Die Geheimnisse der Anna Seiler - Roland Seiler - E-Book

Die Geheimnisse der Anna Seiler E-Book

Roland Seiler

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Beschreibung

Den wegen Sparmaßnahmen frühpensionierten ehemaligen kantonalen Beamten Robert Schneider hat es in die Provence verschlagen. Mehr aus Langeweile als wirklichem Interesse versucht er, mehr über das wenig bekannte Leben von Anna Seiler, der Begründerin des Inselspitals in Bern, zu erfahren. Zufällig stößt er dabei auf pikante, bisher offenbar geheim gehaltene Informationen. Als versucht wird, seine Recherchen mit kriminellen Mitteln zu vereiteln, fühlt er sich erst recht herausgefordert.

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Autor

Roland Seiler ist 1946 in Bönigen im Berner Oberland geboren.

Nach einer Lehre als Vermessungszeichner und dem Ingenieurstudium an der Fachhochschule in Basel war er zuerst in der Verwaltung, dann rund 25 Jahre als Verbandsfunktionär tätig. Während 16 Jahren vertrat er die Sozialdemokratische Partei im Grossen Rat des Kantons Bern.

Seit 1972 ist er verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Heute lebt er zusammen mit seiner Frau in Interlaken und in Cucuron (Provence).

Buch

Den wegen Sparmassnahmen frühpensionierten ehemaligen kantonalen Beamten Robert Schneider hat es in die Provence verschlagen.

Mehr aus Langeweile als wirklichem Interesse versucht er, mehr über das wenig bekannte Leben von Anna Seiler, der Begründerin des Inselspitals in Bern, zu erfahren. Zufällig stösst er dabei auf pikante, bisher offenbar geheim gehaltene Informationen.

Als versucht wird, seine Recherchen mit kriminellen Mitteln zu vereiteln, fühlt er sich erst recht herausgefordert.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Anhang

Prolog

Als ich las, Stammvater der Seiler von Bönigen sei wahrscheinlich der 1341 erstmals erwähnte Johans Seiler, wurde ich stutzig. Anna Seiler, die Gründerin des Inselspitals, wurde um 1300 geboren und starb 1360 kinderlos. Könnte es wohl sein, dass da ein Zusammenhang besteht?

In meiner Phantasie entwickelte ich eine wilde Hypothese: Wenn dieser Johans ein geheim gehaltener Sohn der damals reichsten Bernerin gewesen wäre, müsste doch ihr Testament nachträglich als ungültig erklärt werden. Das immense Vermögen wäre dann auf die heute lebenden Seiler aus Bönigen zu verteilen.

1

(Mai 2016)

«J'ai peur!», flüsterte – nein: hauchte die Frau neben mir im Bett in mein rechtes Ohr. Ich drückte sie an mich, um ihr das Gefühl von Sicherheit zu geben. Dabei war meine eigene Sicherheit nur gespielt, denn auch mir war die Situation nicht mehr geheuer.

«Quelqu'un est dans la maison – que faisons-nous?», fragte sie angsterfüllt. Ich antwortete nicht. Ich war nicht im Stande zu antworten, weil sich in meinem Kopf ein Karussell von Fragen drehte: Wo war ich? Wer war die nackte Frau neben mir? Wie war sie in meinem Bett gelandet? Wie stand ich zu ihr? Was war zwischen uns beiden abgelaufen? Warum hat sie mich geweckt? Bestand tatsächlich eine Gefahr?

Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, aber das gelang mir nicht, weil ich fühlte, wie sie in meinen Armen am ganzen Leib zitterte.

Bevor ich in der Lage war, die Situation einigermassen zu beurteilen, hörte ich, wie die Haustüre ins Schloss fiel. Kurz danach wurden Autotüren zugeschlagen und der Motor eines Autos wurde gestartet.

Wir rührten uns nicht, lauschten und wagten immer noch kaum zu atmen. Langsam begann mein Gedächtnis zu arbeiten und die Erinnerungen nahmen Formen an.

Das Telefon auf dem Schreibtisch hatte mich am Vortag aufgeschreckt, als ich in meinem Haus in Cucuron, das ich kurz zuvor geerbt hatte, bei meiner täglichen Morgenlektüre sass. Im separaten Sportteil der Regionalzeitung LA PROVENCE wurde wie jeden Montag ausgiebig über den letzten Match von OM berichtet, wie der Fussballclub Olympic Marseille hier genannt wird. Zwei Seiten füllten die Reportagen der in Südfrankreich populären Rugby-Spiele und im Lokalteil wurden mehrere Hochzeiten sowie jede noch so kleine Veranstaltung erwähnt und mit je einem Bild dokumentiert. Einmal mehr bedauerte ich, dass das nach der Befreiung Marseilles 1944 vom Sozialisten Gaston Defferre, dem seinerzeitigen Résistance-Kämpfer und späteren Bürgermeister von Marseille, gegründete linke Kampfblatt mit dem Untertitel «Journal des patriotes socialistes et républicains» zu einem oberflächlichen Boulevard-Blatt mutiert ist.

«Das wird wohl wieder einer dieser Werbeanrufe sein», dachte ich verärgert. Ständig will mir jemand Bettwäsche, Tiefkühlprodukte oder Kosmetika andrehen. Ausserdem werden mir ungefragt Energieberatungen, Dachstockexpertisen und Kreuzfahrten angeboten.

Sie müsse dringend mit mir reden, erklärte mir Aurore. Schon die Tatsache, dass sie mich anrief, hatte mich gewaltig erstaunt – erst recht, dass sie mich treffen wollte. Seit dem Tag, als Brigitte vor einem halben Jahr auf dem Friedhof in Cucuron beerdigt worden war, hatte ich mit Aurore Vial keinen Kontakt mehr gehabt. Mehrmals war ich drauf und dran gewesen, sie anzurufen, aber ich liess es dann doch immer wieder sein, weil ich mich vor ihrer Reaktion fürchtete.

Ich nahm an, sie wolle mich kaum hier im Haus treffen, in welchem sie früher oft mit Brigitte zusammen gewesen war. Spontan hatte ich sie deshalb zum Nachtessen in die AUBERGE DES TILLEULS in Grambois eingeladen – allerdings unter der Bedingung, dass sie mit ihrem Auto käme, weil meines im Moment beim örtlichen Garagier im Service sei. Ihre Erleichterung war förmlich spürbar gewesen und in ihrer Zusage glaubte ich sogar etwas Freude festzustellen.

Céline Dubois, die das Haus zusammen mit ihrem Mann Fabrice führt, hatte uns persönlich empfangen und einen Zweiertisch im hinteren Restaurantteil zugewiesen, wo den Hotelgästen jeweils das Morgenessen serviert wird. Hier waren wir allein und konnten uns ungestört unterhalten. Den süffisanten Blicken der andern Gäste hatten wir unschwer angemerkt, was für schmutzige Fantasien sie beim Anblick des biederen Rentners in Begleitung der bildhübschen jungen Provenzalin hatten.

Zum Aperitif bestellte ich eine Flasche Chardonnay. Der von der «Cave coopérative vinicole de Grambois» produzierte Weisswein weist dank der kalkhaltigen Böden ein intensives Bananenaroma auf, zeichnet sich durch einen runden langen Abgang aus und passte bestens zur ersten Vorspeise des Fünf-Gang-Menüs. Aurore war fasziniert vom «Médaillon de homard sur crème de choux-fleur parfumé au combava».

Zwischen den beiden Vorspeisen schilderte sie mir die erste Begegnung mit der damaligen Deutschprofessorin Brigitte Heinzelmann am Lycée in Pertuis. Das sei ein wirklicher «Coup de foudre» – Liebe auf den ersten Blick – gewesen.

Anfänglich habe Brigitte noch versucht, sich ihr gegenüber eher wie eine ältere Schwester zu verhalten, aber während der ersten gemeinsamen Ferien im tropischen Klima der Karibikinsel Martinique seien dann alle Barrieren gefallen.

Mit dem Servieren des «Foie gras de canard poêlé en croûte de pain d'épices posé sur une marmelade de figues» wurde Aurore in ihrem Redeschwall kurz unterbrochen. Wir waren uns einig, noch selten eine derart zarte Entenleber genossen zu haben und dass die hausgemachte Feigenkonfitüre fast allein Grund dafür sein könnte, sich hier einmal ein Morgenessen zu leisten.

Trotz des köstlichen «Foie gras» stieg in Aurore Wut auf, als sie erzählte, wie sie unter dem Mobbing der Mitschülerinnen und Mitschüler gelitten habe, nachdem der Rektor Brigitte angezeigt und die Gendarmerie unangenehme Befragungen über die intimsten Details ihrer Liebesbeziehung vorgenommen habe.

Zum Hauptgang hatten wir uns für «Mignon et cœur de ris de veau rôti sur mousseline de céleris» entschieden. Dazu hatte ich eine Flasche «Rouge Exception» aus dem Biobetrieb der Familie Parmentier im nahe gelegenen Schloss Dorgonne öffnen lassen. Der lila-rote Syrahwein konnte nun sein reichhaltiges Geschmackprofil mit einem Hauch von Gewürzen, Zimt und Kaffee voll entwickeln und erfreute mit seinem stark anhaltenden Abgang.

Aurore liess sich von meinen Schwelgereien über Essen und Wein nicht davon abbringen, weiterzureden. Brigitte habe darauf bestanden, dass sie in Aix-en-Provence studiere. Sie habe ihr das Studium finanziert und versprochen, die Finanzierung testamentarisch auch für den Fall zu sichern, dass ihr etwas zustossen würde.

Nach dem Hauptgang wurden wir vom Servicepersonal besonders intensiv betreut. Die drei Damen wechselten sich ständig ab: Das Geschirr wurde abgeräumt, der Brotkorb aufgefüllt, die Käseplatte gebracht, Wein nachgeschenkt, wieder abgeräumt, die Dessertkarte präsentiert und schliesslich das Dessert serviert. Bei diesem Kommen und Gehen war ein vertrauliches Gespräch kaum möglich.

Aurore hatte sich für «Chocolat et son tube passion avec glace yaourt mangue» entschieden, während ich den «Cylindre croquant aux noix caramélisées avec glace pain d'épices» vorzog.

Ich nutzte die Gesprächspause, um mir zu überlegen, was Aurore wirklich von mir wollte. Die Geschichte über ihre Beziehung zu meiner zeitweiligen Freundin Brigitte Heinzelmann war mir längst bekannt und ich war mir auch durchaus bewusst, dass Aurore mich seinerzeit als Konkurrent und als jenen betrachten musste, der ihr Liebesglück zerstört hatte. Aber nun war Brigitte tot, mir hatte sie das Haus in Cucuron und Aurore die stattliche Summe von 100 000 Euro vererbt.

Als ob Aurore meine Gedanken hätte lesen können, kam sie auf das Problem zu sprechen, das sie beschäftigte. Ja, die 100 000 Euro seien kürzlich auf ihrem Konto beim Crédit Agricole gutgeschrieben worden und Pierre Martin, ein flüchtiger Bekannter, der bei der CA-Filiale in Pertuis arbeite, habe bereits angerufen, um sie bei der Anlage dieses Geldes zu beraten.

Brigitte habe ihr das Geld vermacht, um ihr Studium zu finanzieren. Sie habe nun aber das Studium abgebrochen und arbeite vollzeitlich als Taxichauffeuse. Das sei garantiert nicht im Sinn ihrer ehemaligen Geliebten und Förderin und sie frage sich nun ernsthaft, ob sie das Geld zurückgeben müsse. Falls ich aber der Meinung wäre, sie dürfe die Erbschaft annehmen, würde sie gerne mich mit deren Verwaltung und Anlage betrauen.

«Für mich ist klar, dass dir das Geld rechtmässig gehört», beruhigte ich Aurore. Ich hätte jedoch in Geldfragen keine Erfahrung und müsse ihre Anfrage zurückweisen, wie sehr mich ihr Vertrauen ehre und freue.

In der Zwischenzeit war die zweite Weinflasche leer geworden. Als Aurore von der Toilette zurückkehrte, schwankte sie leicht. Sie gab zwar unumwunden zu, den Alkohol zu spüren, aber nach Hause fahren könne sie deshalb ohne Bedenken, sie sei schliesslich Profi.

«Gerade weil du beruflich auf deinen Fahrausweis angewiesen bist, darfst du dessen Entzug nicht riskieren. Ich bestelle uns ein Taxi. Du kannst dann bei mir im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen.»

«Was ist los?», fragte ich, als mich Aurore sanft geweckt hatte. «Ich kann nicht schlafen, wenn du derart laut schnarchst, dass ich es drüben auf dem Sofa höre!», klagte sie, und bevor ich realisiert hatte, was vorging, schlüpfte sie unter meine Decke. Auch sie war nackt und schmiegte sich wie eine schmeichelnde Katze an mich. Ohne meine Reaktion abzuwarten, begann sie mich zu streicheln und zu liebkosen. Ich war derart überrumpelt, dass ich weder richtig denken noch mich zur Wehr setzen konnte – oder wollte. Ich hielt sie auch nicht zurück, als sie die Bettdecke zurück warf. Ich lag völlig passiv da und liess mich verwöhnen.

Wir lagen immer noch nackt in meinem Bett, als wir das Zuschlagen der Autotüren wahrnahmen. Ich sprang auf und sah aus dem Schlafzimmerfenster gerade noch, wie ein weisser, hinten geschlossener Kastenwagen ohne Licht über die Zufahrt davonfuhr. Das Nummernschild konnte ich nicht erkennen und ich war mir nicht einmal über die Automarke sicher. Citroën Berlingo, Renault Tangoo und Peugeot Partner sind aus Distanz und besonders in der Dunkelheit kaum zu unterscheiden.

Waren die Eindringlinge wirklich alle weg?

2

(Mai 2016)

Nach bangen Minuten des wortlosen Wartens schlüpfte ich in den Morgenrock und riskierte einen Blick ins Wohnzimmer. Niemand. Ohne das Licht einzuschalten, schaute ich in der Küche und im Bad nach, ging in den Keller und wagte mich dann vor die Haustüre. Von dem oder den Einbrechern war nichts mehr zu sehen. Weil kein Auto vor dem Haus gestanden war, hatte die Täterschaft wohl angenommen, das Haus sei leer, und wahrscheinlich hatten sie uns nicht einmal bemerkt.

Als ich ins Haus zurückkam, war Aurore dabei, sich anzuziehen. Auf meinem Bürotisch fehlte mein Laptop und auch der mit «A» angeschriebene Ordner fehlte, in welchem ich die Ergebnisse meiner bisherigen Recherchen über Anna Seiler, die Begründerin des Inselspitals, aufbewahrt hatte. Erleichtert stellte ich fest, dass der USB-Stick mit den Sicherungskopien noch zuhinterst in der obersten Schublade lag.

Auch Brigittes Abschiedsbrief war noch da, in welchem sie ihren bevorstehenden Selbstmord angekündigt und begründet hatte. Von diesem Brief hatte ich keinem Menschen erzählt, weder der Kommissarin noch Aurore. Sie konnten nicht ahnen, dass Brigittes Tod nicht ein Selbstunfall gewesen war, wie die offizielle Version der Polizei gelautet hatte. «Tote verdienen Ruhe», hatte ich mir geschworen.

«Qu'est-ce que les cambrioleurs ont volé?», fragte Aurore verängstigt in die Stille und riss mich aus meinen Gedanken. «Nur meinen Laptop», log ich und gab mich so ruhig wie möglich.

Als ich für sie ein Taxi bestellen wollte, war die Leitung des Festanschlusses tot. Die Typen hatten ganze Arbeit geleistet. Ich kramte mein Handy aus dem Kleiderhaufen. «Aha, Monsieur ist nun auch mobil erreichbar!», spottete Aurore und luchste mir die Nummer ab, obwohl ich mir vorgenommen hatte, diese nicht weiterzugeben.

«Hatten es die Einbrecher tatsächlich auf meine harmlosen Unterlagen über Anna Seiler abgesehen?», sinnierte ich, konnte mir zwar keinen Reim daraus machen, wollte aber Aurore nicht in diese Sache hineinziehen.

«Oder steckte Aurore gar selbst hinter diesem Einbruch und hatte mich in eine Falle gelockt? Hatte wohl jemand gemeint, ‹A› auf dem Ordnerrücken stehe für Aurore?», überlegte ich mir eine Sekunde lang, um den Gedanken aber gleich wieder zu verdrängen und Aurore mit zwei Wangenküsschen zu verabschieden. Mir schien, sie wolle möglichst rasch verschwinden, ohne über die vergangene Nacht reden zu müssen. Wahrscheinlich war ihr die Angelegenheit ebenso peinlich wie mir.

Bei einem starken Kaffee überlegte ich mir, von welchen Dokumenten im gestohlenen Ordner keine Kopien auf dem Sicherungsstick waren. Nebst meinen Handnotizen von meinen Besuchen beim Staatsarchiv des Kantons Bern und im Archiv des Inselspitals fehlte vor allem die Kopie des Testamentes vom 29. November 1354, in welchem Anna Seiler verfügt hatte, dass ihr gesamtes Vermögen zur Gründung eines Spitals einzusetzen sei.

Die Testamentkopie hatte mir Christa Spüler, die Leiterin der Sammlung der Inselspital-Stiftung, verbotenerweise gemacht. Dabei musste ich ihr das Versprechen abgeben, die Kopie weder weiterzugeben noch zu veröffentlichen. Ich war mir damals beim Verlassen des Inselspitals fast wie ein Verbrecher vorgekommen und hatte mir sogar eingebildet, beobachtet zu werden.

Oder war ich damals tatsächlich bespitzelt worden? Konnte es sein, dass diese wertlose Fotokopie das Ziel des Einbruches gewesen war? Dann müssten ja die Einbrecher meinen Namen und meine Adresse in Cucuron herausgefunden haben! Die Geschichte wurde mir langsam aber sicher ungeheuerlich.

Sollte ich die Polizei beiziehen? Aber welche Polizei?

Geneviève Faure, die ausserordentliche Kommissarin im Todesfall von Brigitte, hatte einmal versucht, mir die komplizierte Organisation der französischen Polizei zu erklären.

Die während der Französischen Revolution entstandene «Gendarmerie nationale» ist für die ländlichen Gebiete und die Kleinstädte zuständig. Sie umfasst heute rund 100 000 Soldaten und gliedert sich in über 3000 regionale Brigaden sowie verschiedene Spezialeinheiten, wie die Eingreiftruppe «Groupe d’intervention de la gendarmerie nationale GIGN», die Ehrenwache «Garde républicaine» und die für Bergrettungen zuständigen «Pelotons de gendarmerie de haute montagne».

Neben der Gendarmerie besteht auf nationaler Ebene die «Police Nationale», die in den 60er-Jahren aus der «Sûreté Nationale» hervorgegangen war, gegen 150 000 Mitarbeitende beschäftigt und für die Städte ab zirka 15 000 Einwohnerinnen und Einwohner zuständig ist. Die Nationalpolizei ist ihrerseits aufgeteilt in die «Police administrative» und die Kriminalpolizei «Police judiciaire». Für verschiedene Spezialaufgaben bestehen besondere Einheiten, die bekanntesten sind wohl diejenigen der Bereitschaftspolizei, die «Compagnies républicaines de sécurité CRS».

Die nationalen Institutionen werden auf kommunaler Ebene von der Gemeindepolizei, der «Police municipale», unterstützt, in ländlichen Gebieten oft durch die sogenannten «Gardes champêtres» der «Police rurale» sowie durch «Agents de surveillance de la voie publique ASVP».

Wenn ich die Zuständigkeiten der verschiedenen Organe richtig verstanden habe, wäre jetzt die Gendarmerie zu kontaktieren gewesen, die in der Nachbargemeinde Cadenet einen Stützpunkt hat. Im Internet suchte ich mir die Adresse der «Brigade territoriale autonome de gendarmerie de Cadenet» heraus und speicherte die Telefonnummer 04 90 68 00 17 in meinem Handy.

Ich entschied jedoch, vorläufig die Polizei aus dem Spiel zu lassen.

3

(Mai 2016)

Am Nachmittag holte ich meinen silbergrauen Citroën C3 in der Garage ab, die etwas ausserhalb des Dorfes liegt. Die zehnjährige Occasion hatte ich zwei Jahre zuvor in Les Taillades bei einem der grössten Autohändler der Region günstig erstanden.

Für die Unterhaltsarbeiten jedoch brachte ich mein Auto jeweils zu Sébastien Navarro, einem anerkannten Garagier. Der aus Spanien eingewanderte offizielle Renault-Vertreter ist ein Allrounder und war mir von verschiedener Seite empfohlen worden.

Als ich die Woche zuvor bei ihm vorgefahren war und ihm berichtet hatte, bei der auch in Frankreich seit einiger Zeit vorgeschriebenen Zweijahreskontrolle sei ich im privaten Prüfungszentrum in Pertuis wegen zu hoher CO2-Werte zurückgewiesen worden, grinste er verschmitzt und fragte mich, ob ich etwa fälschlicherweise E10-Benzin getankt hätte.

«Ja», hatte ich ohne Umschweife bestätigt. «Was soll daran falsch sein? Auf einem Hinweis an der Tanksäule hiess es, mit E10-Benzin könnten sowohl die Umwelt als auch das Portemonnaie geschont werden.»

«Ob der Treibstoff mit dem auf zehn Prozent erhöhten Ethanolgehalt tatsächlich ökologisch sinnvoll ist, bleibt unter Fachleuten vorderhand umstritten. Tatsache ist jedoch, dass die Motoren älterer Modelle damit geschädigt werden können. Jede Woche kommt ein Kunde mit diesem Problem zu mir und das kann ins Geld gehen.»

Ich hatte mich über dieses Missgeschick masslos geärgert, für das ich ein hohes Lehrgeld bezahlen musste, weil sowohl der Katalysator als auch die Lambdasonden ausgewechselt werden mussten. Trotzdem war ich erleichtert, nachdem mir bei der Nachkontrolle versichert worden war, die Abgaswerte meines alten C3 entsprächen nun jenen eines Neuwagens.

Pünktlich um sieben Uhr stand ich mit Teller, Besteck und Glas auf dem Dorfplatz, wo gemäss Affichen das traditionelle «Banquet républicain» der «Anciens Combattants» angesagt war: Apéro, Entrée, «Soupe au Pistou», Dessert und «Vin à discrétion» für zwölf Euro.

Ausser mir waren erst ein halbes Dutzend Leute da und die Organisatoren begannen gerade damit, Tische und Stühle aufzustellen.

Die «Anciens Combattants» haben in Frankreich eine besondere Stellung und sind landesweit gut organisiert. Praktisch in jeder Gemeinde besteht ein Verein, dem Teilnehmer des Zweiten Weltkrieges, des Indochina- und des Algerien-Krieges angehören.

Gegründet worden waren diese Vereine von den «Poilus», den Rückkehrern aus dem «Grande Guerre», wie der Erste Weltkrieg in Frankreich bezeichnet wird. In einem Zeitungsbericht hatte ich gelesen, der letzte lebende «Poilu» sei Ende 2008 fast 110-jährig gestorben.

Zu den «Anciens Combattants» zählen heute nicht nur die seinerzeitigen Angehörigen der französischen Armee, sondern auch jene, die während des Zweiten Weltkrieges in der Résistance aktiv gewesen sind, und die so genannten Harkis.

Harkis heissen die Algerier, die während des sieben Jahre dauernden Algerien-Krieges auf der Seite der Franzosen gegen ihre von der Nationalen Befreiungsfront – dem «Front de Libération National FLN» – angeführten Landsleute gekämpft hatten.

Nach dem 1962 in Evian am Genfersee vereinbarten Waffenstillstand sind die Harkis von der französischen Armee schnöde ihrem Schicksal überlassen worden. Tausende wurden von ihren Landsleuten als Verräter niedergemetzelt. Diejenigen, die nach Frankreich flüchten konnten, wurden hier alles andere als mit offenen Armen empfangen. Die französische Staatsbürgerschaft war für sie lange Zeit das einzige Zeichen des Dankes geblieben.

Erst vierzig Jahre nach Kriegsende wurde die Leistung der Harkis durch Jacques Chirac gewürdigt. Der Präsident der Republik entschuldigte sich in aller Form für das miese Verhalten Frankreichs und erklärte den 25. September zum jährlichen Harkis-Gedenktag.

Seither finden in Cucuron und vielen andern Orten alljährlich am 25. September schlichte Feiern statt. Ähnliche Anlässe organisieren die «Anciens Combattants» am 11. November, dem Jahrestag des 1918 in einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne zwischen Frankreich und Deutschland geschlossenen Waffenstillstandes, und am 8. Mai zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

Mit dreissigminütiger Verspätung wurde das Apéro-Buffet eröffnet und nach einer weiteren halben Stunde fuhr der Kastenwagen mit den Kochkisten vor.

Das Warten hatte sich gelohnt: Die «Soupe au Pistou» mundete derart hervorragend, dass ich ein zweites Mal in der langen Reihe anstand.

Madame Pellegrin, unter deren Regie jeweils die Rüst- und Kochequipe steht, freute sich sichtlich über mein Kompliment und verriet mir freimütig ihr Rezept:

Die am Vorabend in kaltes Wasser eingelegten weissen Bohnen werden nachmittags um fünf Uhr in eine grosse Pfanne mit frischem Wasser und Lorbeerblättern gegeben und zugedeckt bei schwacher Hitze in 45 bis 60 Minuten gegart. Während der Garzeit der Bohnen werden die Tomaten kurz überbrüht, gehäutet und in kleine Stücke geschnitten.

Für die Pistou-Paste werden Basilikum und Knoblauch zusammen mit einem Drittel der Tomaten und mit Olivenöl püriert.

Die grünen Bohnen, der Stangensellerie, der Lauch sowie die geschälten Karotten und Kartoffeln werden in Stücke geschnitten.

Das Gemüse wird zusammen etwa 15 Minuten aufgekocht. Am Schluss werden noch die separat gekochten Nudeln beigegeben.

Beim Apéro hatte ich mich mit Fatima Lakehal unterhalten, die das Ende des Algerien-Krieges als kleines Kind erlebt hatte und während einer Wahlperiode Mitglied des Gemeinderates gewesen war.

Sie erzählte mir, wie sie im November 1962 mit ihren Eltern im Flüchtlingslager Saint-Laurent-des-Arbres in der Nähe von Avignon gestrandet sei. Dort seien sie mehr als ein Jahr unter prekären Verhältnissen in Zelten untergebracht gewesen.

Ende 1963 hatte es ihre Familie nach Cucuron verschlagen, das 25 Harkis-Familien aufgenommen und für diese Baracken aufgestellt hatte.

Nach 17 Jahren Barackenleben konnten sie in einfache Häuser umziehen, welche vom Departement auf einem Grundstück der Gemeinde erstellt worden waren und nach weiteren 15 Jahren von den mehr oder weniger integrierten Harkis-Familien erworben werden konnten.