Die Gezeiten des Himmels - Joachim Zießler - E-Book
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Die Gezeiten des Himmels E-Book

Joachim Zießler

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Beschreibung

Das Lied von Tag und Nacht.

Rocq wird von der Nordseeküste nach Kreta zu den Priesterinnen der Muttergöttin Astarte gerufen. Er soll für sie eine Kopie seiner Himmelsscheibe anfertigen. Dann bricht der Vulkan auf Santorin aus. In letzter Minute gelingt es Rocq und seinem Bruder, sich auf ein Schiff zu retten. Auch Melana, eine der Priesterinnen, reist inkognito mit. Während der gefahrvollen Überfahrt verlieben sich Roqc und Melana, was jedoch einem Rivalen nicht verborgen bleibt. Und schon bald zu einer großen Gefahr für die beiden wird ...

Liebe in Zeiten der Apokalypse und die Geschichte einer gefahrvollen Reise.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Informationen zum Buch

Das Lied von Himmel und Liebe

Rocq wird von der Nordseeküste nach Kreta zu den Priesterinnen der Muttergöttin Astarte gerufen. Er soll für sie eine Kopie seiner Himmelsscheibe anfertigen. Dann bricht der Vulkan auf Santorin aus. In letzter Minute gelingt es Rocq und seinem Bruder sich auf ein Schiff retten. Auch Melana, eine der Priesterinnen, reist inkognito mit. Während der gefahrvollen Überfahrt verlieben sich Roqc und Melana, was jedoch einem Rivalen nicht verborgen bleibt. Und schon bald zu einer großen Gefahr für die beiden wird …

Eine packende Saga aus der Bronzezeit

Joachim Zießler

Die Gezeiten des Himmels

Historischer Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Personen

Prolog

An vergessenen Wurzeln

Vergossenes Blut

Eine Doppelaxt für die Göttin

Der unersättliche Gott

Der Diskos

Der steinerne Regen

Der nasse Tod

Der ertränkte Stier

Unter Löwen

Das Gelübde

Auf dem Seuchenschiff

In der Gewalt des Auserwählten

Das tödliche Gottesurteil

Der Gürtel des Jägers

An der Schwelle zur Anderwelt

In einer anderen Welt

Epilog

Historische Anmerkungen

Über Joachim Zießler

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Für Fanny, die Hafen und Schlachtruf zugleich ist

PERSONEN

Legur

Sohn von Rocq und Melana

Rocq

Schmied der Himmelsscheibe, Astronom vom Mittelberg

Tyr

Alter, ehemaliger Heiler vom Mittelberg

Praro

Priester vom Mittelberg

Urdus

Hirte im Süden Jütlands

Aria

Astarte-Hohepriesterin in Tyros; Ziehmutter Melanas

Melana

Astarte-Priesterin aus Tyros mit Heilkenntnissen

Hamilkar

Phönizischer Händler und Kapitän

Lassia

Hohepriesterin auf Kreta, der Insel der

Stierspringer

Malech

Bruder Rocqs

Artes

Krieger und bester Freund von Rocq

Lokmaddu

Hohepriester Melkarts in Tyros

Bogwhil

Zweiter Hafenmeister in Enkomi, Zypern

Syria

Astarte-Priesterin aus Enkomi

Almene

Astarte-Priesterin-Novizin aus Enkomi

Sigo

Matrose Hamilkars

Manu

Falos Mutter

Falo

Junge in Kudonija, Nordkreta

Nino

Matrose auf der

Dido

mit den besten Augen

Neleus

Herrscher in Pylos auf dem Peloponnes

Kalio

Bartscherer und Schiffsarzt auf der

Dido

Mako

Priesterhäuptling auf Nuraghia (Sardinien)

Havlar

Matrose aus Wilusa (Troja)

Xandru

Dorfältester auf der

Bienenkorb-Insel

, Korsika

Ronin

Vermeintlicher Heiler auf der

Bienenkorb-Insel

Klynestra

Ronins Frau, die wahre Heilerin

Tamerlan

Steuermann auf der

Dido

Ghul

Schreckensherrscher an der Aude, Südfrankreich

Jul

Bauer an der Garonne

Naval

Schiffsbauer in Lous (Toulouse)

Tore

Flussfischer an der Garonne

Ayla

Tores verstorbene Frau

Hillo

Dorfältester am

Fluss-Meer

, der Gironde bei Royan

Carnac

Ermordeter Dorfältester in »Ligne« (Carnac, Bretagne)

Menhop

Kriegerfürst in Ligne

Sellie

Dorfälteste bei den »Hurlers«, Cornwall

Fist

Schmied in Stonehenge

Cadha

Weise Frau in Stonehenge

Jarne

Häuptling in Jütland

Hanse

Priester in Jütland

Martha

Jarnes Frau

Rimas

Fischer an der Ostküste Jütlands

Rigur

Legurs Onkel im Nachbardorf

PROLOG

Kam er zu spät? Beerdigten sie auch hier die Götter? Obwohl seine Muskeln schon brannten, beugte sich Legur nach vorn und begann, den dunklen Berg hochzulaufen. Fackelschein drang durch die spärlicher werdenden Bäume und aus hunderten Kehlen erklang ein seltsam klagendes Lied. Um ein großes Feuer drehten sich Tänzer im Rhythmus einer Trommel. Legur spürte, wie der stampfende Gleichschritt der Tänzer den Boden erbeben ließ. Nicht alle hatten es bis zu dem heiligen Ort geschafft. Aus den Augenwinkeln sah Legur einen dürren, alten Mann am Fuße eines Grabes knien. Dutzende dieser dunklen Hügel umrahmten die kahle Bergkuppe wie eine Perlenkette. Fürsten aus besseren Tagen waren hier bestattet. Der alte Mann drückte sein Gesicht auf den feuchten Boden. Legur hörte ein Schluchzen. Er hielt an.

»Was passiert dort oben?«

Tränenverschleierte Augen unter einer dreckverkrusteten Stirn blickten Legur an: »Es gibt keine Hoffnung mehr. Sie übergeben sie der Anderwelt! Die Scheibe der Götter!«

Legur spürte, wie das Blut in seinen Schläfen pochte. Hatte er umsonst das Nebelmeer überquert, sich den großen Strom flussaufwärts gekämpft? Überall hatte er nur Leid und Elend gesehen. Die Menschen schlachteten ihr letztes Vieh. Wer es schon vor Wochen gemacht hatte, hungerte. Und immer wieder der flehentliche Blick zur Sonne. Sie blieb versteckt hinter einem Schleier. Blass, kraftlos, sterbend.

Aber er war gekommen, um die Scheibe zu sehen. Wenigstens noch einen Blick wollte er erhaschen. Legur griff dem alten Mann unter die Achseln, hob ihn auf die Füße. Er war federleicht.

»Stütz dich auf mich. Das letzte Stück schaffen wir auch noch.« Ein Lächeln entblößte eine Mundhöhle, in der nur noch wenige, abgenutzte Zähne zu sehen waren: »Danke.«

Aneinandergeklammert erreichten die beiden ächzend und schwitzend den Waldrand. Kurz vor ihrem Ziel verwehrte ihnen eine Wand aus Eichenbohlen den Blick auf das Geschehen. Als sie durch eine Lücke in den Lichtschein der vielen Feuer traten, verschlug es ihnen die Sprache.

Glutrot erstrahlten die Gesichter der Tanzenden. Die flackernden Flammen verliehen ihnen das Antlitz der Sonne – der mächtigen, die noch die Vorväter kannten, die auf ihren Feldern das Leben sprießen ließ und die sie nun schon vor einigen Sommern verloren hatten. Der Atem und der Schweiß der Menge stiegen in der Winternacht wie Dampf auf. Mittlerweile strebte die Zeremonie ihrem Höhepunkt entgegen. Als die Trommel verstummte, hörten die Menschen auf zu tanzen. Die Menge teilte sich, bot den letzten Strahlen der untergehenden Sonne eine Gasse. Durch das gegenüberliegende Tor trat der Priester auf die Lichtung. An einem Strick führte er einen Bullen, der einen Wagen zog. Auf dem Gefährt lag der Gegenstand, wegen dem Legur die beschwerliche Reise angetreten hatte: Nachtschwarzer Untergrund, darauf golden blinkend der Vollmond, die Mondsichel und Sterne – unter ihnen das Siebengestirn. Verwirrt starrte Legur auf die Scheibe, als der zweirädrige Karren an ihm vorbeirumpelte. Etwas störte ihn. Von dem goldenen Bogen am Rand und der Sonnenbarke unten hatte er nichts gewusst.

Der Priester führte den Bullen jetzt durch die schweigende Menge. Genau in der Mitte des heiligen Runds hielt er an. Helfer schirrten das Tier ab, drängten es etwas abseits. Auf ein Handzeichen des Priesters hin zog einer der Gehilfen blitzschnell ein schwarz glänzendes Obsidianmesser durch den Hals des Tieres. Der Stier brüllte auf, versuchte zu entkommen, doch starke Arme zwangen seinen Kopf zu Boden. Pulsierend spritzte das Blut aus der Wunde und füllte eine Holzschüssel. Als das Tier mit einem letzten Zucken starb, löste sich der Priester aus seiner Erstarrung. Vom Wagen ergriff er zwei bronzene Spiralen, hob sie über seinen Kopf und trug sie langsam zu dem Göttergrab. Ein kurzes Zögern, dann ging er murmelnd in die Knie und legte die glänzenden Spiralen vorsichtig in die Totenstätte, die in der dunklen Erde so hell leuchtete wie frischer Schnee. In ihrem Inneren war sie vollständig mit hellen Sandsteinplatten ausgekleidet. Wie die Grabkammer eines Fürsten, dachte Legur. Mit zwei Bronzebeilen und einem Meißel wiederholte der Priester das Ritual. Dann präsentierte er der Menge zwei Schwerter, die ein Meister aus dem Süden geschmiedet haben musste, so perfekt wirkten sie. Als sie mit einem leisen Klirren in dem Grab verschwanden, begann die Menge zu murmeln. Der letzte fahle Sonnenstrahl traf die aufrecht am Wagenheck lehnende Scheibe. Als ob ein Gott mit letzter Kraft den Finger nach dem Werkzeug ausstreckte, das einst seine Verbindung zu den Menschen gewesen war. Das Murmeln erstarb, als der Priester aufstand, die Arme ausbreitete und sein Gesicht der Sonne zuwandte: »Du greifst schon nach ihr? Du hast recht, wir haben keine Verwendung mehr für sie. Weil du uns verlassen hast. Warum sollen wir säen, wenn du nichts mehr sprießen lässt? Was sollen wir ernten, wenn nichts erblüht? Du ziehst noch über den Himmel, aber du weist uns nicht mehr den Weg. Deshalb musst du dir die Scheibe auch nicht von uns holen.«

Bei seinen letzten Worten riss der Priester die schwere Scheibe mit einem Ruck über seinen Kopf, hielt sie der Sonne entgegen. »Wir geben diese Scheibe derjenigen zurück, deren Leib wir die Metalle einst entrissen, um dich zu ehren: unserer aller Mutter.« Der Priester fiel am Rande des Grabes auf die Knie und lehnte die Scheibe behutsam ans Kopfende der Steinkammer. »Bitte, nimm unser Opfer an und lass das Licht und die Wärme zurückkehren!«

Dumpfer Trommelschlag setzte wieder ein. Die Menge begann, sich langsam um das Göttergrab zu drehen.

Legur blieb als Einziger am Rande des Geschehens stehen. Fasziniert starrte er auf die Scheibe, die gerade von der ersten Schaufel Erde getroffen wurde. Für die Menschen um ihn herum war sie ein Werkzeug der Götter, aber er wusste es besser: Die Scheibe war eine Schöpfung seiner Familie. Sein Vater hatte sie geschmiedet.

AN VERGESSENEN WURZELN

Legur spürte den Blick des Alten, bevor dieser mit krächzender Stimme das Wort an ihn richtete: »Du stammst nicht von hier. Woher wusstest du von der Scheibe … ihr Götter, habt ihr mich verwirrt oder mit Blindheit geschlagen?« Scheu hob der Alte die Hand, strich über Legurs Umhang aus Flachsgarn und Schafwolle, dann packte er mit überraschender Kraft die Schultern des Mannes, der ihn um einen Kopf überragte. »Wären deine Haare braun und nicht schwarz und deine Augen blau statt grün …«

Legur lachte. »Und wäre mein Wuchs etwas kleiner und meine Schultern etwas breiter, würdest du meinen Vater durchschütteln.«

»Rocq! Du bist sein Sohn! Wie geht es ihm? Wo lebt er? Lebt er überhaupt noch?«

»Es geht ihm bestens«, unterbrach ihn Legur. »Er hat die Grenzen der Welt erkundet, seinen Platz gefunden und mir den Namen Legur gegeben. Aber sag, wer bist du?«

»Man nennt mich Tyr. Ich bin … ich war der Heiler. Ich habe deinen Vater der Anderwelt entrissen, als er – lange bevor er seinen ersten Bart bekam – unseren besten Fischern zeigen wollte, wie man die Reusen füllt. Stattdessen zeigten die Fische ihm, dass vorlaute Knaben unter Wasser nicht atmen können. Aber, auch wenn die Götter uns verlassen haben: Dies ist ihr Ort. In die Vergangenheit reisen können wir besser unter meinem Dach statt auf ihrem heiligen Berg. Viel zu essen kann ich dir zwar nicht anbieten, aber einen Schlafplatz und einen Becher Umyss.«

Allein die Aussicht auf die säuerliche, vergorene Milch ließ Legurs Magen sich schmerzhaft zusammenziehen. Ausgehungert wie er war, könnte sogar Umyss ihn berauschen. Dennoch zögerte er keinen Wimpernschlag.

»Wie könnte ich dein Angebot ausschlagen? Wer den Vater den Fischen entrissen hat, darf erwarten, dass dessen Sohn ihm ein paar Holzscheite aufs Feuer legt – und ihm vielleicht sogar ein paar Fische angelt.«

Tyrs Augen blitzten: »Aber nur, wenn du versprichst, dass ich nicht auch deinetwegen mit der Anderwelt ringen muss. Ich werde sie noch früh genug selbst erkunden. Doch jetzt komm!«

Tyr drehte sich vom Feuer weg und stapfte los. Legur warf einen letzten Blick auf das steinerne Grab, in dem nun das Werk seines Vaters ruhte. Sogar unter der sich auftürmenden Erde meinte er noch die goldenen Monde und Sterne der Scheibe zu sehen, die den Schein der Flammen reflektierten. Vielleicht können Menschen die Götter nicht beerdigen, dachte Legur. Vielleicht ziehen sich die Götter zurück, wenn ihnen danach ist. Und kehren genauso wieder, wie das Meer, egal, was wir tun. Oder sie kehren uns den Rücken, weil unsere Niedertracht sie beleidigt. Der Gedanke schnürte ihm die Brust zusammen. Eine weitere Schaufel Erde landete auf dem Haufen. Das metallische Blinken erlosch. Legur wandte sich ab und schloss schnell zu dem Alten auf. Schweigend gingen die beiden durch den nachtkalten Wald bergab. Der Marsch hatte sie bereits wieder erwärmt, als sie ein Tor in einem Erdwall passierten, der dreimal so hoch war wie sie. Das Tor war offen und unbewacht. Noch vor wenigen Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Der heilige Bezirk war entweiht.

Sie hatten die Kette der Gräber längst passiert, waren den Berg schon halb hinabgestiegen, als Tyr auf einer Lichtung stehen blieb. Er ließ den Blick schweifen. Links von ihm deutete nur der etwas hellere Horizont an, wo die Sonne unterging. Er zeigte mit dem rechten Arm geradeaus.

»Dort kannst du gerade noch die beiden Berge sehen. Zwar hält der Sonnenwagen noch immer zum Frühlingsanfang bei dem einen und am Ende des Sommers bei dem anderen. Aber was nützt uns das? Was wir säen, verkümmert. Was wir ernten, macht nicht satt. So folgten alle Praro, unserem neuen Priester und Möchtegern-Heiler. Er sagt, die Mutter Erde ist uns näher als der Sonnengott. Jetzt kann uns nur noch sie nähren. Was glaubst du?«

Legur zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte, die Antworten der Götter liegen hinter demselben Schleier versteckt, der unseren Himmel verdunkelt. Aber vielleicht gelang es meinem Vater und meiner Mutter, einen Zipfel dieses Schleiers zu lüften. Lass mich dir ihre Geschichte erzählen und entscheide selbst. Wie weit ist es bis zu deiner Hütte?«

»Nicht mehr weit. Wenn wir den Berg verlassen haben, folgen wir einem Bach im Wald, der direkt an meinem Heim vorbeifließt. Es liegt etwas abseits des Dorfes. Besser, es sieht dich nicht jeder. Wenn der Hungerwurm schmerzhaft an den Eingeweiden nagt, gibt man Fremden gerne die Schuld an allem Übel.«

Legur nickte, während sie ihren Marsch fortsetzten. Auf dem Weg zu den Wurzeln seiner Familie war er der Wut der Verzweifelten mehrmals nur knapp entkommen. Seine Gedanken wanderten zurück, die Hand fasste nach dem Feuersteindolch in seinem Gürtel, dessen Griff wie ein Fischschwanz geformt war. Er hatte sogar einem Mann das Leben nehmen müssen, um fliehen zu können. Nachdem er seine Heimat, die große Insel im Norden, durchquert hatte, ließ er sich zur Nachbarinsel übersetzen. In einem versteckten Weiler im Zentrum der Insel fand er Unterschlupf für die Nacht. Ein kleiner Stall war offenbar schon lange verwaist. Kaum hatte er sich auf das Stroh gelegt, trat ein riesenhafter Mann mit einer Keule die Tür ein.

»Wolltest du sehen, ob du Erfolg hattest?«, schrie er. »Den hattest du fast. Meine Schafe tranken aus dem Brunnen, den du vergiftet hattest, und starben. Ebenso meine Töchter. Aber du folgst ihnen nach.« Er schwang die im Feuer gehärtete Holzkeule über dem Kopf, eine schwarze Klinge aus Obsidian an der Seite blitzte auf. Doch er war nur ein wütender, verwirrter Hirte, während Legur ein Kämpfer war. Der Riese sprang auf das Strohlager zu, die Keule sauste herunter, Legur rollte sich vor die Füße des Tobenden und aus der Drehung stieß er ihm von unten den Feuersteindolch, der dicht an seiner Seite gelegen hatte, in den Unterleib. Der Riese brüllte auf, doch als Legur die Waffe in der Wunde drehte, ließ der Schmerz die Knie des Hirten einknicken. Mit einer schnellen Handbewegung gelang es Legur, den Dolch zu befreien. Dann riss er seinen Arm nach oben und stieß dem Gegner die Klinge in die Kehle. Gurgelnd fiel der Riese nach hinten. Er fand schnell den Weg in die Anderwelt, doch Legur wusste, dass er noch nicht in Sicherheit war. In der Tür standen die Männer des Ortes. Sie heulten vor Wut. Nur die mühelose Schnelligkeit, mit der Legur ihren stärksten Mann besiegt hatte, hielt sie von einem Angriff ab. Das war sein Glück.

»Hört mir zu. Ich bin Legur, Rocqs Sohn. Ich habe euren Brunnen nicht vergiftet. Auch bei uns sterben Vieh und Mensch. Aber vor Hunger!«

Den bluttriefenden Dolch vor sich haltend, ließ Legur die Männer nicht aus den Augen. Langsam wich der Hass aus ihren Blicken, machte wieder dumpfer Verzweiflung Platz.

»Zeigt mir euren Brunnen«, befahl Legur. Er wollte weg von dem Toten und raus aus dem Stall, der auch für ihn noch zur Todesfalle werden konnte. Die Männer blickten sich an, bewegten sich aber nicht. »Na los, ich beweise euch, dass in dem Brunnen kein Gift ist.«

Erst jetzt ging ein Ruck durch die Gruppe. Sie gaben den Eingang frei, stellten sich mit ihren Knüppeln und Sicheln wie zu einem Spalier auf. Legur griff ins Stroh, holte seinen Beutel und sein Schwert hervor. Raunend wichen die Männer noch einen Schritt zurück, als sie die Bronzeklinge in der Hand Legurs blinken sahen.

»Komm«, sagte ein alter Mann. »Zeig uns, dass du die Wahrheit sagst, und Urdus zu Recht getötet hast.« Er drehte Legur den Rücken zu und hinkte zu dem Brunnen in der Mitte des Weilers. »Aus dem trinken wir nicht mehr, seit Urdus’ Schafe vor fast einem Mond verreckten und er sagte, das läge am Gift.«

Einen Monat. Vielleicht waren die Töchter des Hirten sogar verdurstet, dachte Legur. Er spähte in die Tiefe. Zumindest schwamm kein Kadaver im Wasser. Seine Chancen stiegen.

»Zieht mir einen Eimer Wasser hoch.« Als der Bottich oben war, steckte er seinen Dolch hinter den Gürtel, griff sich die hölzerne Schöpfkelle, und nahm etwas Wasser. Kein fauliger Geruch. Er musste es darauf ankommen lassen, wenn er nicht gegen das ganze Dorf kämpfen wollte. Mit einem Ruck stürzte er die ganze Kelle seine Kehle hinunter. Frisch. Klar. Er schöpfte eine neue Kelle, hielt sie dem alten Mann hin. Ein Zögern, dann trank er. Die Männer jubelten, dann tranken auch sie. Obwohl die Erleichterung die Feindseligkeit schnell in Scham verwandelte, zog Legur noch in derselben Nacht weiter und schlief im Wald.

Heute war das glücklicherweise nicht nötig und Legur freute sich, der Nachtkälte unter einem Dach entgehen zu können.

»Wir sind da«, unterbrach der Alte seine Gedanken. Sie standen vor einer kleinen, windschiefen Hütte, die sich an den Waldrand duckte. Offenbar hatte Tyr keine Sippe mehr, sonst würde er in einem Langhaus wohnen, in dem die Verwandten und das Vieh Unterkunft fanden. In Tyrs Hütte hatten nur Zauberhilfsmittel Platz. Kein Tisch, kein Regal, keine Nische, die nicht von getrockneten Kräutern, Pilzen oder Beeren belegt waren. Unter dem Schilfdach unterhalb des Rauchabzugs hingen geräucherte Schlangen und Wurzeln, die die Form von Menschen hatten. In einem Regal, das bis zur Decke reichte, standen bauchige Gefäße aus Holz oder Keramik, bei denen Legur sich nicht sicher war, ob er wirklich wissen wollte, was sich darin befand. Das Heim eines Heilers.

Tyr wuchtete einen Krug voller Körner und einen leeren Korb in die Ecke und bot Legur den freigeschaufelten Hocker an. Er selbst setzte sich auf sein Bett, nachdem er die Glut in seiner Feuerstelle angefacht und Holz nachgelegt hatte.

»Rocq hat also einen Sohn. Wie hat er es bloß geschafft, dass sich eine Frau für ihn erwärmt?« Ein fast zahnloses Grinsen entschärfte die Worte. »Als er noch hier lebte, hätte er jede Frau für einen Schmelzofen stehengelassen und eine Nacht der Erfüllung war für ihn, wenn er den Tanz der Sterne beobachten konnte.«

Legur lachte. »Du kennst meinen Vater wirklich gut. Aber du kennst meine Mutter nicht. Sie hat ihm den Kopf zurechtgerückt. Die beiden sind wie Kupfer und Zinn: Erst zusammen sind sie perfekt, werden sie zu Bronze. Sie wünschten sich allerdings, sie hätten in weniger bewegten Zeiten zu einer Einheit verschmelzen können.«

»Ich bin überzeugt davon: Wenn du von beiden das Beste bekommen hast, verfügst du über die notwendige Härte, um auch in einer Welt ohne Sonne zu bestehen. Aber ich vergesse meine Manieren, jetzt trinken wir den versprochenen Becher Umyss zu Ehren deiner Eltern und essen einen Teller Getreidegrütze, um den Hungerwurm ruhig zu stellen – und dann erzählst du deine Geschichte. So alt meine Ohren auch werden, davon können sie nicht genug hören.«

»Und eine Geschichte wie diese haben deine Ohren noch nie gehört«, versprach Legur. »Eine von fremden und doch vertrauten Göttern, von Verrat und Niedertracht, von einer Städte verschlingenden Flut und davon, wer die Welt in Dunkelheit hüllt.«

Tyrs Mund schloss sich erst wieder, als er den sauren Umyss auf der Zunge schmeckte. Schweigend löffelten die Männer die Grütze. Die Portionen waren schmal, noch vor Jahren hätte man sie höchstens Frauen angeboten. Die Herzlichkeit des alten Mannes und bohrender Hunger drängten Legurs schlechtes Gewissen so lange in einen Winkel seiner Seele, bis er aufgegessen hatte. Die Wärme in der Hütte vertrieb langsam die Erinnerung an die Kälte draußen. Dann erzählte Legur seine Geschichte. Sie beginnt 18 Jahre früher, am Ufer eines fremden Meeres, unter südlicher Sonne.

VERGOSSENES BLUT

Die Zeremonie befand sich auf ihrem Höhepunkt. Aria stand allein vor dem Opferstein, die Arme erhoben, nackt. Hinter sich hörte sie das leise Tappen bloßer Füße und Geflatter. Eine der Novizinnen brachte ihr die Taube. In einem Käfig natürlich, denn das heilige Tier der Astarte war tabu, durfte von normalen Menschen nicht einmal berührt werden. Das war nur der Hohepriesterin erlaubt. Und mehr als das. Aria packte den Zedernholzgriff des Bronzedolches auf dem Opferstein. Nur ungern vergoss sie das Blut, aber ihre Göttin verlangte danach. Sie schützte die Krieger in den Streitwagen während der Schlacht ebenso wie die gebärenden Frauen und die säenden Bauern. So mächtig und so alt konnte Astarte nur werden, weil ihr der Lebenssaft selbst geopfert wird, dachte Aria. Sie griff nach der zappelnden Taube in dem kleinen Käfig, zog sie an den Flügeln hoch und hielt sie über sich. Die Rechte mit dem Bronzedolch ging schon Richtung Hals des todgeweihten Tieres, als sie erneut Schritte hinter sich hörte – diesmal aber von besohlten Schuhen. Wütend wirbelte Aria herum.

»Wer wagt es, die Zeremonie zu …«

Sie vollendete den Satz nicht und starrte mit offenem Mund auf die vier Männer, die nicht einmal den Tempel hätten betreten dürfen. Aber das wussten sie, denn sie waren selbst Priester – allerdings eines anderen Gottes: Melkart. Sie trugen Schwerter in den Händen, aber Aria hätte auch ohne diese gewusst, dass es den Melkart-Jüngern nicht um eine bloße Entweihung ihres Tempels ging. Wut kochte in ihr auf.

»Euch ist wirklich nichts heilig! Erfreut euren Gott die Schändung heiliger Orte? Will er eine größere Ecke im Götterhimmel haben?« Dann ließ sie die Taube los, die aufgeschreckt unter das Tempeldach flatterte. Diese kurze Ablenkung nutzte Aria, und griff an. Schließlich war sie die Hohepriesterin einer kriegerischen Göttin. Mit einem Ausfallschritt erreichte sie den ersten Priester, rammte ihm den Dolch in die Seite, so dass er mit einem heiseren Schrei auf die Knie sackte. Das löste die Erstarrung seiner Begleiter. Blitzartig umringten sie die Frau, ein Hieb traf ihren Hals, ein Schwert bohrte sich in ihre Seite. Aria schrie nicht, als sie fiel. Sie dachte an die Frau, die ihr wie eine Tochter war: Um Astarte willen, flieh, Melana!

Einen Todesschrei hätte Melana gehört, so nahe war sie dem Tempel bereits. Sie drückte sich in den Schatten der Lehmhäuser, um der Glut der Mittagssonne zu entgehen. Als sie die Straßenecke erreichte und schon die Säulen des Tempeleingangs sehen konnte, flog eine Taube aus dem Gebäude ins Freie. Melana erstarrte.

Dann sah sie die vier Männer aus dem Inneren auf die Freitreppe treten. Gerade noch konnte Melana einen Schrei unterdrücken. Zwei Männer stützten einen Gefährten, dessen Umhang noch stärker von Blut besudelt war als die der anderen. Schnell liefen sie die Treppe herunter und verschwanden in einer Nebenstraße. Melana wehrte sich gegen den Impuls, sofort loszueilen, aus Angst, entdeckt zu werden. Nach ein paar Herzschlägen hielt sie es jedoch nicht mehr aus, löste sich aus dem Schatten der Hauswand, an die sie sich gekauert hatte und lief auf den Tempel zu, der ihr zugleich Heimat und Schule war. Ihre rechte Hand umklammerte die Tasche mit frisch gesammelten Kräutern, deren Riemen von ihrer nackten Schulter baumelte. Neben dem Eingang lagen die beiden Novizinnen, die ihrer Ziehmutter bei der Zeremonie helfen sollten. Der Blick gebrochen, die Kehlen durchtrennt. Melana keuchte auf und lief ins kühle Innere. Als sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah sie Aria vor dem Opferstein liegen. Sie hastete durch die stetig wachsende Blutlache, kniete neben der Nackten, achtete nicht darauf, dass ihr weißes Kleid durchtränkt wurde. Ihre Finger fanden keinen Puls mehr, bestätigten, was die Augen schon erkannt hatten: Hier war ihre Heilkunst machtlos. Aria war ermordet worden. Ein tierischer Laut kam aus Melanas Kehle, sie umarmte die Tote, Tränen benetzten deren kühler werdende Haut. Dann richtete sie sich abrupt auf. Aria hatte recht gehabt, in Tyros war sie nicht mehr sicher. Zögernd stand Melana auf. Sie würde Aria nicht mal ein richtiges Begräbnis ausrichten können. Aber sie war sich gewiss, dass die Göttin ihre Hohepriesterin hinübergeleiten würde, auch ohne dass jemand die Beschwörungsformeln singt.

In ihrer Kammer im Nebengebäude wusch Melana sich hastig das Blut ab, zog ein frisches Priesterinnengewand an, versteckte es aber unter einem derben Leinenumhang, wie ihn Bäuerinnen trugen, und packte ein Bündel mit ihrem wenigen Besitz.

»Häng dein Herz nicht an irdische Güter«, hatte ihr Aria stets eingeschärft. »Besitz behindert dich nur, wenn du dein Leben retten musst – und Astarte kannst du damit auch nicht beeindrucken.«

Ein Rat, der jetzt ihre Flucht erleichterte. Ihr langes schwarzes Haar trug sie nun nicht mehr wie eine Priesterin offen, sondern bändigte es mit einem Zopf und versteckte es unter einem Tuch. Im Hinausgehen blickte sie in einen bronzenen Spiegel und war zufrieden: Der grobe Umhang versteckte ihre schlanken, dennoch fraulichen Formen. Noch ein bisschen Dreck in das allzu blasse Gesicht geschmiert und sie sah aus wie eine Bäuerin, die wegen des Marktes in die Hafenstadt gekommen war.

Jetzt musste es schnell gehen. Melana ahnte, dass die Mörder nach ihr suchten, ihr, der letzten Astarte-Priesterin von Tyros. Sie kletterte aus dem Fenster ihres Zimmers, weil sie nicht noch einmal an der Leiche vorbei wollte und vor dem Eingang des Tempels von vielen Seiten zu sehen gewesen wäre. Ihr Blick fiel auf die felsige Klippe, die der Stadt ihren Namen gab. Tief unten schwappte das Meer sanft in einer windgeschützten Lagune an die Molen des Osthafens. Der Weg dorthin war lang, denn Astarte war die Älteste im Götterhimmel, ihr Tempel stand auf dem höchsten Punkt der Stadt. Melana schulterte ihr Bündel und marschierte los. Nicht direkt auf der sonnendurchfluteten, breitesten Straße zum Hafen, sondern im Zickzack durch verwinkelte Gassen. Der Weg erschien ihr endlos. Oft blickte sie sich um, weil sie hinter sich Schritte in den ansonsten von der Mittagshitze geleerten Nebenstraßen zu hören glaubte. Als sie endlich das Kreischen der Möwen vernahm und die salzige Seeluft roch, hämmerte ihr Herz wie ein Schmiedehammer gegen die Rippen. Nicht vor Anstrengung, sondern aus Angst. Was, wenn sie kein Schiff fand? Welche Chancen hatte ihre Flucht auf dem Landweg? Während sie sich bemüht langsam den Molen näherte, beruhigte sie sich etwas. Der Hafen summte wie ein Bienenkorb. Richtung Westen entlud ein Fischer den Morgenfang aus seinem Boot, das aus einem Einbaum gebaut worden war. Er hatte Mühe, die Körbe über die Bordkante zu wuchten, die mit einer Planke gegen Wellenschlag erhöht worden war. Gleich daneben lieferten sich der Kapitän eines Kriegsschiffes und ein fliegender Händler ein Schreiduell. Das imponierend große Kriegsschiff mit dem roten Rammsporn und den Raubtieraugen am Bug wurde gerade beladen, und offenbar fühlte sich der Händler betrogen. Eine junge Frau auf einem Kriegsschiff? Keine gute Idee. Noch bevor ihr Verstand einen Entschluss gefasst hatte, bewegten sich Melanas Füße zur Ostseite des Hafens, wo das Gewimmel kaum noch überschaubar war. Fünf Schiffe machten sich hier bereit, abzulegen. Offenbar Händler, die im Verbund fuhren, um sich besser gegen Piraten behaupten zu können. Das sprach für eine längere Reise, vielleicht zur Kupferinsel im Norden oder zu den Herrschern der Pyramiden im Süden. Melana beschleunigte ihren Schritt, und nahm dabei kaum war, dass die Händlerschiffe bauchiger waren als das Kriegsschiff. Statt eines Rammsporns schmückten Tierornamente den hochgezogenen Bug. Bis zum Heck waren die Schiffe länger als zwölf Männer. Noch trug der Mast kein Segel, im Hafen waren die Ruderer gefordert. Aufbauten, die mit dickem Wildschweinleder überzogen waren, schützten am Heck den am Ruder stehenden Kapitän und mittschiffs die Ruderer vor gegnerischen Pfeilen.

Haben die überhaupt noch Platz für einen Passagier?, fragte sich Melana, als sie das erste Schiff passierte. Es lag so tief im Wasser, dass die Ruderer bei Seegang bestimmt schöpfen mussten. Beim nächsten frag ich, versuchte sie, ihre Zweifel niederzukämpfen, als sie plötzlich in zwei vertraute graue Augen blickte.

»Hamilkar! Dich muss Astarte selbst geschickt haben!«

Der fast kahle Händler und Kapitän kannte Melana, seit sie ein kleines Mädchen war. Nachdem ihre Eltern dem Sumpffieber erlegen waren, hatte Aria sich des kleinen Wildfangs angenommen, sie in Ritualen und Heilkünsten unterrichtet. Schon damals war Hamilkar ein häufiger Gast im Tempel. Vor und nach jeder längeren Seereise opferte er Astarte, deren Augen auch wohlgefällig auf jenen ruhten, die sich ins Unbekannte hinauswagten. Vor wenigen Tagen hatte Hamilkar ein Lamm gebracht, und allein mit Aria in einer Kammer geredet – was eigentlich unziemlich ist – erinnerte sich Melana.

»Melana, bist du es?« Eine Stirnfalte erschien. »Wie siehst du …« Der große Mann verschluckte die letzten Worte in seinem mächtigen Brustkorb. Die grauen Augen unter den buschigen Brauen blickten über Melana hinweg, suchten den Hafen ab. Er erkannte die Situation sofort.

»Leg den Steg noch mal an die Mole«, rief er nach links einem Seemann zu. Und zu Melana: »Schnell an Bord!«

Kaum berührte der Steg den sandigen Hafenboden, sprang Melana schon auf die Planke und huschte mit gesenktem Kopf auf das Deck des Schiffes. »Steg einholen. Leinen los. Abstooooßen!«

Drei Ruderer führten Hamilkars Befehle aus, nahmen anschließend ihre Plätze auf den Ruderbänken backbords ein. Der erste Ruderschlag der Steuerbordreihe führte die Dido, Hamilkars Schiff, am dritten Händler vorbei, der jedoch ebenfalls bereits die Leinen löste.

»Hock dich hin!«

Dieser Befehl galt Melana, der – niedergekauert hinter einer Bordwand aus nach Teer stinkenden Zypressenplanken – entging, wie drei schwer atmende Priester in blutbesudelten Umhängen an der Pier die Augen mit ihren Händen beschatteten, um die Decks der Schiffe abzusuchen.

Was die Priester sahen, waren fünf Händler auf dem Weg zur Kupferinsel, um dort Seide aus dem fernen Osten und Oliven gegen das begehrte Metall zu tauschen.

Was Hamilkar sah, war ein heraufziehendes Unwetter, bei dem ihm seine Seemannskunst nicht helfen konnte.

Was Melana sah, war ihr in Trümmern liegendes Leben und eine ungewisse Zukunft.

EINE DOPPELAXT FÜR DIE GÖTTIN

Rocq blickte auf die zwei Berge, die bei ihm Heimweh auslösten. Hinter einer Ebene, die noch fruchtbarer war als diejenige weit im Norden, die er vor Jahren verlassen hatte, ragten sie auf. Auch hier dienten sie den Astronomen, um die tanzenden Gestirne anzuvisieren. Aber sonst war alles anders. Er befand sich auf der Insel der Stierspringer. Hier im Süden war die Sonne so kräftig, dass seine sonst so blasse Haut das tiefe Braun gegerbten Leders angenommen hatte.

»Träumst du schon wieder? Solltest du nicht das Schmiedefeuer anfachen?«

Der halb spöttische, halb aggressive Ton schreckte Rocq auf. Dergleichen war er nicht von einer Frau gewöhnt. Schon gar nicht von einer, die ihm ihre Brüste präsentierte. Rocq hatte einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass die Freizügigkeit der Priesterinnen auf der Insel nicht signalisierte, wie verfügbar die Frauen waren, sondern wie unantastbar. Und das galt nicht nur für die Hohepriesterin Lassia, die ihm gerade einen Befehl erteilt hatte. Ohrfeigen waren gute Lehrmeister gewesen, dachte Rocq schmunzelnd, während er sein Schmiedegeschirr aus der Ecke holte: den Hammer, die Bärenklauen, den Kissenstein und die Steinmeißel. Malech, sein Bruder, eckte dagegen immer noch jeden Tag an. Er weigerte sich, mehr als Bruchstücke der neuen Sprache zu erlernen, während Rocq mit den Einheimischen bereits über die Geheimnisse hinter dem Tanz der Gestirne am Nachthimmel streiten konnte. Rocq ging hinaus, um seinen jüngeren Bruder zu suchen. Auf halbem Weg Richtung Schmiede fand er ihn unter einem Feigenbaum dösend. Wie friedlich er aussehen konnte … Ein Eindruck, der zerstob, sobald Malech die Augen öffnete. Sie waren von einem sehr viel helleren Blau als seine eigenen. Wie Eisnadeln schienen sie dem Gegenüber in die Seele zu stechen. Die aggressive Wirkung der Augen wurde durch Malechs schnelle Zunge oft gemildert, wenn sie spöttische Worte nicht nur für andere fand, sondern auch für sich selbst – und sein hitziges Temperament mal wieder schneller war als sein Verstand. Rocq liebte seinen Bruder und hatte gehofft, dass der Nachgeborene auf der Insel der Stierspringer ruhiger würde. Doch Priesterinnen mit Befehlsgewalt, eine ihm unbekannte Geringschätzung alles Kriegerischen durch manche Insulaner und ein Stier als Urbild des Männlichen, der in einem dunklen Labyrinth eingesperrt war: Das war keine Welt, in der Malech seinen Frieden finden konnte. Jetzt blickte Rocq grinsend auf seinen Bruder herunter. Sanft rüttelte er den Schlafenden an der schmalen Schulter. Sofort war Malech wach, sprang auf.

»Du hast das Werkzeug mit? Sollst du wieder den Hammer schwingen, um Spielzeug für diese läufigen Priesterinnen einer machtlosen Göttin zu schmieden? Wo bleibt dein Stolz? Zu Hause hattest du das Ohr der Götter, hier bist du nichts als ein Sklave weibischer Launen. Lass uns endlich heimfahren.«

Immer häufiger drängte Malech ihn, zurückzukehren. Doch Rocq hatte noch eine Aufgabe zu erledigen.

Es war ein Händler gewesen, der ihn vor Jahren aufgefordert hatte, über die großen Flüsse nach Osten und dann nach Süden zu ziehen, zwei Meere zu überqueren, um auch auf dieser Insel eine Scheibe zu schmieden, mit der man den Göttern lauschen konnte. Und das würde er. Doch vorher musste er sich dieser Aufgabe in den Augen der Priesterinnen erst mal als würdig erweisen. Und dazu gab es nur einen Weg: Er musste ihnen eine Doppelaxt schmieden, wie sie noch keine zuvor gesehen hatten. Rocqs linke Hand machte eine wegwerfende Bewegung.

»Du weißt, warum ich jetzt noch nicht gehen kann.«

»Noch nicht gehen will, meinst du wohl. Wieso gierst du nach der Anerkennung dieser … dieser weibischen, verweichlichten …«

»Es reicht«, schnitt Rocq seinem Bruder das Wort ab. »Weil du auf alles Fremde nur starrst, erkennst du allein, was du sehen willst. Wenn du lernen willst, musst du die Augen wirklich öffnen.«

Malech schnaubte, trottete aber dennoch neben seinem Bruder auf der gepflasterten Straße Richtung Schmiede. Nebeneinander nahmen die Brüder fast die gesamte Breite der Straße ein. Ein Wagen hätte hier keinen Platz gefunden, anders als in den Dörfern ihrer Heimat. Aber hier standen auch keine spitzgiebeligen Langhäuser, in denen eine Sippe samt ihrem Vieh unterkam. Hier erhoben sich unregelmäßige Häuserblocks mit flachen Dächern, manche nur ebenerdig, die meisten aber mit einem Obergeschoss, das von der Straße her über eine schmale Treppe zu erreichen war. Manche Häuser hatten sogar ein zweites Obergeschoss mit Fenstern oder Balkonen, eine Bauweise, die Rocq faszinierte. Die Enge der Räume löste bei Malech allerdings immer noch Beklemmungen aus, nach je vier Schritt stieß man bereits an eine Wand – oder an einen davor gemauerten Sims, der als Regal diente. Auf den meisten dieser Simse standen Keramiktöpfe und Behälter, einer aber war in jedem Haus kleinen Figuren vorbehalten, die die Götter oder die Ahnen darstellten. Rocq schätzte diese Hausschreine, brachten sie doch den Menschen auch im Alltag das Göttliche näher. Malech hingegen sah in ihnen nur die Altäre eines weinerlichen, Zuflucht suchenden Glaubens.

Nur zwei Dinge nötigten Malech in Festos, der Stadt seines ungeliebten Exils, widerwilligen Respekt ab: Das eine war der Hafen Kommos unterhalb der Stadt.

»Guck dir das an!« Gerade hatte Malech bei ihrem Marsch durch die Gassen einen Blick auf die imposanten Anlagen erhascht. »Heute liegen dutzende Schiffe an den Kais.«

Rocq nickte. »Und dabei mehr Kriegsschiffe als sonst.« Seine Hand wies auf stolze Soldaten, deren blinkende Bronzeschwerter in dem Gewimmel von feilschenden Händlern und schwitzenden Sklaven mit schweren Vorratskrügen voller Olivenöl oder Getreide auf den Schultern auffielen. »Vielleicht werden die Lagerhäuser auch bewacht, berstend voll müssen sie längst sein.«

»Und erst die Truhen des Fürsten«, pflichtete sein Bruder bei. »Stell dir vor, wann immer er ein Schiff braucht, kauft er es sich. Fehlen ihm Soldaten, muss er nur die Sold-Schatulle öffnen.«

Kein Zweifel, dachte Rocq, dieser Hafen atmete Macht, die Malech imponierte.

Nur an einem Ort spürte man noch mehr Macht: im Palast, dem zweiten Objekt seiner Bewunderung. Auf der Kuppe des höchsten Hügels öffnete sich die enge, verwinkelte Bebauung der Stadt zu einem weiten Platz, den ein großes, zweigeschossiges Haus dominierte. Hier war die Macht noch konzentrierter, als bei seinen heimischen Fürsten. Diese kommandierten im Krieg, sprachen Recht und mit den Göttern. Doch der Fürst von Festos gebot zusätzlich noch Händlern und Verwaltern.

»Du verlangst tatsächlich 20 Schwerter?« Schon solche einfachen, in freundlichem Ton vorgebrachten Nachfragen des Fürsten bewogen manchen Händler, seine Forderungen herunterzuschrauben. Einer sprach vor den Ohren von Rocq und Malech aus, was wohl die meisten dachten.

»Ach, mit 17 Schwertern würdest du mich schon glücklich machen – solange ich weiß, dass du die Tore der Handelshöfe rund um dein Meer für mich nicht zuschlagen lässt.«

»Ah, ein Händler, der über seine jetzige Schiffsladung hinausdenkt. Das ist schlau. Solltest du jetzt noch lernen, deine Zunge mir gegenüber im Zaum zu halten, sorge ich dafür, dass du in jedem Hafen willkommen bist.«

Auch die Verwalter fürchteten den genauen Blick und die bohrenden Fragen ihres Herrschers. An mehreren Wintertagen war Rocq nach Fürsprache von Hohepriesterin Lassia im Gefolge des Fürsten durch die Magazine gestapft, die sich im Westflügel und im Ostteil des Palastes befanden.

»Stell den Schemel dorthin«, befahl der Fürst dem Verwalter und zeigte auf eine Reihe der dickwandigen Vorratskrüge.

»Selbstverständlich«, fiepte der Mann mit Fistelstimme und watschelte schnell zu den Pithoi. Die Behälter waren riesig. Der Fürst musste auf den Schemel steigen, um auf die flachen Ziegel gucken zu können, mit denen sie verschlossen wurden. Und auf die dort eingebrannten Schriftzeichen.

»Hier steht, da drin sei Honig noch aus dem vergangenen Jahr. Nach deinen Aufzeichnungen haben wir aber den letzten alten Honig vor Monaten gegen Fisch aus dem Pharaonenreich eingetauscht.«

»Das, das muss ein Fehler sein. Ein Fehler meines Schreibers«, stammelte ein abwechselnd bleich und rot werdender Verwalter.

»Oder ein Fehler eines Verwalters, der nebenbei für die eigene Tasche Geschäfte macht?!«

»Nein, nein, mein Fürst. Ich würde nie etwas abzweigen. Das schwöre ich beim Leben meiner Kinder.«

»Du solltest es bei deinem eigenen Leben schwören. Du weißt, dass wir in den Pithoi manchmal auch unsere plötzlich Verstorbenen bestatten.«

»Bei allen Göttern!« Der Verwalter zog den Kopf ein, lugte zu den riesigen Ölpressen in den hinteren Räumen der Magazine. »Ihr könnt mir wirklich vertrauen.«

»Gib mir keinen Grund, dir zu misstrauen. Dann wird es dir auch in Zukunft an nichts fehlen. Hintergehst du mich aber, brauchst du nichts mehr.«

Gelöster war die Stimmung im Nordteil des Palastes. Hier ließ der Herrscher entfernte Verwandte wohnen. Im Obergeschoss residierte er selbst.

»Dem Himmel ein Stück näher«, nannte Malech das – und ausnahmsweise meinte er dies nicht spöttisch.

Mittlerweile hatten die schweigenden Brüder die Schmiede, die etwas außerhalb der Stadt lag, erreicht. Mit einer ironischen Verbeugung öffnete Malech die hüfthohe Pforte und wies mit der freien Hand ins Innere, wo zwei von Sklaven angefachte Schmiedefeuer bereits hell glühten.

»Bitte sehr, Meister. Die Stätte eures Triumphs.«

Die beißende Ironie prallte an Rocq zunächst ab, denn er war in Gedanken schon bei der kommenden Aufgabe. Er wusste aus Andeutungen einiger brillanter Astronomen aus Festos, die nur deshalb nie über den Status als Hilfskräfte hinauskommen würden, weil sie Männer waren, dass die von Hohepriesterin Lassia eingeforderte Doppelaxt weit mehr war als ein Statussymbol. Dann kochte Rocqs Temperament doch noch über.

»Du glaubst, ich schmiede hier ein Spielzeug?«, fuhr er seinen Bruder an. »Hast du dir die Vorlage nicht angeguckt oder nicht verstanden? So etwas wie diese Labrys hast du vorher doch noch nie gesehen: Klingen auf zwei Seiten, die oben und unten jeweils in zwei hornartige Spitzen münden. Eigentlich müsste man das Vierfachaxt nennen. Und doch geht es bei der Schönheit der Labrys wie auch bei meiner Himmelsscheibe nur am Rande darum, die Münder der Gläubigen offenstehen zu lassen.«

»Womit man nicht kämpfen kann, ist nur Blendwerk«, hielt Malech dagegen.

»Ich sehe hier nur einen Geblendeten. Wer die Labrys schwingt, muss keine Köpfe rollen lassen, weil ihr Kopf sie zur Meisterin der Zeit macht. Das Geheimnis der Doppelaxt sind ihre Maße. Malech, in den von mir exakt einzuhaltenden Proportionen sind Zahlen versteckt, genauer gesagt kalendarische Daten.«

»Wie soll das gehen?«

Rocq zog seinen Bruder zu einem großen Tisch aus Zypressenholz und breitete die Pergamentrolle mit der Skizze der Priesterinnen aus. »Sieh her. Jede Axtklinge lässt sich in 13 gleich breite Abschnitte unterteilen, zusammen mit dem selbstverständlich ebenfalls gleich breiten Axtstiel ergiebt sich die Zahl 27 – die Zeit, die die bleiche Göttin der Nacht am Himmel braucht, um zu erblühen, zu vergehen und wiederaufzuerstehen. Und ich bin mir sicher, auch wenn ich es noch nicht gefunden habe, dass in den Proportionen der Axtspitzen zueinander ein Bezug zur Wanderung des heißen Gottes des Tages über den Himmel versteckt ist. Verstehst du endlich? Hinter diesem scheinbaren Prunkstück hatte bereits ein großer Geist gewirkt, bevor er es in der Farbe der Sonne schimmern ließ.«

Malechs Zornesfalten glätteten sich, als er anfing zu lachen. »Hör auf, Bruderherz, du hast gewonnen. Sieh es deinem kleingeistigen Bruder nach. Wenn die Adler fliegen, um dem verwirrenden Tanz von Mond und Sonne über den Himmel einen gemeinsamen Takt zu geben, sollten die Hühner beim Scharren leiser gackern.« Malech boxte dem Bruder spielerisch gegen die Schulter. »Das heißt also, auch diese Axt ermöglicht den Bauern, die genauen Termine für Aussaat und Ernte einzuhalten, und den Händlern, ihre Reisen und Verabredungen genau zu planen?

Unsere Ahnen brauchten einen solchen Taktgeber noch nicht. Sie zogen einfach ihrer Jagdbeute hinterher, sobald diese sich bewegte. Warum die beiden Himmelsgötter nicht in einem Takt tanzten, konnte ihnen egal sein.«

»Da hast du recht, Malech. Aber wir werden beim Tanz der Götter auf dieser Insel nur Zuschauer bleiben, wenn es uns nicht gelingt, die Metalle tanzen zu lassen.«

Und das war etwas, was Rocq mehr Sorgen bereitete, als er Malech gegenüber zugeben wollte. Denn in seinen eigenen Augen war Rocq in erster Linie ein Meister der Zeit, keiner des Metalls. Er konnte den Tanz der Gestirne tief im Innern erspüren, er fiel ihm leicht zu, während er die Geheimnisse der Erze und ihrer Mischungen mühsam erlernen musste. Das war der Grund, warum er die Himmelsscheibe in seiner Heimat nicht gegossen hatte, wie es jeder talentierte Schmied gemacht hätte. Er hatte sie kalt geschmiedet, mit Hammer und Bronzemeißel einen Bronzebarren zu einer flachen Scheibe geschlagen. Das war mühselig und zeitraubend, aber Rocq hatte die Zeit, die seine Hände brauchten, genutzt, um seinen Geist nochmals durchdenken zu lassen, wie er Voll- und Sichelmond sowie das Siebengestirn platzieren müsste, um seinen Nachfahren einen verständlichen Taktgeber zu hinterlassen.

Mit einem Kopfnicken schickte er jetzt die Sklaven aus der Schmiede. Seine Kunst war nichts für die Augen Nichteingeweihter. In den vergangenen Wochen der Vorbereitungen hatte Malech dafür gesorgt, dass er ungestört blieb. Und das hatte sich ausgezahlt. So hatte Rocq Probeöfen entwickeln können, in denen er die Güte des Zinn- und des Kupfererzes intensiver testen konnte als zu Hause. Das beruhigte ihn. Zwar war er sich sicher, dass die Priesterinnen ihm hochwertiges Erz überlassen hatten. Doch ohne, dass er vorab die Göttin befragt und um Erlaubnis gebeten hatte, ohne selbst die Ader im Boden gefunden und aufgerissen zu haben, fehlte es ihm an Gefühl für das Metall. Also hatte er die Wochen genutzt, um Neues auszuprobieren. Bei den ersten Schritten folgte er noch den bekannten Pfaden: So röstete er das Zinnerz, zerkleinerte und wusch es – mehrmals. So befreite er es von Gestein, mit dem Mutter Erde die Kostbarkeit umhüllt hatte. Als er genug von dem angereicherten Erz beisammen hatte, vermischte er es mit dem Pulver von Bauraq, einem seltenen weißen Kristall, den er vorher zerstoßen hatte. Im Land des zwei Mal jährlich lebensspendenden großen Flusses nutzten die Priester diesen Kristall, um ihre toten Pharaonen einzubalsamieren. Rocq nutzte ihn, um Metall aus dem Schoß der Erde lebendig werden zu lassen. Aus der feuchten Masse formte er kleine Kügelchen. Von seinem Vater hatte er gelernt, diese zusammen mit Holzkohle in einem großen, ausgehöhlten Stück Kohle einzuschließen. Zusammen mit zerkleinerter Holzkohle steckte er dann immer eine kleinere, glühende Kohle in die Öffnung. Anschließend führte er die aus Ton gefertigte Düse eines Handblasebalgs ein, pumpte mit dem aus Leder und Holz bestehenden Gerät Luft in die Kohle und fachte so das Feuer an. Das schmelzende Zinn floss am Ende in den dreieckigen, dickwandigen Keramiktiegel, in den sein Vater und er die Kohle gelegt hatten.

Auf dieser sonnenüberfluteten Insel hatte er mit mehr Hitze experimentiert – und Erfolg gehabt. Statt in ein Stück Kohle hatte er das feuchte Erz-Kügelchen in eine so durchbohrte Holzkohle gesetzt, dass sich die Öffnung nach unten wie eine Düse verengt. Den Tontiegel, der letztlich das Erz auffangen sollte, umgab er von allen Seiten mit glühenden Kohlen. Auch das Kügelchen bedeckte er mit glühender Kohle. Sodann entfachten er und seine Helfer mit vier Fuß-Blasebälgen ein starkes Feuer, das andauerte, bis alles Zinn in den Tiegel geflossen war.

»Zumindest verstehen sie etwas von Erzen«, unterbrach Malech seine Gedanken. Er hielt ein dreieckiges Stück Kupfer in der Hand. Ergebnis anderer, fast einen ganzen Tag währender Versuche.

Rocq nickte. »Stimmt. Sie wussten zwar nicht, dass man den Ton für unsere Tiegel mit Graphit vermengen muss, um sie feuerfest zu machen. Aber sie haben ein Auge für Erze, in denen kräftige Adern der Göttin schlagen.«

»Und wenn das nicht die Adern einer Göttin sind, sondern die Geschenke eines Gottes?« Malechs Zeigefinger berührte fast die Nase seines Bruders. »Was, wenn die Erze nichts sind, wofür man vorab um Verzeihung bitten muss, wenn man sie dem Boden entreißt? Was, wenn ein Gott sie extra dort deponiert hat, damit wir aus den Erzen etwas schaffen, was ihn lächeln lässt?«

»Du meinst Waffen, nicht wahr, Malech? Du möchtest etwas, das von der rauen Hand eines Soldaten zum Klingen gebracht wird und nicht von der weichen eines Priesters. Nun, heute schaffen wir etwas, das beide Hände schmücken würde.«

»Na, das will ich auch hoffen«, dröhnte ein Bass von der Tür, kaum, dass sie mit Schwung geöffnet wurde. Die Sonnenstrahlen hatten keine Chance, die Schmiede zu erhellen, denn breite Schultern verstellten ihnen den Weg. Schnell schloss Artes die Tür wieder. Der hünenhafte Krieger wusste, wann sein Gefährte aus Jugendtagen die Welt ausgesperrt haben wollte. »Rocq, du weißt, wie sehr ich mich nach der Kühle des Nordens sehne. Zeig ihnen, welche Wunder deine Öfen vollbringen können und dann lass uns nach Hause gehen.«

Kameradschaftlich legte Artes seine behaarten Pranken auf Rocqs Oberarme – und hob den stattlichen Mann hoch, als sei er ein Kätzchen. »Und weißt du, warum ich die Kühle unserer Heimat so schätze?« Artes’ buschige Augenbrauen hoben sich in gespieltem Ernst, während Rocq ernstlich um seine Knochen fürchtete. Zuneigungsbekundungen von Artes waren bisweilen nicht weniger schmerzhaft als wütende Attacken von Feinden. »Weil es dort ein oder zwei Frauen gibt, die mir die Kühle gerne vertreiben.«

»Ein oder zwei? In jedem Dorf meinst du wohl!« Rocq wand sich wie ein Aal in den schwieligen Händen seines Freundes.

»Womit du dich auf dieser Insel nicht begnügt hast«, ergänzte Malech. »Wie viele Schönheiten mit rabenfarbenem Haar würden weinen, weil sie dir nicht mehr die Schlaflosigkeit in schwülwarmen Nächten versüßen könnten?«

Artes lachte, stellte Rocq wieder auf den Boden und knuffte dessen Bruder. Rocq war sich sicher, dass Malechs zusammengekniffene Lippen nicht von dem blauen Fleck herrührten, der sich auf dessen Schulter bilden würde. Neidisch, dachte Rocq. Mein Bruder ist einfach neidisch auf den Erfolg bei Frauen, den ein Mann hat, der in seinen Augen nur ein geistloser Simpel ist. Rocq massierte seine schmerzenden Armmuskeln und zuckte die Schultern. Sein Bruder würde akzeptieren müssen, dass die meisten Frauen ungezügelte Lebensfreude anziehender fanden als mühsam gezügelte Missgunst.

Den barbusigen Priesterinnen hingegen, die auf dieser Insel das Sagen hatten, war es egal, wie Rocq und seine Gefährten zum Leben standen. Sie wollten vielmehr wissen, ob Rocq tatsächlich der Göttin näher stand als jeder andere Mann, wie der Händler behauptet hatte, der nach der Rückkehr von einer langen Reise in den Norden im Tempel der Göttin geopfert und den Priesterinnen Tribut geleistet hatte. Rocqs Hoffnungen, in der Gunst der Priesterinnen aufzusteigen, ruhten auf einem schlammbraunen, unscheinbaren Tonquader etwas abseits der Öfen. Mit drei schnellen Schritten war Rocq bei dem Quader, hob ihn auf – er war leichter, als man vermuten würde. Denn er war ausgehöhlt. Wochen ausgeklügelter Versuche und enttäuschter Hoffnungen lagen hinter Rocq, bis er endlich diese Gussform in den Händen hielt, die so viel komplizierter war als alle, die er bisher gefertigt hatte – etwa um Schwerter oder Beile herzustellen. Zunächst hatte er aus Wachs ein genaues Modell des Doppelaxt-Kopfes hergestellt. Dutzende Versuche schlugen fehl. Erst durchkreuzte die Hitze des Tages seine Arbeit, weil das Wachs zu weich wurde und sich verformte. Nachts, beim flackernden Licht von Öllampen, spielten ihm oft die Augen einen Streich und die Maße entsprachen nicht den vorgegebenen vom Pergament. Doch schließlich, in einer Nacht, in der ihm die bleiche Göttin des Himmels in ihrer vollen Pracht ausreichend Licht spendete, hatte er Erfolg. Das Modell war perfekt. An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen. Während die ersten Vögel versuchten, die Sonne herbeizusingen, umhüllte Rocq sein Modell vorsichtig, Schicht um Schicht, mit Lehm. Seine Finger schmerzten schon vom feuchten, kalten Lehm, als er das Feuer in seinem größten Ofen anfachte. Die tönernen Spitzen zweier großer, mit dem Fuß zu bedienenden Blasebälge legte er in die glühende Holzkohle, dann schlüpfte er mit den Füßen unter die Lederriemen, die er auf die flachen Holzgriffe genagelt hatte und pumpte Luft in die Glut. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, die Glut strahlte so hell wie die Sonne, als er seine Gussform in die Hitze stellte. Schnell wurde der Lehm verbacken, das geschmolzene Wachs lief aus dem Loch am Fuße heraus. Übrig blieb eine hohle Tonform für eine heilige Waffe – die Doppelaxt.

»Wir haben nur einen Versuch!« Rocq erschrak, als er merkte, dass er laut zu sich selbst gesprochen hatte. Aber tatsächlich: Diese leere Hülle musste erst noch mit dem Blut der Göttin gefüllt werden, um sie mit Leben zu erfüllen. Ob das Ergebnis so makellos war, wie gefordert, war erst zu erkennen, wenn die Bronze erkaltet war und man die Tonform zerschlagen konnte. War die Doppelaxt fehlerhaft, musste Rocq ein neues Wachsmodell und eine neue Gussform fertigen.

»Glaubt ihr, ihr könntet die Bronze durch Anglotzen zum Schmelzen bringen?« Artes klatschte in die Hände. »Lasst uns endlich anfangen.«

Schon zwängte der Hüne seinen Fuß unter den Lederriemen eines Blasebalgs und begann zu treten. Das Holzbrett ächzte, das dicke Leder knarrte, aber aus der Tondüse pfiff zischend Luft in das Holzkohlefeuer. Malech fachte den anderen Ofen an, trotz aller Vorbehalte war er ein gewissenhafter Helfer. Dann stemmte Rocq einen schweren Steintiegel mit einer langen Zange aus Holz auf den größeren Ofen. In ihm lag feinstes Kupfer von der Kupferinsel. Artes quälte den riesigen Blasebalg, die Holzkohle glühte auf. In einem kleineren Tontiegel lag das Zinn, ziemlich genau ein Neuntel der Menge des Kupfers. Das Geheimnis einer guten Axt war die verwendete Menge Zinn. Je mehr beigefügt wurde, desto härter wurde die Bronze. Übertrieb man, wurde die Bronze zu spröde und bröckelte unter dem Schmiedehammer weg.

»Mach etwas langsamer«, bremste Rocq seinen Bruder am Blasebalg. Zinn schmilzt viel früher als Kupfer. Dieses Feuer musste nicht glühen. Als Malech etwas langsamer pumpte, hob Rocq den Tiegel mit dem Zinn in die Glut. Sein Blick sprang unruhig zwischen den Tiegeln hin und her. Jetzt kam es auf den richtigen Zeitpunkt an. Als die Kanten des Kupferbarrens weicher wurden, klemmte Rocq die Backen seiner Holzzange um den Hals des Tiegels mit dem mittlerweile flüssigen Zinn. Mit einem Ruck hob er das Gefäß hinüber zu dem großen Steintiegel und goss das Zinn auf das Kupfer, das kurz vor dem Schmelzen war. Artes trat den Blasebalg immer schneller, das Feuer fauchte. Rocq deckte den Tiegel mit Holzkohlescheiten ab, nachdem er ein Stück Holz in das Kupfer geworfen hatte.

»Etwas, das stark und biegsam zugleich war, obwohl es einst atmete und das in dem Boden verankert war, dem unsere Bärentatzen das Erz entrissen hatten, muss ich zurückgeben. Sonst verdirbt die Luft das Metall«, sagte er zu Artes, als er dessen hochgezogene Augenbrauen bemerkte. Ein Schritt zur Seite, dann hob er die tönerne Hohlform auf das kleinere Feuer, diesmal aber mit der Öffnung nach oben. »Die Gussform muss erwärmt werden«, erklärte er weiter, »sonst erkaltet die Bronze, bevor sie die feinen Spitzen der Doppelaxt ausgefüllt hat.« Rocq nahm die Holzkohlescheite vom Steintiegel: Die Bronze war flüssig und hell wie die Sonne. Er griff die Zange, sein Brustkorb hob sich, er spannte die Muskeln, hievte den Tiegel über die Hohlform, kippte ihn ab und ließ das flüssige Metall in den ausgehöhlten Ton fließen. Mit einem Ächzen stellte er das Gefäß ab. Schon wurde die Bronze am Loch der Hohlform dickflüssiger. Rocq steckte einen fingerlangen Tonpfropfen in die zähe Masse. Hier würde der Stiel der Axt befestigt werden. »Morgen wissen wir, ob uns die Göttin dieses Mal zuzwinkert«, rief er seinen Gefährten zu.

»Wohl kaum«, antwortete eine Frau, die in der unbemerkt geöffneten Tür stand. »Die Göttin zwinkert nicht«, fuhr Hohepriesterin Lassia ohne die sonst übliche metallische Schärfe in der Stimme fort, »aber falls ich euch morgen zuzwinkere, dürft ihr annehmen, dass sie euch für den Moment verzeiht, dass ihr nur Männer seid.«

DER UNERSÄTTLICHE GOTT

Den Männern auf der Dido zwinkerten die Götter der Winde zu. Schnell ließen sie Handelsschiffe backbords liegen, die an dem Riff auf Reede lagen, das dem Lagunenhafen von Tyros vorgelagert war. Zum Riff gehörte auch noch eine Insel, die den geschäftstüchtigen Einheimischen den Luxus zweier weiterer Häfen gönnte. Eigentlich hatte Hamilkar noch den südlichen der beiden Inselhäfen anlaufen wollen, um einen alten Freund zu besuchen. Doch Melanas Flucht drängte ihn zur Eile.

Einen Tag lang segelte die kleine Flottille ohne jede Störung zügig Richtung Norden. Aber Melana fand keine Zeit zum Trauern. Zu ungeheuerlich war das Erlebte, als dass sie es jetzt hätte verarbeiten können. Nachdem sie Hamilkar berichtet hatte, setzte sich sich auf eine Ruderbank, doch schon bald sprang sie unruhig wieder auf und ging zu Hamilkar, der in einem mit Leder verstärkten Aufbau am Heck des Schiffes weilte – in Griffweite von Lanzen, die länger waren als drei Männer und somit angriffswillige Piraten vor echte Probleme stellen konnten. Doch alles war friedlich, deshalb ließ Hamilkar den Lederhelm mit den Eberzähnen in der Mittagshitze auch lieber auf den geteerten Schiffsplanken liegen.

»Sie hatte es wahrhaftig geahnt«, flüsterte Hamilkar der jungen Frau zu, als er sah, dass sich deren Augen wieder mit Tränen füllten.

»Aber warum? Welche Gefahr stellt Astarte für Melkart dar, dass Priesterinnen wie Opfertiere geschlachtet werden?«

Eine Frage, die er der Verzweifelten schon seit dem Morgengrauen nicht zufriedenstellend beantworten konnte, sonst würde sie sie nicht immer wieder stellen. Verlegen rieb sich der Seemann die schwielige Hand über den fast kahlen Schädel. »Aria hatte sogar mich vor einigen Wochen gewarnt, dass ich meine Treue gegenüber Astarte künftig vielleicht im Verborgenen beweisen müsse. Es ist Lokmaddu, dieser gierige Bastard.« Hamilkar spuckte über die Reling. »Nicht nur, dass Astartes Tempel der schönste ist. Die Menschen vertrauen der Göttin einfach am meisten, deshalb opfern sie ihr auch am häufigsten. Aber ich fürchte, Melkart ist unersättlich. Er wird erst Ruhe geben, wenn er den Götterhimmel für sich allein hat. Und Aria …« – die grauen Augen Hamilkars blinzelten, und er musste schlucken, bevor er weitersprach – »… Aria sagte zu mir, Lokmaddu, dieser bucklige Sohn einer Hündin, hasste besonders eines: Dass jeder zu Astarte beten könne, überall, nicht nur im Tempel. Die Göttin würde jedem antworten. Nicht nur den Priesterinnen, die die heiligen Rituale vollzogen. In den Augen Lokmaddus, dieses Auswurfs einer …« – der Seemann schluckte die Beleidigung herunter als er die Stirnfalte zwischen Melanas hochgezogenen Brauen sah – »… er glaubt, nur er hätte das Ohr seines Gottes. Wer auch immer etwas von Melkart wolle, müsse zuerst die Gunst seiner Priester erringen.«

»Aber warum hat Aria mir das nicht gesagt?«, fragte Melana kopfschüttelnd. »Mich hat sie nur gewarnt, dass ich in Tyros nicht mehr sicher sei, gleich danach lachend abgewunken, und behauptet, als alte Frau würde sie sicher nur hinter jeder Hausecke Dämonen sehen.«

»Vielleicht wollte sie nicht glauben, was sie annahm.«

»Das mag sein. Oder sie hoffte, dass Astarte ihr beisteht. Aber unsere Göttin hat uns vergessen.«

Ein Gedanke, der so schmerzhaft war, dass der in Dutzenden Gefechten abgehärtete Hamilkar ihn lieber nicht zuließ.

»Hey, siehst du nicht, dass das Segel flattert«, brüllte er einen Seemann an, »kümmere dich drum.«

Verständnislos glotzte der von einer fernen Insel im Westen stammende Matrose das Leinwandsegel an, das mit breiten, aufgenähten Lederstreifen verstärkt war. Das konnte höchstens in einem Sturm flattern, aber nicht in dem jetzt herrschenden, ruhigen Wind. Achselzuckend zupfte er etwas an dem Flachsgewebe herum. Das sollte reichen, um Ärger mit dem Kapitän zu vermeiden.

»Wo soll ich nur hin?«, fragte Melana.

Hamilkar atmete auf. »Ich habe Aria heilige Eide schwören müssen, dass ich mich um dich kümmern werde, falls ihr etwas passiert. Ich bringe dich, wohin du willst. Aber das sollte gut überlegt sein.«

»Ich könnte in Ugarit an Land gehen«, schlug Melana vor. »Dort verstehe ich zumindest die Sprache, und es gibt einen Astarte-Tempel.«

Hamilkar rieb seine Stirn. »Wir passieren den Hafen bald, wollten dort eigentlich auch nicht anlegen – aber das wäre egal. Nicht egal ist aber, dass Ugarit nur wenige Tagesritte von Tyros entfernt ist.«

Melanas Stirn umwölkte sich, deshalb fuhr der Seemann fort: »Ich glaube zwar nicht, dass Lokmaddu dich verfolgen lässt. Aber vielleicht will er doch alle Zeugen seiner Freveltat töten lassen. Zumal wir nicht wissen, welches Lügengespinst er webt, um aus dem Mord Vorteile zu schlagen. Und ein gutes Gefühl hätte ich nicht, wenn du in Ugarit bleibst. Was soll man schon von Menschen halten, die die Zukunft in Schaflebern zu erkennen glauben?«, fragte er spöttisch, doch Melanas Gesicht blieb unbewegt.

»Aber was wichtiger ist: Der König von Ugarit ist eigentlich nur ein Fürst. Ihm fehlen Soldaten, um wirklich Macht zu haben. Falls Lokmaddu einen Dreh findet, dass Tyros deine Auslieferung fordert, findest du in Ugarit keinen Schutz.«

»Wie sollte Lokmaddu das schaffen?«

»Indem er behauptet, du hättest Aria getötet, um Hohepriesterin zu werden.«

Melana zog scharf die Luft ein und kämpfte die aufkommenden Tränen nieder. Hamilkar hatte recht: Alles war noch schlimmer als gedacht. Ihre Ziehmutter war tot und möglicherweise wurde sie als Verdächtige gesucht. Ihre Welt lag in Scherben. Sie brauchte einen sicheren Ort, um die Scherben wieder zusammenzufügen.

»Wo segelt ihr hin?«

»Nach Enkomi auf Alasija, der Kupferinsel. Dort verkaufen wir die Seide, welche die Karawanen aus dem Osten nach Tyros brachten und nehmen Kupfer an Bord.«

Alasija, warum nicht, dachte Melana. Auch dort hat Astarte einen Platz im Götterhimmel, wie sie wusste, seit sie zusammen mit Aria die Hohepriesterin der Insel vor Jahren besucht hatte. Und es war ein schöner Ort zum Leben. Nie zuvor sah Melana üppigere Wälder, deren würziger Harzduft allerdings immer häufiger vom Holzkohlerauch der Kupferschmieden überdeckt wird. Melana runzelte die Stirn, spielte mit dem noch ungewohnten Zopf. Es kann Astarte nicht gefallen, dass der Leib von Mutter Erde an manchen Stellen schon schutzlos den Augen der Menschen und den Strahlen des Sonnengottes preisgegeben ist. Die Priesterin war überzeugt, dass die Gier nach Erzen den Respekt der Menschen vor der Göttin schwinden lässt. Hemmungslos werden deren funkelnde Adern in den Tiefen des Bodens ausgebeutet und die Schatten spendenden Bäume abgeholzt. Vielleicht war Alasija wirklich der richtige Ort für sie, um ihrer Göttin mehr Respekt zu verschaffen und die Menschen mehr Demut zu lehren.

»Und, was hältst du von der Kupferinsel?«, unterbrach Hamilkar die Gedanken seines gut einen Kopf kleineren Schützlings.

Melana drehte sich um, sah an der bärenhaften Gestalt vorbei ins Kielwasser der Dido.

»Es ist nicht meine Heimat, aber vielleicht kann ich es zu meiner Heimat machen.«

Hamilkar klatschte die Pranken zusammen. »Gut gesprochen! Aria ist zwar nicht mehr bei uns, aber ihre Weisheit kann dich weiterhin leiten.«

Doch nicht nur als Retter freute sich Hamilkar, sondern auch als Händler. So konnte es bei dem ursprünglichen Plan der kleinen Flottille bleiben, Ugarit rechts liegen zu lassen. Ein unplanmäßiges Einlaufen der fünf Schiffe in den Hafen der Stadt, der etwas westlich vom Zentrum liegt, hätte neben den Risiken für Melana auch einen erheblichen Profitverlust bedeuten können. Das Handelszentrum hallt zwar nicht wider vom Klirren der Waffen, aber vom Klirren der Münzen. Ein Grund war das von Hamilkar verhasste Recht des Fürsten, den ersten Zugriff auf die Schiffsladungen zu haben. Händler mussten ihre Ware einen Tag in den Vorratslagern der Stadt zum Verkauf anbieten. Fand sich kein Käufer, konnte der Händler mit seiner Ware weiterziehen. Und soviel war Hamilkar klar: In einer Stadt, die eigentlich nur einen Katzensprung von Tyros, dem Hauptumschlagplatz für Seide aus dem fernen Osten, entfernt war – noch dazu auf dem Landweg erreichbar –, konnte er, wenn überhaupt, nur einen ganz geringen Profit erzielen. Sinnvoller war es, die Seide und die ebenfalls geladenen Oliven übers Meer zu transportieren. Erst an fremden Ufern lockten echte Gewinne.