Die geheime Zutat der Liebe - Rachel Linden - E-Book

Die geheime Zutat der Liebe E-Book

Rachel Linden

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Beschreibung

Manchmal muss man alles hinter sich lassen, um das wahre Glück zu finden Georgia liebt Essen über alles und hat sich ihren Traum, als Köchin in einem preisgekrönten Restaurant in Paris zu arbeiten, erfüllt. Als sie in derselben Nacht ihren langjährigen Freund mit einer anderen erwischt und ihren Job verliert, zerbricht ihre Welt. Da erhält Georgia die Einladung ihrer Mutter, sie auf einer kleinen idyllischen Insel in der Nähe von Seattle zu besuchen. Kurzentschlossen packt Georgia ihre Sachen, verlässt Frankreich und reist zu ihrer Mutter, die sie lange nicht gesehen hat. Inmitten von glitzerndem Wasser und frischer Meeresluft wartet nicht nur ein unglaubliches Familiengeheimnis, sondern Georgia erkennt auch, dass man manchmal erst all seine Pläne über Bord werfen muss, um das wahre Glück zu finden.

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Seitenzahl: 565

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Georgia liebt Essen über alles und hat sich ihren Traum, als Köchin in einem preisgekrönten Restaurant in Paris zu arbeiten, erfüllt. Als sie in derselben Nacht ihren langjährigen Freund mit einer anderen erwischt und ihren Job verliert, zerbricht ihre Welt. Da erhält Georgia die Einladung ihrer Mutter, sie auf einer kleinen idyllischen Insel in der Nähe von Seattle zu besuchen. Kurzentschlossen packt Georgia ihre Sachen, verlässt Frankreich und reist zu ihrer Mutter, die sie seit ihrer Kindheit nicht gesehen hat. Inmitten von glitzerndem Wasser und frischer Meeresluft wartet nicht nur ein unglaubliches Familiengeheimnis, sondern Georgia erkennt auch, dass man manchmal erst all seine Pläne über Bord werfen muss, um das wahre Glück zu finden.

Rachel Linden

Die geheime Zutat der Liebe

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Charlotte Lungstrass-Kapfer

 

 

 

Für meine Mutter Adelle – klein, aber mächtig. Ich danke dir für all deine Gebete und die vielen Schmorbraten.

1

Im Himmel duftete es nach geschmolzener Butter, da war sich Georgia May Jackson sicher. Und in ihren dreiunddreißig Lebensjahren war sie dem Himmel nie so nah gekommen wie in der emsigen Betriebsamkeit einer Pariser Küche an einem kühlen Abend Anfang April. Sie gönnte sich einen Rundumblick in der Küche des La Pomme d’Or, eines mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurants, in dem sie als Souschefin arbeitete. Mitten in dem hektischen Treiben sog sie für einen Moment das verlockende Aroma von in Butter bratendem Knoblauch in sich auf. Dabei versuchte sie, nach Möglichkeit die beiden Männer zu ignorieren, die sie von der Tür aus beobachteten. Ihre prüfenden Blicke zerrten an ihren Nerven. Von dem heutigen Abend hing so viel ab. Schnell wischte sie die schweißfeuchten Hände an ihrer weißen Kochjacke ab und bemühte sich, möglichst gelassen, selbstbewusst und konzentriert zu wirken. Schließlich war sie absolut bereit hierfür, nicht wahr? Ihr gesamtes Erwachsenenleben lang hatte sie auf genau diese Gelegenheit hingearbeitet.

»Komm schon, Georgia, du schaffst das«, raunte sie sich selbst zu. »Es ist ein Abend wie jeder andere auch.« Was für eine dicke, fette Lüge. Der heutige Abend konnte ihr gesamtes Leben verändern. Lief es gut, würde das ein für alle Mal beweisen, dass sie über ausreichend Wissen und Erfahrung verfügte, um hier in Paris ihre eigene Küche zu leiten. Davon träumte sie, seit sie zehn Jahre alt gewesen war, und nun war die Erfüllung dieses Wunschtraums zum Greifen nah. Sie musste nur noch beweisen, dass sie auch wirklich bereit war …

Wieder huschte Georgias Blick zur Küchentür, wo ihr Mentor, der berühmte Pariser Chefkoch Michel Laurent, mit Etienne Fontaine zusammenstand, dem Küchenchef des La Pomme d’Or. Beide hatten die Arme vor der Brust verschränkt und beobachteten sie aufmerksam. Michel nickte ihr verhalten zu und schenkte ihr ein höfliches Lächeln. Etienne hingegen – seit sechs Jahren ihr Boss und seit zwei Jahren ihr Freund – zwinkerte ihr fröhlich zu und grinste frech. Erleichtert atmete Georgia auf. Etienne wusste genau, wie wichtig diese Beurteilung für sie war. Er wäre sicher nicht so unbekümmert, wenn es nicht gut für sie liefe.

Plötzlich sah Georgia sich selbst als junges Mädchen vor dem alten Fernseher im Wohnzimmer der staubigen Ranch in Westtexas, wie sie gebannt die Wiederholungen von The French Chef in sich aufsog. Mit zehn hatte sie eigentlich nur aus knochigen Gliedmaßen und leuchtend roten, lockigen Zöpfen bestanden, doch in ihrem Innern hatten sich große Träume und Ziele verborgen – getrieben von dem Wunsch, ihren Wert unter Beweis zu stellen. Und dort, in dieser tristen Stube, hatte Georgia ihre Inspiration gefunden: Julia Child, die Ikone der französischen Kochkunst im Amerika der 1960er-Jahre. Julia war zu ihrer persönlichen Schutzheiligen in der Küche geworden. Damals sah sie ihr Tag für Tag dabei zu, wie sie beeindruckende flambierte Käsesoufflés oder jungen Truthahn zubereitete, und träumte davon, wie es wohl wäre, als Starköchin eine eigene Restaurantküche in Paris zu leiten. Genau wie Julia wollte sie sein, so unbeschwert und patent, die eigene Zukunft fest im Griff, die Würze des Lebens voll auskostend. Schon in diesem zarten Alter wollte sie ihrer Familie und der Welt dort draußen zeigen, dass sie gut genug dafür war und fähig, etwas Großes zu schaffen. Bedeutsam wollte sie sein, unbedingt. Dieser Drang hatte sie seitdem nie wieder losgelassen. Und wenn heute alles gut ging, würde sich ihr Traum endlich erfüllen.

Georgia atmete tief durch und schob eine unbändige rote Locke zurück unter ihre Barett-Kochmütze. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Zaghaftigkeit. Sie hatte zu lange und zu hart auf diesen Moment hingearbeitet. Aus alter Gewohnheit strich sie kurz mit den Fingerspitzen über den Anhänger, den sie an einer dünnen Goldkette um den Hals trug. Das vierblättrige Kleeblatt war aus grüner Emaille gearbeitet und nach vielen Jahren häufigen Reibens abgenutzt und sogar leicht angeschlagen. Eigentlich billiger Modeschmuck, war er doch Georgias kostbarster Besitz. Sie trug ihn schon, seit sie fünf Jahre alt war. Noch einmal rieb sie den Glücksbringer und schickte ein kurzes Gebet zu ihrer Ikone hinauf.

»Hilf mir, ihnen zu beweisen, dass ich es kann, Julia«, flüsterte sie. »Die jahrelange Arbeit und die vielen Opfer müssen sich endlich auszahlen.«

Nun war es an der Zeit.

»Alles bereit?«, rief sie auf Französisch. Das Küchenpersonal nickte.

»Oui, alles bereit«, bestätigte Beiköchin Celine knapp, ohne dabei von dem Seezungenfilet aufzublicken, das sie gerade von Gräten befreite.

»Bon.« Georgia begann einen langsamen Rundgang durch die Küche und kontrollierte die einzelnen Stationen. Jeder hier kam seinen Pflichten mit der Genauigkeit eines gut geölten Maschinenteils nach; das feine Schaben der Gemüse zerteilenden Messer vereinte sich mit dem Zischen und Blubbern der in Töpfen und Pfannen heranreifenden Köstlichkeiten.

Es war erst kurz nach sechs und damit für die Pariser noch längst nicht Essenszeit, doch die Tische im Gastraum füllten sich bereits mit Touristen, die üblicherweise früher speisten als die Einheimischen. Es versprach ein langer und arbeitsreicher Abend zu werden. Georgia nickte knapp – bisher lief alles wie am Schnürchen.

»Pardon, Georgia, könntest du diese Pistou probieren?« Der neue Hilfskoch Ismael tauchte neben ihr auf und streckte ihr einen Löffel voll leuchtend grüner Soße entgegen. »Cyril meint, sie wäre ungenießbar«, fügte er bedrückt hinzu.

Automatisch wanderte Georgias Blick zu dem großen, dunkelhäutigen Cyril, der an dem blitzblanken Gasherd hantierte. Der gebürtige Lyoner hatte schon gekocht, als sie noch nicht einmal geboren war. Und obwohl er durchaus talentiert war, behandelte er das übrige Küchenpersonal oft ziemlich grob, vor allem die jüngeren Hilfsköche. Georgia fand seine Gemeinheiten unerträglich und versuchte immer wieder, sie auszugleichen, indem sie seine Opfer besonders in ihrem Tun bestärkte.

»Ungenießbar also?« Sie nahm den Löffel entgegen. »Dann wollen wir doch mal kosten.«

Sie hob den Löffel an den Mund und probierte ein paar Tropfen. Einen Moment lang spürte sie ein nervöses Ziehen in der Magengrube. Würde es ihr diesmal gelingen, die Zutaten herauszuschmecken? Ihr eigentlich extrem ausgeprägter Geschmackssinn hatte sie in letzter Zeit unerklärlicherweise hin und wieder im Stich gelassen, ein ebenso rätselhaftes wie furchteinflößendes Phänomen.

Georgia konzentrierte sich. Knoblauch. Basilikum. Pistazien. Comté-Käse. Voller Erleichterung atmete sie auf. Ja, sie schmeckte alles. Eine frische, kräftige Soße voller Aromen, der eigentlich nur … das gewisse Etwas fehlte.

»Die ist gut«, versicherte sie Ismael, der wie ein eifriges Hündchen neben ihr stand. »Sie braucht nur noch ein wenig …« Noch einmal kostete Georgia die Pistou und ließ sämtliche Zutaten auf sich wirken: Hinten am Gaumen spürte sie das nussige Käsearoma, vorne an der Zungenspitze die Schärfe von rohem Knoblauch, grell und beißend wie Stahl auf dem Wetzstein. Hinzu kam das kräftige Umami der gerösteten Pistazien. Was fehlte? Sie schloss die Augen und blendete die Hektik der Küche aus, bis es nur noch die Aromen in ihrem Mund gab und die Gewissheit, dass diese Soße noch …

Entschlossen öffnete sie die Augen. »Ich hab’s!«

Sie gab zwei Prisen frisch gemahlenen schwarzen Pfeffer und einen Spritzer Zitronensaft hinzu und probierte noch einmal. Perfekt.

Ismael hatte sie nicht aus den Augen gelassen. »Wie machst du das?«, staunte er. »Woher weißt du so genau, was noch fehlt?«

Georgia zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich spüre es einfach.«

Schon immer hatte sie nach ihrem Bauchgefühl gekocht, was Etienne gerne zu dem Scherz verleitete, bei ihr sei die Kochkunst mehr Mystik als Wissenschaft, womit er im Prinzip gar nicht so falschlag. Nach dem Besuch einer Kochschule in den Vereinigten Staaten hatte sie zwölf unglaublich harte Jahre lang in verschiedenen Küchen in Paris gelernt. Heute arbeitete sie zwar tagtäglich mit den Techniken, die sie sich dabei angeeignet hatte, verließ sich in Bezug auf die Speisen aber hauptsächlich auf ihren sechsten Sinn, jene Intuition, die sie eigentlich niemals im Stich ließ. Zumindest bisher nicht … Hastig schob sie diesen Gedanken beiseite. Heute schien sie das Glück nicht verlassen zu haben, und das reichte ihr schon.

»Hier, probier mal.« Sie streckte Ismael einen frischen Löffel entgegen, auf dem ein paar leuchtend grüne Soßentropfen glänzten.

Er kostete und nickte dann. »C’est delicieux.« Köstlich.

»Sehr schön. Sag Cyril, dass die so rauskann.«

Nervös spähte Ismael zu Cyril hinüber. »Könntest du es ihm vielleicht sagen?«, fragte er schüchtern. »Mir wird er nicht glauben.« Seine Ohren liefen zartrosa an, und er starrte auf seine Küchenclogs. »Er hat mich als Dreck bezeichnet, der nur dazu taugt, den Mist zu entsorgen, den ich koche.«

»Das hat er gesagt?« Georgia war empört. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah kurz zu Michel und Etienne hinüber. Eigentlich wollte sie unschöne Szenen vermeiden, solange Michel anwesend war. Aber sie hatte jetzt die Leitung dieser Küche inne, deshalb konnte sie nicht tatenlos zusehen, wie Cyril seine Kollegen terrorisierte, auch nicht an einem so entscheidenden Abend. Also atmete sie einmal tief durch und ging zu Cyrils Station hinüber; er stand am Herd und briet eine Entenleber.

»Ich muss dich kurz sprechen, Cyril«, begann sie leise auf Französisch.

»Was ist denn?« Über den Herd hinweg starrte er sie herausfordernd an. Georgia wusste, dass er ihr die Beförderung zur Souschefin, durch die sie nun über ihm stand, übel nahm, auch wenn sie eindeutig die bessere Wahl gewesen war. Entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen, reckte sie das Kinn. Dieser Mann war muskelbepackt und mindestens einen Kopf größer als sie, aber das würde sich nicht verunsichern. Wenn sie eines nicht ausstehen konnte, dann waren es kleinliche Tyrannen. Und sie hatte schon früh gelernt, dass man im Umgang mit solchen Menschen am besten die Fäuste ballte und sich durchbiss. Auch wenn ein nervöser Ismael hinter einem herumspukte und am anderen Ende der Küche ein Michel stand, der alles mit nüchternem Interesse verfolgte. Georgia beugte sich so weit vor, dass sie die aufsteigende Hitze des Gasherds im Gesicht spürte und die feinen Schweißperlen auf Cyrils Oberlippe sah. Dann schluckte sie kurz und fauchte den Koch mit gedämpfter Stimme an: »Solltest du noch einmal einen deiner Kollegen als Dreck bezeichnen, wirst du die Reste von den Tellern kratzen und den Küchenmüll entsorgen, bis du zu einem verträglicheren Umgangston gefunden hast. Ist das klar?« Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte sie ihm direkt in die Augen. Dabei stieg ihr der reichhaltige, fettige Duft der bratenden Entenleber in die Nase. So hoch hatte sie noch nie gepokert. Was, wenn er sich ihr widersetzte und Michel das mitbekam? Was sollte sie dann tun? Nur mit Mühe gelang es ihr, nicht vor ihm zurückzuweichen. Nein, in dieser Küche war sie seine Vorgesetzte, und Etienne stand hinter ihr. Sicher würde Cyril nicht die grundlegende Küchenhierarchie infrage stellen. So etwas war undenkbar. Gehässig kniff er die Augen zusammen, während Georgia nicht einmal zu blinzeln wagte.

Der Augenblick zog sich in die Länge, dann aber gab sich Cyril geschlagen. Er warf Ismael einen giftigen Blick zu, bevor er sich wieder auf seine Pfanne konzentrierte und sie gekonnt schwenkte, um die Leber zu wenden. Seine Lippen verzogen sich zu einem abfälligen Lächeln, und er nickte kaum sichtbar. Dann wandte er sich ab und murmelte dabei einige derbe französische Schimpfwörter, die sicherlich gegen Georgia gerichtet waren. Sie tat so, als hätte sie nichts gehört. Wieder einmal wischte sie ihre feuchten Hände an ihrer Kochjacke ab, trat einen Schritt zurück und sammelte sich. Ihre Finger zitterten leicht.

»Vielen Dank«, flüsterte Ismael, als er mit der Pistou an ihr vorbeihuschte.

Georgia nickte und atmete einmal tief durch. »Gern geschehen.«

Dann nahm sie die Schultern zurück und zauberte ein selbstbewusstes Lächeln auf ihr Gesicht. Katastrophe im letzten Moment abgewendet, Ordnung in der Küche wiederhergestellt. Zu ihrer Erleichterung gesellte sich ein Gefühl von Dankbarkeit, da ihr Geschmackssinn an diesem Abend normal zu funktionieren schien. Zurzeit war das keine Selbstverständlichkeit. Während der letzten Monate war ihre Fähigkeit, einzelne Zutaten wie grellbunte Farben erkennen zu können, immer öfter ausgefallen und damit auch ihre Intuition, an der all ihr kreatives Können hing. Inzwischen kam und ging sie vollkommen unvorhersehbar. Manchmal lief viele Tage lang alles normal, und dann, ganz plötzlich, hatte sie den Geschmack von Muskat und Zimt auf der Zunge, wenn sie in eine rohe Knoblauchzehe biss. Hin und wieder schmeckte sie auch einfach überhaupt nichts, was noch viel beunruhigender war. Dann schob sie sich einen Löffel Kaviar oder ein saftiges Orangenfilet in den Mund, und anstelle von salzigen Meeresaromen oder süßsaurem Zitrusgeschmack blieb ihr Geschmackssinn so unbeeindruckt, als hätte sie einen Schluck Wasser getrunken oder einen Eiswürfel gekaut – vollkommene Leere, keinerlei Geschmacksnote.

In solchen Momenten packte sie die nackte Angst. Sie war bereits bei mehreren Ärzten gewesen, auch bei Spezialisten. Hatte eine Reihe von Tests über sich ergehen lassen. Kein Hirntumor, keinerlei Auffälligkeiten. Alle Ergebnisse sahen gut aus. Körperlich fehlte ihr also nichts, trotzdem wusste Georgia, dass irgendetwas nicht stimmte. Mit jedem Tag wurde ihre Sorge größer, in ihrem Brustkorb schien sich eine eiserne Faust zusammenzuballen. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr los war, versuchte aber verzweifelt, die Ursache ihres Problems zu erkennen, damit sie eine Lösung finden konnte. Schließlich hing ihr großer Lebenstraum davon ab.

2

Drei Stunden später war der Abendservice in vollem Gange. Sämtliche Tische waren belegt, in der Küche wurde präzise und effizient gearbeitet.

»Gib acht bei der Soßenmenge, Ismael«, warnte Georgia, während sie die braune Buttersoße von den hausgemachten Ravioli mit Speck, Ricotta und Hühnchen kratzte. »Lass die Pasta erstrahlen.«

»Jawohl, Chef. Natürlich.« Ismael nickte ergeben. Schnell schob Georgia ein freundliches Lächeln hinterher, um der Kritik die Spitze zu nehmen.

Michel war vor einiger Zeit gegangen, wann genau, wusste Georgia nicht. Irgendwann hatte sie hochgeblickt, und er war weg gewesen. Etienne war ebenfalls verschwunden und hatte dabei etwas von einem schnellen Gespräch mit Manon gemurmelt, der neuen Konditorin. Da er bislang nicht zurückgekehrt war, hatte Georgia weiterhin die Aufsicht über die Küche inne. Alles in allem war sie zufrieden mit dem, was Michel hier gesehen hatte. Sie hatte die Küche mit Haltung und Selbstvertrauen geleitet. Selbst den unangenehmen Zwischenfall mit Cyril hatte sie schnell ausgebügelt.

Plötzlich stürmte Damien, der Oberkellner des La Pomme d’Or, in die Küche. »Notfall!«, rief er atemlos.

»Wie bitte?« Überrascht blickte Georgia hoch. »Was ist denn los?«

Mit kaum verhüllter Panik im Blick erklärte Damien: »Antoine Dupont.« Aufgebracht zeigte er Richtung Gastraum. »Er ist hier. Heute. Jetzt. Amelie bringt ihn gerade zu seinem Tisch!«

»Antoine Dupont? Bist du sicher?« Den benutzten Löffel noch in der Hand, erstarrte Georgia. Alle hielten inne und warteten mit angehaltenem Atem auf Damiens Antwort.

»Absolut.« Damien rang die Hände. »Natürlich versucht er, sich mit einem falschen Schnurrbart zu tarnen, aber der Mann ist rund wie ein Weinfass. Und dann noch diese Nase! Ich bin mir sicher, dass er es ist. Und Amelie stimmt mir zu.«

»Merde«, fluchte Georgia leise auf Französisch und sah sich suchend um. Wo blieb Etienne nur so lange? Und wo steckte er überhaupt? Der Starkoch des La Pomme d’Or musste erfahren, dass in diesem Moment der berühmteste Restaurantkritiker von ganz Paris in seinem Gastraum saß. Eine schlechte Kritik von Dupont bedeutete immer Schwierigkeiten; missfiel ihm ein Restaurant, halfen auch keine Michelin-Sterne mehr. In der Pariser Restaurantszene war Duponts Wort heiliges Gesetz, und er war berüchtigt für seine extrem hohen Ansprüche.

Dummerweise war Etienne nirgendwo zu sehen.

»Okay.« Georgia wandte sich an die Küchenmannschaft, die auf Anweisungen wartete. Obwohl ihr Herz wild raste, gab sie sich gelassen und stark. »Dass heute Antoine Dupont zu unseren Gästen zählt, ändert rein gar nichts«, betonte sie. »Wir werden das tun, was wir jeden Abend tun: unseren Gästen köstliches Essen servieren. Macht euch keine Gedanken um Antoine Dupont. Wenn jeder von uns einen ordentlichen Job macht, wird alles gut gehen. Wir schaffen das.« Entschlossen klatschte sie in die Hände. »Zurück an die Arbeit!«

Sofort geriet die Crew wieder in Bewegung und arbeitete geordnet weiter, doch die mühsam unterdrückte Panik war deutlich zu spüren. Da für den Augenblick alles unter Kontrolle war, machte sich Georgia schnell auf die Suche nach Etienne. Er musste erfahren, dass Dupont im Restaurant war. In einem so entscheidenden Moment war es keine Frage, dass er selbst die Leitung seiner Küche übernahm. Etienne war ein brillanter Koch, als Vorgesetzter aber manchmal schwierig. Und eigentlich auch als Partner. Dank seiner sinnlichen Lippen und der leidenschaftlichen dunklen Augen war ihr umwerfend aussehender Vorgesetzter gerade erst zum Sexiest Chef von Paris gewählt worden, was wohl niemand anzweifelte. Doch er neigte zu extremen Stimmungsschwankungen und konnte sehr fordernd sein. Heute war er nicht zum ersten Mal während des stressigen Abendservices verschwunden, allerdings war das noch nie vorgekommen, während ein bekannter Restaurantkritiker im Gastraum auf sein Essen wartete. Dadurch stand einiges mehr auf dem Spiel.

Cyril blickte von seiner Arbeit auf, als Georgia an ihm vorbeilief.

»Bist wohl auf der Suche nach deinem Lover?«, fragte er mit einer gewissen Schadenfreude.

Georgia zögerte kurz, nickte dann aber.

»Versuch’s mal im Kühlraum. Da ist er in letzter Zeit angeblich öfter«, schlug Cyril vor. In seinem Blick lag nicht ein Hauch von Wärme.

Verwirrt runzelte Georgia die Stirn, und ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Warum in aller Welt sollte Etienne sich im Kühlraum aufhalten? Trotzdem ging sie den kurzen Gang hinunter, an dessen Ende der Kühlraum des Restaurants lag. Schon während sie sich näherte, hörte sie ein merkwürdiges rhythmisches Rumpeln. Als sie den Türgriff packen wollte, stellte sie fest, dass die schwere Metalltür nur angelehnt war. Merkwürdig. Mit einem Ruck riss sie die Tür auf.

»Was zum …?«

Der Anblick im Inneren des Kühlraums machte sie sprachlos.

Zwischen Käselaiben und von der Decke herabhängenden Schinken presste sich Manon, die neue Konditorin, mit dem Rücken gegen ein Regal voller Butter. Ihre Bluse war bis zum Nabel aufgeknöpft. Und zwischen ihren milchweißen Schenkeln machte sich Etienne zu schaffen. Mit geschlossenen Augen presste er die Lippen auf ihren Hals. Manon stieß einen schrillen Schrei aus, der Etienne aufblicken ließ. Als er Georgia entdeckte, riss er entsetzt die Augen auf.

»Georgie …« Sein Kosename für sie. Taumelnd sprang er zurück und fummelte an seinem Hosenschlitz herum, gleichzeitig streckte er die Hand aus, als wollte er sie aufhalten.

Halb lachend, halb fluchend knöpfte Manon sich die Bluse zu. »Ich habe dir ja gesagt, dass uns hier irgendwann jemand erwischen wird«, rügte sie ihn.

Georgia knallte die Kühlraumtür zu und lehnte sich zitternd von außen dagegen. Einen Moment lang starrte sie benommen an die Decke. In ihrem Kopf begann es zu summen, als wäre ein ganzer Bienenschwarm darin gefangen. Sie wurde dieses Bild nicht mehr los: Manon und Etienne. Seine Lippen an ihrem Hals, ihre straffen Schenkel fest um seine Hüften geschlungen, beide in inniger Umarmung. Hilflos drückte sie eine Hand an die Brust, auf die Stelle, wo sich die stählerne Faust krümmte. Wie ein spitzes Schälmesser bohrte sich der Schmerz tief in ihr Herz.

»Ach, Etienne«, hauchte sie atemlos. »Was hast du getan?«

Aus dem Kühlraum ertönte nun ein lautes Hämmern, Fäuste schlugen von innen gegen die Metalltür. Flehend rief Etienne in seinem schleppenden Englisch: »Mach die Tür auf, Georgie. Ich kann das erklären.«

Aber Georgia machte die Tür nicht auf. Im Moment schaffte sie es nicht einmal, Luft zu holen. Sie glaubte, an diesem Verrat ersticken zu müssen. Sechs Jahre hatte sie in diesem Restaurant gearbeitet. Während der letzten zwei waren Etienne und sie ein Paar gewesen, hatten Wohnung und Bett geteilt, ein gemeinsames Leben gehabt. Fast jede wache Minute hatten sie zusammen verbracht. Das hier war ihre ganze Welt. Und auf einen Schlag hatte Etienne das alles zerstört.

Mit schleppenden Schritten kehrte sie in die betriebsame Küche zurück. In der Tür blieb sie stehen und musterte beinahe verwundert das hektische Treiben. Als dem Team ihre bedenkliche Reglosigkeit auffiel, verstummten nach und nach alle Stimmen. Cyrils Hand verharrte reglos an der Pfanne, in der er gerade ein Seezungenfilet in Butter und Knoblauch anbriet. Celine ließ das Messer ruhen, mit dem sie frischen Thymian hackte. Alle Blicke richteten sich auf Georgia. Die plötzliche Stille sorgte dafür, dass die gedämpften Flüche von Etienne und Manon im Kühlraum hörbar wurden; brüllend verlangten sie, endlich rausgelassen zu werden.

»Bitte lass es mich erklären, Georgie«, bettelte Etienne. »Es ist nicht das, was du denkst.«

Georgia registrierte den kurzen Seitenblick, den Celine in Cyrils Richtung schickte; der wiederum hatte grinsend die Arme vor der Brust verschränkt. Ismael starrte angestrengt auf seine Füße. Sie hatten es alle gewusst, erkannte sie mit eisiger Klarheit. Das mit Manon und Etienne kam für sie nicht überraschend. Nur Georgia selbst hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt.

»Ihr habt es gewusst?«, presste sie kaum hörbar heraus. Erbärmlich leise klang das, klein und schwach, von ihrer üblichen Selbstsicherheit war nichts geblieben. Georgia räusperte sich und wiederholte deutlich lauter: »Ihr habt es alle gewusst?«

Celine schenkte ihr einen traurigen Blick und nickte. Mehr Bestätigung brauchte Georgia nicht.

In diesem Moment platzte Damien ungebremst herein und rief auf Französisch: »Ist die Seezunge Meunière schon fertig? Wir dürfen Monsieur Dupont nicht warten lassen!«

»Merde!«, fluchte Cyril. »Ich habe die Seezunge ruiniert. Die ist jetzt knochentrocken.« Hastig zog er die Pfanne von der Flamme, in der in einem Bett aus schwarzen Bröckchen der traurig geschrumpfte Fisch lag. Von dem ruinierten Filet stieg ein unangenehmer Geruch nach verbrannter Butter auf. »Ich mache schnell eine neue.«

»Nein.« Brennend heißer Zorn ließ Georgia aufschreien. Sie lief zum Herd, schnappte sich einen sauberen Teller und ließ den völlig übergarten Fisch aus der Pfanne gleiten. »Ich werde ihn servieren.«

Diese Entscheidung sollte sie später noch bitter bereuen, aber in diesem Moment wurde sie von Schmerz und Demütigung getrieben. Etienne hatte sie zutiefst verletzt, nun wollte sie ihm einen ebenso bitteren Schlag versetzen.

Cyril versuchte, ihr den Teller zu entreißen. »Das kannst du nicht machen«, knurrte er, während er an dem Porzellanrand zog. »Du kannst Monsieur Dupont nicht so etwas vorsetzen. Das ist ungenießbar. Dafür wird er uns eine schlechte Kritik verpassen.«

Doch Georgia verschwendete keinen Gedanken an die möglichen Folgen ihrer übereilten Entscheidung. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter siebenundsechzig auf und starrte Cyril herausfordernd an. »Es hat eben Konsequenzen, wenn der Küchenchef so sehr damit beschäftigt ist, am Butterregal seine Konditorin zu vögeln, dass er die Aufsicht über seine Küche vernachlässigt«, erwiderte sie wütend. »Und jetzt lass mich.«

Sie entriss ihm den Teller und marschierte damit in den Gastraum hinaus, bevor sie jemand aufhalten konnte. Hoch erhobenen Hauptes trat sie durch die Tür und sah sich um; Antoine Dupont war leicht zu erkennen. Er saß ganz hinten an einem Ecktisch und hob gerade sein Weinglas an die Lippen. Der falsche Schnurrbart sah einfach nur lächerlich aus. Sie baute sich vor seinem Tisch auf, atmete noch einmal tief durch und stellte dann den Teller mit der angebrannten Seezunge Meunière vor ihm ab. Der Restaurantkritiker warf einen kurzen Blick auf das Gericht und sah indigniert zu Georgia hoch.

»Was soll das sein?«, fragte er auf Französisch.

»Ein Gruß des Küchenchefs«, antwortete sie knapp, drehte sich um und verschwand wieder in der Küche. Ihr Herz raste.

Als sie durch die Tür trat, wurde sie von einer in ungläubigem Entsetzen erstarrten Küchenmannschaft empfangen. Während Georgia sie alle der Reihe nach musterte, flammte in ihrer Brust der Schmerz auf. Diese Menschen waren ihre Freunde, ihre Welt, sie kamen hier in Paris einer Familie am nächsten. Und sie alle hatten sie hintergangen. Wieder drückte sie eine Hand an die Brust, um den Druck zu lindern. Nur wenige Minuten waren vergangen, und doch war ihre gesamte Welt in dieser kurzen Zeit in sich zusammengebrochen. Wie sollte sie jemals wieder in dieser Küche arbeiten? Unter Etiennes Führung? Nachdem ihr nun klar war, dass alle hier von Etiennes Untreue gewusst und ihr dennoch nichts gesagt hatten, konnte sie doch keinem von ihnen mehr ins Gesicht sehen! Das Ausmaß von Etiennes Verrat – und dem aller anderen – raubte ihr den Atem. Keine Sekunde länger konnte sie hierbleiben.

Und so hatte sie von einem Moment auf den anderen nicht nur ihre Zukunftschancen, sondern auch ihren Platz in dieser Küche verloren. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber Georgia blinzelte sie verbissen fort. Ganz sicher würde sie nicht hier vor diesen Menschen zusammenbrechen. Später ja, aber jetzt musste sie sich das letzte bisschen Würde bewahren, das ihr noch geblieben war.

Das Trommeln und Brüllen aus dem Kühlraum hatte seinen Höhepunkt erreicht. Georgia bemerkte, wie Celine besorgt Richtung Flur schaute. Vermutlich wurde es dort drin inzwischen ziemlich kalt. Vor allem für Manon mit ihrem kurzen Röckchen.

»Jemand sollte sie rauslassen«, schlug Georgia resigniert vor. Dann reckte sie das Kinn und sah sich noch einmal in der Küche um. »Und richtet Etienne von mir aus, dass ich kündige.« Damit holte sie ihre Tasche und ihre Messer und verließ die niedergebrannte Ruine, zu der dieses Leben soeben geworden war.

3

Noch immer vollkommen geschockt, wanderte Georgia durch die schmalen Gassen des berühmten Quartier Latin, ihre Kochmesser fest an die Brust gedrückt.

»Was habe ich bloß getan?«, stöhnte sie ungläubig. Wie konnte es sein, dass ihr gesamtes Leben durch das Öffnen einer Kühlraumtür zerstört worden war – innerhalb eines Atemzuges? Sie kam an einem Café vorbei, vor dem mehrere kleine Tische standen. Einer davon war frei, und so ließ sich Georgia benommen auf einen Stuhl fallen. Wenig später erschien ein Kellner. Er warf nur einen kurzen Blick auf sie, verschwand wieder und kehrte mit einem Glas Pastis de Marseille zurück, das er direkt vor ihr abstellte. »Für Sie, Madame, geht aufs Haus.«

»Merci.« Georgia war ihm aufrichtig dankbar. Sie schüttete etwas Wasser aus der bereitgestellten Karaffe in das Glas und gönnte sich dann einen großen Schluck von dem Aperitif. Der starke Alkohol brachte sie wieder ein wenig ins Lot, sodass sie zitternd durchatmen konnte. Es war ein schwülwarmer Abend, und die Mischung aus Abgasen, Essensduft und staubigem Asphalt verdichtete sich zu einem Geruch, den Georgia wohl immer mit Paris in Verbindung bringen würde. Hinter ihr ließen sich die Restaurantgäste ihr Essen und ihre Drinks schmecken, aus dem Gastraum drangen Licht, Musik und fröhliche Stimmen auf die Straße hinaus. Auch an den Tischen ringsum wurde angestoßen und gelacht. Diese Menschen erfreuten sich an dem schönen Abend und an der Stadt des Lichts, nur Georgia schien von all dem abgeschnitten zu sein. Sie begann zu zittern.

Als ihr Telefon summte, warf sie einen prüfenden Blick auf das Display. Etienne. Sie drückte den Anruf weg. Sofort rief er wieder an. Diesmal ließ Georgia den Anruf auf die Mailbox gehen und schob das Telefon in die geräumige Tasche ihrer Kochjacke. Ihn konnte sie jetzt ganz bestimmt nicht ertragen. Sie wollte seine Ausreden und Rechtfertigungen nicht hören, geschweige denn eine Entschuldigung. Nichts von alledem konnte ungeschehen machen, was sie in diesem Kühlraum gesehen hatte. Nichts von alledem konnte ungeschehen machen, was er – und auch sie selbst – gerade getan hatte.

Mit einem tiefen Seufzer zog sie die Barett-Kochmütze vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Locken. Was sollte sie jetzt tun?

Instinktiv wanderten ihre Finger zu dem vierblättrigen Kleeblatt an ihrem Hals, und sie strich über die winzigen Blättchen. Vor langer Zeit hatte ihre Mutter ihr erklärt, sie stünden für Glaube, Hoffnung, Liebe und Glück.

»Das sind die vier Grundzutaten im Rezept für ein Leben voller Magie, Georgia May«, hatte ihre Mutter ihr versichert. Im Moment hatte Georgia allerdings von allen vieren ziemlich wenig auf Lager. Und hatte sie alle bitter nötig. Sie schluckte krampfhaft, dann versuchte sie, ihr Gehirn in den Problemlösungsmodus zu zwingen. Doch vor ihrem inneren Auge erschienen immer wieder Etiennes entrückte Miene, die dunklen Strähnen in seiner Stirn, Manons cremeweiße Brüste. Mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte sie, dieses Bild zu vertreiben. Es tat einfach zu weh, sich mit seinem Verrat zu beschäftigen.

»Was soll ich tun, Julia?«, flüsterte sie. Schon mehr als einmal hatte Georgia Lösungen gefunden, indem sie sich die einfache Frage stellte: Was würde Julia Child in dieser Situation tun? Sie stellte sich vor, wie ihr Vorbild mit dem treuen Hackbeil Rindfleisch zurechtschnitt, voll pragmatischer Zuversicht, ganz die zupackende Amerikanerin.

»Ich halte es für äußerst wichtig, dass jede Frau ihren eigenen Gasbrenner hat«, teilte sie Georgia im Plauderton mit.

Georgia seufzte wieder. Von dieser Seite war also keine Hilfe zu erwarten. Sie nippte noch einmal an ihrem Pastis. Langsam wurde es spät, aber sie konnte ja schlecht in die Wohnung zurückkehren, die sie sich mit Etienne teilte. Heute ging das auf gar keinen Fall, das lag ja wohl auf der Hand. Vor allem war es eigentlich seine Wohnung, schon seit Generationen im Besitz der Familie. Während sie nun da saß, wurde ihr langsam klar, dass sie nicht mehr dort wohnen konnte. So war sie also innerhalb eines Abends nicht nur ihren Job und ihren Freund losgeworden, sondern auch noch ihr Zuhause.

Erschüttert fischte sie ihr Handy aus der Tasche. Dabei fiel etwas Zartes, Grünes heraus und landete auf dem Asphalt. Verwirrt hob Georgia das kleine Ding auf und musterte es. Ein vierblättriges Kleeblatt. Wie in aller Welt war das in ihre Tasche gekommen? Inzwischen lebte sie seit über zehn Jahren in Paris und hatte hier noch kein einziges vierblättriges Kleeblatt gesehen. Verwundert betrachtete sie die kleinen, gerundeten Blättchen, dann ließ sie es wieder in ihre Tasche fallen. Äußerst merkwürdig.

Nachdem sie sich noch einen Schluck zur Stärkung gegönnt hatte, ging sie ihre Kontakte durch. Wen konnte sie um diese Zeit anrufen? Fast alle in ihrem Freundeskreis standen irgendwie mit Etienne oder dem Restaurant in Verbindung. Von denen konnte sie niemanden um Hilfe bitten, aber zumindest für heute Nacht brauchte sie dringend einen Unterschlupf. Nach kurzem Nachdenken hatte sie eine Idee: Phoebe. Aber natürlich, immerhin war sie ihre engste, nicht mit der Arbeit verbundene Freundin in Paris. Schnell rief sie Phoebe an, ohne sie allerdings zu erreichen, und die Mailbox war wie immer übervoll, sodass sie aus der Leitung flog. Also versuchte Georgia es gleich noch einmal.

»Komm schon, Phoebs, geh ran«, flüsterte sie verzweifelt. Ein Klicken, dann …

»Georgia May!«, begrüßte sie eine offenbar angetrunkene, lautstarke Stimme mit britischem Akzent. Georgia zuckte zusammen und hielt das Telefon ein Stück von ihrem Ohr entfernt.

»Hi, Phoebe.«

Sie hatten sich vor Jahren in einem Sprachkurs kennengelernt und bei ihrem gemeinsamen Kampf mit den Tücken der französischen Sprache schnell Freundschaft geschlossen. Die ursprünglich aus Liverpool stammende Phoebe arbeitete für ein Mode-Marketingunternehmen hier in Paris und bewohnte ein wundervolles, übertrieben teures Apartment im schicken Viertel Le Marais im dritten Arrondissement. An Georgias freien Tagen trafen sie sich oft, um sich bei zu viel gutem Wein über ihre Arbeit auszutauschen. Phoebe hatte einen herausragenden Weingeschmack. Eigentlich hatte sie in allen Dingen einen herausragenden Geschmack.

»Wie geht es dir, Babe?«, kreischte Phoebe nun. Im Hintergrund wummerte grauenvolle elektronische Musik, sodass Georgia sie über den stampfenden Bass hinweg kaum hören konnte.

»Wo bist du?«, schrie sie ins Telefon, um den Lärm zu übertönen.

»Metro Oberkampf, im Panic Room, mit ein paar Mädels von der Arbeit«, gab Phoebe ebenso laut zurück. »Die polnischen Models wollten das Pariser Nachtleben kennenlernen. Und ich Glückspilz darf die Touristenführerin spielen.«

Bei der Vorstellung, wie Phoebe den Rest der Nacht in einem Club feierte, verließ Georgia der Mut.

»Warte kurz, ich gehe aufs Klo, da höre ich dich besser«, brüllte Phoebe. Kurz darauf reduzierte sich die Hintergrundmusik auf ein dumpfes Wummern. »Schon besser«, verkündete Phoebe, nun in normaler Gesprächslautstärke. »Was ist los?« Plötzlich klang sie etwas nüchterner.

Georgia holte tief Luft. Eigentlich war sie es nicht gewohnt, andere um Hilfe zu bitten, sie verließ sich lieber auf ihre eigene Kraft und Entschlossenheit, aber heute wurde ihr einfach alles zu viel. Jetzt brauchte sie dringend eine Freundin.

»Ich stecke in der Scheiße«, gab sie deshalb unverblümt zu. »Und ich brauche deine Hilfe, Phoebs.«

 

Eine halbe Stunde später trafen sich die beiden in dem prunkvollen Treppenhaus von Phoebes Wohnhaus. Für den Ausflug in den Club hatte sich Phoebe in einen weißen Lederminirock geschmissen, der an ihr tatsächlich gut aussah, und stöckelte auf einem sensationellen Paar nietenbesetzter schwarzer Ankle Boots von Louboutin heran. Das hellblonde Haar fiel ihr offen über den Rücken. Sofort zog sie Georgia in eine feste Umarmung, die sie in eine Wolke aus Wodkadunst und Mitgefühl hüllte.

»Ich habe zwar keine Ahnung, was eigentlich los ist, aber bestimmt wird alles wieder gut«, flüsterte Phoebe Georgia etwas zu laut ins Ohr. »Also, warum hast du dich mit Messern ausgerüstet?« Sie trat einen Schritt zurück und musterte vorsichtig Georgias Messerset. Mit großen Augen verkündete sie dann: »Ich denke, wir brauchen Wein.«

Sie schloss die Wohnungstür auf und signalisierte Georgia, schon mal ins Wohnzimmer zu gehen, während sie selbst in der Küche verschwand, um wenig später mit einer gekühlten und nicht gerade billigen Flasche Vouvray wieder aufzutauchen. Nachdem sie ihnen beiden großzügig eingeschenkt hatte, ließ sie sich neben Georgia auf das mit Samt bezogene Sofa fallen, streifte die Nietenstiefeletten von den Füßen und rollte sich wie eine Katze zusammen.

»Okay, ich will alles wissen«, drängte sie.

Georgia wappnete sich mit einem großen Schluck Wein und berichtete dann sämtliche Einzelheiten dieses grauenvollen Abends – von Etienne und Manon im Kühlraum bis zu ihrer Racheaktion mit dem verbrannten Fisch und Antoine Dupont. Als sie fertig war, schüttelte Phoebe verblüfft den Kopf.

»Heilige Scheiße, Babe. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Etienne ist ein Arschloch, ein Riesenarschloch sogar. Klar, total sexy und grandios in der Küche, aber ein Arsch. War er aber schon immer. Und tschüss, sage ich da nur! Und was den verbrannten Fisch angeht – das hast du gut gemacht. Etienne hat nichts anderes verdient!«

Sie füllte Georgias leeres Weinglas auf, rutschte näher heran und legte der Freundin den Arm um die Schultern. Georgia ließ den Kopf an Phoebes Schulter sinken. Auch wenn sie sich hundeelend fühlte, war sie dankbar für die Unterstützung. Phoebe roch nach Wodka und Miss Dior, was irgendwie tröstlich wirkte. Möglicherweise hatte sie ja recht, und Etienne hatte nichts anderes verdient, aber der erste Zorn flaute langsam ab, und nun bereute Georgia ihre übereilte Tat. Sicher, sie war zutiefst gedemütigt worden, aber das machte es nicht besser. Ihr wurde übel, wenn sie an die Ereignisse des Abends zurückdachte – sowohl an Etiennes Betrug und das Schweigen seiner Mitverschwörer als auch an ihren Racheakt. Wieder dachte sie im Stillen, dass sich damit ihr gesamtes Leben aufgelöst hatte. Und Etienne … Sie schloss die Augen, ließ bei der Erinnerung an seine Untreue die Trauer zu. Sie hatte geglaubt, er liebe sie. Wie naiv sie doch gewesen war!

»Das ist die schlimmste Nacht meines Lebens«, murmelte sie trostlos. »Ich habe meinen Job verloren, meine Freunde, meinen Partner und meine Wohnung. Ich weiß nicht einmal, wo ich heute Nacht schlafen soll.« Sie war vollkommen ausgelaugt und hatte jeden Halt verloren.

»Du kannst bei mir bleiben, solange es nötig ist«, versicherte Phoebe und drückte tröstend ihre Schulter. »Und morgen überlegen wir uns, wie es weitergehen soll. Am Morgen sieht immer alles besser aus, ganz bestimmt.«

Georgia richtete sich auf und leerte ihr Weinglas. »Hoffentlich hast du recht«, erwiderte sie grimmig. »Wobei … Viel schlimmer kann es ja nicht mehr werden.«

4

Leider sah am nächsten Morgen gar nichts besser aus. Irgendwann im Laufe des Vormittags erwachte Georgia auf Phoebes Gästefuton, gekleidet in ein Seidennachthemdchen mit passendem Morgenmantel. Beides hatte bestimmt ein Vermögen gekostet, taugte aber kaum dazu, auch nur Georgias Hintern zu bedecken. Eigene Kleidung hatte sie nicht, bloß ihre dreckige Kochjacke. Deshalb musste sie vor allem zurück in ihre Wohnung und ihre Sachen rausschaffen, sobald sie sicher sein konnte, dass Etienne nicht zu Hause war. Sie rollte sich herum und setzte sich auf die Bettkante. In ihrem Kopf pochte es dumpf. Zu viel Pastis und teurer Vouvray auf nüchternen Magen.

Während sie blinzelnd die Augen öffnete, kehrten auf einen Schlag die katastrophalen Ereignisse des Vorabends zurück. Mit einem gequälten Stöhnen schlug sie die Hände vor das Gesicht. Also war das kein Albtraum gewesen, sondern grausame Wirklichkeit.

»Okay, Georgia, reiß dich zusammen«, raunte sie sich zu und zwang sich, ihre Lage realistisch zu betrachten. »Du musst herausfinden, was du jetzt tun solltest.« Zunächst einmal brauchte sie eine Dusche, Frühstück und Kaffee, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Ihr Magen schmerzte bereits vor Hunger. Also erst Frühstück, die Dusche konnte warten.

Sie schlich auf Zehenspitzen in Phoebes makellose und kaum genutzte Küche und nahm vorsichtig den Inhalt des Kühlschranks in Augenschein: ein welker Bund Karotten und ein halber, nicht mehr sonderlich frisch aussehender Becher Joghurt. Zum Glück gab es unten an der Ecke eine hervorragende Boulangerie. Schnell zog sie ihre zerknitterte Kochjacke über, band die widerspenstigen Locken halbwegs ordentlich zurück und verließ mit ein paar Euro in der Hand die Wohnung.

Zehn Minuten später saß sie an dem winzigen Tisch in Phoebes Küche und ließ den Blick über die Dächer von Paris schweifen. Vor ihr stand der Espresso, den sie Phoebes hochkomplexer, teurer italienischer Kaffeemaschine abgerungen hatte – dem einzigen Küchengerät, das regelmäßig verwendet wurde –, und daneben lag eine bereits leicht durchgefettete Papiertüte. Nachdem sie einen Zuckerwürfel in die kleine weiße Tasse gegeben und umgerührt hatte, öffnete Georgia die Tüte und genoss den Duft ihres frischen Croissants. Es war noch warm. Wer sitzen gelassen und öffentlich gedemütigt wurde, konnte immer noch Trost in der französischen Backkunst finden, dachte sie traurig. Eine kleine Gnade. Mit geschlossenen Augen biss sie in den buttrigen, flockigen Blätterteig und genoss die knusprigen Teigschichten, die zart zwischen ihren Zähnen zerbrachen. Doch anstelle der köstlichen Butter schmeckte sie etwas Grauenvolles.

Angewidert spuckte sie den Bissen zurück in die Tüte und gab einen empörten Schrei von sich. Bitter wie die Haut einer Mandel schmeckte das. So bitter, dass sich in ihrem Mund alles zusammenzog. Was zum Teufel stimmte denn nicht mit diesem Croissant? Verwundert starrte sie es an, bevor sie das Gebäck zurück in die Tüte schob. Um den bitteren Geschmack loszuwerden, trank sie einen Schluck von ihrem Espresso, den sie beinahe ebenfalls wieder ausgespuckt hätte. Er schmeckte genau wie das Croissant – nicht angenehm bitter, wie es bei einem guten Kaffee der Fall sein sollte, sondern so ungenießbar wie unreife Trauben, die zu früh geerntet worden waren.

Oh nein. Eine schreckliche Vorahnung ließ Georgia erstarren. All die Momente während der letzten Monate, in denen ihr Geschmackssinn ihr böse Streiche gespielt hatte – der Knoblauch, der nach Zimt geschmeckt hatte, die Orangenschale, die fade gewesen war wie Wasser … Geschah das etwa gerade wieder? Hatte es sich verschlimmert?

»Oh, bitte nicht«, flüsterte sie. Hastig sprang sie auf, wollte sich unbedingt das Gegenteil beweisen und durchwühlte dazu Phoebes Küchenschränke, um irgendetwas Essbares zu finden. Ein Bissen von den welken Karotten: bitter. In ihrer Verzweiflung fischte Georgia einen Zuckerwürfel aus der Dose und legte ihn sich auf die Zunge. Bitte, bitte, flehte sie stumm, lass mich einfach nur reinen, süßen Zucker schmecken. Doch schon im nächsten Moment spuckte sie den kleinen Klumpen ins Spülbecken und starrte ihn entsetzt an. Nun ließ es sich nicht mehr leugnen. Sie konnte nur noch eine einzige Geschmacksrichtung wahrnehmen: bitter.

Vollkommen entmutigt lehnte sie sich gegen die Spüle. Wie hatte ihr Leben derart außer Kontrolle geraten können? Etienne, ihr Job, ihr Zuhause – alles weg. Und nun hatte sie auch noch ihren Geschmackssinn verloren? Wer würde sie zur Küchenchefin eines mit Spannung erwarteten neuen Restaurants in Paris ernennen, wenn alles, was ihre Zunge berührte, nach verbranntem Kaffeepulver schmeckte? Ein Ding der Unmöglichkeit.

»Äh … Babe?« Phoebe betrat in einem langen Satinmorgenmantel die Küche, das blonde Haar offen über die Schultern fallend. »Ich denke, das solltest du dir ansehen.« Betrübt streckte sie Georgia ihr Telefon hin. Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube nahm diese das Gerät entgegen.

SABOTAGE IN DER KÜCHE, lautete die Schlagzeile des Artikels, den Phoebe aufgerufen hatte. Er war auf einer bekannten Pariser Klatschseite namens Une Pipelette erschienen – was grob übersetzt so viel wie Plappermaul bedeutete –, auf der vor allem Tratsch über die Gastro- und Partyszene der Stadt veröffentlicht wurde. Und natürlich drehte sich alles um den vergangenen Abend.

Welcher heiße Chefkoch wurde während des Abendservices von seiner Freundin und Souschefin auf frischer Tat ertappt?, fragte der Artikel neckend, bevor er die aus einer anonymen Quelle stammenden pikanten Details über Georgia, Etienne und Manon präsentierte. Georgia schwankte zwischen Fassungslosigkeit und Entsetzen, während sie die Zeilen überflog.

Laut unseren Quellen war Antoine Dupont nach seinem schrecklichen Essen im La Pomme d’Or außer sich vor Wut und wird bald eine entsprechend vernichtende Kritik darüber schreiben, versprach der Artikel, um dann mit einer grauenhaften Frage abzuschließen: Wird dieser Skandal die Reputation von Etienne Fontaine angreifen, der gerade erst zum Sexiest Chef von Paris gewählt wurde, oder wird er lediglich die Karrierechancen der aufstrebenden amerikanischen Köchin Georgia May Jackson zunichtemachen? Mit einem erstickten Laut gab Georgia ihrer Freundin das Handy zurück. Nun wusste also ganz Paris über Etiennes Untreue Bescheid – und über ihre impulsive Racheaktion. Die gesamte Stadt war über die schrecklichste Nacht ihres Lebens im Bilde. Das war einfach zu viel.

Phoebe musterte sie mitfühlend, aber schweigend. Was gab es da auch noch zu sagen?

Verzweifelt massierte sich Georgia die Schläfen, um den aufsteigenden Stresskopfschmerz zu lindern. Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen. Eine so pikante Geschichte wie die der vergangenen Nacht blieb nie lange geheim. Vor allem nicht, wenn Cyril alles mitangesehen hatte. Sie hätte ihren letzten Euro darauf verwettet, dass er diese anonyme Quelle war. Voller Reue lehnte sie sich gegen die Küchenzeile. Wie hatte sie sich nur von ihrem spontanen Hass überwältigen lassen können? Ja, der Verrat hatte sie schrecklich gedemütigt, was ihr gedankenloses Handeln wohl erklärte, aber dieser Racheakt hatte vermutlich einen hohen Preis. Eine ruinierte Seezunge konnte ihre Karriere in Paris auf einen Schlag beenden. Die gehobene Gastronomieszene der Stadt war klein, und so ziemlich jeder, den sie kannte, las Une Pipelette. Der dort verbreitete Klatsch wurde in der Küche des La Pomme d’Or regelmäßig heiß diskutiert. Schon bald würde jeder Restaurantbesitzer und Küchenchef in Paris Bescheid wissen, wenn es nicht sogar längst so weit war. Auch Michel. Georgia verließ der letzte Mut. Ob er den Artikel bereits gelesen hatte?

»Was willst du jetzt tun?«, fragte Phoebe leise.

Hilflos schüttelte Georgia den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«

Einen Moment lang gab sie sich ihrem Selbstmitleid hin und wünschte sich, einfach auf Phoebes gemütlichem Sofa zusammenzubrechen und zu heulen, bis sie sich in einer schmierigen Pfütze auflöste. Sie wollte sich dieser niederschmetternden Reihe von Tiefschlägen ergeben und in Verzweiflung versinken. Aber wenn sie das tat, gab sie damit alles auf, was sie sich über die Jahre hinweg hart erarbeitet hatte. Und eine Georgia May Jackson gab nicht einfach auf. Sie hatte schon öfter harte Zeiten durchgestanden. Gut, diesmal war es richtig, richtig, richtig übel, aber sie hatte trotzdem noch die Wahl: aufgeben oder sich wieder aufrappeln und es weiter versuchen. Wenngleich sie weder Etiennes Handeln noch ihre widerspenstigen Geschmacksknospen kontrollieren konnte. Und sie konnte Antoine Dupont auch keine frische, perfekt gebratene Seezunge Meunière servieren, um Abbitte zu leisen. Oder die Zeit um zwei oder sechs Jahre zurückdrehen und sich selbst vor dem warnen, was geschehen würde.

Angestrengt nagte sie an ihrer Unterlippe und erwog die Möglichkeiten. Ihr Vater Buck hatte immer gesagt: Selbst in den schlimmsten Zeiten lässt sich irgendetwas machen. Und auch wenn sie bei den meisten Dingen nicht seiner Meinung war, hatte er in diesem Punkt recht. Sie musste alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihren Anteil an dem, was passiert war, irgendwie wieder in Ordnung zu bringen. Vielleicht konnte sie diesem Desaster am Ende ja noch etwas Gutes abgewinnen.

»Ich muss unbedingt mit Michel sprechen«, entschied sie deshalb. »Gestern Abend habe ich einen schlimmen Fehler gemacht, aber wenn ich ihm begreiflich machen kann, wie es dazu kam, kann ich ihn vielleicht doch noch davon überzeugen, dass ich die beste Wahl für das La Lumière Dorée bin.«

»Wie kann ich helfen?«, fragte Phoebe sofort.

Georgia überlegte kurz. »Dürfte ich mir etwas aus deinem Kleiderschrank borgen? Ich habe nichts zum Anziehen, und ich muss mich anständig präsentieren, wenn ich Michel meinen Fall vortrage.«

Nach einem kritischen Blick verkündete Phoebe: »Nimm dir, was immer du willst. Und ich verpasse dir dazu noch ein Makeover. Wenn wir fertig sind, wirst du umwerfend aussehen«, versprach sie, rümpfte dann aber angewidert die Nase. »Vorher brauchst du allerdings eine Dusche. Du riechst nach verbrannter Butter.«

Die beiden machten sich sofort ans Werk. Eine halbe Stunde später stand Georgia frisch geduscht in Phoebes opulentem Badezimmer und musterte prüfend das Outfit, das ihre Freundin für sie ausgesucht hatte. Die smaragdgrüne Seidenbluse und die Zigarettenhose verliehen ihr einen stilvollen Look. Zwar war Phoebe größer als Georgia und hatte schmalere Hüften, aber die Sachen saßen trotzdem einigermaßen, zumindest solange sie den Bauch einzog und aufpasste, dass die Knöpfe der Bluse nicht aufsprangen; im Brustbereich war sie ein wenig zu eng.

Natürlich verbrachte Georgia den Großteil ihrer Zeit in ihrer bequemen, aber wenig schmeichelhaften Kochjacke. Aber wenn sie hin und wieder ausging, liebte sie den Pariser Chic, der von zurückhaltender, klassischer Eleganz geprägt war – auch wenn sie deutlich kurviger war als die meisten Pariserinnen, die darauf achteten, möglichst dünn zu bleiben. Wie hatte Etiennes Cousine Giselle ihr einmal erklärt? Du weißt, dass dein Gewicht stimmt, wenn du in der Kuhle an deinem Schlüsselbein einen Zuckerwürfel ablegen kannst. Das hatte Georgia zwar nie geschafft, doch sie kleidete sich trotzdem gerne wie eine Französin. Sicher, sie war in Texas aufgewachsen, aber Paris war die Stadt, der ihr Herz gehörte.

Auch Phoebe musterte kritisch das neue Outfit. »Schon besser. Was ist mit Schmuck?«

Sofort hob Georgia die Hand an ihre Halskette. »Ich trage nur das.«

Phoebe war skeptisch. »Bist du sicher?«

Georgia nickte entschlossen. »Es war das letzte Geschenk meiner Mutter. Und der Talisman hat mir immer Glück gebracht.«

»Dann bringt er dir heute hoffentlich einen ganzen Haufen Glück«, erwiderte Phoebe herzlich, bevor sie sich einer Schublade zuwandte, die schier überquoll vor Bürsten, Mascarafläschchen und Make-up-Tuben. »Also schön, Babe, kümmern wir uns um dein Gesicht.«

Zwanzig Minuten später schlüpfte Georgia in einen ebenfalls geborgten schwarzen Trenchcoat und griff nach ihrer Handtasche. Bevor sie ging, warf sie noch einen letzten Blick in den Spiegel. Phoebe hatte mit Foundation, Bronzer und Mascara ein wahres Wunder bewirkt. Nun sah sie aus wie eine selbstbewusste, stilvolle Pariserin. Selbst ihr sonst so widerspenstiges Haar war in halbwegs gezähmte Locken gelegt. So konnte man ihr wenigstens nicht mehr ansehen, dass sich ihr Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte.

Das letzte i-Tüpfelchen trug Georgia selbst auf, bevor sie zur Tür hinausging: ihren Lieblingslippenstift von Lancôme, so leuchtend rot, dass es aussah, als hätte sie gerade in ein Stück Kirschkuchen gebissen. Den verwendete sie sogar bei der Arbeit in der Küche. Und auch jetzt verschaffte ihr der Lippenstift einen Extraboost an Selbstvertrauen. Georgia blickte ihrem Spiegelbild fest in die Augen und nahm die Schultern herunter. »Okay, Georgia May Jackson. Zieh los und rette deinen Traum von Paris.«

5

»Bonjour, Michel.« Georgia begrüßte ihren Mentor bewusst fröhlich, um die schreckliche Nervosität zu kaschieren, die sie erfasst hatte, sobald er die Tür seiner aus dem siebzehnten Jahrhundert stammenden Villa in Trocadéro im sechzehnten Arrondissement öffnete.

»Bonjour, Georgia«, erwiderte er sanft. Obwohl er leicht überrascht wirkte, bat er sie freundlich herein. Ihr Herz raste, als sie in die Eingangshalle trat. Nichts von dem, was sie am vergangenen Abend angestellt hatte, ließ sich wiedergutmachen. Aber sie war fest entschlossen, alles dafür zu tun, dass dieser Fehler nicht ihre Zukunftsträume zerstörte. Sie war so nah dran gewesen. Indem sie die Finger verschränkte, unterdrückte sie ihr nervöses Zittern. Sogar jetzt spürte sie das sanfte Kribbeln, das wie Champagnerblasen in ihr aufstieg, wann immer sie an die Entscheidung dachte, die Michel bald treffen würde. Auf eine solche Chance hatte sie fünfzehn Jahre lang hingearbeitet: erst an der Kochschule in den Staaten, dann über ein Jahrzehnt hier in Paris. Und nun war der Erfolg endlich zum Greifen nah. Deshalb durfte sie nicht zulassen, dass dieses Debakel mit Etienne alles verdarb. Sie musste Michel davon überzeugen, dass sie noch immer die beste Küchenchefin für sein neues Restaurant war, das La Lumière Dorée, auf dessen Eröffnung bereits die halbe Stadt hinfieberte.

Michel führte sie durch einen schmalen Flur, an dessen Ende sich eine überraschend moderne und großzügige Profiküche auftat. Schon beim Kauf der Villa hatte er einen Teil des Erdgeschosses in eine herrliche, bestens ausgestattete Testküche umgebaut, sodass er im eigenen Heim experimentieren und seiner Kreativität freien Lauf lassen konnte. In diesem blitzblanken, lichtdurchfluteten Raum wuselten oft einige seiner Assistenten herum, doch am heutigen Morgen war er still und leer. Anscheinend arbeitete Michel heute allein. Georgia war dafür extrem dankbar.

»Welchem Umstand verdanke ich die Freude deines morgendlichen Besuchs?«, fragte er sie nun rundheraus, während er an die Kücheninsel trat, wo er offenbar gerade auf einem Schneidebrett dunkle Schokolade in kleine, gleichmäßige Stücke hackte. In seinem Englisch schwang ein feiner französischer Akzent mit. Aus der Bretagne stammend hatte er mehrere Jahre in New York gelebt, wo er für einen amerikanischen Starkoch gearbeitet hatte, bevor er nach Paris zurückgekehrt war. Und irgendwie hatte er es geschafft, das Beste aus beiden Welten in sich zu vereinen. Sein kurz geschnittenes graues Haar war tadellos frisiert, und sein einziges optisches Zugeständnis an die Küchenarbeit waren die bis zu den Ellbogen aufgekrempelten Ärmel seines himmelblauen Anzughemdes. Er trug teure, makellos saubere Schuhe und eine kleine Brille mit runden Gläsern.

Ohne auf seine Frage einzugehen, sah Georgia sich um. »Machst du heute einen Experimentiertag?« Auf dem Küchentresen stand ein Tablett mit winzigen Macarons in allen Farben des Regenbogens, und auf einem Kuchengitter neben der Spüle kühlte gerade eine Tarte Tatin mit Birnen ab. Weiter hinten auf dem Tresen entdeckte Georgia einen ganzen Haufen schneeweißer Baisers.

»Ich spiele nur mit ein paar Ideen herum«, antwortete Michel lächelnd. »Hier.« Er ging zur Spüle und schnitt ein Stück von der Tarte ab. »Sag mir, was du davon hältst. Ein alter Klassiker mit einem neuen Twist.« Er streckte ihr den Kuchen entgegen. Widerstrebend nahm Georgia einen Bissen. Da er sie aufmerksam beobachtete, achtete sie darauf, nicht das Gesicht zu verziehen, während sie kaute und schluckte. Wie erwartet schmeckte es grauenvoll.

»Interessant«, verkündete sie schließlich vorsichtig. »Deine Desserts sind immer besonders kreativ.« Die reine Wahrheit, auch wenn es nichts mit dem Geschmack zu tun hatte, der nun ihren Mund erfüllte. Sie wollte Michel nicht anlügen. Normalerweise war sie stolz darauf, offen und ehrlich zu ihren Mitmenschen zu sein, aber sie war einfach noch nicht dazu bereit, ihm von dem Verlust ihres Geschmackssinns zu erzählen. Nach den Geschehnissen im La Pomme d’Or käme das Eingeständnis, nur noch bitter schmecken zu können, einer Katastrophe gleich. Zwei derartige Rückschläge wären zu viel. Auf keinen Fall wollte sie sich die Chance nehmen, vielleicht doch noch das La Lumière Dorée überantwortet zu bekommen.

La Lumière Dorée – Das goldene Licht – sollte das neue Schwesterlokal des La Pomme d’Or werden. Es lag in Montmartre, nur einen Steinwurf von der wundervollen Basilika Sacré-Cœur entfernt. In der Pariser Gastronomieszene wurde viel darüber spekuliert, wen Michel zum Küchenchef berufen würde. Neben Georgias Namen wurden noch einige andere gehandelt, doch Etienne hatte letzte Woche angedeutet, dass Michel in ihr wohl seine Favoritin sah. Das war allerdings vor der gestrigen Katastrophe gewesen.

Ihr Urteil über seine Tarte Tatin ließ Michel überrascht die Brauen heben. »Ist das alles? Keine Kritik? Bisher hast du doch noch immer versucht, meine Kreationen zu verbessern.«

Sofort wurde Georgia rot. »Vielleicht habe ich heute meinen großzügigen Tag«, erwiderte sie neckend. »Entweder das, oder aber du bist einfach besser geworden.« Damit legte sie das Probestück der Tarte beiseite.

Ein belustigtes Lächeln huschte über Michels Gesicht. »Meiner Meinung nach ist sie noch nicht so gut, wie sie sein könnte.« Nachdenklich kniff er die Augen zusammen. Als einer der einflussreichsten Köche Europas genoss Michel den Ruf, unglaublich hohe Standards zu erwarten, während er selbst über einen untrüglichen Geschmack verfügte. Allerdings war er in erster Linie Geschäftsmann, nicht Künstler, weshalb er auch für seine Genauigkeit und Ausgeglichenheit bekannt war – eine Ausnahme in der stets unter Hochdruck stehenden Welt der Profiköche.

»Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du keinen sonderlich angenehmen Abend hattest«, stellte er nun gelassen fest, während er zum Messer griff und sich wieder seiner Schokolade widmete.

Alarmiert starrte Georgia ihn an. Was wusste er? »Hat Etienne dich angerufen?«

Wenn er bereits Etiennes Version der vergangenen Nacht gehört hatte, würde das alles um einiges erschweren. Sie wollte es ihm selbst sagen und ihm erklären, warum sie so gehandelt hatte.

Ohne das Messer abzusetzen, antwortete Michel: »Nein, Antoine Dupont hat mich heute Morgen angerufen.«

Georgias Mund war plötzlich staubtrocken.

»Monsieur Dupont war äußerst unzufrieden mit seinem gestrigen Besuch im Restaurant, vor allem mit dem ungenießbaren Essen, das ihm – wie er mir sagte – von dir serviert wurde.« Michel warf ihr einen kurzen Blick zu, dann schüttete er die Schokoladensplitter in eine Schüssel. »Und er war regelrecht perplex, als Etienne ihn anschließend davon überzeugen wollte, keine Kritik zu verfassen. Als Grund für das miserable Essen gab Etienne wohl einen Beziehungsstreit mit dir an. Außerdem habe ich heute Morgen bereits ein halbes Dutzend Nachrichten erhalten, die sich wohl alle auf einen Artikel im Internet beziehen. Du weißt ja, dass ich so etwas nicht lese, aber eine Menge Leute haben mich kontaktiert, um mir davon zu berichten. Du bist sozusagen das Stadtgespräch, meine Liebe.«

Dazu fiel Georgia keine Erwiderung ein. Michel sah sie lange an; nicht unfreundlich, aber fordernd. »Ist es wahr? Hast du Monsieur Duponts Bestellung manipuliert, wie Etienne behauptet?«

Georgia verschränkte zögernd die Arme vor der Brust. Sie kam sich vor wie ein Kind, das Schelte bezog. »Ja und nein«, antwortete sie schließlich. »Ich habe Etienne mit der neuen Konditorin im Kühlraum erwischt, daraufhin habe ich die beiden dort eingeschlossen. Bei dem ganzen Tumult ist Monsieur Duponts Seezunge etwas zu lange in der Pfanne geblieben. Natürlich hätte ich die Küche anweisen sollen, eine neue zuzubereiten, aber das habe ich nicht getan. Ich …« Verlegen hielt sie inne. »Ich habe sie Monsieur Dupont mit Absicht so serviert«, gestand sie schließlich reumütig.

»Aha.« Michel blieb noch immer freundlich. »Du hattest schon immer ein Temperament, das deinem wundervollen Haar entspricht.« Nun warf er ihr doch einen strafenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Er holte ein Tablett mit kleinen Auflaufförmchen aus dem Kühlschrank, in denen cremiger weißer Pudding glänzte. Vorsichtig stellte er es auf der Arbeitsfläche ab.

»Ich war wütend und habe mich gedemütigt gefühlt«, platzte es aus Georgia heraus. »Aber ich hätte es trotzdem nicht tun dürfen.«

»Das ist richtig«, stimmte Michel ihr ruhig zu, während er eines der Förmchen inspizierte, einen kleinen Löffel aus seiner Brusttasche zog und probierte. Konzentriert kniff er die Augen zusammen. »Das war eine bedauerliche Fehlentscheidung.« Er stellte das Förmchen weg und warf ihr wieder einen tadelnden Blick zu. »Natürlich warst du wütend, Georgia, aber hast du dir einmal überlegt, was eine schlechte Kritik für deine Kollegen bedeutet? Für all die anderen, die ebenso hart in dieser Küche gearbeitet haben wie du? Du hast jedes Recht, auf Etienne wütend zu sein. Er ist ein brillanter Koch, aber in Herzensangelegenheiten lässt er sich von dem Ding zwischen seinen Beinen leiten wie ein Straßenköter. Doch von dir hatte ich mehr erwartet.« Er klang so ernst, dass Georgia das Herz in die Hose rutschte. Sie hasste es, ihn zu enttäuschen. »Deine Entscheidung war von Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen geprägt«, rügte er sie. »Und so kann man niemanden anleiten oder inspirieren, Georgia. Dir muss stets daran gelegen sein, den Menschen in deinem Umfeld zu dienen, nicht allein dir selbst. Erst dann wirst du wirklich bereit sein, ein eigenes Restaurant zu führen.«

Georgia nickte mutlos. Wie hatte sie zulassen können, dass eine schlechte Entscheidung so viele Jahre harter Arbeit zunichtemachte? Sie war furchtbar enttäuscht von sich.

»Und was nun?«, fragte sie leise. Sie nahm sich ein winziges lavendelfarbenes Macaron von dem Tablett auf dem Tresen, es war nicht größer als eine Vierteldollarmünze und leicht wie eine Feder. Erst nachdem sie es zurückgelegt hatte, schaffte sie es, Michel anzusehen. Er wiederum hatte sie aufmerksam beobachtet.

»Ich muss ehrlich zu dir sein, Georgia«, begann er nun. »Ich hatte dich als Chefkoch für das La Lumière Dorée in Erwägung gezogen.«

Dass er die Vergangenheitsform wählte, versetzte Georgia einen schmerzhaften Stich.

»Aber ich zögere noch«, fuhr er fort. »Und zwar weniger wegen der gestrigen Geschehnisse. Ich fürchte, es ist um einiges ernster.« Er ging zum Herd und kehrte anschließend mit einem kleinen Kochtopf zurück, in dem sich eine bernsteinfarbene, klare Flüssigkeit befand. Der verlockende Duft von Rosmarin und karamellisiertem Zucker stieg auf.

»Etwas Ernsteres?«, hakte Georgia beinahe furchtsam nach. Wie konnte es denn bitte schön noch ernster werden? Hatte er etwa herausgefunden, dass sie ihren Geschmackssinn verloren hatte?

»Geht es um die Leidenschaften des Herzens, verlieren wir alle hin und wieder den Verstand.« Michel gab ein paar Teelöffel von der Flüssigkeit auf jedes Cremeförmchen. »Das ist bedauerlich, aber nachvollziehbar. Doch es ist mehr als das. Ich fürchte, du verlierst dein Feuer, Georgia.« Er warf ihr einen prüfenden Blick zu.

»Mein Feuer?«, wiederholte sie verständnislos.

Mit einem feinen Lächeln fragte er sie: »Weißt du, was ich gesehen habe, als wir uns das erste Mal begegnet sind?«

»Meinen Körper, der quer über die Motorhaube deines Wagens flog?«, riet Georgia spöttisch. Denn bei ihrer ersten Begegnung, wenige Wochen nach Georgias Ankunft in Paris, war sie Michel weniger über als vielmehr in den Weg gelaufen. Einige Studenten aus einer Touristengruppe hatten sie in der Nähe des Eiffelturms so heftig angerempelt, dass sie auf die Straße gestolpert und direkt vor Michels Wagen gelandet war. Eigentlich hatte die Motorhaube nur leicht ihre Hüfte gestreift, aber Michel war derart entsetzt darüber gewesen, dass er seinen Fahrer angewiesen hatte, sie zu ihrem Ziel zu kutschieren. Georgia hatte sich gerade auf dem Rückweg zu ihrem Hotel befunden, nachdem sie wieder einmal von einem Restaurant abgelehnt worden war, das keine weiblichen Köche mit amerikanischer Ausbildung einstellen wollte. Man hatte sie regelrecht ausgelacht. Und das nicht zum ersten Mal.

Während der Fahrt zu dem schäbigen Arrondissement, in dem ihr Hotel lag, waren Michel und sie ins Gespräch gekommen. Und die ungestüme rothaarige Amerikanerin mit dem Texas-Akzent hatte Michel so fasziniert, dass er sie schließlich gefragt hatte, ob sie noch Zeit hätte für einen kleinen Umweg. An jenem Tag fuhr er mit ihr zu einem seiner Restaurants, das um diese Zeit noch geschlossen war, und schlug ihr vor, ein einfaches Mittagessen für ihn zusammenzustellen. Nachdem er ihr Essen gekostet hatte, bot er großzügig an, sich bei einigen Restaurants nach einer möglichen Stelle für sie zu erkundigen. Und wie sich herausstellte, war sein Wort für sie das goldene Ticket. Zwar hatte sie ganz unten anfangen müssen, quasi als Tellerwäscherin, aber es war ein Anfang gewesen. Dank Michel hatte sie die Chance bekommen, sich in einem guten Restaurant in Paris zu beweisen. Und während der folgenden zwölf Jahre hatte er sie auch weiterhin protegiert, hatte ihr mit unschätzbar wertvollen Ratschlägen und Hinweisen unter die Arme gegriffen, während sie sich in diversen Restaurantküchen hochgearbeitet hatte.

Nun aber winkte er ungeduldig ab. »Georgia, an jenem Tag sah ich das Feuer, das in dir brennt. Du warst so unverbraucht, so idealistisch, so unvorbereitet, aber in der Küche hast du Unglaubliches erschaffen. So etwas hatte ich niemals zuvor gekostet. Ich habe gegessen, was du für mich gekocht hast, und es hat mich mit Staunen erfüllt, mit dem Gefühl grenzenloser Möglichkeiten, mit … joie de vivre, wenn man es so nennen will. Und zwar nicht, weil du technisch auf hohem Niveau gearbeitet hättest. Du bist eine begabte und gut ausgebildete Köchin, aber das sind Dutzende andere in dieser Stadt ebenso. Nein, es war mehr als das. Als ich das erste Mal etwas von dir Zubereitetes gegessen habe, konnte ich in jedem Bissen eine bessere Zukunft schmecken, eine der vielen Möglichkeiten, die noch kommen würden.«