Die geheime Bucht im Golf von Lerici - Regina König - E-Book

Die geheime Bucht im Golf von Lerici E-Book

Regina König

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Beschreibung

Kommen die salzigen Tränen eines Kindes oder Teenagers mit dem salzigen Meerwasser in Berührung, alarmiert das die Meerjungfrau Selina. Sie holt die Weinenden zu sich in eine magische Bucht hinter den Grotten der Insel Palmaria. In der Auszeit aus ihrem alltäglichen Leben können sie sich vielseitig ausprobieren und lernen neue Perspektiven kennen, mit denen sie hinterher in ihrer realen Welt besser zurechtzukommen. Sobald sie dafür bereit sind, bringt sie Selina sie mit wenigen Ausnahmen an Ort und Zeit zurück, an dem sie sie abgeholt hatte. Angesprochene Problematiken, die von verschiedenen Persönlichkeiten verkörpert werden, sind unter anderem extreme Schüchternheit, Essstörungen, Systemsprenger, Hochsensibilität, Mobbing, Flucht und Rassismus. Schöne gemeinsame Erlebnisse an diesem magischen Ort lockern den Text auf und lassen dem Leser Verschnaufpausen zwischen anstrengenden Dialogen. Die fünfzehnjährige Hanna zweifelt an ihrem Verstand, als sie im Urlaub mit ihrer Familie nach einem Streit alleine weinend schwimmen geht und auf die Nixe Selina trifft. Schließlich folgt sie ihr doch zur Insel in die magische Bucht, auf der die Zeit der Außenwelt scheinbar nicht weiterläuft. Sie trifft dort auf andere Jungen und Mädchen, denen es ähnlich geht wie ihr, obwohl sie doch auf den ersten Blick alle so verschieden sind. Dabei hat sie unerwartet auch noch jede Menge Spaß.

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Seitenzahl: 217

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Die geheime Bucht im Golf von Lerici

von Regina König

Buchbeschreibung:

Die fünfzehnjährige Hanna zweifelt an ihrem Verstand, als sie im Urlaub mit ihrer Familie nach einem Streit alleine weinend schwimmen geht und auf die Nixe Selina trifft. Schließlich folgt sie ihr doch zur Insel in die magische Bucht, auf der die Zeit der Außenwelt scheinbar nicht weiterläuft. Sie trifft dort auf andere Jungen und Mädchen, denen es ähnlich geht wie ihr, obwohl sie doch auf den ersten Blick alle so verschieden sind. Dabei hat sie unerwartet auch noch jede Menge Spaß.

Über die Autorin:

Regina König wurde 1974 geboren und lebte nach ihrem Studium der Germanistik, der Philologie und Philosophie über 10 Jahre in Italien, bevor die Familie sie wieder nach München lockte.

Die Liebe zu Italien ging ihr nie verloren.

Die geheime Bucht im Golf von Lerici

Regina König

Baltrum Verlag

Weststraße 5

67454 Haßloch

Impressum

© 2023 Baltrum Verlag GbR

BV 2342 - Die geheime Bucht im Golf von Lerici – Regina König

Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR

Cover: Baltrum Verlag

Cover-Foto: Regina König

Lektorat: Baltrum Verlag GbR

Korrektorat: Baltrum Verlag GbR, Dr. Hans-Jörg Springer

Herausgeber: Baltrum Verlag GbR

Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch

Druck: epubli

Internet: www.baltrum-verlag.de

E-Mail an [email protected]

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»Es muss etwas ungewöhnlich Heiliges im Salz sein: man findet es in unseren Tränen und im Meer.«

Khalil Gibran

01 – Hanna

Da stand sie nun allein bis zur Hüfte im Wasser.

Wieder einmal hatten sie es geschafft ihr zu zeigen, um wie viel witziger und schlauer ihr kleiner Bruder doch war. Und was er nicht alles besser konnte als sie. Geschickter war er auch noch. Sie müsste sich doch nur mehr anstrengen und solle nicht so empfindlich sein, hatten ihre Eltern beide lachend zu ihr gesagt. Na, wenigstens darin waren sie sich einig. Sonst nutzten sie jede Gelegenheit, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, und wegen jeder Kleinigkeit zu streiten. Nur wenn es darum ging, Hanna deutlich auf ihre Außenseiterrolle in der Familie hinzuweisen, dann waren sie sich immer einig.

Im Urlaub, in der ach so schönsten Zeit des Jahres, wenn die Familie mehr Zeit miteinander verbrachte, wurde das für Hanna besonders schlimm. Was für ein Glück war es doch, dass sie im Sommer wenigstens immer ans Meer fuhren. Dort ging sie einfach allein schwimmen und richtete ihren Blick über das weite Meer in die Ferne, wo sie bis zum Horizont nur Wasser sah. So konnte sie der Familie zumindest für einen begrenzten Zeitraum entkommen und sich eine kurze Auszeit nehmen.

Tränen rannen ihr die Wangen herunter. Und es wurden immer mehr. Hier konnte sie entspannen und alles laufen lassen. Niemand würde sie dabei sehen und ihr vorwerfen, sie sei zu sensibel und würde keinen Spaß verstehen.

Die Tränen liefen und liefen, erst über ihre Wangen und dann weiter den Körper entlang. Mit gesenktem Kopf stand sie da. Einige der Tränen fielen direkt ins Meer.

»Hanna?« Erschreckt wandte sie sich um. Dann drehte sie sich einmal ganz um sich selbst, konnte aber niemanden sehen. »Vielleicht haben sie ja recht und ich spinne wirklich?«, murmelte sie leise vor sich hin. »Nein, Hanna, du spinnst nicht«, hörte sie nun wieder diese sanfte, leise Frauenstimme sagen. Wieder sah sie sich um. »Hier bin ich.« Jetzt tauchte ein blasses, sehr freundlich wirkendes Gesicht neben ihr auf. Es war von langen türkisgrünen Haaren umrahmt, deren Farbe sich kaum vom Meer unterschied. Hanna erschrak. ›Doch, sie haben recht. Ich spinne wirklich‹, dachte sie bei sich, traute sich das aber nicht mehr auszusprechen. »Ich höre nicht nur seltsame Stimmen, ich sehe auch noch Fantasiewesen, die gar nicht existieren.«

Neben ihr spritzte es plötzlich, obwohl sich Hanna nicht bewegt hatte. »Doch, ich existiere und die haben gar nicht recht«, grinste die kleine Meerjungfrau. Und wieder spritzte sie Hanna mit ihrem Fischschwanz nass, der dieselbe Farbe hatte wie ihre Haare. »Und Gedanken lesen kannst du auch noch?«, flüsterte Hanna verwundert, nachdem sie sich umgesehen hatte. Sie wollte sicher sein, dass niemand in der Nähe war, der sie hören konnte. »Ein bisschen. Nur die, die mehr oder weniger an mich gerichtet sind«, bestätigte die sanfte Stimme und fuhr dann fort: »Aber ich kann noch viel mehr. Siehst du die kleine Insel da drüben? Schwimm mit mir dorthin und erzähle mir dann in aller Ruhe, warum du mich gerufen hast. Ich heiße Selina.«

Hanna beugte sich vor und spritzte sich Wasser ins Gesicht. »Das muss die Hitze sein. Das ist gleich wieder vorbei.« Selina lachte sie freundlich an: »Nein, in deinem Kopf ist alles in Ordnung. An der Hitze liegt es auch nicht. Du hast mich gerufen, und darum bin ich hier.« »Ja, aber wie soll ich dich denn gerufen haben, wenn ich doch gar nicht richtig glauben kann, dass es dich überhaupt gibt?«, wollte Hanna nun wissen. Jetzt ärgerte sie sich darüber, dass ihr Ton bei der Frage etwas ungehalten klang. »Na immer, wenn sich die salzigen Tränen von einem Jungen oder Mädchen mit dem salzigen Meerwasser vermischen, dann spüre ich das, egal wie weit entfernt es passiert. Und dann komme ich, um zu helfen. Ich habe mitgekriegt, was vorher am Strand passiert ist, und jetzt bin ich für dich da.« Das klang für Hanna schlüssig. Bis auf eine Kleinigkeit. »Wie kannst du wissen, was am Strand passiert ist, wenn ich dich mit den Tränen im Meerwasser doch erst viel später gerufen habe?« »Ach, das mit der Zeit? Das ist noch mal eine andere Sache. Das erkläre ich dir später«, erwiderte Selina. »Und warum soll ich dir dann auch noch erzählen, was passiert ist, wenn du doch sowieso schon alles weißt?«, fragte Hanna weiter, die immer noch Zweifel an ihrer Wahrnehmung hatte. »Weil es dich bedrückt und du das endlich loswerden musst. Und ich will dir in Ruhe zuhören. Jetzt komm schon!«, zwinkerte ihr Selina zu. Die Insel war nicht weit entfernt und sie konnte gut schwimmen. Warum auch nicht. Sie wollte das längt schon einmal machen, egal ob Selina wirklich existierte oder nur Einbildung war. Also nickte sie. Die kleine Nixe nahm sie sachte an der Hand und beide glitten zusammen fast lautlos durch das klare Wasser. Ab und zu deutete Selina dabei mit ihrem freien blassen Arm auf einen Seestern, Seeigel, Fische, Muscheln, Krebse oder Seepferdchen. Eigentlich schien es Hanna eher, als würde sie ihnen kaum sichtbar zuwinken.

02 – Die Insel

Als sie der Insel schon sehr nahe waren, hielt Selina inne. »Wir schwimmen jetzt dort hinüber«, erklärte sie Hanna, »und verstecken uns hinter dem Felsen, bis die Boote mit den Touristen wieder weg sind. Dann können wir durch die Grotte zum Strand.«

Etwas müde setzte sich Hanna auf einen Felsvorsprung, während Selina an einem Punkt im Wasser ausharrte, von dem sie die Grotte im Blick hatte. Als sich die bunten Boote endlich so weit entfernt hatten, dass die Menschen darauf Hanna nicht mehr sehen konnten, erschrak diese von einem lauten Geräusch. Es klang nach einer Mischung aus Quietschen und Kreischen. »Warst du das?« Sie sah sich nach Selina um. »Ja, schau mal wer da zu uns kommt! Du siehst müde aus. Deswegen habe ich Felix und Stella gerufen. Mit ihnen kommen wir schneller durch die Höhlen zum Strand und sie kennen sich dort bestens aus.« Noch bevor Hanna Fragen stellen konnte, kamen zwei übermütige Delfine auf sie zu geschwommen. »Ich sehe, Stella hat dich schon ausgesucht. Halte dich einfach an ihrer Rückenflosse fest. Wenn wir hinten am Ende der Grotten angelangt sind, tauchen sie mit uns kurz unter und bringen uns an den Strand hinter den Höhlen.« Vorsichtig streichelte Hanna die Delfindame am Kopf, schwamm dann über sie und hielt die Rückenflosse fest. Mit einem Ruck ging es los.

Schnell schwammen sie zu den Grotten, an deren Ende sie kurz abtauchten, wie Selina zuvor erklärt hatte. Doch nach ein paar Sekunden kamen sie wieder an die Wasseroberfläche. Hanna konnte kaum glauben, was sie nun sah. Hinter ihnen ragten Felsen in die Höhe, die links von ihnen schneller niedriger wurden als auf der rechten Seite. In einiger Entfernung lag ein flacher Sandstrand in der Sonne, an dem Kinder spielten. Auf der rechten Seite des Strands, auf der die Felsen noch etwas höher waren, befanden sich zwei kleine stufige Wasserfälle. Unter einem davon plätscherte das Wasser auf ein Mühlrad und unter dem anderen befanden sich Gumpen. Dort schwammen die beiden Delfine mit ihren Passagieren hin. Selina löste sich von Felix und schwamm allein weiter bis in die Gumpen unter den Wasserfall. Hanna folgte ihr und sah der kleinen Nixe zu, wie diese unter einem Wasserstrahl zu duschen schien. Mit großen Augen und offenem Mund beobachtete Hanna, was nun passierte. Umso länger die kleine Meerjungfrau unter dem Süßwasserstrahl stand, desto mehr verwandelte sie sich in einen Menschen. Das Wasser schien ihr die türkisblaue Farbe des Meeres aus den Haaren zu waschen, so dass diese nun blond waren. Die Haut bekam sommerliche Bräune und der Fischschwanz verwandelte sich in Beine. Ein knielanges Sommerkleid, das sie jetzt trug, war das Einzige an ihr, das die türkisblaue Farbe behalten hatte. Hanna starrte sie immer noch verblüfft an, rieb sich die Augen und schüttelte ein paarmal kräftig den Kopf. Doch als sie wieder aufsah, hatte sich das Bild nicht geändert. Selina winkte sie zu sich. »Jetzt komm! Ich zeige dir, wo du die nächste Zeit bleiben kannst. Außerdem brauchst du ein Handtuch und etwas zum Anziehen. Dann erkläre ich dir bei einer Limonade auf der Terrasse alles, was du hier wissen musst. Und danach bist du dran und erzählst mir in Ruhe, warum du hier bist.«

Wie ferngesteuert folgte ihr Hanna, ohne zu begreifen, was sich da gerade abspielte. Ein Weg ging an den Felsen entlang, von dem die Wasserfälle kamen. Auf der anderen Seite des Weges standen hohe Palmen und bunt blühende Büsche. Nach wenigen Metern lag eine große Wiese vor ihnen. Mitten darauf war ein riesiges Haus mit Tischen, Bänken und Stühlen davor, die unter einer großen weißen Markise standen. Eine Hollywoodschaukel gab es auch. Als sie ankamen, reichte ihr Selina ein Handtuch, das auf einem der Stühle lag. Dann deutete sie auf ein weißes Leinenkleid, das über der Rückenlehne hing. Mit den Worten: »Das müsste dir passen. Ich bin gleich wieder da«, verschwand sie im Haus. Kurz darauf kam sie mit einer großen Karaffe Limonade in der einen Hand und zwei Gläsern in der anderen Hand wieder heraus. Sie stellte alles auf dem Tischchen neben der Hollywoodschaukel ab, füllte die Gläser und deutete mit einer Kopfbewegung an, Hanna, solle sich ein Glas nehmen und sich mit ihr setzen.

»Jetzt erkläre ich dir erst mal, wo du hier bist und was hier passiert. Und dann will ich deine Geschichte hören«, begann Selina und hörte Hanna erleichtert aufatmen.

»Also, wie du schon weißt, spüre ich das, wenn ein Junge oder Mädchen so weint, dass die Tränen ins Meer fallen und sich ihr salziges Wasser mit dem des Meeres vermischt. Dann komme ich und hole euch ab, so wie ich es auch bei dir gemacht habe. Wenn die Entfernung besonders groß ist, kommen mir Felix und Stella zur Hilfe. Bei dir habe ich sie herbeigerufen, weil du etwas müde warst, und dass du sie kennenlernst. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass du Tieren mehr vertraust als Menschen oder Gestalten, die vor allem erwachsenen Menschen ähnlich sind.

Hier an diesen Ort kommt kein menschliches Wesen, das mich nicht gerufen hat. Jeder hier hat etwas zu lösen, das in der Hektik des Alltags zu schnell untergeht. Hier habt ihr Ruhe und Zeit, über alles nachzudenken und Lösungen zu finden.

Die einzige Hilfe, die ich euch dabei gebe, sind Fragen oder Denkanstöße, aber den Weg, den ihr gehen wollt, entscheidet ihr selbst.

Wenn ihr dann irgendwann das sichere Gefühl habt, allein in eurer Welt zurechtzukommen, dann bringe ich euch wieder zurück, und zwar genau an den Ort und an den Zeitpunkt, an dem ich euch abgeholt habe. Nur wenn es mir zwingend erforderlich scheint, kann ich mich mal ein bisschen verspäten.« Den letzten Satz sagte sie mit einem breiten Grinsen.

»Und was sind das für Ausnahmen?«, fragte Hanna vorsichtig nach.

»Siehst du die Zwillinge, die dort drüben auf der großen Luftmatratze im Schatten liegen?« Hanna nickte lautlos und Selina fuhr fort: »Das sind Tian und Lien. Sie sind von einer Segelyacht ins Wasser gefallen, während die Eltern nach dem Mittagessen im Schatten des Segels eingeschlummert waren. Bei ihnen wird die Zeit weiterlaufen bis sie um beide Kinder weinen.« »Was meinst du mit 'um beide Kinder weinen'?«, hakte Hanna nach. »Naja, erst einmal sollten sie überhaupt merken, dass die Kinder ins Wasser gefallen sind. Dann haben sie auch angefangen zu weinen, jeden Winkel ihres Boots durchsucht und mit ihren Taucherausrüstungen auch unter Wasser nach ihnen gesehen. Tränen sind geflossen, die mich alarmieren sollten, die beiden zu ihren Eltern zurückzubringen, aber bisher weinen sie nur um den Jungen. Erst wenn sie auch aus Angst um das Mädchen weinen, werde ich ihnen ihre Kinder zurückbringen. Ich will sie nicht damit bestrafen, aber sie müssen lernen, die Sache anders zu organisieren, ohne dass den Kindern etwas passieren kann. Und das Mädchen sollten sie genauso lieben und wertschätzen wie den Jungen. Ich bin mir fast sicher, dass ich zumindest das Mädchen hier nochmal wiedersehe, wenn die beiden ein bisschen älter sind. Den Kindern fehlen ihre Eltern in dieser Zeit hier nicht. Sie sind erschöpft und genießen die friedliche Ruhe nach der Aufregung, die sie heute hatten.«

»Du hast dauernd 'euch' und 'ihr' gesagt. Wen meintest du damit? Sind denn außer mir und den Zwillingen noch andere hier bei dir?«, fragte Hanna dazwischen.

»Ja, hier sind auch noch andere. Einige von ihnen hast du vorhin am Strand spielen sehen. Jetzt führe ich dich erst einmal hier herum und zeige dir das Haus und den Garten. Danach holen wir uns nochmal frische Limonade und du erzählst mir alles, was dich so bedrückt.«

Der Ort war wunderbar, fast wie ein kleines Paradies. »Oh ja, das ist es auch.«, stimmte Selina Hannas Gedanken zu. Zusammen gingen sie einmal um das Haus herum. Auf der linken Seite standen auf einer großen Wiese einige Obstbäume. Vor allem Feigen, Zitronen, Granatäpfel und Kaki wuchsen dort. Auf der Rückseite war ein großer Gemüsegarten angelegt, in dem aber auch ein paar Reihen Obst wie Johannisbeeren, Brombeeren, Erdbeeren und Melonen ihren Platz hatten. »Siehst du da hinten am Ende des Gartens die bunt bemalten Kästen?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Selina fort: »Das sind unsere Bienenstöcke. Jetzt ist es zu heiß, aber wenn dich das interessiert, kannst du morgen früh mitkommen und dir das ansehen. Hühner haben wir hier auch noch«, erklärte sie weiter als Hannas Blick auf eine kleine Holzhütte viel. An der Nordseite war ein Schwimmteich angelegt. Im tieferen Teil plantschten zwei Kleinkinder unter der Obhut eines größeren Mädchens. Wo das Wasser flacher war, wuchsen wunderschöne Lotusblumen und andere Wasserpflanzen.

»Von den Lotusblumen haben sich alle, die hierherkommen, etwas abzuschauen. Egal, ob Wasser oder Schmutz, es perlt alles ab, was auf diese Blätter fällt. All den Dreck, mit dem man dich in deinem Leben bewirft, sollst du genau so von dir abperlen lassen. Das ist aber nur eine der vielen Sachen, die du hier lernen wirst.« Dann waren sie auch schon wieder auf der Vorderseite des Hauses angekommen.

Von dort aus betraten sie das Haus, dessen schwere Holztüre weit offenstand.

Drinnen war es angenehm kühl. Eine Steintreppe in der Mitte führte nach oben. Rechts und links war jeweils eine geöffnete Tür. »Hier rechts ist unser Abstellraum und unsere Werkstatt.« Der riesige und durch die großen Fenster lichtdurchflutete Raum hatte an der Wand zum Treppenhaus einen Kamin. Im hinteren Teil standen Bienenkästen sowie alles mögliche Gerät für die Imkerei und die Gartenarbeit. Eine Glastür führte dort zu der Terrasse hinaus, hinter der die Gemüsebeete angelegt waren. Einige hüfthohe Regale und Schränke, die voller Werkzeug, Nähsachen, Malfarben und allem erdenklichen Bastelmaterial waren, teilten den Raum. Im vorderen Teil stand ein großer Tisch mit vielen Stühlen und auch eine Werkbank gab es dort. In einer Ecke befanden sich sogar ein kleines Schlagzeug und daneben ein Klavier.

»Hier kannst du dich kreativ ausprobieren, wann immer du Lust dazu hast.«, erklärte Selina lächelnd, als sie Hanna mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen dastehen sah.

Dann gingen sie in den gegenüberliegenden Raum im Erdgeschoss. Der war ebenso lichtdurchflutet, hatte den Kamin spiegelverkehrt an der gleichen Stelle und auch wieder eine Terrassentür, die zum Gemüsegarten hinausführte. Hüfthohe Schränkchen teilten auch diesen Raum, in dessen hinterem Teil die Küche war, wogegen im vorderen Teil eine gemütliche Eckbank mit einem großen Tisch und vielen Stühlen stand. Hanna strahlte. Irgendwie so hatte sie sich immer ihr Traumhaus vorgestellt.

Danach führte Selina sie noch die Steintreppe hinauf. Hier oben waren viele Türen. Die weiß gestrichenen führten offensichtlich in Badezimmer, wogegen die aus hellem Holz mit Namen beschriftet waren. Auch »Hanna« stand auf einer von ihnen. »Ist das meins, solange ich hier bin?« Sie sah Selina fragend an und drückte auf deren Nicken vorsichtig die Klinke herunter. In dem kleinen Zimmer mit hellblauen Wänden stand ein großes Bett mit einer flauschigen Decke, ein kleiner weißer Schrank und ein weißer Tisch mit einem dazu passenden weißen Stuhl davor. Hanna ließ sich auf das Bett plumpsen und schlief sofort ein.

Als sie wieder aufwachte, war das Licht, das durch die weißen Vorhänge am Fenster drang, schon etwas fahl. Verwirrt sah sie sich im Zimmer um. Wo war sie nur? War das mit der Nixe Selina doch kein Traum? Dann hörte sie Trubel durch ihre Zimmertür.

Jetzt war sie hellwach und vor allem neugierig und gespannt.

03 – Angekommen

Hanna stand auf. Vorsichtig öffnete sie ihre Zimmertür einen Spalt breit und lugte vorsichtig hinaus.

Sie sah, wie ein Junge und ein Mädchen, die nur wenige Jahre jünger sein mussten als sie, lachend das Treppengeländer herunterrutschten. Und kein Erwachsener war zu hören, der die beiden dafür rügte. Dann verschwanden sie in der Küche.

Langsam stieg auch Hanna ein paar Stufen hinab, doch ab der Hälfte rutschte auch sie über das Geländer. »Na, ausgeschlafen?«, begrüßte sie Selina, die gerade zur Haustür hereinkam. »Dann komm gleich mit in die Küche. Du kannst Teller und Gläser mit hinausnehmen. Ich habe schon die Tische zusammengeschoben und Ted macht gerade den Grill an. Der Abend ist so schön, dass wir draußen auf der Terrasse zu Abend essen.«

Hanna folgte Selina in die Küche. Dort herrschte geschäftiges Treiben. Die Kinder, die vor Hanna das Treppengeländer heruntergerutscht waren, brachten drei große Köpfe Salat durch die Terrassentür hinein. Andere saßen am Tisch und schnitten Tomaten, Zwiebeln, Zucchini und Auberginen, wieder andere richteten frisches Obst auf einer dreistöckigen Schale her. Ein größeres Mädchen oder eine junge Frau – Hanna konnte ihr Alter nicht einschätzen – mit etwas dunklerer Haut in einem Sari schien den Überblick über das Chaos zu behalten.

»Ich bin Manju«, stellte sie sich Hanna vor. »Als mein Mann gestorben ist, wollte man mich in meinem Dorf nicht mehr haben. Meine beiden Kinder, Priya und Liem, und ich standen am Meer und haben so geweint, dass uns Selina gerettet hat. Jetzt sind wir hier und ich lerne viel, bis wir am Festland ein eigenständiges Leben führen können. Hier sind Teller, Besteck und Gläser.« Bei den letzten Worten deutete sie auf zwei Schranktüren und eine Schublade. »Aber wie viele brauchen wir denn?«, wollte Hanna wissen. »Na, den ganzen Stapel, der hier steht. Es sind immer genau so viele da, wie gebraucht werden. Manche von uns bleiben nur kurz, und da wäre alles andere nur unnötig kompliziert«, antwortete ihr Manju mit einem freundlichen Lachen. »Hier scheint alles so einfach. Viel einfacher als im normalen Leben. Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich das alles hier nur träume«, murmelte Hanna und nahm den Stapel Teller aus dem Schrank. »Alle unnötigen Hindernisse werden einem hier wie von Zauberhand aus dem Weg geräumt«, bestätigte Manju, »aber nur die unnötigen. Unsere Kräfte brauchen wir hier, um andere Hindernisse zu überwinden. Aber jeder von uns weiß, warum er hier ist.« Bei diesen Worten streichelte sie Hanna liebevoll über den Kopf, diese zuckte automatisch zusammen, da ihr solche Gesten fremd geworden waren. An die erinnerte sie sich nur vage aus der frühen Kindheit, also um genau zu sein aus der Zeit, bevor ihr drei Jahre jüngerer Bruder geboren wurde. »Genau das meinte ich«, seufzte Manju, die Hannas Reaktion wie ein Erdbeben gespürt hatte. »Aber du wirst sehen, es wird alles gut.« Als sich Hanna eine Träne mit dem Handrücken aus dem Gesicht wischte, streichelte ihr Manju noch über die Schulter. Hanna hatte das Gefühl, dass sich eine kleine liebe alte Oma um sie kümmerte. ›Wie weise die noch so jung scheinende Manju doch war. So will ich auch werden‹, dachte Hanna bei sich.

Dann nahm sie den Stapel Teller aus dem Schränkchen, ging hinaus und stellte sie auf den zusammengeschobenen Tischen ab, die mit einer großen hellblauen Tischdecke bedeckt waren. Wieder ging sie hinein, holte mit Hilfe eines großen Tabletts auch noch Besteck und Gläser und verteilte sie an den Plätzen vor den Stühlen. Währenddessen saß ein sehr mageres Mädchen an einer Ecke des Tisches, und war konzentriert darauf, weiße Servietten zu Blumen zu falten.

Hanna atmete tief durch und sah sich um. Am Rand der Terrasse stand ein großer Junge, der seine langen glatten Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, vor dem Grill und legte den großen Rost über die inzwischen entstandene Glut. Zwei Jungen, die fast identisch aussahen, brachten ihm zwei Tabletts mit Fleisch und Gemüse und stellten sie auf dem runden Tischchen neben dem Grill ab. Die chinesischen Zwillinge und Manjus Kinder spielten Ball auf der saftigen grünen Wiese vor der Terrasse. Wieder andere brachten große Schüsseln mit Salat und Körbchen mit aufgeschnittenem Brot auf den Tisch.

Als Selina und Manju mit ein paar großen Karaffen Wasser und Limonade aus dem Haus heraus auf die Terrasse traten, kamen langsam alle an und setzten sich. Auch Ted, sah vom Grill auf und rief: »Hier ist auch fast alles fertig! Ihr könnt schon mit den Tellern kommen.«

Wenig später saßen alle zusammen und Hanna bekam endlich einen Überblick, mit wem sie die nächste Zeit hier verbringen würde. Einschließlich Selina, Manju mit ihren Kindern und der chinesischen Zwillinge waren sie siebzehn. Beim Essen redeten sie fröhlich wild durcheinander und erzählten sich, wie sie den Tag verbracht hatten. Selbst die Kleinsten versuchten sich einzubringen.

Hanna hielt sich dabei noch zurück. Von den vielen neuen Eindrücken war sie so überwältigt, dass sie erst einmal keinen Ton herausbrachte. Nach einer Weile stupste sie Selina, die neben ihr saß, vorsichtig an. »Warum können die denn alle meine Sprache?«, flüsterte sie ihr vorsichtig zu. »Das ist Lebab, also Babel rückwärts«, erklärte diese und fuhr auf Hannas verständnislosen Gesichtsausdruck fort: »Du kennst doch die Geschichte vom Turmbau zu Babel, oder? Hochmütige Menschen wollten einen hohen Turm bauen, um in den Himmel zu Gott zu gelangen, um mit ihm auf gleicher Höhe zu sein. Um das zu verhindern, ließ dieser die Menschen plötzlich in vielen unterschiedlichen Sprachen sprechen, so dass sie sich nicht mehr untereinander abstimmen und das gemeinsame Projekt fertigstellen konnten. Bei uns passiert jetzt dasselbe umgekehrt. Ihr hier seid besonders bescheidene Persönlichkeiten, die ihren eigenen Wert nicht richtig erkennen, sich über niemanden erheben wollen, sondern sich nur wünschen, dazuzugehören und akzeptiert zu werden. Dass es euch besser gelingt, euch untereinander auszutauschen, und euch damit gegenseitig ein bisschen zu helfen, ist es notwendig, dass ihr alle die gleiche Sprache sprecht.« Hanna zog die Augenbrauen hoch. »Und das funktioniert, obwohl ich nicht an Gott glaube?« Selina lächelte. »Ob man daran glaubt, tut hier nichts zur Sache. Man kann das mit den Sprachen auch wissenschaftlich erklären, aber das dauert länger und ist komplizierter. Das Prinzip ist durch die Erzählung, die jeder kennt, am einfachsten zu verstehen.«