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Vier setzen sich an den Tisch. Aber einer wird nie wieder aufstehen.
Der nervenaufreibende Sunday Times Bestseller, der hinter perfekte Fassaden und in menschliche Abgründe blickt
Charlie wollte Rachel nie in seinem Leben haben, aber Matthew wollte nicht hören. Er lädt sie in ihr Zuhause ein, wo sie mit ihrem Sohn Titus leben. Eine völlig Fremde. Er lässt sie in ihre Privatsphäre eindringen und ignoriert Charlies böse Vorahnungen. Und noch bevor das Abendessen vorbei ist, ist Matthew tot. Titus sitzt unter Schock am Tisch. Und Rachel ruft die Polizei, das blutige Messer noch immer in der Hand. Eine scheinbar perfekte Familie zerstört in einem einzigen Augenblick. Obwohl Rachel sofort gesteht, bleibt eine Frage: Ist die Fremde am Tisch wirklich die Mörderin?
Erste Leser:innenstimmen
„Die Charaktere sind so authentisch und vielschichtig, dass ich bis zum Ende hin mitgerätselt habe, wer wirklich hinter dem Mord steckt.“
„Eine brillante Mischung aus Psychothriller und Whodunit!“
„Ein atemberaubender Thriller voller Spannung und Intrigen!“
„B.P. Walter schafft es meisterhaft, Verdächtigungen zu streuen und den Leser immer wieder in die Irre zu führen.“
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Seitenzahl: 512
Veröffentlichungsjahr: 2024
Charlie wollte Rachel nie in seinem Leben haben, aber Matthew wollte nicht hören. Er lädt sie in ihr Zuhause ein, wo sie mit ihrem Sohn Titus leben. Eine völlig Fremde. Er lässt sie in ihre Privatsphäre eindringen und ignoriert Charlies böse Vorahnungen. Und noch bevor das Abendessen vorbei ist, ist Matthew tot. Titus sitzt unter Schock am Tisch. Und Rachel ruft die Polizei, das blutige Messer noch immer in der Hand. Eine scheinbar perfekte Familie zerstört in einem einzigen Augenblick. Obwohl Rachel sofort gesteht, bleibt eine Frage: Ist die Fremde am Tisch wirklich die Mörderin?
Deutsche Erstausgabe Juli 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-135-5 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-143-0
Copyright © 2021, B P Walter Titel des englischen Originals: The Dinner Guest
First published in Great Britain in ebook format by HarperCollinsPublishers in 2021 with the English title The Dinner Guest.
Übersetzt von: Jara Dressler Covergestaltung: Buchgewand Unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Resul Muslu, © Paul Nash, © Sergey Nivens, © Andrey Yurlov stock.adobe.com: © forcdan, © Janis Smits elements.envato.com: © ghostlypixels Korrektorat: Katrin Ulbrich
E-Book-Version 01.10.2024, 10:56:58.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Vier setzen sich an den Tisch. Aber einer wird nie wieder aufstehen.Der nervenaufreibende Sunday Times Bestseller, der hinter perfekte Fassaden und in menschliche Abgründe blickt
Hier auf den Knie’n schwör ich zu Gott im Himmel,
Nie will ich wieder ruhn, nie stille stehn,
Bis Tod die Augen mir geschlossen,
Oder das Glück mein Maß von Rache mir geschafft.
Henry VI, William Shakespeare
Ein Sturm zieht auf, Mr. Wayne. Wenn er losbricht, werden sie sich alle fragen,
wie sie je so maßlos leben konnten, während sie uns anderen so wenig lassen.
Selina Kyle in The Dark Knight Rises (2012), geschrieben von Christopher Nolan und Jonathan Nolan
Der Tag des Mordes
Mein Ehemann Matthew starb an einem ungewöhnlich kühlen Augusttag während des Abendessens. Wir waren gerade mal etwas mehr als zehn Jahre zusammen, davon fünf verheiratet und ja, wir liebten einander. Aber die Liebe verändert sich mit der Zeit und ich muss gestehen, dass in diesen letzten Momenten, als ich wusste, dass er sterben würde, zwischen all dem Horror, dem Blut und dem Schock, die Liebe nicht mehr so tief war, wie ich erwartet hatte. Selbst nach allem, was passiert war. Damals, als wir geheiratet haben, hätte der Gedanke daran, ihn zu verlieren, eine Welle der Verzweiflung hervorgerufen. Ich hätte es nicht verstehen können. Und ich dachte, dass das immer so bleiben würde. Es musste das Schrecklichste passieren, was ich mir vorstellen konnte, damit ich verstand, dass die Dinge nicht immer so laufen, wie wir uns das vorstellen.
Der Moment, der mir im Gedächtnis blieb, war nicht der, in dem das Messer sein Ziel fand, und auch nicht das schreckliche Geräusch, welches Matthew machte, als ihm klarwurde, was geschah. Der Moment, der sich mir ins Gedächnis brannte, war als er versuchte etwas zu sagen, ein letztes mal sprechen wollte.Es war, als er versuchte zu sprechen, etwas wirklich sagen wollte, was bei mir hängen blieb. Und ich konnte die Worte nicht verstehen. Es war ihm nicht möglich sie deutlich genug zu formulieren, um ihnen einen Sinn zu geben. Ich konnte sie nicht einmal erahnen. Das Wort ‚nach‘ kam vielleicht darin vor, wobei ich mir nicht sicher sein kann. Es war das Nicht-Wissen, dieses Gefühl der Frustration, und seitdem die Frage und die Vermutung darum, was er in seinen letzten Momenten versucht hatte, mir mitzuteilen.
Rachel saß ruhig auf einem der Esszimmerstühle, am Telefon die Polizei, das Messer in ihrer Hand. Sie sollte an diesem Abend nicht einmal hier sein. Aber ich hatte mich an Rachels Eigenheit gewöhnt: Sie stolperte immer in Orte, Situationen oder Angelegenheiten, die sonst ohne sie vonstattengegangen wären. Immer die Außenseiterin. Aber nicht heute. Heute hatte sie die Hauptrolle.
Als die Polizei kam, nahmen sie sie direkt vor Ort in Gewahrsam. Sie hatte immerhin gestanden. Sie saß da, das Messer in der Hand, Tränen in den Augen. „Ich war es“, sagte sie, mit dünner, aber entschlossener Stimme. „Ich habe ihn getötet.“
Sie wollten sie gerade abführen, als der jüngere der beiden Beamten ihr die Frage stellte: „Warum haben Sie ihn getötet, Rachel?“ Ich schätze mal, dass der Ältere der beiden sich diese Frage für das Verhörzimmer aufheben wollte, aber er drehte sich dennoch zu ihr, um die Antwort zu hören. Aber Rachels Gesicht blieb beinahe leblos. Nur das winzigste Zittern, die kleinsten Gefühle, störte die ruhige Oberfläche einen kurzen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf, senkte den Blick. „Ich kann nicht“, sagte sie. Danach weigerte sie sich, noch ein weiteres Wort von sich zu geben.
Sie nahmen sie mit, hielten sie unter Arrest und ließen einen anderen Beamten zurück, der mich und Titus mit Blaulicht in einem Auto zur Wache brachte. Ich musste Titus aus seinem Zimmer locken. Er saß auf seinem Bett, inmitten der Decken, seine Kopfhörer auf, versuchte sich vor der schrecklichen Welt dort draußen abzuschirmen. Vor sich hatte er sein altes Scrapbook-Tagebuch aufgeschlagen liegen. Er hatte für alle Schulferien eins gemacht, als er noch ein Kind war. Es war etwas, das Matthews Schwester scheinbar auch getan hatte. Das hatte er mir einmal erzählt, als wir den kleinen Titus dabei beobachteten, wie er die Ausdrucke der Urlaubsfotos einklebte. Ich konnte nicht genau sagen, ob er froh darüber war, dass der Kleine in diese Aufgabe so vertieft war, oder ob es ihm Sorge bereitete. Und die Tatsache, dass Titus sich nun einen Band voller glücklicher Familienfotos genommen hatte, nach dieser gewalttätigen Szene im Esszimmer eben, machte mich wirklich fertig.
„Wir müssen los“, sagte ich liebevoll zu ihm. „Die Polizei ist hier. Wir müssen mit auf die Wache, damit sie mit uns reden können.“
Der Polizist hinter mir erklärte, dass wir beide nun nach unten kommen müssten. Er kam und stand sehr nahe, machte deutlich, dass wir keine Wahl hatten.
Ich sah, wie die Tränen über Titus’ Wangen flossen, und wollte ihn an mich ziehen, ihm sagen, dass alles gut werden würde. Aber er entzog sich mir.
„Bitte, Titus. Wir müssen gehen. Sie haben Rachel bereits mitgenommen.“
Bei dieser Aussage sah er zu mir auf, genau wie ich es erwartet hatte. „Rachel hat gestanden. Sie hat ihnen erzählt, dass sie es gewesen ist.“
Der Pony aus hellblondem Haar fiel ihm ins Gesicht, als er sich aufsetzte, und vermischte sich dabei mit seinen Tränen.
„Aber … weshalb?“
Das letzte Wort sprach er tonlos. Ich starrte ihn an, die eigentliche Frage hing zwischen uns in der Luft. Weshalb würde Rachel einen Mord gestehen, den sie nicht begangen hatte?
Noch elf Monate
Wir trafen Rachel das erste Mal in einer Buchhandlung. Matthew und ich waren in die Stadt gefahren, während Titus zu Hause mit meiner Mutter Kuchen backte.
Als wir uns dazu entschieden hatten, nach Chelsea zu ziehen, hatte ich die Angst, dass meine Mutter, die im benachbarten Belgravia wohnte, versuchen würde, uns zu mikromanagen, aber wir kamen gut zurecht und sie kam ein paar Mal pro Woche zu Besuch.
Es war meine Idee gewesen, an diesem sonnigen Sonntagmorgen zu Waterstones in der King’s Road zu gehen. Ich wollte mir ein Hardcover-Buch kaufen, das anspruchsvoll klang, von dem ich in einem der morgendlichen Prospekte gelesen hatte und das man hauptsächlich kaufte, um dabei gesehen zu werden, wie man es las, anstatt dass man es genoss. Matthew fand das schon immer seltsam. „Du behandelst Bücher, als wären es Lifestyle-Accessoires.“ Er sagte die letzten zwei Wörter mit jeder Menge Verachtung, ein wissendes Lächeln auf seinem hübschen Gesicht. Er wollte mich ärgern und ich biss an, erklärte ihm, dass es meine Entscheidung war, was ich las und warum.
Als wir Waterstones betraten, machte er sich direkt auf den Weg in die Fantasy-Abteilung, vermutlich, um ein Buch zu besorgen, das so dick war, dass es einer halbwegs effektiven Waffe gleichkam, während ich mir die Neuerscheinungen ansah. Ich fand das Buch, das ich gesucht hatte, und wollte es gerade nehmen, als meine Hand gegen eine andere schlug, die ebenfalls danach griff. „Oh, Entschuldigung“, sagte sie, lachte und zog die Hand zurück. Ich sah zu ihr auf, zu ihren welligen blonden Haaren, ihren hellen blauen Augen. Sie hatte etwas Lebendiges an sich. Fröhlich. Sorgenfrei. Als ob sie von einem Windhauch getragen wurde. Ich sah, wie sie mich ebenfalls von oben bis unten musterte, so wie es Frauen häufig taten. Dies war mir mein gesamtes Erwachsenenleben über aufgefallen. Genau genommen noch länger. Als ich ein Junge war, auf dem Rugbyfeld oder in den Klubs, gab es immer jemanden, der mir nachpfiff, oder eine Gruppe von Mädels, die bereit waren, mich aufzunehmen. Dann, als ich erwachsen wurde, während meiner späten Zwanziger und Mittdreißiger, wurden die Signale der Anziehungskraft etwas unauffälliger, aber sie waren immer noch da. Manchmal fragte ich mich, ob es mich irgendwie verdorben hatte, derjenige mit dem guten Aussehen in meiner Gruppe zu sein. ‚Wunderjunge‘ hatte mich mein Kumpel Archie immer scherzhaft genannt, mir in die Seite geknufft, als um uns herum plötzlich Mädchen auftauchten, während wir als Teenager durch die Bars zogen. Er liebte ‚diesen Moment‘, wie er es gern nannte, wenn sie zu mir kamen, mich ermutigten, ihnen einen Drink zu kaufen, während ich ihnen ein entschuldigendes Lächeln zuwarf und erklärte, dass ich ihnen gern einen Drink kaufte, aber auf Jungs statt auf Mädchen stand. Für gewöhnlich blieben sie nach einem Moment der Enttäuschung (was, wie ich peinlicherweise gestehen muss, meinem Ego guttat) freundlich, aber ihre Aufmerksamkeit verlagerte sich mehr als einmal auf Archie oder einen der anderen Typen, mit denen ich unterwegs war. Oder manchmal blieben sie einfach und unterhielten sich. Beides war cool.
Mit Rachel kam es nicht dazu. Nicht, dass ich zu der Zeit wusste, dass sie Rachel hieß. Sie war einfach nur die Frau, die dasselbe Buch kaufen wollte wie ich. Aber als sich unsere Hände voneinander entfernten und sich unsere Blicke trafen, wusste ich irgendwie, dass sie ein Teil unseres Lebens werden würde. Ich wusste nur noch nicht, wie groß dieser Teil sein würde.
„Es tut mir leid, nehmen Sie es“, sagte ich und grinste sie an. Noch ein kurzes Lachen. „Nein, wirklich.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß noch nicht einmal, ob ich es kaufen werde. Sie scheinen sich da sicherer zu sein.“ Das stimmte nicht. Ich wusste, dass ich es kaufen würde, aber es war eine Angewohnheit von mir, dass mir solch kleine Lügen einfielen. Es war Teil meines ständigen Bedürfnisses, Leute zufriedenzustellen. Nach ein paar Momenten begannen wir uns über die Beurteilung des Buches im Observer zu unterhalten und darüber, wie es am Abend zuvor bei Radio 4 in der Saturday Review besprochen worden war. Sie nickte und lächelte die ganze Zeit und nannte ein anderes Buch desselben Autors, aber ich gab zu, dass ich das nicht gelesen hatte. „Mein Ehemann ist der eigentliche Leser“, sagte ich und nickte in die Richtung, in der Matthew nun den Kauf-eins-bekomme-eins-zum-halben-Preis Taschenbuchtisch unter die Lupe nahm. „Hauptsächlich Fantasy, aber auch andere Bücher.“
Da war es. Ein kurzes Flackern in den Augen. Zu dieser Zeit dachte ich, dass es mittlere-bis-große Enttäuschung darüber war, dass ich verheiratet war, gepaart mit Überraschung darüber, dass ich mit einem Typen verheiratet war. Aber natürlich weiß ich im Rückblick nun, das es etwas viel Düstereres als das war. In diesem Moment jedoch, war es eine weitere kleine Wohltat für mein Ego.
Ich erzählte Matthew einmal von meiner Zweifache-Enttäuschungstheorie und davon, dass ich mir sicher war, dies jedes Mal in den Augen der Frauen zu sehen. Wir waren mit den Jungs unterwegs, Archie und George betranken sich neben uns konstant und ich erwartete, dass sie mich alle auslachen würden, aber Matthew tat es nicht. Er schüttelte einfach nur den Kopf und entgegnete: „Bitte, bitte, bitte, Liebling, glaube niemals, das Wesen einer Frau verstehen zu können. Das ist nicht niedlich.“ Er legte halb zum Scherz seine Hand auf mein Knie.
„Warum nicht?“, fragte ich, überrascht von seiner Antwort.
„Weil es selbstzufrieden klingt und herablassend und etwas sexistisch.“ Und damit zog er ab, um eine weitere Runde Pints zu besorgen, während ich die anderen zwei verwirrt ansah.
Genau deswegen hatte ich nicht vor, Matthew von der Frau im Waterstones zu erzählen. Wir verabschiedeten uns und sie hatte die voluminöse Ausgabe gekauft, während ich mich weiter umsah mit dem Buch unterm Arm. Aber dann trafen wir eine halbe Stunde später erneut aufeinander, in der Lebensmittelabteilung von Marks & Spencer’s auf der anderen Straßenseite. Wie wahrscheinlich ist das?, dachte ich mir. Sie balancierte zwei Packungen Halloumi auf einer Schachtel Himbeeren. „Interessante Kombination“, kommentierte ich ihren Einkauf. Das kühle gehauchte Lachen war erneut zu hören. Und dann stellte ich ihr Matthew vor, da es sonst unhöflich und seltsam gewesen wäre. Er grüßte sie und da wurde mir klar, dass ich nicht einmal ihren Namen kannte und sie meinen auch nicht. „Ich bin Rachel“, sagte sie. „Ich bin gerade erst in diese Gegend gezogen.“
„Aus dem Norden?“, fragte ich und fügte hinzu: „Sorry, mir ist der Akzent aufgefallen.“
Sie verhaspelte sich etwas in ihrer Antwort – vermutlich hatte meine Annahme sie irritiert –, aber dennoch erwiderte sie mit einem Lächeln: „Ja, aus Yorkshire.“
Matthew nickte. „Sehr schön.“
Selbst ich, der Mensch, der vermutlich am meisten mit sich selbst im Reinen ist, dem man je begegnete, fragte mich inzwischen, wie wir diese Unterhaltung beenden sollten, ohne dass es seltsam wurde. Und nur, um etwas zu sagen, nickte ich in Richtung ihrer Waterstones-Tasche, die sie unter den Arm geklemmt hatte und aus der die Ecke des Hardcovers ihr in den Arm stach. „Wie ich sehe, hast du mehr als nur unsere Wahl gekauft.“
Sie schielte zu ihrer Tüte, als ob sie ihr gerade erst aufgefallen war, und eine der Halloumi-Packungen fiel dabei zu Boden. Sobald Matthew sie aufgehoben hatte, nach etwas schrägem Gelächter, zog sie ein paar ihrer Einkäufe aus der Tasche. „Der Typ an der Kasse meinte, dass die gut seien.“ Ich sah mir die Cover an: traditionell buchklubmäßige Krimis. Eher Matthews Geschmack als meiner.
„Oh, das hier lesen wir als nächstes in unserem Buchklub“, sagte er und zeigte auf das Blaue mit dem Leuchtturm und der Silhouette einer Frau darauf.
„Oh, das ist wirklich ein Zufall. Ich freue mich schon darauf, es zu lesen.“
„Du solltest zu unserem Buchklub kommen“, entgegnete er enthusiastisch. „Wir sind immer auf der Suche nach neuen Mitgliedern.“
Was zum Teufel? Es gab freundlich und es gab seltsam. Diese Frau, der wir zufällig begegnet waren, brauchte keine Einladung zu seinem Buchklub. Ich zuckte innerlich bei dieser Sonderbarkeit zusammen, aber zu meiner Überraschung zog sie sich nicht zurück oder sagte, dass gerade jede Menge bei ihr los wäre, es jedoch sehr freundlich war, aber sie dennoch nicht konnte – nichts davon. Tatsächlich lächelte sie und nickte mit großen Augen. „Das wäre super. Wenn es dich nicht stört, dass ich mich einfach so anhänge.“
„Du würdest dich überhaupt nicht anhängen“, sagte er und winkte bei ihren Einwürfen ab. „Es sind nur ich und ein paar Freunde.“
„Das klingt toll“, sagte sie und nickte immer noch.
„Sie sind etwas älter als … na ja, als wir, aber sie sind alle begeisterte Leser. Du hast vielleicht von einem von ihnen schon gehört … Jerome Nightly? Er ist Schauspieler. Hat in einer dieser britischen RomComs Anfang der 2000er mitgespielt.“
Rachel hatte ganz offensichtlich von ihm gehört. „Oh, ja, wow … Ich denke nie daran, dass Schauspieler normale Dinge tun, wie zu einem Buchklub zu gehen.“
„Es stellt sich heraus, dass sie tatsächlich einfach nur Menschen sind“, sagte Matthew und beide lachten. Und dann war es entschiedene Sache. Sie holte ihr Handy heraus. Er holte seins hervor. Nummern wurden ausgetauscht. Und ich stand da und starrte vor mich hin wie ein verdammter Niemand, während die beiden Pläne schmiedeten. „Das nächste Treffen ist bei uns zu Hause am Carlyle Square“, erklärte Mathew. „Alle kommen normalerweise gegen sieben. Wir wechseln uns ab, aber du musst dich nicht unter Druck gesetzt fühlen, das Treffen bei dir zu veranstalten.“ Er gab ihr unsere Adresse – einer absolut Fremden, die Adresse, wo wir mit unserem Sohn lebten und schliefen – und dann war es an der Zeit, sich zu verabschieden.
„Ich freue mich schon darauf“, rief Rachel uns hinterher. „Das hat meine Woche gerettet.“ Dann verschwand sie in Richtung Kasse.
„Na, das war nett“, sagte Matthew und sah wirklich glücklich aus, scheinbar zufrieden damit, eine neue Freundin mitten in der Tiefkühlreihe gefunden zu haben. Ich warf ihm ein kurzes Lächeln zu und packte die Gourmet-Burger in unseren Einkaufswagen.
„Was?“, fragte Matthew. Er wusste, dass ich wegen des Austauschs etwas angefressen war, na ja, angefressen war nicht ganz korrekt. Irritiert, vielleicht. Wie auch immer, ich fand das Ganze nur etwas … schnell. Und es war irgendwie ein bisschen schräg, wie sie sofort darauf angesprungen war, dem Buchklub beizutreten, sogar so sehr, dass sie direkt in zwei Wochen zu uns nach Hause kommen würde.
„Nichts“, sagte ich und schüttelte sanft den Kopf. Ich sah, wie er in diesem Moment mit den Augen rollte, was mich etwas nervte.
Wir trugen unsere Einkäufe mehr oder weniger schweigend nach Hause. Die einzigen Worte, die Matthew über die Lippen kamen, waren, dass die Croftfields von gegenüber einen neuen BMW Hybrid hatten. Drinnen fanden wir heraus, dass Titus bereits zwei Kuchen und ein Blech voll Kekse gebacken hatte, und meine Mutter genoss bereits ein Stück Zitronenkuchen, während sie auf einem der Barhocker am Küchentresen saß und Desert Island Discs in voller Lautstärke aus dem Soundsystem im Wohnzimmer schallte.
„Oma hat den Guss gemacht“, erklärte Titus und schob die Kuchen-Etagere in meine Richtung, als ich zu ihr ging. „Aber ich habe natürlich die Kuchen gebacken.“
„Es sieht alles sehr lecker aus“, entgegnete ich. „Können wir ein Foto machen?“ Ich hörte, wie meine Mutter missbilligend die Nase hochzog.
„Du musst nicht auf dem Bild sein“, sagte ich und seufzte leise. „Du kannst es auch machen, wenn du magst.“
Sie antwortete nicht darauf, neigte stattdessen ihren Kopf etwas zur Seite, als ob sie tatsächlich daran interessiert wäre, was der verbrauchte Popstar zu Lauren Laverne über seinen Kampf gegen den Alkoholismus sagte. Sie mochte Instagram nicht. Sie nutzte Facebook, aber das war es. Und sie nutzte es nur, damit sie und der Rest ihrer SW1-Postleitzahlen-Nachbarn sich über ausländische Taxifahrer und Obdachlose in der Sicherheit ihrer privaten Gruppen beschweren konnten – ein neues Schlachtfeld für die Upperclass.
Instagram ist für uns recht wichtig. Am Anfang war es nur ich. Ich dachte mir, dass ich etwas verpasst hätte, als all meine Kumpels auf der Arbeit anfingen es zu nutzen und mir sagten, dass ich nicht auf dem neuesten Stand sei. Archie und der Rest der Clique aus der Schule waren bereits dabei. Es erinnerte mich tatsächlich an unsere Schulzeit, in der einer aus der Gruppe wegen einem banalen Detail ausgeschlossen wurde. Plötzlich war es, als ob wir wieder dort waren – ich war nicht mehr Teil der ‚coolen Kids‘, weil ich kein Instagram hatte. Ich machte keine Bilder von meinem French Toast oder meinen Egg Benedicts am Sonntagmorgen, ich überredete niemanden, ein Foto von meinem durchtrainierten Oberkörper am Strand zu machen, während ich ganz lässig aus einem Speedboat stieg, mit einem Glas eines schäumenden Getränks in der Hand und der anderen Hand auf der Schulter meines aktuellen Schwarms. Und dann war das plötzlich genau das, was ich tat. Ich lud die App an einem Freitagabend herunter, als ich eine Erkältung hatte und die Jungs nicht zu einer Nacht aus Pillen und ohrenbetäubender Musik begleiten konnte. Es war im Jahr 2013, kurz bevor Matthew und ich anfingen, uns zu daten. Ich war single, gelangweilt und downloadete die App, um zu sehen, worüber alle redeten. Mein erstes Bild war das eines riesengroßen Burgers, den ich mir aus Kartoffelpuffern und gebratenem Hähnchen gemacht hatte. Hashtag Food Porn. Den Leuten gefiel’s.
Also machte ich in den darauffolgenden Wochen und Monaten damit weiter. Die Jungs ärgerten mich ein bisschen damit, dass ich ein Heuchler sei. Dann waren sie eifersüchtig, da meine Posts funktionierten. Den Menschen gefielen sie. Darum ging es in einigen Kommentaren. Darum und um mein Aussehen. Es dauerte nicht lange und man nannte mich ‚Hot Charlie‘. Mir wurden Nachrichten geschickt und ich wurde auf Dates eingeladen, manchmal wurde ich sogar in Posts verlinkt, in denen mir die unendliche Liebe geschworen wurde und dass man meine Babys haben wollte. So etwas bringt einen nicht gerade dazu, damit aufhören zu wollen. Und so machte ich weiter. Alles in meinem Leben wurde dokumentiert. Na ja, fast alles. Ein bestimmter, sehr fotogener Teil meines Lebens. Einer, der aufgemotzt, bearbeitet und gefiltert wurde bis zum Umfallen und dann zur besten Tageszeit für ‚meine Follower‘ gepostet wurde. Zu Beginn traute ich mich etwas mehr. Es gab ein paar etwas anzügliche Posts oder Bilder, wie ich morgens oh-so-perfekt verschlafen in anderer Männer Betten aufwachte, mit dem Hashtag Morgens-nach-der-Nacht-davor in der Caption. Das ein oder andere Bild von Archie und mir mit entblößtem Hintern auf irgendeinem Berg während irgendwelcher Ferien. Aber ich räumte komplett damit auf, als ich begann, mit Matthew auszugehen. Er wirkte so rausgeputzt. So dermaßen anwesend. Es brachte mich dazu, beschämt auf die Bilder in meinem Feed zu schauen, und mir war peinlich, dass ich je geglaubt hatte, solch kindische Dummheiten seien attraktiv oder liebenswert. Plötzlich ging es mir nur noch darum, sehr rosarote, perfekt in Szene gesetzte Bilder aus dem Leben eines jungen Paares in London zu posten. Besonders, da Matthew sozusagen mit Gepäck kam, denn der kleine Titus mit seinen gerade mal neun Jahren war bei ihm und so unglaublich süß, wie es nur Kinder sein konnten. Ich hatte Kinder nie wirklich in meinem Leben gesehen … bis ich Matthew mit Titus sah. Und ich wusste, dass ich genau das brauchte. Ich musste zu einer solchen Einheit gehören. Und so wurde ich zu Daddy, wie auch er Daddy war, und bereits nach kurzer Zeit hatte Titus zwei perfekte Daddys und wir waren die süßen gleichgeschlechtlichen Könige von Instagram.
Ich war nicht naiv. Mir war durchaus bewusst, dass uns einige Leute nur liebten, weil wir homosexuelle Eltern waren, und sie würden unsere Bilder vielleicht nicht liken, wenn wir Mann und Frau gewesen wären. Und es gab auch die ein oder andere Anfeindung – ab und zu Kommentare, die mir anfangs zusetzten, die ich aber inzwischen nur noch mit einem Augenrollen und Schulterzucken abtat. Aber es war alles so einfach: Die Fotos von unseren ‚spaßigen Tagesausflügen‘ waren etwas mehr Arbeit. Manche davon mussten bis ins kleinste Detail geplant werden, um absolut natürlich zu wirken. Meine Follower saugten es geradezu auf, likten Bilder von dem Playboy-der-zum-Ehemann-wurde, mit einem Familienleben, das so perfekt war, als wäre es im Labor hergestellt worden.
Jedoch nicht perfekt genug für meine Mutter. Sie dachte, es sei leer und oberflächlich, und während ich ein Bild von einem grinsenden Titus, der ein Stück Kuchen hochhielt, und einem Matthew, der mit offenem Mund und gespielter Gier darüberlehnte, machte, konnte ich sehen, wie sie leicht den Kopf schüttelte. „Den Leuten gefällt es, Mum“, sagte ich und wischte durch die geschossenen Bilder, während ich die mit genau dem richtigen Maß an natürlichem Glück in Titus’ Augen auswählte. „Es ist süß. Es ist niedlich. Es ist witzig.“
„Wenn du das sagst“, entgegnete Mum und nahm sich meine Ausgabe des Observers, die ich auf dem Sofa liegengelassen hatte und in der sie sich nun den Werbebereich für Lebensmittel ansah. Sie las nie wirklich Zeitung. Sie verstand sie als linksradikales Schundblatt. „War es gut beim Shopping?“, fragte sie, während sie Nigel Slaters Einteilungstipps studierte.
Ich ging an ihr vorbei und setzte mich auf das gegenüberstehende Sofa, einen Teller mit zwei Keksen in der Hand. „Ja, ich habe nur das Buch gekauft, das ich wollte, und ein paar Lebensmittel fürs Abendessen.“
„Und wir haben eine neue Freundin gefunden“, rief Matthew aus der Küche.
Ich rutschte etwas auf dem Sofa hin und her, zog einen von Matthews Pullis hinter einem Kissen hervor und hängte ihn über die Lehne. „Eine neue Freundin“, fragte sie, ihr Interesse war geweckt. „Ihr wart nur etwas mehr als eine Stunde weg!“ Sie blickte über ihre Lesebrille zu Matthew, der gerade aus der Küche kam und sich etwas Guss mit einem Küchentuch von den Fingern wischte. Ich sah, wie sein Blick registrierte, dass ich immer noch meine Schuhe trug – er legte sehr viel Wert darauf, den cremefarbenen Teppich zu erhalten –, aber er wies mich vor meiner Mutter nicht zurecht.
„Ja, eine nette junge Frau namens Rachel. Wir sind in M&S beinahe in sie hineingerannt, aber Charlie hatte sie bereits zuvor getroffen. Sie wird an meinem Buchklub teilnehmen.“
Ich merkte, wie sich meine Augenbrauen bei seinen Worten zusammenzogen. Wie er es formulierte, klang es so, als wären Rachel und ich bereits Freunde. „Wir sind uns nur ein paar Minuten früher bei Waterstones begegnet. Ich kenne sie nicht.“ Der letzte Teil klang etwas defensiv und ich glaube, meine Mutter nahm das wahr.
„Vielleicht solltest du auch Teil des Buchklubs werden“, sagte sie zu mir. „Dann hast du etwas zu tun.“
Dies war die Art von Kommentar von meiner Mutter, die mich regelmäßig irritierten. Nur weil ich ein paar Tage in der Woche von zu Hause aus arbeitete, dachte sie sich regelmäßig, dass ich arbeitslos sei.
„Ich denke, dass ich bereits genug zu tun habe“, sagte ich kurz angebunden. Matthew kam zu mir rüber und setzte sich aufs Sofa, während er ebenfalls einen Teller mit Essen bei sich trug, wobei seiner mit dem großen Kuchenstück beladen war, das Titus für das Foto verwendet hatte.
Sein warmer Körper und der Geruch seines Ralph-Lauren-Aftershaves gemischt mit dem Duft eines frisch gebackenen Kuchens ließen mich direkt weniger angespannt werden. Er ließ einen Arm um mich fallen und sagte: „Warum kommst du nicht zu unserem nächsten Treffen? Es wäre schön für Rachel, ein weiteres vertrautes Gesicht zu sehen.“
„Vielleicht“, sagte ich mit einem vagen Nicken, während ich mich aus Matthews Umarmung löste und etwas davon murmelte, noch eine Ladung Wäsche zu waschen. Sobald wir das Thema Buchklub hinter uns gelassen hatten, fuhren wir mit unserem Sonntag in unserer gewöhnlichen ruhigen Routine fort – ein Spaziergang im Park, Abendessen in einem Restaurant –, vollkommen ahnungslos darüber, dass wir direkt in eine Falle getappt waren.
Noch zwölf Monate
Es war für alle besser, dass ich Yorkshire verließ. Der beschissene Job als allgemeine Hilfskraft in einem Gartencenter war nicht gerade ein wahrgewordener Traum und ich hatte immer noch nicht entschieden, was ich mit dem Erbe meiner Mutter machen wollte. Bei dem Gedanken daran, dass das Geld unberührt auf irgendeinem Bankkonto versauerte, während ich das Zimmer über der Garage meines Chefs gemietet hatte, drehte sich mir der Magen um. Verschenktes Potenzial. Eine Vergeudung. Manchen würde es gefallen, eine Menge Geld rumliegen zu haben, das nur darauf wartete, Verwendung zu finden. Ich nicht. Jedes Pfund oder jeder Penny war von dem Elend meiner Vergangenheit gezeichnet. Und es zu benutzen, würde bedeuten, diesen Dämonen entgegenzutreten. Ich hatte also noch nicht entschieden, was ich damit anstellen würde, als ich eines Tages, während einer kurzen Pause vom Einsortieren von Düngemittel, durch Instagram scrollte. Und an diesem Tag änderte sich mein Leben für immer.
Es war ein Hashtag. So fand ich es. #WochenendBacken.
Ich klickte auf ein Foto einer lecker-aussehenden Bananen-Toffee-Torte in meinem Feed und scrollte durch ähnliche Bilder. Und da war er plötzlich. Der Mann meiner Träume. Meiner Albträume. Meiner wachen Gedanken. Er war natürlich älter. Und das stand ihm. Er war einer dieser glücklichen Menschen, die ihre Falten bewusst trugen – auf eine Art, die sagte: „Bin ich nicht liebenswürdig und sieh dir an, wie ich das Leben genieße“ anstatt „Ich rase mit der Geschwindigkeit eines davonfahrenden Zugs auf die 40 zu“. Auf dem Foto war er mit einem anderen Mann und einem Teenager, der um die 14 oder 15 sein musste, zu sehen. Er hatte ihm den Arm um die Schulter gelegt und vor ihnen standen vier verschiedene Kuchen mit unterschiedlichen Toppings. #Samstagsbacken. Sie sahen so … perfekt aus. Die Küche war selbstverständlich wunderschön, mit einer glänzenden Marmorplatte, einem schicken Kühlschrank in amerikanischem Stil hinter ihnen und einem dieser teuren Standmixer neben ihnen auf der Ablage. Und alle drei trugen diesen weichen, teuren Stoff, der nur darum bettelte, angefasst zu werden. All diese Details ließen mich in die Knie gehen und dann vermutlich ganz zu Boden, also saß ich da, wie ein seltsames Kind, das mit überkreuzten Beinen vor einem Regal voller Düngemittel hockt, während der Regen laut über mir auf das Dach des Gartencenters prasselte.
„Geht es Ihnen gut?“
Ich blickte auf und in das Gesicht einer übernächtigten Dame mittleren Alters, die zu mir runter starrte. Sie hielt einen kleinen Terracotta-Blumentopf fest in ihrer Hand und schien etwas erstaunt darüber, mich dort in der Ecke mit meinem Handy in der Hand auf dem Boden vorzufinden, während meine Uniform mich eindeutig als Mitarbeiterin auswies, die beschäftigt sein sollte. Ich sah weiter zu ihr hinauf, schnell urteilend – die Art von mittelalter Mittelklasse, die wir häufig zu dieser Tageszeit hatten. Jene Art, deren Ehemann genug verdiente, sodass sie mitten an einem Werktag durch ein Gartencenter streunen und eine Geranie oder irgendeinen anderen Kram kaufen konnte, den sie nicht wirklich benötigte, bevor sie eine Freundin zum Lunch in dem angeschlossenen Café traf.
„Hallo? Können Sie mich hören?“
Die Frau war immer noch über mich gelehnt und ihr Gesichtsausdruck – vermutlich eine Reaktion auf den distanzierten Blick in meinen Augen – ließ vermuten, dass sie Angst hatte, dass ich auf irgendeine Art und Weise verrückt war. Ich sah, wie eine Hand unbewusst in Richtung ihrer Tasche ging, so als ob ich eventuell danach greifen und damit abhauen würde.
„Ich kann Sie hören“, sagte ich, nicht ganz so höflich, wie es eine Mitarbeiterin eigentlich sein sollte. Aber ich konnte mich jetzt nicht auf sie konzentrieren. Ich musste zurück zu meinem Handy. Sicherstellen, dass das, was ich gesehen hatte, echt war und keine Einbildung. Ich fühlte die geschmeidige Oberfläche in meiner Hand, als ich es näher brachte und aufstand.
„Okay, na dann, ich wollte nur sehen, ob es Ihnen gut geht. In diesem Fall habe ich eine Frage, bei der Sie mir behilflich sein könnten: Vor ein paar Wochen haben Sie diese kleinen Palmenanhänger verkauft, in die man Teelichter stellen kann, und davon kaufte ich einen, aber Otis, mein Labrador, hatte einen seiner Anfälle und machte ihn kaputt, und ich wollte einen neuen besorgen, aber dann habe ich gesehen, dass die Werbung dafür abgehängt wurde …“
Ich versuchte stillzustehen, während sie mir das alles erzählte, aber ich merkte, wie ich etwas schwankte. „Ja, na ja, das war die Sommerausstattung. Jetzt bereiten wir alles für Weihnachten vor, also …“
Der Gesichtsausdruck der Frau blieb leer. „Weihnachten?“
Ich nickte. „Ja, Weihnachten.“ Ich sah nach unten auf meinen Handybildschirm. Noch über eine Stunde, bis ich Feierabend hatte. Wie ich es hasste, in dieser Art der Schichtarbeit festzuhängen. Ich wollte wieder ein Freigeist sein. Sehnte mich nach Freiheit. Danach, mein eigener Chef zu sein. Hinzugehen, wo immer ich hin wollte. Nicht ein- und ausstempeln zu müssen, mich vor keinem Chef zu rechtfertigen, der auch mein Vermieter war. Ich hatte mich seit Monaten eingesperrt gefühlt und jetzt vermasselte mir diese dumme Frau einen Moment, der hätte lebensverändernd sein sollen, der alles ans Tageslicht hätte bringen sollen. All die Frustration, die Wut und den Schmerz.
„Es tut mir leid, aber es ist immer noch August“, sagte sie und sah mich dabei an, als wäre ich ein Alien. „Ich glaube nicht, dass wir uns jetzt schon Gedanken über Weihnachten machen müssen, oder?“
An einem anderen Tag hätte ich ihr vielleicht zugestimmt, aber heute war es genau das Falsche, das sie hätte zu mir sagen können. Mir wurde heiß und ich begann zu zittern, sah mich um, aber die einzige andere Angestellte, die ich ausmachen konnte, war Ruth auf der anderen Seite des Geschäfts in der Haustierabteilung, die einem älteren Mann dabei half, eine Leine auszusuchen.
„Hallo?“, sagte die Frau. „Langweile ich Sie etwa?“
Das brachte mich zum Explodieren. Langweile ich Sie etwa? Ich meine, sie bettelte regelrecht darum. „Ja, Sie langweilen mich. Genau genommen langweilt mich all das.“ Ich gestikulierte in Richtung des restlichen Geschäfts. „Und wenn ich ehrlich sein soll, nicht jeder kann es sich leisten, seine Weihnachtseinkäufe im Dezember zu tätigen, wenn es kurz vor Weihnachten ist, und diese dann in einer großen Fuhre seines Range Rovers nach Hause zu transportieren. Manche Menschen müssen es sich einteilen, da sie von Gehalt zu verdammtem Gehalt leben, ohne irgendwelche Kreditkarten zur Vorfinanzierung in Aussicht zu haben. Also das nächste Mal, wenn Sie irgendwelche Weihnachtskarten, Schokolade oder Dekoration sehen, für die es Ihrer Meinung nach zu früh ist, denken Sie vielleicht einmal: ‚Hey, immerhin geht es mir gut genug, dass ich nicht meine Pennys für verdammte Cadbury-Schokolade zusammenklauben muss.‘“
Ich beendete meine Triade etwas außer Atem. Die Frau wirkte verdutzt. Sekunden, die sich endlos anfühlten, verstrichen. Der Regen prasselte konstant auf die Glasdecke über uns. Dann, nachdem meine Worte endlich bei ihr angekommen waren, fiel sie auf das Einzige zurück, was Leuten wie ihr übrig blieb.
„Ich möchte mich gern bei Ihrem Manager beschweren.“
Ich blieb ganz still, starrte sie an und versuchte, meine Atmung zu kontrollieren. Nach ein paar Sekunden fuhr sie fort:
„Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen? Den benötige ich, wenn ich mit Ihrem Vorgesetzten spreche. Könnten Sie diesen bitte ausrufen lassen? Ich möchte mich direkt beschweren.“
Die Tatsache, dass sie davon ausging, dass mein Vorgesetzter ein Mann war, machte mich nur noch wütender. Bevor ich ihr meine Antwort entgegenschleudern konnte, erklang eine Stimme direkt hinter mir: „Es gibt keinen Grund, mich ausrufen zu lassen, ich bin genau hier.“
Die für gewöhnlich nette Stimme meines Bosses, Allen, hatte einen harten Unterton. Chefmäßiger als sonst. „Rachel, würdest du bitte in meinem Büro auf mich warten? Ich werde sofort da sein.“
Ich sah ihn nicht an. Das konnte ich nicht. Es war mir peinlich und ich war wütend, beides wegen dieser Frau und meinem eigenen Verhalten. Ich ging durch die Tür zu meiner Rechten und in sein kleines Büro. Sobald ich auf einem der unbequemen Plastikstühle dort Platz genommen hatte, entsperrte ich mein Handy und starrte wieder auf das Bild, mit dem alles begonnen hatte.
Das Foto von ihm.
Und ich wusste, das nichts, was Allen tun konnte – keine Maßregelung, kein Disziplinarverfahren, kein Feuern – so weltbewegend sein konnte wie dieses Foto. Von diesem Tag an trat alles in meinem Leben in den Hintergrund. Alles verschwamm zu einem einzigen Ziel, welches ich deutlich vor mir sah.
Sobald Allen ins Büro kam und seinen übergewichtigen Körper in den Sessel gehievt hatte, war meine Entscheidung gefallen. „Ich möchte gern meine Kündigung einreichen. Mit sofortiger Wirkung.“
Seine Augen wurden groß. „Rachel, ich weiß nicht genau, was vor sich geht, aber was auch immer es ist …“
„Es ist nichts. Ich möchte kündigen. Und ich ziehe außerdem aus.“
Er sah immer verwirrter aus. „Aber … wo willst du denn hin?“
Ich nahm einen tiefen Atemzug und sagte dann voller Überzeugung: „London. Ich ziehe nach London.“
Noch zwölf Monate
Ich räumte meine Wohnung in weniger als einer Stunde. So lange dauerte es, um meine wichtigsten Habseligkeiten in meinen Koffer und Rucksack zu werfen. Der Rest würde in der Tonne landen. Ich ließ eine Tüte voller Lebensmittel und eine ungeöffnete Packung Magermilch vor Allens Tür stehen. Er war eher überrascht anstatt wütend darüber, dass ich so kurzfristig ging, und er war ein guter Mann, also dachte ich mir, dass er die Sachen haben konnte.
Ich fuhr mit einem Taxi zu meinem Dad nach Hause – meinem alten Zuhause – und schleppte meine Sachen vom Bordstein zur Haustür, verzweifelt, endlich nach drinnen zu kommen und mit meiner Suche zu beginnen.
„Was zum Teufel ist denn hier los?“, fragte er, sobald ich durch die Tür getreten war.
„Hi, Dad“, grüßte ich ihn. „Ich mache hier nur einen kurzen Zwischenstopp für ein paar Nächte, bis ich etwas Neues zum Wohnen gefunden habe, okay?“
Er starrte mich mit offenem Mund an, während ich mein Gepäck die Treppe hochhievte.
„Aber … aber, wieso? Ich verstehe das nicht. Du meintest doch, dass du dich in der Wohnung im Haus deines Chefs sehr wohlfühlen würdest?“
Ich seufzte, weil der Koffer schwer war, während Dad immer noch dastand und mich anstarrte, anstatt zu helfen, weil er mit der Situation komplett überfordert war. „Es hat nicht funktioniert. Außerdem ist Wohnung etwas übertrieben, es war eine Garage, kein Haus. Ich bin besser aufgehoben, wenn ich nicht mehr dort wohne.“
Es endete damit, dass er vor sich hinmurmelnd davonging und erklärte, dass er für Fish & Chips ausgehen und mir welche mitbringen würde. Ich rief ihm meinen Dank hinterher, nahm meinen Laptop aus der Tasche und steckte das Ladekabel ein. Dann tat ich dasselbe mit meinem Handy. Ich setzte mich an den Schreibtisch, an dem ich vor zwanzig Jahren meine Aufsätze für die Schule geschrieben hatte, und öffnete Instagram auf meinem Computer. Ohne Probleme hatte ich mir den Namen seines Accounts gemerkt – er hatte sich mir regelrecht ins Gedächtnis gebrannt, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Ich scrollte durch den Verlauf, studierte jedes Bild ganz genau, jeden goldenen Lichtstrahl, jeden Rahmen, um das perfekte Leben in Szene zu setzen. Sein perfektes Leben. Ihr perfektes Leben. Nach fünfundzwanzig Minuten hörte ich die Haustür und wusste, dass Dad von seinem Fish-&-Chips-Einkauf zurück war.
„Ich bin’s nur“, rief er.
Na, wer denn sonst?, fragte ich mich. Alle anderen waren tot.
Fünf Minuten später rief er erneut, dass das Essen fertig sei. Es störte mich nicht. Ich hatte alles herausgefunden, was ich benötigte. Alles, was es zu sehen gab.
Ich aß schnell zusammen mit meinem Dad in dem nur spärlich beleuchteten Esszimmer. Dunkel und deprimierend. Es nervte mich, dass er das Licht nur dann anschaltete, wenn es wirklich nötig war. „Also, wie lautet der Plan?“, fragte er und betrachtete mich, als sei ich ein gefährliches, seltsames, wildes Tier, das er bisher nur in Filmen und nie im realen Leben gesehen hatte.
„Der Plan ist“, sagte ich und nagte an etwas Teigkruste von dem Fisch, den er mir serviert hatte, „dass ich nach London ziehen werde.“
Ihm fiel buchstäblich die Kinnlade runter.
„London?“
„Ja“, sagte ich und nahm mir etwas Salz. „London. Es gibt dort einen Fotografie-Kurs, den ich besuchen möchte. Ich habe mir überlegt, wieder damit anzufangen. Es ist schon über ein Jahr her, dass ich wirklich fotografiert habe.“
Er schien darüber nachzudenken. „Ich vermute … ich vermute mal, dass es davon mehr dort gibt. Also in London.
Ich nickte. „Ja, gibt es.“
„Aber … aber jetzt mal im Ernst, mein Schatz, ich war schon dort und so toll ist es da nicht. Es gibt dort diese Gang aus Jungs auf Fahrrädern und die stechen Leute ab. Ich habe es in den Nachrichten gesehen. Und es gibt dort Terror-Attentate – beinahe täglich.“
„Sie sind nicht täglich“, sagte ich und rollte mit den Augen. „Und wir werden auch hier in Bradford abgestochen.“
„Nicht so häufig, Liebling. Nicht so häufig wie in London.“ Er sagte das, während er mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht herumwackelte, als wäre er der Einzige, der wusste, wie die Welt funktionierte.
„Ich werde gehen, Dad. Ich habe das Geld von Mum immer noch auf der Seite und davon werde ich mir eine Wohnung mieten.“
Er wirkte gestresst. „Du hast immer gesagt, dass du davon noch eine Galerie eröffnen würdest. Um lokale Künstler zu unterstützen.“
Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, diese Unterhaltung noch einmal zu führen. „Weil es das letzte Mal ja so verdammt gut geklappt hat!“ Ich sammelte mein Besteck zusammen und stand auf.
„Hey, lass deinen Frust nicht an mir aus. Die Rezession war nicht meine verdammte Schuld.“
„Ich weiß, Dad. Es tut mir leid, dass ich dich angemotzt habe. Ich muss wieder nach oben. Ich suche nach einer Wohnung und das kann eine Weile dauern. Warte nicht auf mich.“
Ich schenkte ihm ein kleines trauriges Lächeln und dann ließ ich ihn allein im Halbdunkeln sitzen.
***
Sobald ich wieder oben war, fuhr ich meinen Laptop erneut hoch und sah mir das Word-Dokument an, welches ich in meinem Browser neben Instagram geöffnet hatte. Darauf hatte ich mir die wichtigsten Locations der Fotos der letzten paar Monate notiert, die Charlie Allerton-Jones gepostet hatte. Eines war klar: Abgesehen von ein paar Tagesausflügen und Urlauben, verbrachte die Familie die meiste Zeit in den Bezirken Kensington und Chelsea. Wenn sie dort nicht waren, dann in Belgravia, Pimlico oder in anderen Teilen Zentral-Londons. Sie schienen eigentlich nie nach Ost-London oder zu weit in den Süden zu gehen oder falls doch, dann dokumentierten sie ihre Trips jedoch nicht für jeden. Charlie war vorsichtig genug gewesen, nicht ihre genaue Adresse preiszugeben, aber unter einem Bild von ihm in einer Hängematte, vermutlich in ihrem Garten, stand als Kommentar: Schwierige Zeiten für die Carlyle-Square-Crew ;) mit einem Zwinkersmiley. Aus der Interaktion zwischen Charlie und dem Nutzer ließ sich schließen, dass die beiden Freunde waren – und dieser Freund hatte mir wichtige Details verraten. Ich googelte Carlyle Square und fand heraus, dass der Platz tatsächlich in Chelsea, SW3, in einer Seitenstraße der King’s Road war.
Ich fing damit an, eine Wohnung in der Nähe zu suchen. Die Mietpreise waren erschreckend. Ich hatte natürlich gewusst, dass London teuer war, aber die Summe, die jemand für ein Ein-Zimmer-Appartement mit Küche und Bad zahlen sollte, schockierte mich. Nach einer halben Stunde war ich kurz davor, mit dem Heulen anzufangen. Ich wollte nicht in einer WG leben – allein der Gedanke, mir die Wohnung mit ein paar ‚Young Professionals‘ in deren Zwanzigern zu teilen, war entsetzlich. Sie würden all Mitte Zwanzig sein und jeden Morgen freudig zur Arbeit aufbrechen, voll von jugendlichem Optimismus und all den Dingen, wie auch ich, als ich damals meine Galerie eröffnet hatte und dachte, ich könnte ein eigenes Geschäft führen und dass sich die Menschen wirklich dafür interessieren würden. Vielleicht war das alles nur ein Traum.
Am Ende musste ich damit aufhören, nach Wohnungen in Chelsea zu suchen. Es gab ein paar im selben Bezirk, aber ich wäre buchstäblich meilenweit entfernt, auf der anderen Seite des Hyde Parks und das wollte ich auf gar keinen Fall. Am Ende fand ich eine Wohnung in Westminster, die ich mir gerade so leisten konnte, zumindest, wenn ich wie ein Sozialhilfeempfänger leben würde, mit Fertigessen aus dem Discounter und Dosensuppe. Sie war im Churchill Gardens Estate in Pimlico. Ich würde ungefähr eine halbe Stunde zu Fuß zu der Wohnung am Carlyle Square brauchen. Es war nicht perfekt, aber machbar.
Konnte ich das wirklich machen? Ich verbrachte ein paar Minuten damit, mir das alles durch den Kopf gehen zu lassen. Dann rief ich die Agentur an, die die Wohnung auf ihrer Seite anbot. Nach dreimal Klingeln nahm eine gelangweilt klingende Frau ab. „Hi“, sagte ich und versuchte dabei selbstsicher und von meiner Entscheidung überzeugt zu klingen. „Mein Name ist Rachel und ich interessiere mich dafür, die Wohnung in der Churchill Garden Road in Pimlico zu mieten, die Sie ausgeschrieben haben.“
Am Tag des Mordes
Der Polizeibeamte, der nach Titus und mir gesehen hat, überwacht auch die Abgabe unserer Klamotten, welche in einen durchsichtigen Plastikbeutel gesteckt werden. Man gibt uns Polyesteroberteile und -hosen, die knittern und sich etwas unangenehm auf der Haut anfühlen. Dann werden wir auf das Belgravia Polizeirevier gebracht. Und das Verhör beginnt.
Titus und ich werden voneinander getrennt, aber alle sind sehr freundlich und aufmunternd. Mir wird von einer netten Frau in Uniform erklärt, dass das alles Standard ist und dass sie nur mit uns über das sprechen müssen, was passiert ist. „Titus ist erst fünfzehn“, erkläre ich ihnen. „Ich möchte bei ihm sein.“ Mir wird mitgeteilt, dass dies kein Problem darstellen sollte, und ich werde in einen Raum mit Sofas geführt, in dem Titus am anderen Ende sitzt. Ein anderer Polizeibeamter folgt mir hinein und wartet mit uns. Wollen sie sicherstellen, dass wir uns nicht absprechen? Ist das Absicht? Oder ist das normal?
Ich bin angespannt und mir wird gerade erst bewusst, dass das alles wirklich passiert. Ich bin stinksauer auf mich selbst, dass ich nicht ausführlich mit Titus gesprochen habe, bevor die Polizei aufgetaucht ist, aber jetzt ist es zu spät und innerhalb kürzester Zeit taucht ein Mann mit braunen Haaren und rotem Gesicht, Einheitsgröße, auf. „Charles Allerton-Jones?“, fragt er und sieht mich an.
„Ja“, antworte ich.
„Wir benötigen von Ihnen eine offizielle Aussage über das, was vorgefallen ist. Ich verstehe, dass das für Sie schwer sein muss und Sie vermutlich unter Schock stehen, aber seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Die Dame, die uns angerufen und den Mord an Ihrem Ehemann gestanden hat, steht nun unter Arrest. Aber ich bin mir sicher, dass Sie verstehen können, dass wir auch Ihre Aussage und die Ihres Sohnes zum Tathergang so schnell wie möglich benötigen.“
Seine Worte treffen mich wie Nadelstiche in die empfindlichen Teile meines Gehirns. Unter Schock. Gestanden. Mord. Schlussendlich sehe ich zu ihm auf und sage: „Ich möchte bei Titus bleiben.“
DS Stimson sieht zu dem Jungen, der seinen Kopf hängen lässt und vor sich auf den Boden stiert.
„Wir würden es bevorzugen, mit Ihnen alleine zu sprechen, Mr Allerton-Jones. Titus wird ebenfalls allein befragt oder zumindest, ohne dass Sie zuhören können. Gibt es jemanden, den Sie anrufen können, der bei ihm bleiben kann?“
Ich nickte. „Meine Mutter … aber Ihre Kollegen haben mein Handy …“
„Sie können das Telefon der Wache benutzen“, sagt er und zeigt mir den Weg hinaus auf den Flur. Ich werfe Titus ein hoffentlich aufmunterndes Lächeln zu, als ich den Raum verlasse, aber er sieht nur auf den Boden.
Ich rufe erst meine Mutter und dann meinen Vater an, aber keiner nimmt ab, was mich zur Weißglut treibt. Ich rufe erneut bei meiner Mutter an und hinterlasse ihr eine Nachricht, dass sie zur Polizeiwache Belgravia kommen soll und dass etwas Schreckliches passiert ist. Als ich auflege, fühle ich mich schlecht, dass ich nicht klargestellt habe, dass Titus und ich unverletzt sind und es uns gutgeht, aber ich brodele immer noch wegen der Tatsache, dass ich sie nicht direkt erreichen konnte.
Dann werde ich in ein Verhörzimmer geführt. Es wirkt eintönig und grau – eher wie ein Gemeinschaftsraum als Hightech- oder Science-Fiction-mäßig, wie es im Fernsehen gezeigt wird. DS Stimsons Ton schwankt zwischen strikt autoritär und mitfühlend sensibel. „Bitte, fangen Sie von ganz vorne an.“
Ich atme tief ein, sehe ihn an; ohne seinem Blick auszuweichen, treffen meine Augen auf seine, und dann lüge ich, was das Zeug hält. „Rachel hat meinen Ehemann getötet. Sie unterbrach unser Abendessen, nahm ein Küchenmesser vom Tisch und erstach ihn damit.“
Am Tag des Mordes
Meine Befragung bei der Polizei dauerte nicht lange. Nachdem ich verhaftet worden war, meine Rechte vorgelesen bekommen hatte und mir Klamotten gegeben wurden, nahm man mir meine Sachen ab und dann wurde ich in eine Zelle geführt, in der ich für ein paar Stunden saß.
Nun beginnt Detective Sergeant Darren Stimson mit seiner Befragung.
Das Verhörzimmer ist kalt, die Klimaanlage läuft unentwegt. Es scheint, als müsse man den Zuständigen erst noch mitteilen, dass es sich dieses Jahr um einen kalten Sommer handelt. Dennoch scheint es so, als hätte DS Stimson Hitzewallungen, seine Jacke hat er über den Stuhl gehängt und hin und wieder löst er seine Krawatte weiter. Vielleicht hat er einen zu hohen Blutdruck oder etwas stimmt mit seiner Schilddrüse nicht.
„Rachel, es würde wirklich helfen, wenn Sie uns das erklären. Es kann Auswirkungen darauf haben, wie das Gerichtsverfahren verläuft. Wenn wir nur wüssten, warum Sie getan haben, was Sie behaupten, getan zu haben. Führen Sie mich bitte Schritt für Schritt durch diesen Abend.“
Dasselbe hat er bereits gesagt. Schritt für Schritt. Ich sehe keinen Grund dafür zu tun, was er verlangt, außer dem, was ich ihm bereits gesagt habe. Also entscheide ich, dass ich an der Reihe bin, mich zu wiederholen.
„Wie ich es bereits gesagt habe, ich habe Matthew Allerton-Jones getötet. Ich habe ihn erstochen. Ich möchte nicht mehr darüber reden.“
Immerhin ist der letzte Satz wahr. Denn ich will wirklich nicht mit ihnen darüber reden, zumindest nicht jetzt.
„Ich denke, wir machen eine Pause“, sagt DS Stimson, der nur darauf zu warten scheint, aus dem Verhörzimmer zu kommen. Vermutlich, um sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Bevor ich zurück in meine Zelle gebracht werde, frage ich ihn noch, wann ich vermutlich verurteilt werde. Er betrachtet mich skeptisch, so als verstünde er mich nicht wirklich. „Das wird noch entschieden“, sagt er schließlich.
Ich verfluche mich selbst, als ich auf der abgewetzten Bank in meiner Zelle Platz nehme. Zu eifrig, denke ich mir und lehne mich gegen die Wand, während ich das Klicken und Dröhnen auf der Polizeistation um mich herum genieße. Ich muss besser sein. Damit das funktioniert, muss ich ruhig bleiben und die Polizei ihre Arbeit machen lassen und ihnen zeigen, was sie sehen wollen. Mehr muss ich nicht tun.
Noch elf Monate
In meine neue Londoner Mietwohnung zu ziehen, war die reinste Qual. Ich widerstand der Versuchung, mir neue Koffer oder Reisetaschen zu kaufen, da ich ohnehin nicht viele Sachen hatte und all das Geld, das ich sparen konnte, auch benötigte. Diese Entscheidung bereute ich jedoch, als mein alter Koffer an der Reißverschlussnaht aufriss, während ich dabei war, ihn in den Aufzug zu hieven, um in den dritten Stock zu gelangen. Meine Klamotten verteilten sich in alle Himmelsrichtungen und vermischten sich dort mit dreckigen Fußabdrücken und herumliegender Werbung.
„Oh, was für ein Pech, Liebes. Hier, ich habe ein paar Rot-Kreuz-Spendentüten, die du nutzen kannst.“ Diese Worte kamen von einer älteren Dame, die mir aus dem Treppenhaus über mir zulächelte. Ich war so dankbar, dass ich kaum antworten konnte, während ich meine Pullis und Socken in die große Tüte stopfte, die sie mir gereicht hatte.
„Ziehst du ein?“, fragte sie und beäugte meine zwei anderen Rucksäcke, die ich auf den Boden gelegt hatte, bei dem Versuch, meinen Koffer anzuheben.
„Ja, in die Nummer 32. Ich glaube, das ist im dritten Stock“, antwortete ich.
Sie strahlte ein großes, in roten Lippenstift getauchtes Lächeln. „Das ist es. Direkt neben uns.“ Sie betonte das Wort „uns“, als ob jemand anders bei ihre wäre, daher ging ich davon aus, dass sie Familie oder zumindest einen Partner hatte. Ich versuchte, ihr Alter zu schätzen, obwohl das bei der dicken Schicht Make-up echt schwer war. Ihre rot-braunen Haare schienen eine zu intensive Farbe zu haben, was vermuten ließ, dass sie gefärbt waren, und wenn man genauer hinsah, dann erkannte man die kleinen Fältchen um die Augen. Vermutlich war sie bereits Ende fünfzig, wenn nicht gar schon in ihren Sechzigern. „Ich bin Amanda“, sagte sie warm. Ich glaubte, einen ganz dezenten nordischen Akzent zu hören, und war versucht zu fragen, wo sie denn herkam, hatte aber Angst, dass das unhöflich wirkte.
„Komm“, sie nickte in Richtung des Fahrstuhls. „Lass uns deine Sachen nach oben bringen.“
Sie half mir dabei, mein Gepäck bis zur Wohnung zu bringen, und nachdem ich aufgeschlossen hatte, schien sie die zwei Tüten auch liebend gern nach drinnen zu tragen. „Oh, wie hübsch“, meinte sie, als sie eintrat.
Sie log, um freundlich zu sein. Es war nicht hübsch. Es war düster und klein, mit einem abgewetzten Teppichboden und einem engen Flur. Immerhin roch die Luft sauber. Ich führte sie den Flur hinunter in die Küche.
„Ist die Wohnung so wie eure nebenan?“, fragte ich und stellte meinen Koffer mit einem dumpfen Geräusch auf den Tresen.
„Ja, na ja, unsere scheint ein klein bisschen größer zu sein. Aber abgesehen davon denke ich, dass sie gleich sind. Ich lebe dort mit meinem Ehemann, Neil. Wir haben uns schon gefragt, wer hier einziehen wird. Wir hatten …“, ihre Stimme senkte sich etwas, „… wir hatten ein paar Probleme zuvor. Also, mit dem vorherigen Mieter, meine ich. Er ließ immer diese schreckliche Musik überraschend laut laufen. Ich weiß nicht, was es war, aber es klang wie eine Mischung aus Mülltonnen, die aneinandergeschlagen werden, und Tieren, die abgeschlachtet werden. Wir vermuten auch, dass er ein Drogenproblem hatte, aber ich schätze mal, dass das nicht so ungewöhnlich ist, wie wir es uns wünschen würden.“ Sie schüttelte den Kopf.
Ich nickte, nicht sicher, was ich darauf antworten sollte, aber Amanda schien damit zufrieden zu sein, ohne Anmerkungen fortzufahren: „Und vor ihm hat hier eine junge Frau namens Cary gewohnt, die“, sie senkte ihre Stimme nun zu einem Flüstern, „Selbstmord begangen hat.“ Sie erschauderte leicht, als ob die Erinnerung daran sie immer noch stören würde. „Das arme junge Mädchen. Sie hatte tiefgreifende Probleme. Vermutlich nahm sie auch Drogen. Ich hatte jedoch nie viel Kontakt mit ihr. Hab gehört, dass sie aus Clapham kam. Wir hatten den Verdacht, dass sie als … na, du weißt schon … Dame der Nacht gearbeitet hat. Jede Menge männliche Besucher.“
Wieder hatte ich keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte, jedoch machte ich mir nun Sorgen darum, wie meine anderen Nachbarn so waren. Obwohl diese Amanda ein Lästermaul und ganz schön anstrengend war, schien sie relativ ungefährlich und normal zu sein. So, als könnte sie meine Gedanken lesen, meinte sie plötzlich: „Oh, aber ich will dich nicht verschrecken, Liebes. Pimlico ist eine tolle Gegend, wirklich. Ich weiß, dass wir nicht unbedingt die schönste Ecke hier in diesem Komplex haben, aber es gibt jede Menge Geschichte. Und alle möglichen interessanten Leute.“ Sir warf mir ein breites Grinsen zu. „Na, dann lass ich dich jetzt besser mal auspacken. Solltest du irgendwas benötigen, dann melde dich einfach.“
Den restlichen Tag verbrachte ich damit, auszupacken. Es hätte nicht so lange dauern sollen, aber ich hatte ein schlechtes Gefühl – weil ich nicht mehr in meiner natürlichen Umgebung war, sondern von Fremdem und Ungewissheit umgeben. Meine Klamotten vorsichtig zu falten und in den bereits vorhandenen weißen Ikea-Schrank zu sortieren, der zu dem möblierten Appartement gehörte, half mir dabei, mich zu beruhigen. Danach musste ich über Essen nachdenken. Ich war sehr erleichtert darüber, dass der Kühlschrank sauber und frisch wirkte – er sah komplett neu aus –, und ich hatte jede Menge Stauraum für eine so kleine Küche. Ich steckte meine Schlüssel ein, zog meine Jacke an und machte mich auf den Weg die Treppe hinunter, um das Gebäude zu verlassen.
Es stand im Zentrum des Anwesens und es war wie in einem Labyrinth, meinen Weg zurück zur Hauptstraße zu finden. Ich lief eine Weile, bis ich zu einer Straße gelang, die Glasgow Terrace hieß. Ich wollte gerade mein Handy herausnehmen, um Google Maps zu öffnen, als mir eine Gruppe von Jungs mit hochgezogen Kapuzen entgegenkam und ich entschied mich, dass ich sie lieber nicht in Versuchung bringen wollte. Sie gingen kommentarlos an mir vorbei, also setzte ich meinen Weg zielstrebig fort. Ich wartete, bis ich wieder alleine war, und suchte dann kurz online nach dem nächstgelegensten Supermarkt. Es gab in der Nähe zwei Salisburys und ein Einkaufszentrum auf der anderen Flussseite drüben in Nine Elms. Es war ein Stück entfernt, aber die Sonne war gerade rausgekommen und obwohl die Herbstluft etwas kühl war, war der Abend dennoch schön. Ich entschied, dass ein Spaziergang an der frischen Luft genau das war, was ich benötigte. Ich zog meinen Reißverschluss bis unters Kinn und lief die Straße hinunter, folgte der Route, die mir Google Maps anzeigte, bis ich zu einer großen geschäftigen Straße kam.
Der viele Verkehr – das ständige Hupen und Motorengeheule – war ein starker Kontrast zu der relativen Ruhe in Pimlico. Ich ging weiter in Richtung Brücke und dann darüber, bis ich auf ungefähr der Hälfte stoppte und nur starrte. Einfach starrte. Die weitläufige Oberfläche der Themse. Die hochgewachsenen, futuristisch-anmutenden Gebäude von Vauxhall. Der beeindruckende Anblick der Battersea Power Station, die umgeben war von Kranen. Und auf der anderen Seite, etwas weiter den Fluss runter, die unverkennbare Form des London Eyes.
Ich war da. In London. An einem Ort, den ich in meinen zweiunddreißig Jahren erst zweimal besucht hatte. Für ein paar Minuten war ich voll und ganz im Moment, erfüllt von Optimismus und Hoffnung und dem Nervenkitzel dieser beeindruckenden Veränderung der Szenerie, die ich selbst herbeigeführt hatte. Und dann, als ob ein Schalter umgelegt wurde, erinnerte ich mich wieder daran, warum ich das getan hatte. Der Grund für diese ganze Aktion. Du bist nicht hier, um Spaß zu haben, sagte ich zu mir selbst. Ich atmete einmal tief die kühle Luft des Spätnachmittags ein und ging weiter die Brücke nach Vauxhall entlang, um meine Einkäufe zu erledigen.
Noch elf Monate
Matthew hatte mich seit Jahren darum gebeten, Mitglied in seinem Buchklub zu werden. Es war so ziemlich das Erste gewesen, was er mich gefragt hatte, als wir auf unser erstes offizielles Date gingen.
Wir waren bei Mango Tree essen gewesen, da es relativ nahe an meiner damaligen Wohnung am Eccleston Square war. Die Wohnung war ein schreckliches, kleines Loch gewesen und meine Eltern hatten mir ständig damit in den Ohren gelegen, mir etwas anderes zu kaufen, aber für mich war es genau das Richtige gewesen, während meine Karriere in Marketing langsam Form annahm. Ich kam zu spät (meine Schuhe waren spurlos verschwunden) und Matthew saß am Tisch und las ein Buch. Das war für mich bereits ein rotes Tuch. Wer brachte bitte ein Buch in ein Restaurant mit? Zu einem Date? Ich wusste, dass Matthew in der Schule sehr still und ein Bücherwurm gewesen war, aber das hier war etwas, auf das ich nicht vorbereitet gewesen war. Als ich mich ihm gegenübersetzte, hatte er wenigstens den Anstand, etwas peinlich berührt aufzublicken und das Buch wegzulegen, bevor er mich mit einem süßen, warmen Lächeln begrüßte. Ich wusste genau da und dort, dass das mit uns etwas Besonderes sein würde. Ich hatte recht damit gehabt, den Rat unseres gemeinsamen Freundes Archie zu befolgen und mich nach all den Jahren mit Matthew zu treffen. Das würde nicht einer dieser lockeren One-Night-Stands werden, die man mit einem alten Bekannten mal hat. Das war etwas sehr viel Ernsteres. Etwas Realeres. Als wir anfingen, uns über Bücher zu unterhalten, meinte Matthew: „Du solltest meinem Buchklub beitreten. Wir sind eine etwas seltsame Gruppe. Aber deine Patentante Meryl ist auch immer dabei, also kennst du sie.“
Ich glaube, dabei verzog ich ganz schön mein Gesicht. „Ja, sie hat es ein paarmal erwähnt. Ich habe mir dabei schon gedacht, dass es etwas seltsam für eine ältere Dame ist, ihren Abend mit einer Gruppe junger Männer zu verbringen und ein anzügliches Buch zu besprechen.“
Matthew grinste. „Wer sagt denn, dass unsere Bücher anzüglich sind? Wir lesen eine große Spannbreite. Und außerdem wären es nicht nur wir und Meryl. Da ist auch noch Jerome, er und Meryl sind vermutlich in ihren Sechzigern. Und dann ist da noch Anita.“
„Jerome?“, frage ich mit gehobener Augenbraue. „Aber nicht Jerome Nightly?“
Er nickte lächelnd. „Der einzig Wahre. Heutzutage schauspielert er nicht mehr ganz so viel. Nur noch ein paar Gastauftritte in der ein oder anderen schrägen RomCom. Er und Meryl kennen sich schon ewig.“
„Und Anita? Ich glaube nicht, dass ich sie kenne.“
Matthew nahm einen Schluck Wein und wirkte etwas gequält. „Sie kann einen leider etwas runterziehen. Sie ist Jeromes Schwiegertochter, obwohl sie und sein Sohn inzwischen getrennt sind. Es wäre nachvollziehbar gewesen, wenn sie sich von ihrem Schwiegervater distanziert hätte, als sie seinen Sohn verließ, aber aus irgendeinem Grund taucht sie dennoch immer auf. Trinkt etwas zu viel Wein. Beschwert sich über jedes Buch, das wir lesen, und teilt gegen Jerome aus.“
„Ist sie in unserem Alter?“