Die Freude der Liebe: Das Apostolische Schreiben Amoris Laetitia über die Liebe in der Familie - Papst Franziskus - E-Book

Die Freude der Liebe: Das Apostolische Schreiben Amoris Laetitia über die Liebe in der Familie E-Book

Papst Franziskus

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Beschreibung

Zum ersten Mal in der Geschichte hatte der Papst die Gläubigen weltweit befragt in einer Sache, die sie zutiefst betrifft: Liebe, Partnerschaft, Familie, Sexualität. Nach den Beratungen mit Bischöfen und Experten schreibt Franziskus nun: "Das Ergebnis der Überlegungen der Synode ist nicht ein Stereotyp der Idealfamilie, sondern eine herausfordernde Collage aus vielen unterschiedlichen Wirklichkeiten voller Freuden, Dramen und Träume." "Amoris laetitia" ist eine Ermutigung, sich auf das Abenteuer Liebe einzulassen. Papst Franziskus überrascht einmal mehr durch Lebensnähe und Warmherzigkeit, unerwartete Aussagen und erhellende Perspektivenwechsel. Diese Ausgabe dokumentiert sein Lehrschreiben in voller Länge, lesefreundlich im Sachbuchformat. TV-Journalist und Vatikanexperte Jürgen Erbacher analysiert einen unabhängigen Blick auf Grundlinien und Kernaussagen.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Anhang des Verlags

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Papst Franziskus

DIE FREUDE DER LIEBE

Das Apostolische Schreiben
AMORIS LAETITIA
über die Liebe in der Familie
Mit Themenschlüssel
Einführung von Jürgen Erbacher
Patmos Verlag

INHALT

Für Freiheit in Verantwortung – Einführung von Jürgen Erbacher

Keine einheitlichen Lösungen

Stimme der Basis

Absage an Schwarz-Weiß-Denken

Perspektivenwechsel

Qualität der Beziehung im Zentrum

Liebe und Ehe sind Handwerk

Unterscheidung in den Einzelfällen

Nährboden für Veränderungen

NACHSYNODALES APOSTOLISCHES SCHREIBEN

AMORIS LAETITIA

DES HEILIGEN VATERS PAPST FRANZISKUS

ÜBER DIE LIEBE IN DER FAMILIE

Die Freude der Liebe [1–7]

Erstes KapitelIM LICHT DES WORTES

Du und deine Frau

Deine Kinder wie junge Ölbäume

Ein blutbefleckter Weg des Leidens

Deiner Hände Arbeit

Die Zärtlichkeit der Umarmung

Zweites KapitelDIE WIRKLICHKEIT UND DIE HERAUSFORDERUNGEN DER FAMILIE

Die heutige Situation der Familie

Einige Herausforderungen

Drittes KapitelAUF JESUS SCHAUEN – DIE BERUFUNG DER FAMILIE

Jesus stellt den göttlichen Plan wieder her und führt ihn zu seiner Vollendung

Die Familie in den Dokumenten der Kirche

Das Sakrament der Ehe

Saatkörner des Wortes und unvollkommene Situationen

Die Weitergabe des Lebens und die Erziehung der Kinder

Die Familie und die Kirche

Viertes KapitelDIE LIEBE IN DER EHE

Unsere tägliche Liebe

Langmut

Haltung dienstbereiter Güte

Eifersucht und Neid heilen

Ohne zu prahlen und sich aufzublähen

Liebenswürdige Freundlichkeit

Freigebige Loslösung

Ohne gewalttätige Gesinnung

Vergebung

Sich mit den anderen freuen

Sie erträgt und entschuldigt alles

Sie glaubt alles

Sie hofft alles

Sie hält allem stand

Wachsen in der vollkommenen ehelichen Liebe (caritas)

Das ganze Leben lang alles gemeinsam

Freude und Schönheit

Aus Liebe heiraten

Liebe, die sich kundtut und wächst

Der Dialog

Die leidenschaftliche Liebe

Die Welt der Emotionen

Gott liebt das frohe Genießen seiner Kinder

Die erotische Dimension der Liebe

Gewalt und Manipulation

Ehe und Jungfräulichkeit

Die Verwandlung der Liebe

Fünftes KapitelDIE LIEBE, DIE FRUCHTBAR WIRD

Ein neues Leben annehmen

Die Liebe in der besonderen Erwartung der Schwangerschaft

Mutter- und Vaterliebe

Erweiterte Fruchtbarkeit

Den Leib erkennen

Das Leben in der großen Familie

Söhne und Töchter sein

Die alten Menschen

Geschwister sein

Ein weites Herz

Sechstes KapitelEINIGE PASTORALE PERSPEKTIVEN

Heute das Evangelium der Familie verkünden

Auf dem Weg der Ehevorbereitung zum Eheversprechen führen

Die Vorbereitung der Feier

Die Begleitung in den ersten Jahren des Ehelebens

Einige Hilfsmittel

Licht in Krisen, Ängste und Schwierigkeiten tragen

Die Herausforderung der Krisen

Alte Wunden

Begleiten nach Brüchen und Scheidungen

Einige komplexe Situationen

Wenn der Stachel des Todes eindringt

Siebentes KapitelDIE ERZIEHUNG DER KINDER STÄRKEN

Wo sind die Kinder?

Die ethische Erziehung der Kinder

Der Wert der Strafe als Ansporn

Geduldiger Realismus

Das Familienleben als erzieherisches Umfeld

Ja zur Sexualerziehung

Den Glauben weitergeben

Achtes KapitelDIE ZERBRECHLICHKEIT BEGLEITEN, UNTERSCHEIDEN UND EINGLIEDERN

Die Gradualität in der Seelsorge

Die Unterscheidung der sogenannten ›irregulären‹ Situationen

Die mildernden Umstände in der pastoralen Unterscheidung

Die Normen und die Unterscheidung

Die Logik der pastoralen Barmherzigkeit

Neuntes KapitelSPIRITUALITÄT IN EHE UND FAMILIE

Spiritualität der übernatürlichen Gemeinschaft

Vereint im Gebet im Licht des Ostergeheimnisses

Spiritualität der ausschließlichen, aber nicht besitzergreifenden Liebe

Spiritualität der Fürsorge, des Trostes und des Ansporns

Gebet zur Heiligen Familie

ANHANG DES VERLAGS

Themenschlüssel

Namen und Quelldokumente

Bibelstellen

Der synodale Prozess zu Ehe und Familie

Die Synodenpapiere und das nachsynodale Schreiben

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Für Freiheit in Verantwortung

Einführung von Jürgen Erbacher

Amoris laetitia – Die Freude der Liebe: Der Titel ist Programm. Das Schreiben von Papst Franziskus ist eine Ermutigung zur Ehe und will Hilfe im Umgang mit schwierigen Situationen geben. Freiheit, Geschlechtlichkeit, Liebe sind positiv, aber sollen verantwortlich gelebt werden. An vielen Stellen schlägt Franziskus selbstkritische Töne an in Bezug auf die bisherige kirchliche Verkündigung zu Ehe und Familie. Der Papst zeichnet ein sehr realistisches Bild der Familie und erweist sich einmal mehr als Seelsorger, nicht als Oberlehrer. Ein positiver Grundton durchzieht das ganze Papier. Ohne am Lehrgebäude der katholischen Kirche zu rütteln, betont Franziskus, dass Normen nie im Widerspruch zur Liebe Gottes stehen dürfen: »Moralische Gesetze sind keine Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft« (305). Franziskus vollzieht mit seinem Papier nun auch auf lehramtlicher Ebene einen Perspektivenwechsel, wie er sich bei den beiden Bischofssynoden zu Ehe und Familie im Oktober 2014 und 2015 abgezeichnet hat: Anstelle des mahnenden Zeigefingers gilt als neues Motto, entsprechend einer Lieblingsgeste des Papstes: Daumen hoch – Wertschätzung, nicht Ausgrenzung, sondern Integration. Franziskus wartet nicht mit einem großen Regelwerk auf. Vielmehr stellt er die konkrete Situation des Einzelnen ins Zentrum. Jegliches kirchliche Handeln muss sich im Licht der Barmherzigkeit prüfen lassen; Gleiches gilt für die Beziehungen in der Ehe und in der Familie.

Keine einheitlichen Lösungen

Franziskus möchte eine Orientierung geben für die pastorale Praxis. Dabei macht er gleich zu Beginn deutlich, dass angesichts der kulturellen Unterschiede weltweit einheitliche Lösungen nicht möglich sind. Diese Feststellung im Vorwort gehört vielleicht zum Revolutionärsten in dem Dokument. Der oberste Lehrer der Kirche stellt fest, »dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen«. Zwar müsse es eine Einheit von Lehre und Praxis geben. Dennoch ist es aus Sicht des Papstes legitim, »dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen« (3). Er nimmt die Bischofskonferenzen und Ortsbischöfe in die Pflicht und spricht sich für »inkulturierte Lösungen« aus (ebd.). Hier greift Franziskus eine Erfahrung aus dem zweieinhalb Jahre währenden synodalen Prozess auf. Zum Abschluss der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode betonte er Ende Oktober 2015, »dass das was dem Bischof des einen Kontinents als normal erscheint, sich für den Bischof eines anderen Kontinents als seltsam, beinahe wie ein Skandal herausstellen kann«. Seine Konsequenz: »Jeder allgemeine Grundsatz muss inkulturiert werden, wenn er beachtet und angewendet werden soll.«

Damit ist klar: Unter Franziskus gilt der alte Grundsatz »Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden« nur bedingt. Viele Fragen zu Ehe und Familie müssen jetzt vor Ort entschieden werden, von den Bischofskonferenzen, von den Ortsbischöfen, den Priestern oder den Eheleuten selbst. Allerdings gibt es einen Grundton, den Franziskus vorgibt und auf dem die inkulturierten »Variationen des Themas« aufbauen müssen: die Wertschätzung des Guten auch dort, wo das Ideal nicht erreicht wird; die Ermutigung, in einer Beziehung auf das Ziel dieses Ideals hin zu wachsen; schließlich die Vorgabe, dass alles, was dem Ideal nicht entspricht, in der konkreten einzelnen Situation durch die Brille der Barmherzigkeit zu betrachten und zu bewerten ist. »Die Kirche möchte mit demütigem Verstehen auf die Familien zugehen« (200). Es geht nicht darum, eine »kalte Schreibtisch-Moral« (312) zu entfalten, sondern um eine »pastorale Unterscheidung voll barmherziger Liebe«. Der Schlüssel zum Verständnis des Papiers sowie des ganzen Pontifikats von Papst Franziskus liegt in der Feststellung: »Zwei Arten von Logik […] durchziehen die gesamte Geschichte der Kirche: ausgrenzen und wiedereingliedern […] Der Weg der Kirche ist vom Jerusalemer Konzil an immer der Weg Jesu: der Weg der Barmherzigkeit und der Eingliederung […] Der Weg der Kirche ist der, niemanden auf ewig zu verurteilen, die Barmherzigkeit Gottes über alle Menschen auszugießen, die sie mit ehrlichem Herzen erbitten […] Denn die wirkliche Liebe ist immer unverdient, bedingungslos und gegenleistungsfrei« (296).

Stimme der Basis

Ausführlich zitiert Franziskus die Abschlusstexte der beiden Bischofssynoden vom Oktober 2014 und 2015. Damit misst er diesem Beratungsinstrument ein erhebliches Gewicht bei, ebenso den nationalen Bischofskonferenzen. Wie schon in Evangelii gaudium (2013) und in seiner Enzyklika Laudato si’ (2015) nimmt er auf Dokumente von Bischofskonferenzen aus der ganzen Welt Bezug. So werden die Bischofssynode und die Bischofskonferenzen »sub et cum Petro« (unter und mit Petrus) in die höchste Lehrautorität hineingenommen. Diese formalen Dinge sind wichtig, wenn es um die Frage geht, wie Franziskus das Papstamt versteht und wie er sich eine Kirche vorstellt, in der mehr Synodalität verwirklicht wird. Viermal verweist er direkt auf die Umfrage, die zu Beginn des synodalen Prozesses Ende 2013 weltweit durchgeführt wurde. Damit findet sich die Stimme der Basis auch noch im Abschlussdokument. Zugleich lässt Franziskus seine Vorgänger, vor allem Paul VI., Johannes Paul II. und Benedikt XVI., zu Wort kommen und zeigt damit, dass er sich in ihre Tradition stellt, auch wenn er eigene Akzente setzt.

Franziskus beginnt seine Ausführungen über Ehe und Familie mit einem Blick in die Heilige Schrift. Dies ist die Basis für seine späteren Überlegungen. Zum einen fällt auf, dass er die schöpfungstheologischen Aussagen über Mann und Frau, Nachkommenschaft und Familie im Alten Testament bereits aus der Perspektive der Verkündigung Jesu betrachtet. Zum zweiten zeichnet er kein »paradiesisches« Bild von Ehe und Familie. Von Anfang an verweist er auf den Schmerz, das Böse, die Gewalt, »die das Leben der Familie und ihre innige Lebens- und Liebesgemeinschaft auseinanderbrechen lassen« (24). Franziskus spannt den Bogen von der Heiligen Schrift ins Heute. Im Buch Ruth und in der Verkündigung Jesu findet er Beispiele dafür, wie Arbeitslosigkeit und unsichere Arbeitsverhältnisse sich auf das Familienleben auswirken.

Absage an Schwarz-Weiß-Denken

Die aktuellen Herausforderungen für Ehe und Familie stehen im Zentrum des zweiten Kapitels. Seine nüchterne Situationsbeschreibung vermeidet die innerkirchlich nicht seltene Klage über die »ach so schlechte Gegenwart«. Der kulturelle Wandel habe »Licht- und Schattenseiten«, stellt er in Anknüpfung an seinen Vorgänger Johannes Paul II. fest. Mehr Freiheitsräume, gleichmäßige Verteilung der Lasten, Verantwortlichkeiten und Aufgaben in der Familie sowie mehr Kommunikation zwischen den Eheleuten führten dazu, »das gesamte familiäre Zusammenleben menschlicher zu gestalten« (32). Freilich benennt er auch die Herausforderungen wie den »ausufernden Individualismus«, die Bedingungen der modernen Arbeitswelt, Missbrauch, Gewalt und Sucht, die schwer auf dem Familienleben lasten. Auch bemängelt Franziskus eine »übertriebene Idealisierung« der Ehe durch die Kirche. Häufig habe sie ein »allzu abstraktes theologisches Ideal der Ehe vorgestellt, das fast künstlich konstruiert und weit von der konkreten Situation und den tatsächlichen Möglichkeiten der realen Familien entfernt ist« (36). Das habe die Ehe nicht attraktiver gemacht, sondern eher das Gegenteil bewirkt. Schon hier wird deutlich, dass Franziskus dem Gewissen des Einzelnen eine größere Bedeutung beimessen möchte, etwa wenn er über die verantwortliche Elternschaft spricht.

Entscheidend für die weiteren Ausführungen ist die Feststellung: »Wir müssen die große Vielfalt familiärer Situationen anerkennen, die einen gewissen Halt geben können, doch die eheähnlichen Gemeinschaften oder die Partnerschaften zwischen Personen gleichen Geschlechts, zum Beispiel, können nicht einfach mit der Ehe gleichgestellt werden« (52). Damit erteilt er einem simplen Schwarz-Weiß-Denken eine Absage und spricht sich für eine differenzierte Bewertung von Beziehungsformen aus. Zugleich bekräftigt Franziskus das traditionelle kirchliche Bild der Ehe von einem Mann und einer Frau. Damit ist nicht gesagt, dass andere Formen von Partnerschaft grundsätzlich abgelehnt werden. In diesem wie in anderen Zusammenhängen ist in Amoris laetitia auch wichtig, was das Dokument nicht sagt: Statt dass bestimmte frühere Positionen offen als falsch bezeichnet werden, gehen sie − gemäß der Gepflogenheiten des Lehramts − diskret im Schweigen unter.

Bereits im zweiten Kapitel zeigt sich, was später noch weiter ausgeführt wird: Franziskus macht sich stark für eine Gleichberechtigung von Mann und Frau (55, 155 f). Der Papst aus Lateinamerika, der die Welt des Machismo gut kennt, weiß um die Tragweite dieses Themas weltweit. Er verurteilt scharf jede Ausbeutung und Zurücksetzung von Frauen sowie Gewalt gegen sie etwa durch Genitalverstümmelung (30). Umgekehrt erinnert er die Männer an ihre Pflichten bei der Kindererziehung und im Haushalt. »Häusliche Aufgaben oder einige Aspekte der Kindererziehung zu übernehmen, machen ihn nicht weniger männlich«, so Franziskus (286). Er würdigt den Feminismus, wehrt sich aber gegen Gender-Modelle, die die Geschlechter einzuebnen versuchen. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass Franziskus eine sehr undifferenzierte Vorstellung von diesen Theorien hat (56 u. a.). Er anerkennt, dass die Rollenbilder von Mann und Frau auch soziokulturell und familiär geprägt sind. Zugleich betont er die Unterschiedlichkeit der Geschlechter, die ihnen von der Schöpfungsordnung her verschiedene Rollen zuweisen (vgl. 286).

Perspektivenwechsel

Im dritten Kapitel wirft Franziskus einen kurzen Blick auf die Lehre der katholischen Kirche zu Ehe und Familie. Er bekräftigt die Unauflöslichkeit der Ehe und die Offenheit für Kinder. Er würdigt die unter Gläubigen umstrittene Enzyklika Humanae vitae (1968) von Papst Paul VI. und spricht von der »verantwortlichen Elternschaft« (68); auf das Verbot künstlicher Empfängnisregelung in dieser Enzyklika geht er hingegen nicht näher ein. Später wird er sich bei seinen Orientierungen für die Familienpastoral eine Formulierung des Abschlussberichts der Synode von 2015 zu eigen machen: Ehepaare sollen »zur Anwendung der Methoden, die auf den ›natürlichen Zeiten der Fruchtbarkeit‹ (Humanae vitae, 11) beruhen, ermutigt werden« (222). Hier wie bei anderen Erwähnungen von Humanae vitae kann man den Eindruck haben, Franziskus wollte diesem Dokument den Stachel der Passagen über die Empfängnisregelung ziehen, um die anderen Aussagen besser zur Geltung kommen zu lassen.

Zwei Aspekte des dritten Kapitels sind wichtig, um den Perspektivenwechsel, den Franziskus vornimmt, richtig zu verstehen. Er überträgt die Vorstellung der »semina Verbi«, von denen das Zweite Vatikanische Konzil in Bezug auf andere Kulturen spricht, auf Ehe und Familie und weitet damit den Blick auf die beiden Institutionen. »Jeder Mensch, der in diese Welt eine Familie einbringen möchte, welche die Kinder dazu erzieht, sich über jede Tat zu freuen, deren Absicht ist, das Böse zu überwinden – eine Familie, die zeigt, dass der Heilige Geist in ihr lebt und wirkt –, wird Dankbarkeit und Wertschätzung finden, gleich welchem Volk, welcher Religion oder welchem Land auch immer er angehört« (77). Franziskus kommt dann in Anlehnung an die Synode 2015 zu dem Schluss, dass zwar einerseits keine Abstriche bei der Verkündigung der kirchlichen Lehre über die Familie gemacht werden dürfen. Andererseits sind »Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen« (79). Hier deutet sich schon an, was später in Bezug auf sogenannte »irreguläre Situationen« wichtig wird.

Das vierte Kapitel präsentiert sich quasi als Hymnus auf die Liebe in der Ehe. Ausgehend vom neutestamentlichen Hohenlied der Liebe (1 Kor 13,4–7), bodenständig und lebensnah, emotional und menschlich nähert sich Franziskus dem Thema. Er schreibt über Kommunikation in der Beziehung, Zärtlichkeit und Erotik, frei von jeder Peinlichkeit. »Begierden, Gefühle, Emotionen – das, was die Klassiker ›Leidenschaften‹ nannten – nehmen einen wichtigen Platz in der Ehe ein« (143). Später bei den Tipps für die Familienpastoral ist zu lesen: »Es ist gut, den Morgen mit einem Kuss zu beginnen« (226). Franziskus wird zum Eheberater und man nimmt ihm seine Worte ab. Hier zeigt sich die lange Erfahrung, die Jorge Mario Bergoglio als Beichtvater, als Seelsorger und Bischof gesammelt hat – als einer, der wirklich am Leben der Menschen teilnahm, der in die Armenviertel von Buenos Aires ging und die Probleme und Nöte der Menschen kennt. Oft spricht Franziskus von einer »hörenden Kirche«. Diese Abschnitte in Amoris laetitia lassen einen »hörenden Menschen« erkennen, der versteht, das Gehörte im Licht des Evangeliums zu deuten.

Qualität der Beziehung im Zentrum

Die Ausführungen sind aber auch für Theologie und Lehre nicht unbedeutend. Was Franziskus hier vorlegt, ist weniger eine klassische Sexualmoral als vielmehr eine Beziehungsethik. Das ist eine neue Sicht von Partnerschaft und Ehe, die im Zweiten Vatikanischen Konzil grundgelegt, bei den bisherigen Nachkonzilspäpsten zögerlich umgesetzt und von Franziskus nun ganz dezidiert durchbuchstabiert wird. Dabei stellt er sich in die Tradition der »Theologie des Leibes« von Papst Johannes Paul II. und entwickelt sie weiter zu einer »Theologie der Liebe«. Er geht den Weg, den die Moraltheologie in den vergangenen Jahrzehnten bereits gegangen ist, nun als Papst. Er stellt die Qualität der Beziehung ins Zentrum der Überlegungen und überwindet den Primat der Fortpflanzung. Viele Moraltheologen sehen hierin einen Ansatz für eine neue Würdigung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Diesen Schritt geht Franziskus nicht explizit.

Die »Eheberatung« setzt Franziskus im fünften Kapitel fort. Dabei ist interessant, dass er die Fruchtbarkeit der Liebe nicht allein auf Kinder beschränkt. Es gibt für ihn auch eine »erweiterte Fruchtbarkeit«, die sich etwa in Werken der Nächstenliebe ausdrückt. Immer wieder weitet der Papst den Blick über die Kernfamilie hinaus, nimmt Großeltern und Schwiegereltern in den Blick. Ausdrücklich warnt er davor, dass sich Familien gegenüber ihrem Umfeld abkapseln (186).

Nach den Tipps für Paare widmet sich Franziskus im sechsten Kapitel der Familienpastoral. Allerdings könne er dieses Thema nur »allgemein umreißen«; hier seien die Ortskirchen gefragt, um die »Bedürfnisse und Herausforderungen vor Ort zu berücksichtigen« (199). Die ersten Abschnitte tragen wieder selbstkritische Züge: Die Umfrage vor den beiden Synoden habe gezeigt, »dass es den geweihten Amtsträgern gewöhnlich an einer geeigneten Ausbildung fehlt, um mit den vielschichtigen aktuellen Problemen der Familien umzugehen. In diesem Sinn kann auch die Erfahrung der langen östlichen Tradition der verheirateten Priester nützlich sein« (202). Entsprechend müsse die Ausbildung verändert werden. Offen bleibt, ob der Verweis auf die Ostkirchen auch eine Diskussion um den Pflichtzölibat für römisch-katholische Priester antippt.

Liebe und Ehe sind Handwerk

Franziskus betont mit Blick auf die Ehevorbereitung: »Die Qualität zieht mehr an als die Quantität« (207). Da die Ehe kein Fertigprodukt ist, das mit der Hochzeit vom Himmel fällt, braucht es eine Vorbereitungszeit, aber auch eine Begleitung in der Ehe. »Stehendes Wasser verdirbt« (219). Liebe und Ehe sind Handwerk (221), lautet seine Botschaft, ein lebenslanges Arbeiten am gemeinsamen Weg der Partner, das von der Kirche begleitet werden muss. Er ermutigt, Krisen als Herausforderungen und Chancen zu verstehen. »Jede Krise ist eine Lehrzeit«, ist der Papst überzeugt (232). Er ist allerdings auch so realistisch zu sehen, »dass es Fälle gibt, in denen eine Trennung unvermeidlich ist« (241). Wie schon sein Vorgänger Benedikt XVI. betont Franziskus, dass »Geschiedene in neuer Verbindung« nicht exkommuniziert sind und eine besondere Sorge für sie nicht dem Zeugnis der Unauflöslichkeit der Ehe widerspricht (243). Nur kurz geht Franziskus auf konfessionsverschiedene Ehen ein. Er verweist in Bezug auf das gemeinsame Abendmahl auf die bestehenden Normen (247).

Das dürfte viele ebenso enttäuschen wie die kurzen Aussagen über Homosexuelle. Er verurteilt jegliche Form der Diskriminierung und fordert Respekt. Jegliche Analogie oder gar Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit der Ehe lehnt er strikt ab. Die Beratungen bei den beiden Synoden 2014 und 2015 zeigten, dass das Thema Homosexualität noch einmal eine weit größere Sprengkraft besitzt als etwa wiederverheiratete Geschiedene. Nachdem es bei der Synode 2014 bei diesem Thema beinahe zum Eklat kam, versuchte die Synodenregie für das Treffen im Oktober 2015 die Frage möglichst klein zu halten. Das zeigt sich jetzt auch in dem Abschlusspapier. Das Thema bleibt damit unbearbeitet, wird die katholische Kirche aber weiter beschäftigen.

Bevor Franziskus sich weiter den »irregulären« Situationen widmet, schiebt er ein Kapitel über Kindererziehung ein, die er ausdrücklich als eine gemeinsame Aufgabe von Vater und Mutter sieht. Nur kurz geht er auf die Situation von Alleinerziehenden ein. Er warnt vor ›Helikopter-Eltern‹ und einem alleinigen Augenmerk auf die physische und geistige Entwicklung (261). Umsichtig eingesetzte Strafen als Mittel des erzieherischen Ansporns für Kinder sind aus Sicht von Franziskus legitim(268 f). Seine umstrittene Äußerung über einen Klaps, der helfen könne, wiederholt er nicht. Hier und andernorts wird deutlich, dass Franziskus in Kindern die Zukunft der Gesellschaft sieht. Was in der Kindheit grundgelegt wird, prägt später die Welt. »Die Eltern beeinflussen immer die moralische Entwicklung der Kinder«, stellt er zu Beginn des Kapitels fest (259).

Unterscheidung in den Einzelfällen

Im achten Kapitel schließlich kommt Franziskus zu den »irregulären Situationen«. Dabei gibt die Überschrift bereits den Weg vor: »Die Zerbrechlichkeit begleiten, unterscheiden und eingliedern«. Franziskus betont, dass weder von der Synode noch von ihm eine »auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwartet werden durfte« (300). Er sieht eine »pastorale Unterscheidung« in den Einzelfällen geboten. »Und da ›der Grad der Verantwortung […] nicht in allen Fällen gleich [ist]‹, müsste diese Unterscheidung anerkennen, dass die Konsequenzen oder Wirkungen einer Norm nicht notwendig immer dieselben sein müssen«, so Franziskus mit Bezug auf die Relatio finalis der Synode vom Oktober 2015. Ausdrücklich verweist er an dieser Stelle in einer Fußnote auf zwei Abschnitte aus Evangelii gaudium (44 und 47; darin finden sich u. a. diese Sätze: »Alle müssen von dem Trost und dem Ansporn der heilbringenden Liebe Gottes erreicht werden, der geheimnisvoll in jedem Menschen wirkt, jenseits seiner Mängel und Verfehlungen. […] Die Kirche ist berufen, immer das offene Haus des Vaters zu sein. […] Die Eucharistie ist, obwohl sie die Fülle des sakramentalen Lebens darstellt, nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen.«). Es müsse auch hinsichtlich der Sakramentenordnung einen differenzierten Umgang mit den konkreten Situationen geben. Der Verweis kommt später noch einmal, wenn Franziskus über »mildernde Umstände in der pastoralen Unterscheidung« spricht (301 ff). Damit schließt der Papst den Kommunionempfang für Menschen, die nicht dem Ehe-Ideal entsprechen, nicht von vornherein aus; vielmehr gibt er dem Blick auf das Einzelschicksal und dem persönlichen Gewissen größeres Gewicht.

Er beschränkt sich übrigens nicht auf »wiederverheiratete Geschiedene«, sondern er spricht meist von »Geschiedenen in neuen Verbindungen«. Auch beschränkt er sich nicht auf die Frage der Zulassung zu den Sakramenten, sondern befasst sich generell mit der Aufarbeitung des Schicksals von Trennung und neuen Beziehungen. Er setzt also viel grundsätzlicher und umfassender an. Vor diesem Hintergrund dürften auch seine früheren Aussagen vor Journalisten zu verstehen sein, der Kommunionempfang sei nicht die entscheidende Frage beim Umgang mit Geschiedenen. Dies könnte auch erklären, warum die Hinweise auf die Sakramente hier lediglich in zwei Fußnoten verpackt sind. Auch eine weitere Fußnote verdient Beachtung: In Anmerkung 329 geht es um die sogenannte »Josefsehe«. Viele vor allem konservative Kirchenvertreter nennen die sexuelle Enthaltsamkeit als Lösung für wiederverheiratete Geschiedene, damit diese zum Sakramentenempfang zugelassen werden können. Franziskus schreibt hingegen im Blick auf solche Paare, »dass in diesen Situationen, wenn einige Ausdrucksformen der Intimität fehlen, ›nicht selten die Treue in Gefahr geraten und das Kind in Mitleidenschaft gezogen werden [kann].‹«

Franziskus legt dar, wie – unbeschadet der Gültigkeit der bisherigen Lehre – eine »vollere Teilnahme am Leben der Kirche« in Einzelfällen nach einer eingehenden seelsorglichen Prüfung der Umstände möglich ist (300). In Anlehnung an die Arbeit der deutschen Sprachgruppe bei der letzten Synode argumentiert der Papst ausführlich mit Thomas von Aquin (301 ff). Franziskus gibt einen Leitfaden für die Unterscheidung an die Hand. Doch für die konkrete Umsetzung sind die Priester und Bischöfe vor Ort gefordert. Der Papst hat auch seine Kritiker im Blick. »Ich verstehe diejenigen, die eine unerbittlichere Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt« (308). Doch stellt er kurz darauf fest: »Wir stellen der Barmherzigkeit so viele Bedingungen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise, das Evangelium zu verflüssigen« (311).

Nährboden für Veränderungen

Abschließend widmet Franziskus der »Spiritualität in Ehe und Familie« ein eigenes kurzes Kapitel. Das Thema schwingt allerdings bereits im ganzen Papier immer wieder mit. Daher darf es nicht verwundern, wenn dieser Abschnitt vergleichsweise kurz ausfällt.

Auch wenn das Kirchenoberhaupt nicht Hand an Dogmen legt, könnte das Papier dennoch den Nährboden für weitreichende Veränderungen in der katholischen Kirche bilden, die über Reformen allein in der pastoralen Praxis hinausgehen. Denn Franziskus wird seinem Image als »radikaler Papst« gerecht: Er setzt ganz grundlegend an, schaltet Recht und Normen gleichsam einen »Barmherzigkeits-Vorbehalt« vor. Wenn Gott Barmherzigkeit ist, wie er jüngst in seinem Interviewbuch Der Name Gottes ist Barmherzigkeit dargelegt hat, und die Kirche das sichtbare Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt ist, so das katholische Verständnis, dann muss alles Handeln der Kirche mit ihren Gesetzen und Vorgaben die »Barmherzigkeits-Prüfung« bestehen.

Franziskus möchte mit diesem Papier einmal mehr Brücken bauen. Als Pontifex versucht er zwischen Reformern und Bewahrern zu vermitteln. Doch sein Grundton ist klar: Der Blick der Kirche richtet sich nicht mehr nur auf das Schlafzimmer, sondern er geht vor allem ins Wohnzimmer, ins Kinderzimmer und darüber hinaus in das soziale Umfeld. Kritiker werden sagen, der Papst öffne der Beliebigkeit Tür und Tor. Vielleicht ist es aber eher so, dass der Papst ernst macht mit der Botschaft des Gründers. Franziskus will weg von einem Glauben, der sich an unzähligen Normen und auswendig gelernten Katechismussätzen orientiert. Er fordert den Einzelnen heraus, zu einem mündigen und freien Christenmenschen zu werden, Freiheit in Verantwortung zu leben. Franziskus nimmt den einzelnen »Instanzen« in der katholischen Kirche ihre je eigene Verantwortung nicht ab – im Gegenteil. Er hat gesprochen; jetzt sind die Bischöfe, die Priester und die Seelsorger sowie jeder einzelne Gläubige am Zug.

Jürgen Erbacher, geb. 1970, ist langjähriger ZDF-Redakteur mit Schwerpunkt Vatikan und Papst, Teilnehmer an Papstreisen, Autor und Herausgeber zahlreicher Papstbücher sowie Blogger (»Papstgeflüster«).

IHS

Vatikan, 8. April 2016

Lieber Mitbruder,

unter Anrufung des Schutzes der Heiligen Familie von Nazareth freue ich mich, dir meine Exhortation »Amoris laetitia« zu schicken, für das Wohl aller Familien und aller Menschen, jungen und alten, die deinem Hirtendienst anvertraut sind.

Vereint im Herrn Jesus, mit Maria und Josef, bitte ich dich, dass du nicht vergisst, für mich zu beten.

Franziskus

(Begleitgruß, mit dem dies Schreiben an die Bischöfe der Welt verschickt wurde.)

Nachsynodales Apostolisches SchreibenAMORIS LAETITIA

DES HEILIGEN VATERS
PAPST FRANZISKUS
AN DIE BISCHÖFE
AN DIE PRIESTER UND DEKANE
AN DIE PERSONEN GEWEIHTEN LEBENS
AN DIE CHRISTLICHEN EHELEUTE
UND AN ALLE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN
ÜBER DIE LIEBE IN DER FAMILIE

1Die Freude der Liebe, die in den Familien gelebt wird, ist auch die Freude der Kirche. So haben die Synodenväter darauf hingewiesen, dass trotz der vielen Anzeichen einer Krise der Ehe »vor allem unter den Jugendlichen der Wunsch nach einer Familie lebendig [bleibt]. Dies bestärkt die Kirche«.1 Als Antwort auf diese Sehnsucht ist »die christliche Verkündigung über die Familie […] wirklich eine frohe Botschaft«.2

2Der synodale Weg hat es erlaubt, die Situation der Familien in der heutigen Welt offen darzulegen, unseren Blick zu weiten und uns die Bedeutung der Ehe und der Familie neu bewusst zu machen. Zugleich machte uns die Vielschichtigkeit der angesprochenen Themen die Notwendigkeit deutlich, einige doktrinelle, moralische, spirituelle und pastorale Fragen unbefangen weiter zu vertiefen. Die Reflexion der Hirten und Theologen wird uns, wenn sie kirchentreu, ehrlich, realistisch und kreativ ist, zu größerer Klarheit verhelfen. Die Debatten, wie sie in den Medien oder in Veröffentlichungen und auch unter kirchlichen Amtsträgern geführt werden, reichen von einem ungezügelten Verlangen, ohne ausreichende Reflexion oder Begründung alles zu verändern, bis zu der Einstellung, alles durch die Anwendung genereller Regelungen oder durch die Herleitung übertriebener Schlussfolgerungen aus einigen theologischen Überlegungen lösen zu wollen.

3Indem ich daran erinnere, dass die Zeit mehr wert ist als der Raum, möchte ich erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen. Selbstverständlich ist in der Kirche eine Einheit der Lehre und der Praxis notwendig; das ist aber kein Hindernis dafür, dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen. Dies wird so lange geschehen, bis der Geist uns in die ganze Wahrheit führt (vgl. Joh 16,13), das heißt bis er uns vollkommen in das Geheimnis Christi einführt und wir alles mit seinem Blick sehen können. Außerdem können in jedem Land oder jeder Region besser inkulturierte Lösungen gesucht werden, welche die örtlichen Traditionen und Herausforderungen berücksichtigen. Denn »die Kulturen [sind] untereinander sehr verschieden, und jeder allgemeine Grundsatz […] muss inkulturiert werden, wenn er beachtet und angewendet werden soll«.3

4Auf jeden Fall muss ich sagen, dass der synodale Weg sehr Schönes enthalten und viel Licht geschenkt hat. Ich danke für viele Beiträge, die mir geholfen haben, die Probleme der Familien der Welt in ihrem ganzen Umfang zu betrachten. Die Gesamtheit der Wortmeldungen der Synodenväter, die ich mit ständiger Aufmerksamkeit angehört habe, ist mir wie ein kostbares, aus vielen berechtigten Besorgnissen und ehrlichen, aufrichtigen Fragen zusammengesetztes Polyeder erschienen. Deshalb habe ich es für angemessen gehalten, ein nachsynodales Apostolisches Schreiben zu verfassen, das Beiträge der beiden jüngsten Synoden über die Familie sammelt, und weitere Erwägungen hinzuzufügen, die die Überlegung, den Dialog oder die pastorale Praxis orientieren können und zugleich den Familien in ihrem Einsatz und ihren Schwierigkeiten Ermutigung und Anregung bieten.

5Dieses Schreiben gewinnt eine spezielle Bedeutung im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr der Barmherzigkeit. An erster Stelle, weil ich das Schreiben als einen Vorschlag für die christlichen Familien verstehe, der sie anregen soll, die Gaben der Ehe und der Familie zu würdigen und eine starke und uneingeschränkte Liebe zu Werten wie Großherzigkeit, Verbindlichkeit, Treue oder Geduld zu pflegen. An zweiter Stelle, weil es alle ermutigen soll, dort selbst Zeichen der Barmherzigkeit und der Nähe zu sein, wo das Familienleben sich nicht vollkommen verwirklicht oder sich nicht in Frieden und Freude entfaltet.

6Beim Aufbau des Textes werde ich mit einer von der Heiligen Schrift inspirierten Eröffnung beginnen, die ihm eine angemessene Einstimmung verleiht. Von da ausgehend werde ich die aktuelle Situation der Familien betrachten, um ›Bodenhaftung‹ zu bewahren. Danach werde ich an einige Grundfragen der Lehre der Kirche über Ehe und Familie erinnern, um so zu den beiden zentralen Kapiteln zu führen, die der Liebe gewidmet sind. In der Folge werde ich einige pastorale Wege vorzeichnen, die uns Orientierung geben sollen, um stabile und fruchtbare Familien nach Gottes Plan aufzubauen; in einem weiteren Kapitel werde ich mich mit der Erziehung der Kinder beschäftigen. Danach geht es mir darum, zur Barmherzigkeit und zur pastoralen Unterscheidung einzuladen angesichts von Situationen, die nicht gänzlich dem entsprechen, was der Herr uns aufträgt, und zum Schluss werde ich kurze Leitlinien für eine Spiritualität der Familie entwerfen.

7Infolge der Reichhaltigkeit dessen, was der synodale Weg in den beiden Jahren der Reflexion einbrachte, spricht dieses Schreiben in unterschiedlicher Darstellungsweise viele und mannigfaltige Themen an. Das erklärt seinen unvermeidlichen Umfang. Darum empfehle ich nicht, es hastig ganz durchzulesen. Sowohl für die Familien als auch für die in der Familienpastoral Tätigen kann es nutzbringender sein, wenn sie es Abschnitt für Abschnitt geduldig vertiefen oder wenn sie darin nach dem suchen, was sie in der jeweiligen konkreten Situation brauchen. Es ist zum Beispiel möglich, dass die Eheleute sich mehr mit dem vierten und fünften Kapitel identifizieren, dass die pastoralen Mitarbeiter ein besonderes Interesse am sechsten Kapitel haben und dass alle sich am meisten durch das achte Kapitel angesprochen fühlen. Ich hoffe, dass jeder sich durch die Lektüre angeregt fühlt, das Leben der Familien liebevoll zu hüten, denn sie »sind nicht ein Problem, sie sind in erster Linie eine Chance«.4

Erstes KapitelIM LICHT DES WORTES

8Die Bibel ist bevölkert mit Familien, mit Generationen, sie ist voller Geschichten der Liebe wie auch der Familienkrisen, und das von der ersten Seite an, wo die Familie von Adam und Eva auftritt mit ihrer Last der Gewalt, aber auch mit der Kraft des Lebens, das weitergeht (vgl. Gen 4), bis zur letzten Seite, wo die Hochzeit der Braut und des Lammes erscheint (vgl. Offb 21,2.9) Die beiden Häuser, die Jesus beschreibt und die auf Fels oder auf Sand gebaut sind (vgl. Mt 7,24–27), sind ein symbolischer Ausdruck vieler familiärer Situationen, die durch die persönliche Freiheit ihrer Mitglieder geschaffen werden, denn – wie der Dichter schrieb – »jedes Haus ist ein Leuchter«.5 Treten wir nun in eines dieser Häuser ein, geführt vom Psalmisten durch einen Gesang, der noch heute sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Liturgie der Trauung erklingt:

»Wohl dem Mann, der den Herrn fürchtet und ehrtund der auf seinen Wegen geht!Was deine Hände erwarben, kannst du genießen;wohl dir, es wird dir gut ergehn.Wie ein fruchtbarer Weinstock ist deine Fraudrinnen in deinem Haus.Wie junge Ölbäume sind deine Kinderrings um deinen Tisch.So wird der Mann gesegnet,der den Herrn fürchtet und ehrt.Es segne dich der Herr vom Zion her.Du sollst dein Leben lang das Glück Jerusalems schauenund die Kinder deiner Kinder sehn.Frieden über Israel!« (Ps 128,1–6)

Du und deine Frau

9Überschreiten wir also die Schwelle dieses heiter-gelassenen Heimes mit seiner Familie, die in festlicher Tafelrunde vereint ist. Im Mittelpunkt begegnen wir dem Paar von Vater und Mutter mit seiner ganzen Geschichte der Liebe. In ihnen verwirklicht sich jenes ursprüngliche Vorhaben, das Christus selbst mit Nachdruck ins Gedächtnis ruft: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat?« (Mt 19,4). Und es wird die Anweisung aus dem Buch Genesis aufgegriffen: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (2,24).

10Die großartigen beiden ersten Kapitel des Buches Genesis bieten uns die Darstellung des menschlichen Paares in seiner grundlegenden Wirklichkeit. In diesem Anfangstext der Bibel scheinen einige entscheidende Feststellungen auf. Die erste, die von Jesus zusammenfassend zitiert wird, besagt: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1,27). Überraschenderweise wird dem »Abbild Gottes« als erläuternde Parallele ausgerechnet das Paar »Mann und Frau« zugeordnet. Bedeutet das etwa, dass Gott selber geschlechtlich ist oder dass ihn eine göttliche Gefährtin begleitet, wie einige antike Religionen glaubten? Natürlich nicht, denn wir wissen, mit welcher Klarheit die Bibel diese unter den Kanaanäern im Heiligen Land verbreitete Glaubensvorstellung als götzendienerisch zurückwies. Die Transzendenz Gottes bleibt gewahrt; da er jedoch zugleich der Schöpfer ist, ist die Fruchtbarkeit des menschlichen Paares ein lebendiges und wirkungsvolles »Abbild«, ein sichtbares Zeichen des Schöpfungsaktes.

11Das liebende Paar, das Leben zeugt, ist das wahre, lebende ›Bildnis‹ (nicht jenes aus Stein und Gold, das der Dekalog verbietet), das imstande ist, den Gott, der Schöpfer und Erlöser ist, darzustellen. Daher wird die fruchtbare Liebe das Symbol der inneren Wirklichkeiten Gottes (vgl. Gen 1,28; 9,7; 17,2–5.16; 28,3; 35,11; 48,3–4). Darauf ist es zurückzuführen, dass die Erzählung der Genesis nach der sogenannten ›priesterschriftlichen Überlieferung‹ von verschiedenen Geschlechterfolgen durchzogen ist (vgl. 4,17–22.25–26; 5; 10; 11,10–32; 25,1–4.12–17.19–26; 36), denn die Zeugungsfähigkeit des menschlichen Paares ist der Weg, auf dem sich die Heilsgeschichte entwickelt. In diesem Licht wird die fruchtbare Beziehung des Paares ein Bild, um das Geheimnis Gottes zu entdecken und zu beschreiben, das grundlegend ist in der christlichen Sicht der Dreifaltigkeit, die in Gott den Vater, den Sohn und den Geist der Liebe betrachtet. Der dreieinige Gott ist Gemeinschaft der Liebe, und die Familie ist sein lebendiger Abglanz. Die Worte des heiligen Johannes Paul II. schenken uns Klärung. Er sagte, »unser Gott sei in seinem tiefsten Geheimnis nicht Einsamkeit, sondern Familie, weil er in sich selber Vaterschaft, Sohnschaft und Liebe, die das Wesentliche der Familie ist, darstellt. Diese Liebe innerhalb der Familie Gottes ist der Heilige Geist.«6 Die Familie ist also dem göttlichen Wesen selbst nicht fremd.7 Dieser trinitarische Aspekt des Paares wird in der paulinischen Theologie neu dargestellt, wenn der Apostel es mit dem »Geheimnis« der Bindung zwischen Christus und der Kirche in Beziehung bringt (vgl. Eph 5,21–33).

12Doch Jesus verweist uns in seiner Reflexion über die Ehe noch auf einen anderen Abschnitt aus dem Buch Genesis, auf das zweite Kapitel, wo ein wunderbares Bild des Paares mit leuchtenden Einzelheiten erscheint. Wir wählen nur zwei davon aus. Die erste ist die Unruhe des Mannes, der nach einer ›Hilfe‹ sucht, ›die ihm entspricht‹ (vgl. Verse 18.20), die fähig ist, die Einsamkeit aufzulösen, die ihn umtreibt und die durch die Nähe der Tiere und der gesamten Schöpfung nicht gemildert wird. Der originale hebräische Ausdruck verweist uns auf eine direkte, gleichsam ›frontale‹ Beziehung – Auge in Auge – in einem auch wortlosen Dialog, denn in der Liebe sind die Momente des Schweigens gewöhnlich beredter als die Worte. Es ist die Begegnung mit einem Gesicht, einem ›Du‹, das die göttliche Liebe widerspiegelt, das »den besten Gewinn« ausmacht, weil »eine Hilfe, die ihm entspricht, eine stützende Säule« für den Mann ist, wie ein weiser biblischer Autor sagt (Sir 36,29), beziehungsweise wie die Braut im Hohenlied in einem großartigen Bekenntnis der Liebe und der gegenseitigen Hingabe ausruft: »Der Geliebte ist mein, und ich bin sein […] Meinem Geliebten gehöre ich, und mir gehört der Geliebte« (2,16; 6,3).

13Aus dieser Begegnung, die der Einsamkeit abhilft, gehen die Zeugung und die Familie hervor. Das ist das zweite Detail, das wir herausstellen können: Adam, der gewissermaßen der Mann aller Zeiten und aller Regionen unseres Planeten ist, gründet gemeinsam mit seiner Frau eine neue Familie, wie Jesus mit einem Zitat aus dem Buch Genesis bekräftigt: »Darum wird der Mann […] sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein« (Mt 19,5; vgl. Gen 2,24). Das Verb ›sich binden‹ bezeichnet im hebräischen Original eine innige Übereinstimmung, ein physisches und inneres Sich-Anschließen, das so weit geht, dass es gebraucht wird, um die Vereinigung mit Gott zu beschreiben: »Meine Seele hängt an dir«, singt der Beter (Ps 63,9). So wird die eheliche Vereinigung nicht nur in ihrer geschlechtlichen und körperlichen Dimension angesprochen, sondern auch in ihrer freiwilligen liebenden Hingabe. Das Ergebnis dieser Vereinigung ist, »ein Fleisch« zu werden, sowohl in der physischen Umarmung als auch in der Vereinigung der Herzen und der Leben und vielleicht in dem Kind, das aus den beiden geboren wird und das in sich die beiden ›Fleische‹ tragen und sie nicht nur genetisch, sondern auch geistig vereinen wird.

Deine Kinder wie junge Ölbäume

14Nehmen wir den Gesang des Psalmisten wieder auf. Dort erscheinen, wo der Mann und die Frau am Tisch sitzen, die Kinder, die bei ihnen sind, »wie junge Ölbäume« (Ps 128,3), das heißt voller Energie und Vitalität. Wenn die Eltern wie die Fundamente des Hauses sind, dann sind die Kinder gleichsam die ›lebendigen Steine‹ der Familie (vgl. 1 Petr 2,5). Es ist bedeutsam, dass im Alten Testament das am zweithäufigsten erscheinende Wort nach dem für die Gottheit (YHWH, der ›Herr‹) das für Kind ist (ben), eine Vokabel, die auf das hebräische Wort banah verweist, das ›aufbauen‹ bedeutet. Deshalb wird im Psalm 127 die Gabe der Kinder mit Bildern gerühmt, die sich sowohl auf den Bau eines Hauses, als auch auf das soziale und kommerzielle Leben beziehen, das sich am Stadttor abspielte: »Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst, der daran baut […] Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk. Wie Pfeile in der Hand des Kriegers, so sind Söhne aus den Jahren der Jugend. Wohl dem Mann, der mit ihnen den Köcher gefüllt hat! Beim Rechtsstreit mit ihren Feinden scheitern sie nicht« (V. 1.3–5). Es ist wahr, dass diese Bilder die Kultur einer antiken Gesellschaft widerspiegeln, doch die Gegenwart der Kinder ist in jeder Hinsicht ein Zeichen der Fülle der Familie in der Kontinuität der Heilsgeschichte selbst, von Generation zu Generation.

15In diesem Licht können wir noch eine weitere Dimension der Familie aufnehmen. Wir wissen, dass im Neuen Testament von der Gemeinde die Rede ist, die sich im Haus versammelt (vgl. 1 Kor 16,19; Röm 16,5; Kol 4,15; Phlm 2). Der Lebensraum der Familie konnte sich in eine Hauskirche verwandeln, in einen Ort der Eucharistie, der Gegenwart Christi am selben Tisch. Unvergesslich ist die in der Offenbarung des Johannes dargestellte Szene: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir« (3,20). So wird ein Haus skizziert, das in seinem Innern die Gegenwart Gottes birgt, das gemeinsame Gebet und somit den Segen des Herrn. Das ist es, was in Psalm 128 bekräftigt wird, der uns als Grundlage dient: »So wird der Mann gesegnet, der den Herrn fürchtet und ehrt. Es segne dich der Herr vom Zion her« (V. 4–5).

16Die Bibel betrachtet die Familie auch als Ort der Katechese für die Kinder. Das scheint in der Beschreibung der Pascha-Feier auf (vgl. Ex 12,26–27; Dtn 6,20–25), und später wurde es in der jüdischen Haggadah verdeutlicht, das heißt in der dialogischen Erzählung, die den Ritus des Pascha-Mahles begleitet. Mehr noch rühmt ein Psalm die Verkündigung des Glaubens in der Familie: »Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten und die Stärke des Herrn, die Wunder, die er getan hat. Er stellte sein Gesetz auf in Jakob, gab in Israel Weisung und gebot unseren Vätern, ihre Kinder das alles zu lehren, damit das kommende Geschlecht davon erfahre, die Kinder späterer Zeiten; sie sollten aufstehen und es weitergeben an ihre Kinder« (Ps 78,3–6). Daher ist die Familie der Ort, wo die Eltern zu den ersten Glaubenslehrern ihrer Kinder werden. Es ist eine ›handwerkliche‹ Aufgabe, von Mensch zu Mensch: »Wenn dich morgen dein Sohn fragt […] dann sag ihm …« (Ex 13,14). So stimmten die verschiedenen Generationen ihren Gesang zum Herrn an: die jungen Männer und auch die Mädchen, die Alten mit den Jungen (vgl. Ps 148,12).

17Die Eltern haben die Pflicht, ihre Erziehungsaufgabe ernsthaft zu erfüllen, wie die biblischen Weisen immer wieder lehren (vgl. Spr 3,11–12; 6,20–22; 13,1; 22,15; 23,13–14; 29,17). Die Kinder sind aufgefordert, das Gebot: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« (Ex 20,12) anzunehmen und zu praktizieren, wobei das Wort ›ehren‹ die Erfüllung der familiären und sozialen Verpflichtungen in vollem Umfang bedeutet, ohne sie mit religiösen Entschuldigungen zu vernachlässigen (vgl. Mk 7,11–13). In der Tat: »Wer den Vater ehrt, erlangt Verzeihung der Sünden, und wer seine Mutter achtet, gleicht einem Menschen, der Schätze sammelt« (Sir 3,3–4).

18Das Evangelium erinnert uns auch daran, dass die Kinder kein Eigentum der Familie sind, sondern dass sie ihren eigenen Lebensweg vor sich haben. Wenn es stimmt, dass Jesus sich als Vorbild des Gehorsams gegenüber seinen irdischen Eltern zeigt und ihnen untertan ist (vgl. Lk 2,51), ist es auch sicher, dass Jesus zeigt, dass die Lebensentscheidung des Kindes und seine persönliche christliche Berufung eine Trennung verlangen können, um die eigene Hingabe an das Reich Gottes zu erfüllen (vgl. Mt 10,34–37; Lk 9,59–62). Mehr noch, er selbst antwortet im Alter von zwölf Jahren Maria und Josef, dass er eine andere, höhere Aufgabe erfüllen muss, jenseits seiner geschichtlichen Familie (vgl. Lk 2,48–50). Deshalb hebt er die Notwendigkeit anderer, sehr tiefer Bindungen auch innerhalb der familiären Beziehungen hervor: »Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln« (Lk 8,21). Andererseits geht Jesus in der Aufmerksamkeit, die er den Kindern widmet – die in der Gesellschaft des antiken Nahen Ostens als Subjekte ohne besondere Rechte und sogar als Objekte des Familienbesitzes betrachtet wurden –, so weit, sie den Erwachsenen geradezu als Lehrmeister vorzustellen wegen ihres einfachen und spontanen Vertrauens gegenüber den anderen: »Amen, das sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte« (Mt 18,3–4).

Ein blutbefleckter Weg des Leidens

19Die Idylle, die der Psalm 128 besingt, bestreitet nicht eine bittere Wirklichkeit, welche die ganze Heilige Schrift kennzeichnet. Es ist die Gegenwart des Schmerzes, des Bösen und der Gewalt, die das Leben der Familie und ihre innige Lebens- und Liebesgemeinschaft auseinanderbrechen lassen. Aus gutem Grund steht die Rede Christi über die Ehe (vgl. Mt 19,3–9) im Kontext eines Disputs über die Scheidung. Das Wort Gottes ist ständiger Zeuge dieser dunklen Dimension, die sich schon in den Anfängen auftut, als sich mit der Sünde die Beziehung der Liebe und der Reinheit zwischen Mann und Frau in eine Herrschaft verwandelt: »Du hast Verlangen nach deinem Mann, er aber wird über dich herrschen« (Gen 3,16).

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