Die Geigenlehrerin - Barbara Hall - E-Book

Die Geigenlehrerin E-Book

Barbara Hall

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Beschreibung

Ein humorvoller, geistreicher und lebenskluger Roman

Seit ihrer Scheidung arbeitet Pearl Swain in McCoy’s Musikalienladen in Los Angeles – einem Kosmos voller skurriler Gestalten, die sich mit Musikunterricht und dem Verkauf von Gitarrensaiten über Wasser halten. Sie kennt ihre Fehler genau – die missglückte Ehe und die fehlgeschlagene Musikerkarriere. Als Pearl jedoch mit Hallie eine hochbegabte Geigenschülerin aus schwierigen Verhältnissen bekommt, ist sie davon überzeugt, dass dieser eine große Zukunft bevorsteht. Also will sie Hallie auf die Karriere vorbereiten, die sie selbst nie hatte. Doch das erweist sich als fatal, denn zunächst mal müsste Pearl ihr eigenes aus den Fugen geratenes Leben in Ordnung bringen. Schließlich erkennt sie: Ein guter Lehrer lernt auch viel von seinen Schülern. Über die Musik, das Leben und sich selbst. Und als sie sich nicht mehr im Weg steht, wird auch eine neue Liebe möglich …

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Seitenzahl: 305

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Inschrift
 
Kapitel 1
 
Copyright
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »The Music Teacher« bei Algonquin Books of Chapel Hill, a division of Workman Publishing, New York.
Für meine Mutter,die mir meine erste Gitarre kaufte.Und für Bruce, der mir beigebracht hat,wofür sie gut ist.
Inspiration ist gottgegeben. Für alles andere gibt es Lehrer.
HEILIGE CÄCILIA, PATRONIN DER MUSIKER
Kapitel 1
 
 
 
ICH BIN MUSIKLEHRERIN, eine von der gemeinen Sorte. So wie diese reizbare alte Ziege, die Sie aus Ihrer Jugend kennen, vor deren Anblick Sie sich fürchteten und vor deren Atem Sie sich grausten, wenn sie sich über Sie beugte und Ihre Finger verbog. Sie haben sich über mich lustig gemacht, Karikaturen von mir in Ihr Schulheft gekritzelt, meinen Namen verballhornt, sich geschworen, nie so zu werden wie ich.
Wissen Sie was? Auch ich hatte mir geschworen, nie so zu werden wie ich.
Ich heiße Pearl Swain. Perlen vor die Säue, denken Sie. Aber das ist kein Witz, so heiße ich wirklich. Ich habe mir diesen Namen nicht ausgedacht, damit Sie etwas zu lachen haben. Meine Mutter gab ihn mir in der allerbesten Absicht. Sie benannte mich nach ihrer Mutter, die sie abwechselnd vergötterte oder verteufelte, je nach Laune. Ich versuchte, mich von beiden fernzuhalten.
Mit zehn fing ich an, Geige zu spielen. Zwei Jahre zu spät, um aus mir eine große Geigerin zu machen, erklärte man mir irgendwann. Also wurde ich eine sehr gute Geigerin, was ungefähr auf dasselbe hinausläuft, wie eine sehr gute Mathematikerin zu werden. Es bedeutet, dass man seinen Lebensunterhalt nicht mit seinem Wunschberuf bestreiten kann. Es bedeutet, dass man anderen beibringen muss, wie sie einen übertreffen können.
Deshalb war Ihre Musiklehrerin auch so gemein: Sie wollte nicht unterrichten. Sie wollte Musikerin sein. Sie wollte in einem namhaften Philharmonieorchester den Ton angeben oder mit irgendeiner berühmten Rockband oder einem Jazz-Quartett auf der Bühne stehen. Sie wollte ihre eigenen Stücke komponieren, und sie wollte, dass sie veröffentlicht und beklatscht werden. Sie wollte ein Publikum, keinen endlosen Aufmarsch mürrischer Kinder, die Volksweisen und verwässerte Pop- und Gospelsongs auswendig lernen mussten, damit ihre Eltern ihre öden Darbietungen absitzen und dann herumprahlen konnten, als hätten sie das alles selbst vollbracht.
Wie Ihre Musiklehrerin bin auch ich nicht so alt, wie es den Anschein hat. Ich bin erst vierzig, und ich habe immer noch Ambitionen. Und wenn ich sie eine nach der anderen zu Grabe trage, dann sind sie zuvor eines langsamen und qualvollen Todes gestorben. Ich habe sogar ein Sexualleben, zumindest hatte ich eines. Das will sich nur niemand vorstellen. Ich war verheiratet und bin geschieden und habe mir unzählige Male einen Korb eingefangen, allerdings auch den einen oder anderen ausgeteilt. Ich habe mir alberne Reizwäsche gekauft und unglaublich komplizierte Drei-Sterne-Menüs gekocht und Kerzen im Schlafzimmer aufgestellt und Schokoladensoße nicht nur über Vanilleeis verteilt. Aber darüber brauchen Sie nicht weiter nachzudenken. Glauben Sie es einfach.
Ich arbeite in einer kleinen, aber feinen Instrumentenhandlung in West L.A., benannt nach ihrem Gründer, dem schottischen Gitarrenbauer McCoy, der in dem Laden seine handgefertigten Gitarren und Geigen verkaufte, um dann von irgendwelchen großen Ketten in den Ruin getrieben zu werden. Er verscherbelte den Laden, und die neue Geschäftsleitung machte ihn zu einer Zufluchtsstätte für Heimatlose, die davon träumen, mit Fairport Convention aufzutreten, und seltsame Instrumente spielen, die kein Mensch hören will. Wir verkaufen akustische Gitarren, Mandolinen, Geigen, Cellos, Akkordeons, Bongos, Blockflöten, Mundharmonikas und, ungelogen, Lauten. Unser Geschäftsführer Franklin versucht, den Eindruck zu erwecken, als würden wir eine echte Marktlücke schließen, und straft alle mit leiser Verachtung, die das nicht so sehen und etwas anderes spielen wollen als herrliche Klampfenmusik.
Unsere Reparaturwerkstatt führt Declan McCoy, der Enkel des ursprünglichen Besitzers. Er hat ein Motorrad, mit dem er zur Arbeit kommt, und einen Bart, der ihm bis zum Zwerchfell reicht. Im Hinterzimmer veranstalten wir kleine Konzerte, und in den Räumen im ersten Stock geben wir Unterricht. Als Gegenleistung müssen die Lehrer stundenweise Frondienst im Laden leisten und Gitarrensaiten und Stimmgabeln, Notenblätter und Kastagnetten verkaufen.
Zwischen meinen Unterrichtsstunden hänge ich also im Laden herum und kabbele mich mit den anderen. Am häufigsten gerate ich mit Franklin aneinander, einem ganz passablen Gitarristen, der von einem Leben als Studiomusiker träumt - was dem Traum von einem Leben als Ghostwriter gleichkommt - und glaubt, dass es auf der ganzen Welt bestenfalls zwei Gitarristen gibt, die ihm das Wasser reichen können - Alvin Lee und Richard Thompson. Von Jimmy Page behauptet er, der habe nur raffiniert gespielt und dass jeder raffiniert spielen könne, wenn er es darauf anlegt. Jimi Hendrix - den er allerdings nie anders als »der Hendrix« nennt - habe das Instrument lediglich neu erfunden, damit es machte, was er wollte. Über Keith Richards sollte man mit ihm besser gar nicht reden - warum, weiß ich nicht. Es ist mir auch egal. Eric Clapton sei ein Verräter, Chuck Berry habe seine Gitarre wie einen Automotor behandelt - er beteuert, das sei kritisch gemeint - und Segovia die seine in ein Klavier verwandelt, und da hätte er gleich Klavier spielen können, oder vielleicht nicht?
So etwas muss ich mir den lieben langen Tag anhören. Wie er mit Ernest und Patrick und Clive herumstreitet. Jeder von ihnen hat seine eigenen Maßstäbe. Seine sind nur am dümmsten und am wenigsten durchschaubar. Ernest versagt jedes Mal fast die Stimme, wenn es um Stevie Ray Vaughan geht, und kaum kommt er auf Lynyrd Skynyrd zu sprechen, schießen ihm Tränen in die Augen. Patrick erklärt, er würde Paul Simon heiraten, wenn er nicht hetero wäre. Ich vermute, er meint, wenn er, Patrick, nicht hetero wäre - ein weiterer Gegenstand hitziger Diskussionen. Clive mit seinen achtundzwanzig Jahren ist der Jüngste von uns, da Franklin niemanden unter fünfundzwanzig einstellt. Clive ist Bassist und behauptet, ohne gute Rhythmusgruppe könne eine Band überhaupt nicht gut sein. Das verkündet er jedes Mal, wenn Franklin vorbeigeht, und wenn Franklin milde gestimmt ist, dann bleibt er sogar stehen und sagt: »Na, dann verrat mir doch mal eine Band, in der die Rhythmusgruppe der Star ist.« »Police«, kommt es wie aus der Pistole geschossen von Clive, und Franklin presst die Hand aufs Herz, als wäre er von einer Kugel getroffen worden.
Das ist alles sehr trist. Sie sind wie Schachspieler, die endlos über den Wert einzelner Figuren debattieren, statt über den Reiz einer Strategie. Sie haben das große Ganze nicht im Blick. Das geht vielen Musikern so. Mir manchmal auch. Wir verteidigen unsere Instrumente, als wären sie Teil unserer Persönlichkeit, was sie womöglich ja auch sind, aber müssen wir das wirklich in alle Welt hinausposaunen? Ich nicht.
Von allen Beschäftigten bei McCoy’s ist Franklin meiner Meinung nach der verrückteste. Er versteht mich nicht. In erster Linie, weil ich eine Frau bin. Franklins musikalische Weltsicht könnte von den Taliban stammen. Wahrscheinlich findet er, dass Frauen allesamt eingesperrt werden sollten, weil sie in der Öffentlichkeit Instrumente spielen. Singen dürfen wir, weil Sänger sowieso das Primitivste sind. Gelegentlich werden wir in das Klavier-Ghetto verbannt, denn das Klavier ist Franklin zufolge der Schnulzenroman der Popmusik. Aber wenn wir versuchen, irgendetwas anderem einen schönen Klang zu entlocken, dann spielen wir mit dem Feuer, wagen uns unerlaubterweise auf geweihten Boden vor.
»Warum spielst du eigentlich dieses winselnde kleine Ding?«, fragt Franklin manchmal im Vorbeigehen, wenn ich mich vor einer Stunde warmspiele.
»Das habe ich mir nicht ausgesucht«, erkläre ich ihm. »Es hat mich ausgesucht.«
»So was kann nur von einer Frau kommen«, erwidert er.
»Ich bin eine Frau. Also worauf willst du hinaus?«
Dann wird er ganz blass und sagt etwas wie: »Deine Stundenaufstellung stimmt hinten und vorne nicht. Die musst du endlich mal auf den neuesten Stand bringen.« Und geht weiter.
Wahrscheinlich bin ich in Franklin verliebt. Ich träume davon, dass er sich auch in mich verliebt und ich ihm sage, dass er sich eine richtige Stelle suchen soll - er hat in Stanford einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften gemacht -, und dann ziehen wir nach Nordkalifornien, machen nur noch zum Vergnügen Musik und kriegen fünf Kinder. Das wird natürlich nie passieren. Franklin bringt gerade genug Verachtung für mich auf, damit ich gefahrlos von ihm träumen kann. Er sieht nicht gut aus. Die Haare gehen ihm aus, und er hat fünf Kilo zugenommen, seit ich gleich nach meiner Scheidung vor drei Jahren angefangen habe, hier zu arbeiten. Irgendwann beschloss ich, dass er die Lösung für all meine Probleme sei, weil er so völlig anders ist als mein Exmann Mark Hooper, ein charismatischer Geschichtsprofessor an der UCLA in Los Angeles, der irgendwann den Avancen einer hilflosen und weinerlichen Studentin nachgab und dann versuchte, mir die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Er sagte, mein Wunsch, Musikerin zu sein, und meine Weigerung, in angemessener Höhe zu unserem Einkommen beizutragen, hätten ihn so sehr unter Druck gesetzt, dass er woanders nach Entspannung hätte suchen müssen. Ich dagegen glaube, er hat sich nie von dem Schlag erholt, dass ich seinen Namen nicht annehmen wollte. Warum sollte ich auch? Pearl Swain ist schon schlimm, aber Pearl Hooper ist noch schlimmer. Das erinnert zu sehr an diesen Versandhandel. Keine Lust mehr, Juwelierpreise für Ihren Schmuck zu zahlen? Dann bestellen Sie bei Pearl Hooper! Ich habe ihm den passenden Jingle dazu vorgesungen, und er hat gelacht; aber letztlich war meine Weigerung, seinen Namen anzunehmen, für ihn nichts weiter als eine Trotzreaktion, so als wollte ich mir ein Hintertürchen offen halten.
Zum Ende hin entdeckte er überall Beweise dafür, dass ich ihm gegenüber reserviert war, dass ich ihn ausschloss. Er behauptete, ich würde eigentlich nur die Musik lieben und hätte mich nie mit ganzem Herzen auf ihn eingelassen. Ich glaube, das war nur eine hochtrabende Entschuldigung dafür, dass er mit einer anderen Frau schlief. Einer wesentlich jüngeren, die an seinen Lippen hing, seine verblasenen Ideen bewunderte, seine grauen Schläfen attraktiv und sein Übergewicht sexy fand und überzeugt war, dass die Welt sein Genie verkannte. Einer Frau, die einer Fiktion von ihm anhing. Die ihn nicht genug liebte, um ihn nicht anzulügen.
Eigentlich sind sich Mark und Franklin gar nicht mal so unähnlich. Sie sind beide Lehrer, ausgebremst von ihren eigenen überzogenen Ansprüchen. Mark hasste es zu unterrichten und war der Ansicht, dass er populäre Geschichtsbücher veröffentlichen sollte. Dieser Meinung war ich auch. Aber ich fand einfach, er sollte diese Bücher erst einmal schreiben, bevor er wegen ihres Misserfolgs depressiv wurde.
Drei Monate nachdem Mark mich verlassen hatte und bei Stephanie, der weinerlichen Studentin, eingezogen war, nahm ich die Stelle bei McCoy’s an, um den Beweis anzutreten, dass ich sehr wohl von der Musik leben konnte. Es sollte nur eine Interimslösung sein, bis ich als Geigerin Fuß gefasst hatte, aber drei Jahre später unterrichte ich immer noch und tue so, als wäre es dasselbe, wie Profimusikerin zu sein. Mark erhielt nicht die erhoffte Quittung für sein Verhalten, aber wenn ich ihn wegen irgendwelcher Geldangelegenheiten anrufe - er zahlt nach wie vor für mein Auto -, dann sagt er ab und zu so rätselhafte und gewichtige Dinge wie: »Du weißt ja gar nicht, wie glücklich du dich schätzen kannst, dass du das tun darfst, was du tun willst, Pearl.«
»Tust du nicht, was du tun willst?«, erwidere ich darauf.
»Natürlich nicht. Du weißt doch, was ich will.«
»Du willst Bücher schreiben.«
»Ja«, sagt er und seufzt.
»Dann schreib sie.«
Er sagt: »Stephanie möchte Kinder haben, aber das können wir uns nicht leisten.«
»Was macht Stephanie gleich noch mal?« Ich weiß es, aber ich höre es immer wieder gerne.
»Sie arbeitet im Telefonmarketing. Aber sie würde lieber unterrichten.«
Gott steh ihm bei, er hat mich wegen einer Frau verlassen, die nicht einmal den Mut zum Unterrichten aufbringt.
Franklin wirft mir niemals verstohlene Blicke zu, gibt nicht einmal zu erkennen, dass er mich als Frau wahrnimmt, außer wenn er wieder einmal erklärt, dass Frauen die schlechteren Musiker sind. Es liegt nicht daran, dass ich hässlich bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich es aufgegeben habe, hübsch sein zu wollen.
Schönheit ist Arbeit und noch dazu eine, die viel kostet. Kein Model und keine Schauspielerin sieht von Geburt an so aus. Sie mögen hübsch auf die Welt gekommen sein, aber niemand ist von Geburt an hübsch genug. Sie haben gehungert, an ihrem Gesicht herumschnipseln lassen, man hat ihnen Fett vom Hintern abgesaugt und ihre Wangen damit aufgepolstert, sie haben sich Botox in die Lippen spritzen lassen, und zu guter Letzt wurden sie auch noch ausgiebig mit Photoshop bearbeitet. Erwischt man sie in einem Moment, in dem sie sich unbeobachtet glauben, dann begegnet man Frauen, die unzufrieden sind, herumnörgeln, Hunger haben, angespannt und erschöpft wirken und Männer aus tiefstem Herzen verachten.
In Los Angeles begegnet man solchen Frauen an jeder Ecke. Man sieht ihnen an, wie unglücklich sie sind. Das glauben Sie nicht? Dann versuchen Sie doch mal, auf der Straße vor einem ihrer SUVs einzuscheren. Sie wollen einen einfach nicht reinlassen. Hübsche Menschen lassen einen nie rein.
Nachdem meine Ehe gescheitert war, habe ich alle Anstrengungen, hübsch zu sein, aufgegeben. Früher habe ich meine Haare gefärbt, jetzt nehme ich hin, was Gott mir gegeben hat, ein mattes Kastanienbraun, noch ohne graue Strähnen und auf praktische Schulterlänge geschnitten. Franklin nennt so was Lesbenhaare. Meistens binde ich sie zu einem Pferdeschwanz zusammen oder stecke sie unter eine Mütze. Ich überschminke weder meine Stirnfalten - die ich mir redlich verdient habe - noch die erweiterten Äderchen auf meiner Nase, die meine Ahnen aus Schottland mitgebracht haben. Gelegentlich trage ich Lippenstift, was Franklin allerdings nie unkommentiert lassen kann. Lautstark verkündet er dann jedem im Laden: »Pearl geriert sich heute wieder mal als Frau!«
Der einzige Mann im Laden, der mich so nimmt, wie ich bin, ist unser Jüngster, Clive, der mir manchmal zuflüstert: »Weißt du, Joni Mitchell trug auch nie Make-up.« Darauf erwidere ich: »Wenn ich so singen könnte, dann würde ich euch sowieso alle zum Teufel schicken.«
Clive grinst. Er hört mich gerne fluchen. Ich weiß nicht, warum junge Männer fluchende Frauen anziehend finden, aber es ist so.
»Sie konnte auch Gitarre spielen«, sagt Clive dann, wobei er immer noch von Joni Mitchell redet. »Tolle Rhythmusgitarre. Sie war ihre eigene Rhythmusgruppe.«
»Erzähl das bloß nicht weiter«, warne ich ihn. »Sonst konfiszieren sie das Instrument womöglich.«
Clive findet mich absolut cool, weil ich Wörter wie »konfiszieren« gebrauche und mich auch nicht davor scheue, so ein Wort wie »Scheiße« in den Mund zu nehmen. Das gefällt ihm besonders, weil es nicht zu meinem Instrument, der Geige, passt, die angeblich nur verklemmte Leute spielen. Ihm gefällt auch, dass ich keine Angst vor Franklin habe und Bands mit einer Rhythmusgruppe tatsächlich gut finde. »In der Musik geht es ausschließlich um das richtige Timing«, habe ich ihm einmal erklärt. »Wenn man das nicht kapiert, hat man nichts kapiert.«
Auch wenn ich davon überzeugt bin, war es dennoch etwas unfair, ihn auf diese Weise auf meine Seite zu ziehen. Ich glaube, seither wäre er sogar bereit, sein Leben für mich aufs Spiel zu setzen.
Clive unterrichtet im Nebenzimmer Bass, und ab und zu höre ich, wie er einen Schüler anbrüllt. Manchmal klopfe ich dann sogar an seine Tür und bitte ihn, leiser zu sein. Das sage ich ganz freundlich und lege einen Finger an die Lippen.
Einmal, als wir gerade den Laden zusperrten, fragte er mich: »Warum brüllst du deine Schüler eigentlich nie an?«
»Das bringt nichts«, erwiderte ich.
»Aber sie sind so faul.«
»Nein, sie sind nur frustriert. Entweder spielen sie für ihre Eltern, und das zieht sie runter, oder sie spielen für sich selbst, und das zieht sie noch mehr runter.«
Clive überlegte einen Moment, wobei er sich über sein frisch sprießendes Ziegenbärtchen strich.
»Du bist ganz schön klug«, sagte er.
»Nein, ich nenne die Dinge nur beim Namen. Deswegen hat meine Ehe nicht gehalten und deswegen bleibt auch kein Mann bei mir.«
»Hey«, erwiderte Clive mit einem Überschwang an jugendlicher Großspurigkeit, »wenn ich ein paar Jahre älter wäre, hättest du dieses Problem nicht mehr.«
Er hielt das offenbar für ein Kompliment.
 
Ich war nicht immer eine geduldige Lehrerin. Das verschwieg ich Clive, weil er zu jung war, um es zu begreifen. Ich war auch zu jung, um es zu begreifen, bis diese Sache passierte. Ich hielt meinen Schülern oft eine Standpauke und wurde laut, oder aber ich seufzte, legte mein Instrument weg und sagte: »Das hat einfach keinen Sinn.«
Aber das war vor Hallie.
Der Beruf des Lehrers, egal ob man sich bewusst dafür entscheidet oder wie ich zufällig daran gerät, ist nicht auszuhalten, bis man dem Geheimnis auf die Spur kommt. Dieses Geheimnis lautet: Der Schüler ist auch dazu da, dem Lehrer etwas beizubringen. Vor Hallie habe ich lauter unsinnige Ansichten vertreten. Ich hatte eine Vorstellung vom Unterrichten, die vom exzessiven Konsum des Films Wunder geschehen herrührte. Ich dachte, ich würde dem Leben der Schüler eine neue Prägung geben. Ich dachte, ich könnte ihnen beibringen, Dinge zu hören, die sie noch nie gehört hatten.
Aber wer weiß schon, was zwischen den Schwingungen eines Akkords geschieht, zwischen dem Moment, wenn ein Ton die Saite und das Holz verlässt, und dem, wenn er sich irgendwo niederlässt. Das Kind denkt an etwas anderes. Das Kind hört etwas anderes.
Das war mir nicht klar gewesen. Ich hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet.
Es war an Halloween, einem Mittwoch, als ich Hallie kennenlernte. Dass ich mir diesen Tag nach wie vor im Kalender anstreiche, bereitet mir gewisse Sorgen. Ich frage mich, was ich damit festhalten will. Ich frage mich, ob ich sie oder mich zur Märtyrerin mache.
Ich hatte gerade Rosamund, meine beste Schülerin, verabschiedet, die sich mittlerweile als musikalisches Wunderkind entpuppt hatte. Sie war zehn Jahre alt und spielte, seit sie sechs war. Ihre Eltern waren überzeugt, dass eine große Zukunft vor ihr lag. Dem war auch so, sie musste es nur wollen. Rosamund - der Name, den Eltern ihrem einzigen Kind geben, verrät einiges über sie selbst - wollte es nicht. Rosamund wollte Fußball spielen, auf Bäume klettern und mathematische Gleichungen lösen. Sie konnte nur deswegen Zugang zur Geige finden, weil sie ein Mathegenie war. In der musikalischen Notation geht es ausschließlich um Mathematik, weshalb viele bedeutende Musiker nach Gehör spielen lernen. Dieses Phänomen erkläre ich immer mit folgendem Spruch: »Es gibt Menschen, die meinen, die Metaphysik sei für all jene da, die nicht rechnen können. Andere dagegen meinen, die Metaphysik sei für all jene da, die auf das Rechnen verzichten können.«
Das sage ich, wenn ich nüchtern bin. Wenn ich schon ein bisschen was intus habe, sage ich: »Am nächsten kommt man Gott mit der Musik. Es gibt Leute, die brauchen die Bibel und Rituale, um zu ihm zu gelangen. Andere gehen ohne Umweg zum Ursprung.«
Deshalb habe ich unter anderem meinen Alkoholkonsum eingeschränkt.
Die Stunde mit Rosamund an diesem Tag war schwierig gewesen, weil ich merkte, dass ihre Begeisterung abnahm. Und statt den Dingen ihren Lauf zu lassen und weil ich mir außerdem einbildete, ich würde das Geld brauchen, hielt ich ihr eine kleine Standpauke. Ich sagte: »Du glaubst offenbar, dass dir das alles in den Schoß fällt, Rosamund. Aber das tut es nicht. Du musst für die Musik hart arbeiten. Wir verschwenden beide nur unsere Zeit, wenn du nicht übst.«
»Ich übe doch«, jammerte sie.
»Du übst Notenlesen. Aber du übst nicht deine Bogenführung. Du machst das alles rein mechanisch.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich Kindern die Bogenführung erklären sollte. Meine übliche Erklärung lautete: »Es ist wie Sex. Eine Gefühlssache. Man merkt sofort, wenn es einer nach Schema F macht.«
Kindern sagte ich normalerweise: »Es ist wie Nähen. Oder wie wenn man eine Katze streichelt.«
Aber so war es nicht. Es war wie Sex.
Deshalb begriffen sie es nicht.
Wissen Sie, beim Geigespielen ist die Bogenführung alles. Einfach alles. Die Bewegung, das Gefühl, die Stimme, der Strich, die Geschwindigkeit, das Timing, die Frage, die Antwort, der Teufel und der Heiland. Man kann es gar nicht hoch genug einschätzen. Der Bogen birgt das Mysterium.
Das alles interessiert ein Kind nicht.
Weil Rosamund keine Probleme mit der Mathematik hatte, hatte sie Probleme mit der Bogenführung. Sie konnte den Bezug zum Spirituellen nicht herstellen. Deshalb beschränkte ich mich bei ihr auf Profanes. Ich sagte: »Du solltest die Handgelenkübungen machen, die ich dir gezeigt habe. Dein Handgelenk muss geschmeidig bleiben. Weißt du, was ich mit ›geschmeidig‹ meine?«
»Ist mir egal«, sagte sie trotzig.
»Das sollte es dir aber nicht sein.«
»Dann verklagen Sie mich doch«, sagte sie. Solche Sprüche hatte sie bestimmt von ihrem Vater, einem Patentanwalt und, natürlich, gescheiterten Musiker.
Am liebsten hätte ich sie angebrüllt. Am liebsten hätte ich gesagt: Weißt du eigentlich, was andere für deine Begabung geben würden, ganz zu schweigen von all den anderen Dingen, die dir einfach zufallen? Du besitzt eine fantastische Geige und hast genug Geld für den Unterricht. Ich habe mit einer beschissenen Geige und einer gutmütigen Hausfrau als Lehrerin angefangen. Wenn ich richtigen Unterricht bekommen hätte, dann wäre vieles anders gelaufen.
Aber ich sagte nichts dergleichen, ich sagte nur: »Bis nächste Woche.«
Ich hörte, wie sie die Treppe hinunterstürmte, und dann wartete ich auf eine neue Schülerin, die sich in der Woche zuvor angemeldet hatte. Ich glaubte nicht so recht daran, dass sie erscheinen würde. Neue Schüler erschienen meistens nicht. Zehn Minuten nach dem vereinbarten Unterrichtsbeginn fing ich an, meine Sachen zusammenzupacken. In diesem Moment hörte ich Schritte auf der Treppe.
Sie betrat das Zimmer, unter dem Arm einen abgegriffenen Geigenkasten. Für ihre vierzehn Jahre sah sie jung aus, blass, kurze schwarze Haare, die eine Augenbraue gepierct. Sie trug Jeans, ein ausgeblichenes schwarzes T-Shirt und Doc-Martens-Schuhe. Begleitet wurde sie von einer Frau, die ich für ihre Mutter hielt. Die Mutter hatte nichts vom Glamour der West Side. In ihrer geblümten Bluse aus Kunstseide und den schwarzen Jogginghosen machte sie eher einen schäbigen Eindruck. Sie sagte: »Das ist Hallie Bolaris. Sie will Geigenunterricht nehmen.«
»Na, dann ist sie hier genau richtig.«
»Eigentlich können wir uns das gar nicht leisten, aber sie bekommt eine staatliche Förderung. Offenbar hat sie eine gewisse Begabung«, sagte die Frau in einem Ton, als litte Hallie an einer unheilbaren Krankheit.
»Das kriegen wir schon hin, Mrs. Bolaris«, erwiderte ich. Die Frau schnaubte. »Ich heiße nicht Bolaris«, sagte sie leicht indigniert. »Sie ist die Tochter meiner verstorbenen Schwester. Meine Schwester war mit einem Griechen verheiratet. Ich heiße Edwards. Dorothy Edwards.«
»Ich verstehe, Mrs. Edwards.«
»Hallie ist Vollwaise. Als meine Schwester vor ein paar Monaten starb, mussten wir sie bei uns aufnehmen. Meine Schwester lebte in Sierra Madre.«
Sierra Madre ist eine Kleinstadt in der Nähe von Pasadena, die sich durch nichts weiter auszeichnet, als eine Kleinstadt in der Nähe von Pasadena zu sein. Aber so, wie Dorothy Sierra Madre aussprach, hätte man meinen können, es wäre der reinste Sündenpfuhl.
Hallie zeigte keine Reaktion, sie hatte die Geschichte offenbar schon zu oft gehört.
»Das ist aber sehr verdienstvoll. Dass Sie ihre Nichte adoptiert haben.«
»Ich bin nicht adoptiert«, sagte Hallie.
»Eine Adoption bringt nichts«, erklärte Dorothy. »Stapelweise Formulare, und teuer ist es auch. Außerdem will sie ihren Namen nicht ändern.«
»Ich will nicht adoptiert werden«, sagte Hallie.
»Sie weigert sich. Aber mir soll’s recht sein. Mein Mann und ich haben eigene Kinder. Zwei Jungen. Die machen keine Musik. Die machen Sport.«
»Ja, Sport ist eine schöne Sache.«
»Wie lange dauert der Unterricht?«
»Eine Unterrichtsstunde dauert dreißig Minuten, es sei denn, Sie wollen …«
»Prima.« Sie drehte sich zu ihrer Nichte um. »Ich warte unten auf dich.«
So, wie sie das sagte, klang es, als müsste sie dort ihren rechten Arm opfern.
Nachdem Mrs. Edwards verschwunden war, wandte ich mich Hallie zu. Sie hielt immer noch den abgegriffenen Geigenkasten umklammert.
»Ist in dem Kasten da eine Geige?«
»Ja, sie hat meinem Vater gehört«, sagte Hallie.
»Dein Vater … er ist auch nicht mehr unter uns, oder?«
»Er ist gestorben, als ich sieben war.«
»Und er hat dir das Geigespielen beigebracht?«
»Nein, er hat mir die Geige nur gegeben und gesagt, ich soll damit machen, was ich will.«
»Du kannst also nicht spielen.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich spiele ganz gut.«
»Na, dann hol sie mal raus und spiel mir was vor.«
Die Geige, die Hallie zutage förderte, war nicht viel neuer als der Geigenkasten. Sie war aus billigem Holz und hatte zweifellos bessere Tage gesehen, aber sie war offensichtlich viel gespielt worden. Wenn ein Holzinstrument gespielt wird, dann ist das bereits die halbe Miete.
Ich will Ihnen erklären, warum, auch wenn es Sie wahrscheinlich nicht interessiert. Daran ist ein Musiker gewöhnt - sich brennend für etwas zu interessieren, das allen anderen völlig egal ist. Für die meisten Leute ist Musik einfach da. Jederzeit verfügbar, man muss nur das Radio anstellen. Aber bevor Musik beschwingen kann, muss sie selbst erst einmal durch Schwingungen erzeugt werden - das heißt durch die Schallwellen, die Saiten auf Holz hervorbringen, Luft auf Blech, Holz auf Holz und so weiter. Schwingungen eben. Schwingungen tun allem Organischen gut. Wenn Holz in Schwingung versetzt wird, dann fängt es an zu leben, sonst stirbt es. Das mag ich an Musikinstrumenten. Sie leben. Sie haben Stimmungen. Sie sind verletzlich. Sie wollen gespielt werden.
»Weißt du, wie man sie hält?«, fragte ich Hallie.
Sie zog ihre gepiercte Augenbraue nach oben, dann klemmte sie sich das Instrument wie ein Stehgeiger unters Kinn.
Ich sagte: »Spiel mir irgendetwas vor.«
Sie seufzte und fiedelte gelangweilt eine Version von »Amazing Grace« herunter. Dass sie jeden Ton präzise traf, ließ auf ein gutes Gehör schließen, und auch wie sie den Bogen führte, sah ziemlich vielversprechend aus.
»Sehr schön«, sagte ich. »Wie viele Stunden hattest du bis jetzt?«
»Keine.«
»Keine?«
»Sag ich doch.«
»Wer hat es dir dann beigebracht? Dein Vater?«
»Nein.«
»Wer denn?«
»Niemand.«
»Was soll das heißen?«
»Ich hab einfach herumprobiert.«
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, dann hatte ich es mit einem jener seltenen Schüler zu tun, die mit echter Musikalität gesegnet waren. Sie musste nicht rechnen können. Anders als ein Schüler, der Fingerfertigkeit, Neigung oder sogar ein gewisses Talent besaß. Einen Star kann man nur aus einem Schüler mit einem angeborenen Sinn für Musik machen. Das wollen wir insgeheim alle, aus jemandem einen Star machen. Wir wollen alle, dass eine neue Jacqueline du Pré bei uns vorstellig wird. Wir wollen sie biegen und formen und weiterbringen und irgendwann vielleicht ein wenig Anerkennung für unsere Mühen ernten.
Das gestand ich nie gerne ein. Aber wenigstens gehörte ich auch nicht zu den Lehrern, die versuchen, ein Talent abzuwürgen. Von denen gibt es eine ganze Menge, ihre Zahl würde Sie ähnlich wie die von Scientologen und Freimaurern erschrecken.
Ich wollte nur im Windschatten eines verheißungsvollen Talents mitlaufen, mich ein bisschen in seinem Ruhm sonnen, etwas von seinem Erfolg auf mich abstrahlen lassen. Das sind die finsteren, hässlichen Geheimnisse des Unterrichtens, die ich Ihnen hier anvertraue. Merken Sie sich das gut.
Verlagsgruppe Random House
 
 
 
Die Bücher der Edition Elke Heidenreich erscheinen im C. Bertelsmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House.
 
 
1. Auflage
© der deutschen Erstausgabe 2009 by Edition
Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH © der Originalausgabe 2009 by Barbara Hall
eISBN : 978-3-641-03801-6
 
 
www.edition-elke-heidenreich.de
 
Leseprobe
 

www.randomhouse.de