Tag zu machen. Maria stützte das Kinn auf die Handflächen und schloss für einen Moment die Augen.
Leise öffnete sich die Tür der Säuglingsstation. Eine junge Frau betrat den Flur. Lauschend verharrte sie einen Augenblick nahezu bewegungslos. Erst als ein leises Wimmern unter ihrem Mantel hervordrang, kam Bewegung in die Gestalt. Geräuschlos setzte sie ihre Schritte auf dem steinernen Boden und strebte, immer schneller werdend, dem Stationsausgang entgegen. Das Wimmern war in leises Weinen übergegangen, als sich die Automatiktür hinter ihr schloss und die Gestalt in der Dunkelheit verschwand.
Sie hatte es geschafft. Endlich waren sie und ihr Kind wieder in Freiheit. Nun konnte sie weiter ihre Pläne verfolgen. Sie würde ein neues, schöneres Leben führen – und vergessen, wer sie eigentlich war. Eine Mörderin.
Die letzten Worte seiner Frau, bevor sie auflegte, hatte Yannis noch immer in den Ohren. »Ich muss mit dir reden«, sagte sie mit bedrohlich klingender ernster Stimme.
In der Hoffnung, die Nachrichten der Welt würden das Bild in seinem Kopf zertrümmern, schaltete Yannis das Autoradio ein. 96.1- Radio Gleam. Schon seit Tagen drängten sich ihm, wenn er an Leonie dachte, die kuriosesten Eifersuchtsfantasien auf, nun nahmen sie konkrete Formen an. Um ihr nicht das Gefühl zu geben, von ihm kontrolliert zu werden, hatte er es immer vermieden, sie nach einem erfolglosen Anruf zu Hause auf ihrem Handy anzurufen. Sie hatte ihm aber nie erklärt, wo sie gewesen war, wenn er sie nicht erreicht hatte.
Der Regen peitschte über die Straße, sodass er Mühe hatte, die immer stärker verschwimmenden Konturen der Straßenbegrenzung zu erkennen. Es war ein Tag gewesen, an dem alles schiefgegangen war.
Die Besprechungen in den Firmen waren recht zäh und langwierig gewesen, und die Abschlüsse, die er als Verkaufsmanager pro Monat zu erbringen hatte, waren wieder einmal ausgeblieben, was dem kommenden Gespräch mit seinem Chef alles andere als zuträglich war. Zudem wurden die freien Tage zwischen den Touren immer seltener, da die Auftragslage total mies war. Yannis war mittlerweile vierunddreißig und hatte eigentlich noch nichts zustande gebracht. Seine Harley war einem VW Arteon gewichen, die neue viel zu kleine Wohnung ließ er von seiner Frau einrichten; nicht einmal seine Kleidung hatte er selbst gekauft. Die anfänglichen Rituale der Verliebtheit waren nach nur zwei Jahren Ehe der Gewohnheit gewichen, und die Bilder, die sich ihm boten, wenn er nach Hause kam, ließen ihn oftmals zusammenschrecken: Leonie auf der Couch vor der Glotze, ein müdes »Hey, da bist du ja!«, mit dem sie ihn empfing, und ein flüchtiger Bussi, ohne aufzustehen.
Aber nichts von alledem war neu und ernsthaft beunruhigend gewesen, bis mitten in eine Sitzung hinein der unüberhörbar schrille Klingelton seines Handys die Köpfe der Anwesenden herumschnellen ließ. Yannis hatte, als er den Namen seiner Frau Leonie auf dem Display sah, es kurzerhand weg-gedrückt und sich dann höflich bei den Umsitzenden entschuldigt. Kaum dass wieder Ruhe eingetreten war, klingelte es erneut. Mit einem verlegenen Nicken war er aus dem Zimmer gegangen und hatte den Anruf entgegengenommen. Von diesem Moment an hatte Yannis die Minuten gezählt, bis er sich von seinen Geschäftspartnern verabschieden und endlich in sein Auto steigen konnte. Der Stau in der Innenstadt von Dresden, die lange Autoschlange an der Tankstelle und der einsetzende Starkregen verhinderten ein schnelles Vorwärtskommen. Immer wieder holte er sich Leonies Worte ins Gedächtnis zurück. Die Art, wie sie ihm sagte, er solle sich beeilen, es sei wichtig, und sie warte auf ihn, regte seine Fantasie in einem Maße an, die er so nicht kannte. War der Tag gekommen, den er so fürchtete? Das Ende seiner Ehe schien ihm fast unausweichlich. Yannis musste sich eingestehen, dass er gar nichts dagegen unternommen, sondern vielmehr dabei zugesehen hatte. Noch bis vor einem Jahr glaubte er sich sicher in dem Gefühl, dass es wohl das Beste war, Leonie damals zu heiraten. Er hatte sich eingeredet, dass es Liebe war, was sie verband.
Sie hatten eine Menge versäumt in ihrer Ehe, versäumt, miteinander zu reden, versäumt, einander kennenzulernen. Geredet wurde wenig. Ein Tag ohne Sprache. Viele von Leonies Charaktereigenschaften mussten tiefere Ursachen haben, als dass sie in einem Satz gesagt waren, und sicher gab es Geheimnisse, die Leonie niemals preisgeben würde, aber wenn Yannis ehrlich war, dann hatte er jetzt Angst vor den Abgründen, die sich ihm auftun würden.
Yannis griff doch zu seinem Handy. Er musste einfach wissen, was so wichtig sein sollte. Vielleicht war es ja doch nur wieder das leidige Geldproblem oder die zu kleine Wohnung. In letzter Zeit eskalierte das Thema Lebensverhältnisse, und die Diskussionen um ein eigenes Haus nahmen massive Dimensionen an.
Leonie meldete sich jedoch nicht, und bevor die viel zu lange Ansage des Anrufbeantworters zu Ende war, ließ er das Handy fallen, ergriff mit beiden Händen das Lenkrad und machte eine Vollbremsung. Quietschend kam der Wagen quer hinter einem Lastzug zum Stehen. Sekundenlang war Yannis vollkommen unfähig, sich zu rühren. Wie paralysiert verfolgten seine Augen die Scheibenblätter, während er darauf wartete, dass das unkontrollierbare Zittern seiner Knie nachließ. Einen Meter weiter und er würde in einem Schrotthaufen unter dem blinkenden Lastzug klemmen und darauf hoffen, dass sein Atem reichte, bis Spezialisten ihn aus dem Wrack herausgesägt hatten. Langsam stieg Wut in ihm hoch. Was parkte im Dunkeln hinter einer Kurve!
Laut fluchend legte Yannis den Rückwärtsgang ein, fuhr er ein paar Meter zurück, hupte und setzte zum Überholen an. Dann bremste er erneut. Erst jetzt sah er die Autoschlange, das Blaulicht und den Rest eines Feuers, das soeben in weißem Schaum erlosch.
Als sich sein Wagen wenig später im Schritttempo an der Unfallstelle vorbeibewegte, bot sich ihm ein grauenhaftes Bild. Zwei Fahrzeuge waren ineinander verkeilt, wobei das hintere, ein Kleintransporter, völlig ausgebrannt war. Am Feldrand lagen drei mit Tüchern abgedeckte Körper.
Als Yannis die Tür aufschloss und leise in den Flur trat, lag die Wohnung im Dunkeln. Vorsichtig öffnete er die Schlafzimmertür, tastete sich bis zum Bett vor und schaltete die Tischlampe an. Das Bett war unberührt. Verdutzt drehte er sich um und lief zum Wohnzimmer.
Wahrscheinlich ist Leonie nur zum Zigarettenautomaten um die Ecke gegangen, dachte er. Seit sie vor einem Jahr arbeitslos geworden war, qualmte sie wieder.
Sein Blick blieb an zwei Gläsern auf dem Couchtisch hängen, als das Licht das Wohnzimmer erleuchtete. Der Aschenbecher war voller Zigaretten, und die offene Schachtel daneben war noch halb voll. Die verdammten Glimmstängel waren ihr also nicht ausgegangen!
Yannis ließ sich auf den Sessel fallen und starrte auf die Weingläser. An einem der Gläser waren deutliche Spuren von Lippenstift zu erkennen.
Bevor er weiter herumrätselte, wählte er Leonies Mobilnummer, doch ihr Handy war ausgeschaltet. Merkwürdig! Sie schaltete ihr Handy niemals aus, weil sie stets Angst hatte, etwas zu verpassen.
Mittlerweile war es 0:34 Uhr. Wo, um alles in der Welt, konnte sie um diese Uhrzeit sein? Nichts im Ort hatte noch um diese Zeit geöffnet. Yannis holte die leere Weinflasche unter dem Tisch hervor und studierte das Etikett. Keine der Sorten, die Leonie immer trank, außerdem schien er sündhaft teuer zu sein. Sie hatte offenbar Besuch gehabt. Aufgeregt lief Yannis ins Badezimmer und kehrte mit Leonies Lippenstift zurück. Nach einem Strich auf dem Glasrand war klar, dass es sich um das Glas seiner Frau handelte. Aber warum hatte sie zu Hause Lippenstift aufgelegt? Augenblicklich fiel ihm Konstantin ein. Der Freund hatte sich in letzter Zeit sehr verändert. Leonie und er hatten sich zwar schon immer gut verstanden, aber da war dieser eine Blick zwischen ihnen beim letzten gemeinsamen Essen gewesen, der Yannis nicht mehr aus dem Kopf ging. Wenn man einmal damit angefangen hatte, kleine Begebenheiten unter einem bestimmten Verdacht zu sehen, schien einem plötzlich alles klar, und der Adrenalinpegel stieg ins Unermessliche. Dann setzte die Fantasie ein, und es kamen diese verdammten Bilder.
Yannis griff rasch zum Telefon und wählte hastig eine Nummer.
»Konstantin? Ist Leonie bei euch?«
Am anderen Ende war ein verschlafenes und mürrisches »Nein, wieso?« zu hören.
»Weil sie immer noch nicht zu Hause ist. Warst du heute Abend bei uns?«
Wieder ein mürrisches »Nein«, dann wurde aufgelegt.
Yannis starrte einen Moment lang wütend auf das Telefon in seiner Hand. Dann atmete er tief durch und wählte die Nummer von Julie, Leonies bester Freundin. Sie war seine einzige Hoffnung; schon häufiger hatten die Freundinnen bis spät in die Nacht zusammengesessen und bei ihren Frauengesprächen jedes Zeitgefühl verloren.
Nach einer halben Ewigkeit wurde abgehoben.
»Julie, ich bin’s, Yannis.«
Am anderen Ende hörte man das Klicken eines Feuerzeuges und das Anrauchen einer Zigarette.
»Hallo? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Julie, wie jemand, der beim Fernsehen nicht gestört werden will.
»Tut mir leid, aber ist Leonie bei dir?«
»Nein! Warum fragst du?«
»Sie ist nicht zu Hause und hat auch keine Nachricht hinterlassen. Dabei wollte sie mich eigentlich dringend sprechen.«
Wieder entstand eine kleine Pause. Julie blies hörbar den Rauch aus, bevor sie antworten konnte. »Also bei mir hat Leonie sich nicht gemeldet, aber das …«
»Dann rufe ich eben jetzt die Polizei an!«, unterbrach Yannis sie und ärgerte sich gleichzeitig darüber, dass er sie nicht hatte aussprechen lassen. Die Verunsicherung in ihrer Stimme war ihm sehr wohl aufgefallen. Was wusste also Julie, was er nicht wusste?
Er hörte ein leises Aufstöhnen am anderen Ende der Leitung.
»Und was willst du denen sagen?«
»Dass meine Frau verschwunden ist.«
»Yannis, du machst dich lächerlich!«
»Bitte? Es muss ihr irgendwas passiert sein!«
Er schrie nun fast ins Telefon und fuhr sich dabei nervös durch die Haare, so wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war.
»Verschweigst du mir etwas?«, fragte er.
»Nein, Yannis, das tue ich nicht! Pass auf, du gehst jetzt schlafen, und wenn du wieder munter bist, ist Leonie wahrscheinlich wieder da und wird dir alles erklären.«
»Und wenn nicht?«
»Dann kannst du immer noch die Polizei anrufen! Geh schlafen und ruf mich morgen früh wieder an, falls sie noch nicht da ist. Dann komme ich, ja?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, legte Julie auf.
Yannis saß minutenlang regungslos im Sessel und starrte auf die beiden Weingläser. Dann stand er auf, holte sich ein Weizenbier aus dem Kühlschrank, öffnete es an der Tischkante und ließ sich auf die Couch fallen.
Er musste für kurze Zeit eingeschlafen sein, denn er schreckte auf, als seine Füße vom Couchtisch rutschten. »Leonie?«
Die Wohnzimmeruhr zeigte kurz nach drei Uhr. Durch die angelehnte Schlafzimmertür schimmerte ein schwaches Licht. Yannis sprang auf, war mit drei großen Schritten im Flur und riss die Tür auf.
»Leonie?«
Nichts.
Er hatte die Nachttischlampe brennen lassen. Yannis hastete zurück ins Wohnzimmer und tippte eine Nummer ins Telefon. Diesmal wurde sofort abgehoben.
»Notaufnahme St. Theresien-Krankenhaus Nürnberg. Sie sprechen mit Schwester Christa.«
»Ist bei Ihnen eine Frau mit dem Namen Leonie Lück eingeliefert worden?«
»Einen Moment bitte!«
Nervös trommelte Yannis mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte und lauschte angestrengt.
»Hören Sie? Nein, eine Frau namens Leonie Lück ist bei uns nicht eingeliefert worden.«
Enttäuscht und erleichtert zugleich legte Yannis den Hörer in die Station zurück. Wenigstens etwas! Leonie war nicht im Krankenhaus, ihr war anscheinend nichts passiert. Aber wo zum Teufel steckte sie nur?
Eine Familie, bei der sich nach ihr erkundigen konnte, hatte Leonie nicht. Sie war ganz allein auf dieser Welt, zumindest hatte Yannis nie etwas von irgendwelchen Verwandten gehört. Als er Leonie vor etwas mehr als sieben Jahren kennenlernte, war sie gerade fünfundzwanzig Jahre geworden. Anfangs wunderte er sich nur darüber, wie wenig sie von ihrer Vergangenheit sprach, dann fiel ihm auf, dass sie niemals über sich redete, und als er sie nach Monaten fragte, wann sie ihn denn endlich ihren Eltern vorstellen würde, erfuhr er, dass sie keine hatte. Leonie war bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr in einem Kinderheim in Lübeck aufgewachsen, hatte dann eine Lehre als Grafikerin in Wismar gemacht und war danach nicht wieder in ihre Heimatstadt zurückgekehrt.
Viel mehr über ihre Vergangenheit wusste Yannis nicht. Ihr beharrliches Schweigen über ihre Kindheit hatte er sich so erklärt, dass es wahrscheinlich nichts Positives über die Zeit im Waisenhaus zu berichten gab. Seltsamerweise gab es auch keine Fotos, die sie als Kind zeigten. Er erinnerte sich, wie seine Mutter einmal beim Essen vorsichtig das Gespräch auf dieses Thema gebracht hatte. Laut klirrend hatte Leonie daraufhin das Besteck auf den Tellerrand fallen lassen, war erzürnt aufgesprungen und eine halbe Stunde im Bad verschwunden. Nach diesem Vorfall war nie wieder über ihre Kindheit gesprochen worden. Einzig ein kleiner Stoffhund mit Namen »Lea« zeugte davon, dass Leonie einmal ein kleines Mädchen gewesen war.
Yannis griff hinter sich, tastete mit der Hand unter das Sofakissen, holte das zerknautschte Plüschtier hervor und betrachtete es sorgenvoll.
Nein, unmöglich, dass sie ihn verlassen hatte, dann hätte sie Lea mitgenommen! Leonie liebte diesen Hund über alles!
Das Klappen einer Autotür unten auf der Straße ließ ihn aufschrecken und zum Fenster laufen. Aber es waren nur Leute, die zur Arbeit fuhren.
Enttäuscht ließ er sich wieder auf die Couch fallen und starrte an die Decke. Es war inzwischen fast vier Uhr. Wer sagte ihm denn, dass Leonie nicht schon seit gestern verschwunden war? Vielleicht waren inzwischen vielmehr Stunden vergangen, als er annahm. Von diesem Gedanken getrieben, entschloss sich Yannis, zur Polizei zu gehen und Leonie als vermisst zu melden.
Mit überhöhter Geschwindigkeit machte sich Yannis auf den Weg und suchte die örtliche Polizeiinspektion auf.
»Name?«
»Leonie Lück.«
»Geburtsdatum?«
»16. Oktober 1986.«
»Größe?«
»Eins vierundsechzig.«
»Welche Haarfarbe hat ihre Frau?«
»Schwarz. Nein, mehr rot im Moment.«
»Lange oder kurze Haare?«
»Lange Haare.«
»Augenfarbe?«
»Blau.«
»Besondere Merkmale?«
»Sie hat eine Narbe an der linken Schläfe. Etwa vier Zentimeter. Man sieht es aber nicht auf den ersten Blick, weil sie die Narbe überschminkt.«
»Was trug ihre Frau, als sie verschwand?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wo könnte sie sich sonst noch aufhalten?«
»Keine Ahnung. Ich hab natürlich all unsere Freunde angerufen. Sie ist nirgendwo!«
»Haben Sie ein Foto von Ihrer Frau?«
Hektisch zog Yannis sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, holte ein zerknittertes Foto heraus und reichte es dem Beamten.
»Sieht Ihre Frau immer noch so aus?«
»Ja, das Foto ist keine vier Wochen alt.«
Der Polizist legte das Bild neben seine Akten, schaute noch einmal darauf und gab es dann Yannis zurück.
»Und seit wann vermissen Sie Ihre Frau?«
»Eigentlich seit gestern Abend, aber ich bin mir da nicht sicher.«
Der Polizist zog die Augenbrauen in die Höhe und ließ seine Hände auf die Tastatur sinken. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Lück, aber ich muss ihnen diese Frage stellen: Hatten Sie vielleicht Eheprobleme, oder Streit mit Ihrer Frau?«
Yannis schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Hören Sie, jedem Erwachsenen steht es grundsätzlich zu, seinen Aufenthaltsort frei zu bestimmen, ohne Freunde oder Verwandte darüber sofort zu informieren.«
Yannis unterbrach den Polizisten aufgebracht. »Aber meine Frau ist spurlos verschwunden. Ich habe überall angerufen, sie ist nirgendwo!«
Der Polizist verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Herr Lück, ich verstehe Ihre Besorgnis. Mir würde es sicherlich genauso gehen, wenn meine Frau weggelaufen wäre. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele der Verschwundenen schon nach wenigen Stunden wieder auftauchen. Manchmal haben sie einfach nur eine kurze Auszeit genommen, vom Alltag, von Problemen, vom Ehepartner …«
»Leonie ist doch nicht weggelaufen. Sie hat dazu überhaupt keinen Grund!«
Erneut hob der Polizist die Augenbrauen. »Sie arbeiten im Außendienst? Sie sind also selten zu Hause, oft tagelang unterwegs. Wie gut kennen Sie Ihre Frau?«
Yannis sackte auf dem Stuhl zusammen und fing wieder an, sich mit beiden Händen nervös über den Kopf zu fahren.
»Meine Frau hat keinen Grund wegzulaufen, außerdem brauchen Sie hier nicht zu mutmaßen, wie oft ich für meine Frau da bin!«
Der Polizist lächelte gutmütig. »Herr Lück, Sie gehen jetzt nach Hause und warten auf Ihre Frau. Sollte sie in den nächsten zwölf Stunden nicht aufgetaucht sein, kommen Sie wieder. Einverstanden?«
Nach einer halben Stunde hatte Yannis fast alle Straßen der Ortschaft abgefahren. Er konnte nicht einfach zu Hause sitzen und auf Leonie warten, so als würde sie jeden Moment vom Einkaufen kommen. Die Angst, dass etwas Furchtbares passiert sein könnte, schnürte ihm die Kehle zu und ließ ihn nicht mehr klar denken.
Lieber Gott, dachte Yannis, als er wieder vor seinem Haus einparkte, lass sie einfach eine Nacht bei einem anderen verbracht haben. Bitte, lass es nur das sein! Ich werde es ihr verzeihen.
Es war mittlerweile 6:30 Uhr.
Als er die Treppe hinauflief, hatte er die Hoffnung, Leonie könnte inzwischen wieder zu Hause sein. Er würde ins Schlafzimmer kommen, sie würde im Bett liegen und verschlafen einen Gruß murmeln, er würde ihr einen Kuss geben und sich dann zu ihr legen.
Yannis verspürte plötzlich ein Verlangen, sie in den Arm zu nehmen und nie wieder loszulassen. Viel zu oft war sie allein, und auch Julie konnte als Freundin die Lücke, die Yannis durch seine langen Touren hinterließ, nicht ausfüllen. Seine Hände zitterten vor Aufregung, daher gelang es ihm erst beim dritten Versuch, den Schlüssel in das Schloss seiner Wohnungstür zu stecken.
Er rannte ins Schlafzimmer. Das Bett war leer. Tief atmend stand er im Raum. Zum ersten Mal kam ihm der beunruhigende Gedanke, dass Leonie ihn tatsächlich verlassen haben könnte. Aufgeregt riss er alle Schranktüren auf. Ihre Kleider waren noch da und lagen akribisch geordnet in den Fächern. Er schüttelte den Kopf und rannte ins Bad. Was war mit ihrem Schminkkoffer? Sie ging nie ungeschminkt aus dem Haus, und selbst in der Wohnung legte sie Make-up auf, um ihre Narbe zu überdecken.
All ihre Schminkutensilien standen, soweit er es übersehen konnte, auf dem kleinen Glasregal über dem Waschbecken. Yannis ließ sich erschöpft auf den Badewannenrand sinken. Sie hatte ihn also nicht verlassen.
Plötzlich klingelte es Sturm an der Haustür. Wie elektrisiert sprang er auf. Sie hat ihren Schlüssel verloren, war der einzige Gedanke, der ihn auf den wenigen Metern zur Tür beherrschte. Er würde jetzt keine Fragen stellen, bis sie von selbst redete. Hauptsache, sie war wieder da!
Yannis riss die Tür auf.
Vor ihm stand Julie. Sie drückte ihm wortlos eine Zeitung gegen die Brust und lief an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Verstört schaute Yannis auf die erste Seite des Papiers.
»Bei einem schweren Verkehrsunfall auf der B14 nahe Hainberg am Abend des 4. Juli, bei dem drei Menschen tödlich verunglückten, wurde auch eine junge Frau schwer verletzt, deren Identität bisher noch nicht festgestellt werden konnte.«
Darunter war ein Foto abgebildet, das eine Frau zeigte, die Leonie recht ähnlich sah.
»Nein!« Yannis schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. »Das kann nicht sein!«
Julie war neben ihn getreten und reichte ihm eine weitere Zeitung.
Yannis starrte wieder auf das Bild und schüttelte dann energisch den Kopf.
»Ich bin an diesem Unfall vorbeigefahren. Das Foto ist nicht sehr gut. Das ist sie nicht! Und überhaupt – was sollte sie in dieser Gegend …?«
»Doch, Yannis, es ist Leonie! Lass uns hinfahren! Mein Auto steht unten.« Wie in Trance erhob sich Yannis und schlug die Tür hinter ihnen zu.
»Ich bin doch an dem Unfall vorbeigefahren«, wiederholte er voller Verwirrung, während sie die Treppen hinuntergingen.
Es dauerte einige Minuten, bis Yannis bereit war, das Krankenzimmer auf der Intensivstation zu betreten. Die Schwestern hatten ihn mit wenigen Worten vorbereitet, damit er bei dem Anblick, der ihn erwartete, nicht allzu sehr schockiert sein würde, und auch Julie wurde gebeten, noch einige Minuten vor der Tür zu warten, bis die Ärzte mit Yannis geredet hatten. Ängstlich betrat er das Krankenzimmer, schloss die Tür hinter sich und blieb einige Meter vom Bett entfernt stehen.
Der Kopf seiner Frau war so sehr bandagiert, dass außer den geschlossenen Augen, der Nase und den Lippen nichts zu sehen war. Angestrengt versuchte Yannis, irgendetwas zu erkennen, das seiner Frau ähnelte. Das sollte Leonie sein? Er ließ den Kopf sinken und wandte sich ab. In diesem Moment wurde die Schiebetür des Intensivraumes aufgeschoben. Zwei Ärzte, ein älterer und ein jüngerer, traten ein und stellten sich als Prof. Dr. Hansen und Doktor Berger vor.
»Herr Lück? Gut, dass Sie sich gemeldet haben!«
Yannis starrte sie an, ohne ihren Gruß zu erwidern.
»Ich weiß nicht, ob das meine Frau ist!«, stieß er hervor.
»Gibt es ein besonderes Zeichen, das nur Ihre Frau hat?«, fragte der Professor. »Ein Tattoo oder eine Narbe vielleicht?«
»Ja, an der linken Schläfe, aber die ist ja …« Er rang mit seiner Fassung.
Prof. Hansen sah ihn mitfühlend an. »Durch die Kopfverletzung ist das Gesicht dieser Frau im Moment noch …«
Yannis fixierte das Fenster im Rücken des Professors. Die Tasse Kaffee, die man ihm angeboten hatte, schob er zur Seite.
»Hatte meine Frau nicht irgendetwas bei sich? Eine Handtasche oder etwas anderes? Wo ist der Ehering? Sie muss doch ihren Ring getragen haben!«
Der Professor schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid. Uns wurde nichts mitgegeben. Offenbar ist alles verbrannt, selbst ihre Kleidung. Entschuldigen Sie, wir mussten sie aufschneiden, als sie eingeliefert wurde. Von einem Ehering weiß ich nichts, aber ich werde mich erkundigen und dann Bescheid geben.«
Yannis schaute weiter starr aus dem Fenster.
Einen Moment lang studierte der Professor seine Unterlagen. »Durch den Unfall hat Ihre Frau leider etliche Verletzungen erlitten. Man nennt das Polytrauma. Der Körper reagiert dabei oft panisch. Sozusagen schrillen alle Alarmglocken auf einmal. Dadurch kommt es bei dem Verletzten zu schwerem Stress, wodurch ein lebensbedrohlicher Zustand eintreten kann. Es war also im Falle der Ehefrau notwendig, sie schon am Unfallort in ein künstliches Koma zu legen, es dient der Schonung des Patienten. Es sind mehrere Rippen gebrochen, sodass sie bei Bewusstsein unter großen Schmerzen beim Atmen leiden würde, was zu einer geringen Atemtiefe und somit zu einer verminderten Sauerstoffaufnahme führen würde. Da es sich leider abzeichnet, dass wir das künstliche Koma über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten müssen, haben wir zur Erleichterung der Beatmung einen Luftröhrenschnitt gemacht.«
Yannis versuchte sich zu konzentrieren, aber die Worte des Professors schienen irreal zu sein.
»Außerdem erlitt Ihre Frau durch den seitlichen Aufprall des Kopfes eine große Platzwunde und eine schwere Gehirnerschütterung. Die größte Sorge bereitet uns aber im Moment eine Verletzung an der Wirbelsäule.«
»Was? Entschuldigung, ich habe einen Moment lang …«, unterbrach Yannis sichtlich überfordert.
Der Professor nickte rücksichtsvoll. »Tut mir leid, manchmal vergessen wir Ärzte, dass es auch Nichtmediziner gibt. Ich weiß, dass sich das alles gerade furchtbar für Sie anhört, aber was das künstliche Koma angeht, so ermöglicht es dem Körper …«
»Wie lange wird sie im Koma liegen, kann man das schon abschätzen?«
Für einen Moment herrschte Stille.
»Das können wir jetzt noch nicht sagen.«
Das kleine Zimmer, unweit des Klinikums Nürnberg, das Yannis bezogen hatte, um jeden Tag bei Leonie sein zu können, war alles andere als komfortabel, aber er war froh, so rasch eine Unterkunft gefunden zu haben. Jeden Morgen, wenn er zu Fuß zum Krankenhaus unterwegs war, spornte ihn ein einziger Gedanke an: Leonie könnte wach sein, wenn er kam! Dieser Gedanke beherrschte ihn, wenn er abends das Licht löschte, und es war das Erste, was er am Morgen dachte.
Fast zwei Wochen waren seit Leonies Unfall vergangen, und noch immer zögerten die Ärzte, sie aus dem künstlichen Koma aufzuwecken. Yannis verstand die Erklärungen des Professors nicht, obwohl dieser sich alle erdenkliche Mühe gab, ihm die medizinischen Fachbegriffe so einfach wie möglich zu erklären. Die gebrochenen Rippen waren beinahe wiederhergestellt, die übrigen Verletzungen so weit ausgeheilt, dass die Schmerzen erträglich wären, nur die Wirbelsäule machte noch Probleme. Die Ärzte konnten Yannis jedoch insofern beruhigen, als Leonie keine Querschnittslähmung drohte.
Yannis war inzwischen mehrere Male bei der Polizei gewesen, die, da es keine Zeugen gab, noch immer nach der Unfallursache und dem Schuldigen suchte. Die Versicherung hatte sich wegen des Schadens an Leonies Auto gemeldet, wollte aber nicht zahlen, solange der Verursacher des Unfalls nicht festgestellt war. Das Jobcenter schrieb, dass Leonie eine Umschulung besuchen sollte, und ein Versandhaus schickte zwei Pakete mit Kleidern. Das Leben ging weiter, nur nahm Leonie nicht mehr daran teil.
Die Physiotherapeuten trainierten ihre Muskeln und Gelenke, die Schwestern wechselten die Blumen, die er jeden vierten Tag mitbrachte, und Yannis wartete jeden Tag stundenlang. Oft hörte er die Schwestern tuscheln und bemerkte ihre teils mitleidigen, teils anerkennenden Blicke. Richard Kessler, sein Chef, hatte ihn für unbestimmte Zeit beurlaubt, und vor zwei Tagen waren Julie und ihr Mann Lutz zu Besuch gekommen. Verlegen hatten sie eine Weile neben Leonies Bett gestanden und versucht, mit Yannis ins Gespräch zu kommen.
Zum ersten Mal war die Frage ausgesprochen worden, die Yannis bisher nicht zugelassen hatte. Ob Leonie denn jemals wieder gesund werden würde, wollte Lutz wissen. Obwohl er diese Frage sehr vorsichtig gestellt hatte, war Yannis wütend auf ihn losgegangen und hatte die Freunde kurzerhand aus dem Zimmer geworfen.
Dann stand er minutenlang regungslos an der geschlossenen Tür. Was war, wenn sie recht hatten? Was, wenn die Ärzte ihm etwas verschwiegen? Wäre er stark genug und würde seine Liebe zu Leonie reichen, ein Leben an der Seite einer kranken Frau zu verbringen?
Fast panisch war er an Leonies Bett zurückgekehrt und hatte ihr beschwörend ins Ohr geflüstert: »Hör nicht auf sie, Liebes! Es wird alles gut, glaub mir, es wird alles gut!«
Einen Tag Auszeit war alles, wozu er sich auf Drängen der Schwestern hin hatte überreden lassen. Als er nun im strömenden Regen auf sein Haus zulief, überkam ihn eine unfassbare Einsamkeit. Dieser Sommer war früh zu Ende gegangen, die Linden am Straßenrand begannen sich bereits gelb zu färben. Wie immer war die kleine, dunkle Einbahnstraße lückenlos zugeparkt, Yannis war entnervt fünf Mal um den Block gefahren und hatte schließlich zwei Straßen weiter sein Auto abgestellt. Der Briefkasten war restlos überfüllt, und irgendwann hatte jemand einfach einen grünen Schuhkarton daraufgestellt und mit seinem Namen versehen. Yannis leerte den Kasten und ging in den dritten Stock hinauf.
Schon beim Betreten der Wohnung fiel ihm der merkwürdige Geruch auf, der aus der Küche zu kommen schien. Yannis stellte den Karton auf dem Küchentisch ab und öffnete den Topf, der auf der Herdplatte stand. Er riss den Kopf zurück, als ihm der beißende Gestank einer schmierigen Nudelmasse entgegenschlug. Schnell legte er den Deckel auf, nahm den Topf und lief damit aus der Küche. Hilflos starrte er auf den Topf in seinen Händen, eilte dann ins Wohnzimmer, riss die Balkontür auf und stellte ihn nach draußen. Für einen Moment stand er verloren im Wohnzimmer herum, dann ließ er sich laut stöhnend auf das Sofa fallen und legte beide Beine auf dem Couchtisch ab. Leonie würde jetzt sicher meckern, dachte er voller Wehmut.
»Zieh doch wenigstens deine Schuhe aus!«, würde sie sagen, und er würde wie immer brummelnd ihrer Aufforderung folgen.
Die Sehnsucht nach ihr ließ ihn hastig die Schuhe von seinen Füßen streifen und dann mit einem lauten Aufschrei gegen den Tisch treten.
Als er dann noch den schwarzen Fleck an seinem Schienbein sah, war seine Stimmung am Tiefpunkt angelangt. Er war an der Anhängerkupplung eines silbergrauen BMWs hängengeblieben, als er sich vor dem Haus durch die eng parkenden Autos gewunden hatte. Laut fluchend sprang er auf, lief in die Küche, riss eines der Geschirrtücher vom Haken und versuchte hektisch, den öligen Fleck zu entfernen, aber der war äußerst hartnäckig, und inzwischen hatte das Blau seiner Jeans das weiße Tuch verfärbt, sodass er es unmöglich zurückhängen konnte, sondern verärgert in den Wäschekorb warf.
Während er den Korb schloss, hielt Yannis plötzlich in der Bewegung inne. Dieser Wagen, fiel ihm blitz-artig ein, war ihm schon an jenem Abend, als Leonie verschwunden war, aufgefallen. Jetzt, drei Wochen später, stand er noch immer an derselben Stelle. Yannis riss das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Leider war es ihm unmöglich, das Nummernschild zu erkennen. Unzufrieden setzte er sich wieder auf die Couch zurück und ließ seinen Blick ziellos durch das Zimmer streifen. Es war idiotisch, hierherzukommen, stellte er missmutig fest, aber wenn er allein in seinem angemieteten Zimmer hockte, versetzten ihn die Angst und die Vorstellung, dass Leonie plötzlich in der Nacht sterben könnte, allabendlich in Panik.
Eines Nachts hatte er sogar angefangen zu beten. Er kannte zwar kein einziges richtiges Gebet, aber er hatte Gott laut angefleht, Leonie endlich aufwachen zu lassen. Am Morgen darauf war er, in der fast gläubigen Hoffnung, Gott könnte ihn tatsächlich erhört haben, den gesamten Weg zum Krankenhaus gerannt, aber als er atemlos das Krankenzimmer betrat, bot sich ihm der immer gleiche Anblick: eine schlafende Frau.
Eine kleines Stück Papier, die aus dem untersten Schubfach des Schrankes schaute, erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Er stand wieder auf, lief zum Schrank und zog das Schubfach auf. Nachdenklich drehte Yannis den Sparkontoauszug mit der inzwischen fünfstelligen Summe zwischen seinen Händen. Leonie hatte ihn also doch gefunden. Die letzten Nächte vor ihrem Unfall hatte er damit verbracht, sich den Moment vorzustellen, wenn er ihr von seinem Vorhaben erzählen würde. Ein eigenes Haus! Er hatte vor, es sofort zu kaufen, sobald sich der langersehnte Nachwuchs ankündigte. Zwar war dieses Thema von Leonie selbst bis auf weiteres auf Eis gelegt worden, weil sie meinte, in ihrem seelischen Zustand keine gute Mutter sein zu können, aber Yannis hoffte trotzdem auf ein Wunder.
Und was sprach gegen ein Kind, wenn es für sie ohnehin keine Aussicht auf eine neue Anstellung gab? Leonie würde ganz sicher, wenn es erst einmal da war, in ihre Mutterrolle hineinwachsen. Ein Kind war eine wirkliche Aufgabe, und genau diese Erfüllung hatte sie doch gesucht.
Zugegeben, er hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, wie sehr er seiner Frau vielleicht fehlen könnte. Er brachte das Geld nach Hause, sodass sie sich ein halbwegs komfortables Leben ohne größere Sorgen leisten konnten, in den letzten zwei Jahren waren sie im Sommer nach Spanien und auf Rhodos geflogen, und auch sonst schien ihre Ehe ganz gut zu funktionieren. Aber was wusste er denn schon? Im Grunde viel zu wenig. Die kurze Zeit, die sie zwischen zwei Touren miteinander verbrachten, war eher Urlaub als Alltag. Yannis schlief recht lange, sie gingen einkaufen, und abends traf er sich mit Freunden, oder man saß gemeinsam vor dem Fernseher und schaute Netflix. Er kannte kein einziges Hobby oder wenigstens eine Vorliebe von Leonie, abgesehen vom stundenlangen Shoppen oder den Abenden mit Julie. Aber was tat sie den ganzen Tag, wenn er nicht da war? Mit wem traf sie sich sonst noch?
Der Professor hatte ihm mitgeteilt, dass man Leonie ohne Ehering gefunden hatte. Warum hatte sie ihn abgenommen? Hatte Yannis alle Zeichen des drohenden Endes seiner Ehe übersehen? War alles, was er für ihre gemeinsame Zukunft erarbeitet hatte, umsonst, weil es sie so vielleicht gar nicht mehr geben würde? Wo war sie an den vielen Abenden gewesen, an denen er vergeblich versucht hatte, sie zu erreichen? Hatte sie ihm vielleicht wirklich ein Verhältnis mit einem anderen beichten wollen? Wohin wollte sie an jenem Abend? Was war so dringend gewesen, dass sie nicht auf ihn warten konnte?
Einmal hatte sie von einer entfernten Tante gesprochen, die jetzt schon uralt sein müsste – sie hieß Tante Charlotta. Das war alles, was er wusste. Vielleicht war diese Tante gestorben. War das der Grund, warum Leonie mitten in der Nacht weggefahren war? Nichts ergab einen Sinn. Seit drei Wochen wartete er auf eine Antwort, und der einzige Mensch, der sie ihm geben konnte, lag im Koma.
Yannis hielt es in der Wohnung ganze drei Stunden aus. Dann fuhr er zurück nach Nürnberg.
Seit über einer Stunde schon saß Yannis am Bett von Leonie. Dann erhob er sich langsam, ging hin zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Trotz dass es den ganzen Tag wie aus Kannen gegossen hatte, war die Nacht jetzt sternenklar. Er öffnete das Fenster und atmete tief die milde Nachtluft ein.